Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Drei Monate blieb sie in ihrem Zimmer, immer zwischen Leben und Tod schwebend. Erst allmählich kehrte ihre Gesundheit wieder. Aber niemals frug sie nach den näheren Umständen jenes schrecklichen Tages, niemals erwähnte sie des Besuches, den Graf Fourville ihr damals gemacht hatte.
Paul war jetzt ihr Alles; er wuchs heran und wurde stark und kräftig; aber das Lernen war nicht seine Leidenschaft und in der Religion erzog ihn der Baron nach seinen Ideen. Johanna besuchte die Kirche seit dem letzten Besuche des Abbé Tolbiac nicht mehr. Mit fünfzehn Jahren wurde Paul in's Kolleg gebracht; der Trennungsschmerz war für Johanna ein neues Glied in der Kette ihrer Leiden. Jetzt erst begann das rechte Elend; denn Pauls Studien liessen alles zu wünschen übrig. Fast in jeder Klasse brachte er zwei Jahre zu. Im Übrigen war er ein grosser Bursche geworden mit einem kleinen blonden Koteletten auf den Wangen und einem Anflug von Schnurrbart. Seine Mutter betrachtete ihn immer noch wie ein kleines Kind. »Paul erkälte Dich nur nicht« – »Paulchen geh nur nicht zu schnell, Du wirst Dich überhitzen,« das waren ihre ständigen Ermahnungen.
Die Sorgen mehrten sich von Tag zu Tag. Paul schien ganz das Gegenteil seines Vaters zu sein. Es dauerte nicht lange, so präsentierte ein Jude einen Wechsel von ihm über fünfzehnhundert Francs. Es habe sich um eine Spielschuld gehandelt, die Paul nicht hätte einlösen können, wenn er ihm nicht aus »reiner Gefälligkeit« das Geld geliehen hätte. Der Baron löste den Wechsel mit tausend Francs ein und warf den Juden zur Thüre hinaus. Dann fuhr er mit Johanna nach Havre. Aber hier wurde ihnen im Kolleg die Mitteilung gemacht, dass Paul seit einem Monat nicht dort sei. Der Direktor war durch Briefe, auf denen Johannas Unterschrift stand, in den Glauben gebracht, sein Schüler liege krank in Rouen; selbstredend war alles gefälscht, ebenso das ärztliche Attest. Man brachte nun die Polizei auf die Beine, welche Paul am anderen Morgen aus dem Bette eines bekannten Kontrollmädchens holte und zu seinen Eltern zurückführte. Diese nahmen ihn mit nach Peuples, wo er ganz behaglich lebte und sogar auf der See seine Bootfahrten machte. Inzwischen beliefen sich seine Schulden, denen man jetzt nachforschte, auf rund fünfzehntausend Francs. Aber nichts vermochte die Mutterliebe zu erschüttern.
Eines Abends kehrte Paul von einer Bootfahrt nicht mehr zurück. Welche Qualen musste das Mutterherz ausstehen! Er war nach Havre gefahren, wie man durch einige Fischer erfuhr. Dort angestellte Nachforschungen ergaben, dass auch jenes Kontrollmädchen, bei dem man ihn zum ersten Mal erwischte, ihre Sachen verkauft hatte und nach England abgereist war. Johannas Haar war jetzt schneeweiss geworden; oft frug sie sich, warum das Schicksal gerade sie so erbarmungslos verfolge. Abbé Tolbiac schrieb ihr einen Brief. »Gottes Hand lastet schwer auf Ihnen . . . Erkennen Sie darin einen Wink zur Umkehr . . . Suchen Sie Trost in Gott . . . Er wird helfen . . .« Das waren die Grundgedanken, die in dem Briefe zum Ausdruck kamen. Am nächsten Abend beichtete Johanna seit langer Zeit zum ersten Male wieder. Zwei Tage darauf kam ein Brief von Paul an; es waren vier Wochen seit seinem Verschwinden dahingegangen. Paul erklärte, er sei dem Verhungern nahe; man möge ihm fünfzehntausend Francs von seinem väterlichen Erbteil schicken. Er müsse sie seiner Geliebten zahlen, um von ihr loszukommen und heimkehren zu können. Johanna jubelte und sandte das Geld. Wer nicht zurückkam, war Paul. Monate vergingen, ohne dass man eine Silbe von ihm hörte. Das Leben auf dem Schlosse war entsetzlich traurig. Johanna und Tante Lison gingen jetzt täglich zur Kirche; aber der Baron durfte es nicht merken. Endlich nach einer Ewigkeit kam ein Brief aus Paris. Er habe Alles an der Börse verloren, schrieb Paul, und sei noch mit fünfundvierzigtausend Francs engagiert. Ihm bleibe nur noch die Kugel übrig, wenn er nicht bezahle. Der Baron nahm abermals Geld auf und sandte es nach Paris. Paul dankte begeistert und stellte seine baldige Rückkehr in Aussicht. Aber er kam nicht.
Ein ganzes Jahr verging.
Plötzlich erfuhr man, er sei in London und habe unter der Firma »Paul Delamare & Cie.« ein Dampfschiff-Unternehmen begründet. »Der Weg zum Reichtum liegt jetzt vor mir«, schrieb er. »In kurzer Zeit seht ihr mich als Millionär wieder.«
Drei Monate später war die Firma »Delamare« bankerott; das Defizit betrug zweihundertfünfunddreissigtausend Francs. Der Baron nahm die letzten Hypotheken auf Peuples und die beiden Pachthöfe auf. Eines Abends fand man ihn tot vor dem Schreibtische sitzen; ein Schlaganfall hatte seinem Leben ein Ende gemacht. Tante Lison folgte ihm nach kurzer Zeit in's Grab. Johanna stand nun ganz allein.
Ein Trost wurde ihr allerdings in dieser Zeit. Rosalie erschien plötzlich auf dem Schlosse; Rosalie, die sie seit beinahe vierundzwanzig Jahren nicht mehr gesehen hatte und die nun nach dem Tode ihres Mannes kam, der einstigen Herrin ihre Dienste wieder anzubieten. Ihr Sohn, Julius Sohn, war jetzt schon gross genug den Pachthof Barville selbst zu verwalten. Johanna war ebenso beschämt wie gerührt. Aber sie fühlte das Bedürfnis, ein treues Herz in ihrer Nähe zu haben; denn das Herz ihres Kindes, das fühlte sie, gehörte nicht mehr ihr, sondern jener Elenden, mit der er nach wie vor ihr Geld verschleuderte.
Rosalie war eine praktische Person. Sie liess sich durch Johannas Bemühungen, Paul's Schändlichkeiten zu verschleiern, keinen Augenblick täuschen. »Madame,« sagte sie eines Tages, »haben wohl schon daran gedacht, Peuples zu verkaufen? Das Schloss kann die Lasten nicht mehr tragen. Es ist besser, Weniges zu behalten, als alles an Zinsen den Gläubigern vorzuwerfen.« Und eines Tages erschien sie ohne Weiteres mit dem Notar und Herrn Jeoffrin, einem reichen Zucker-Fabrikanten, um das Nähere zu veranlassen. Der Kauf wurde perfekt und Johanna wollte sich mit dem, was ihr geblieben war, auf ein kleines Landhaus bei Goderville zurückziehen. Eben war wieder ein Brief von Paul mit der Bitte um zehntausend Francs eingelaufen. »Ich habe nichts mehr für Dich,« schrieb ihm Johanna zurück. »Du hast mich vollständig ruiniert. Ich muss Peuples verkaufen. Aber vergiss nicht, dass ich stets ein Plätzchen für Dich bereithalte, wenn Du Dich zu Deiner alten Mutter flüchten willst, der Du so vieles Leid verursacht hast.«
Der Abschied von Peuples, von all den liebgewordenen Stätten ihrer Jugend, den tausend Erinnerungen, den Gräbern ihrer Eltern war entsetzlich traurig; aber Rosalie sorgte dafür, dass er sich schnell vollzog.
Seit zwei Monaten wohnten sie nun in Goderville. Ein Zimmer hatte Johanna reserviert, in dem sie im Geiste stets ihr »Paulchen« wohnen sah. Aber Paul kam nicht. Die Mutter flehte ihn an, zu ihr zu kommen, aber statt dessen traf ein Brief des Sohnes ein, worin er sie bat, in die Heirat mit seiner Geliebten zu willigen. Johanna war wie vom Schlage gerührt. Sie raffte sich auf und fuhr selbst nach Paris; mit Gewalt wollte sie Paul aus den Armen dieses Wesens reissen. Aber in Paris war keine Spur von ihm zu finden. Er hatte mit seiner Geliebten das Quartier verlassen, aus dem seine zahllosen Schulden ihn vertrieben. Enttäuscht und gebrochen kehrte sie nach Hause zurück. Ihr Leben war ihr zur Last geworden.
Endlich nach langer Zeit kam ein Brief von Paul. »Theure Mutter. Ein schweres Unglück hat mich betroffen. Meine Frau liegt im Tode nach der Geburt eines kleinen Mädchens. Ich habe kein Geld mehr, um ihnen Lebensmittel zu kaufen. Hab' Erbarmen mit uns und hilf noch einmal,« las Johanna mit bebender Stimme. Diesmal fuhr Rosalie nach Paris. Nach drei Tagen kam sie wieder.
»Sie ist tot,« rief sie fast triumphierend, »hier ist das Kind. Morgen Abend trifft Herr Paul hier ein.«
»Paul, mein Kind!« rief die Mutter, allen Schmerz, alles Leid vergessend. Und mit rasender Zärtlichkeit küsste sie das Enkelchen, das Kind ihres Paul.
»Halten Sie ein, Madame,« rief Rosalie, »es fängt schon an zu schreien.«
»Sehen Sie,« fügte sie dann hinzu, »das Leben ist nie so schön, aber auch nie so schlimm, als man glauben möchte.«