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Traurige Tage waren es, die diesem Ereignisse folgten; doppelt traurig für Johanna, die unter den Erinnerungen der letzten Nacht bei der toten Mutter entsetzlich litt. Dazu erkrankte Paul; und wenn er auch wieder genas, so verfolgte sie doch stets der Gedanke, dass er ihr einmal durch den Tod entrissen werden könnte. In ihrem Herzen erwachte die Sehnsucht nach einem zweiten Kinde; aber sie lebte von Julius getrennt, seitdem sie Kenntnis von seiner abermaligen Untreue hatte. Und doch wuchs ihre Sehnsucht von Tag zu Tag.
Ihr Vater war wieder abgereist; die Mutter tot. Wem sollte sie sich anvertrauen? Endlich beschloss sie sich dem Abbé Picot in der Beichte ihren Wunsch zu bekennen. Der wackere Mann hörte sie mit einem gewissen Erstaunen an, das nur zu begreiflich war, wenn er an die Gewohnheiten und die rücksichtslose Sinnlichkeit seiner ländlichen Beichtkinder dachte. Aber er war doch zartfühlend geblieben inmitten dieser Naturkinder und sagte ihr tröstend zum Abschied: »Verlassen Sie sich auf mich; ich werde mit Julius reden.« Und wenige Tage darauf lebten sie wieder vereint, wie in der ersten Zeit.
Aber Julius übte seine Pflichten nur halb aus; seine Sorge, dass Johanna abermals Mutter würde, konnte er schliesslich vor dieser selbst nicht verhehlen. Vergeblich verdoppelte sie ihre Zärtlichkeit, um ihn zu verleiten, seine Selbstbeherrschung aufzugeben. Er blieb indessen stets zurückhaltend und wusste jeden Erfolg ihres ehelichen Zusammenlebens zu vermeiden.
Da beschloss sie, unfähig ihr heftiges Verlangen nach einem Kinde länger zu bemeistern, abermals Abbé Picot aufzusuchen. Er wusste Rat. »Es giebt nur ein Mittel, liebes Kind«; sagte er nach einigem Besinnen. »Sie bringen ihm die Überzeugung bei, dass Sie sich abermals Mutter fühlen. Dann wird er seine Vorsicht vergessen.« Johanna errötete; aber er wusste ihre Zweifel zu zerstreuen. »Die Kirche kann die Zurückhaltung des Gatten nicht billigen; Sie haben ein Recht, ihn zu seiner Pflicht zurückzuführen.«
Julius liess sich wirklich täuschen. Einmal überzeugt, verlor er die lange bewährte Selbstbeherrschung und Johanna sah sich nach Verlauf eines Monats am Ziel ihrer Wünsche. Von da an schloss sie abends ihre Thüre und gelobte aus Dankbarkeit dem Himmel eine ewige Keuschheit.
Gegen Ende des Monats kam der gute Abbé Picot und stellte seinen Nachfolger, den Abbé Tolbiac, vor. Es war dies ein noch junger, kleiner, sehr magerer Priester, dessen tiefliegende, schwarzgeränderte Augen ein leidenschaftliches Gemüt verkündeten. Abbé Picot war Dechant in Goderville geworden.
Der Abschied mochte ihm so schwer werden wie Johanna. Als die Rede auf die eigenartige Moralität seiner Pfarrkinder kam, bemerkte der Pfarrer brüsk: »Das wird unter mir anders werden.« Und hierbei blieb er trotz aller vernünftigen Vorstellungen des alten erfahrenen Mannes. Unter Thränen empfing Johanna dessen Abschiedskuss.
Bald begann der Abbé Tolbiac mit seinen Reformen. Johanna beugte sich seinem festen Charakter, seinem brennenden Eifer und wurde eine regelmässige Besucherin der Kirche und ihrer Feste.
Aber die ganze Gemeinde hasste den neuen Pfarrer, der mit rücksichtsloser Strenge auf der Kanzel wie im Beichtstuhl das lockere Leben der Pfarrkinder verdammte, der sogar schliesslich die Schuldigen öffentlich in der Predigt beim Namen nannte. Bald blieben sämtliche Burschen aus der Gemeinde der Kirche fern. Im Schlosse dagegen war Abbé Tolbiac ein gern gesehener Gast. Sogar Julius behandelte ihn mit grosser Achtung und liess keinen Festtag vorübergehen ohne zu beichten und zu kommunizieren.
Er war jetzt fast täglich bei den Fourvilles, um entweder mit dem Grafen zu jagen oder mit der Gräfin auszureiten. »Sie sind närrisch die beiden, mit ihrer Reiterei«; sagte der Graf, »aber es bekommt meiner Frau so gut.«
Gegen Mitte November kehrte der Baron zurück, sehr gealtert unter der Trauer um die verlorene Gattin. Obgleich Johanna ihm nichts von ihrem engen Verkehr mit dem neuen Pfarrer sagte, so fasste er doch schon gleich nach der ersten Bekanntschaft eine instinktive Abneigung gegen denselben, die bald in offenen Hass überging. Seinem philosophisch angelegten Gemüte, seiner natürlichen Nachsicht und Milde widerstrebte der Zelotismus, die starre Strenge, die aus dem ganzen Wesen des Abbé Tolbiac sprach.
Auch der Priester fühlte recht gut, wie wenig ihm der Baron geneigt war. Aber er wollte seinen Einfluss im Schlosse nicht verlieren und beherrschte sich in dem Gefühle, dass er endlich doch Sieger bleiben werde.
Ein anderer Gedanke beherrschte ihn jetzt ganz: Ein Zufall hatte ihn das Geheimnis zwischen Julius und Gilberte entdecken lassen. Diesem ein Ende zu machen, war sein fester Entschluss. Er zog Johanna in's Vertrauen und verband sich mit ihr, um »zwei Seelen vom Tode zu retten.«
»Es ist eine peinliche Pflicht für mich«; sagte er, als Johanna schwankte, »aber ich muss sie erfüllen. Was gedenken Sie Ihrerseits zu thun?«
»Was soll ich machen, Herr Abbé?« stammelte sie. »Sie müssen diese schändliche Neigung durchkreuzen.« Vergeblich suchte Johanna ihm vorzustellen, wie sie ihrem Manne gegenüber machtlos sei. Er wurde immer erregter und verwies sie auf ihre Pflicht als Christin, als Gattin, als Mutter. »Verlassen Sie dieses entweihte Haus, wenn es nicht anders geht,« rief er schliesslich aus. »Oder besitzen Sie nicht den Mut dazu? Wohlan so haben Sie Anteil an der Schuld und sind unwürdig der Gnade Gottes.«
»Ach verlassen Sie mich nicht, ich beschwöre Sie«; rief Johanna in die Kniee sinkend, »raten Sie mir.«
»So öffnen Sie Graf Fourville die Augen. An ihm ist es dann, der Sache ein Ende zu machen,« sprach er mit hartem Tone.
»Aber es würde sie beide töten! Und ich soll eine Denunziantin sein? Niemals.«
»Wohlan so ist meine Mission hier zu Ende. Ich muss Sie Ihrer Schande und Ihrer Sünde überlassen.«
Vergebens bat und flehte Johanna. Er verliess zornbebend das Haus. An dem Pachthof der Couillards vorbeikommend, gewahrte er eine Anzahl Kinder, die vergnügt zuschauten wie Mirza, des Pächters Hündin eine Anzahl Junge warf. Empört jagte er die Kinder mit seinem grossen Regenschirm auseinander, den er erbarmungslos auf ihre Schultern niedersausen liess. Plötzlich fühlte er sich von rückwärts ergriffen und unsanft zum Thore hinausgesetzt. Es war der Baron, der hinzugekommen war und dessen Hass hier endlich Gelegenheit zur Bethätigung fand.
Als der Pfarrer am nächsten Sonntage von der Kanzel aus mit einer deutlichen Anspielung auf Schloss Peuples von der mangelnden Achtung vor dem geistlichen Stande und mit einer noch deutlicheren Anspielung von ehebrecherischen Verhältnissen sprach, wurde es selbst Julius zuviel. Er schrieb in geziemender Weise dem Bischof und Abbé Tolbiac wurde zur Ruhe verwiesen.
Aber es war die Ruhe vor dem Sturme. Hin und wieder, wenn Gilberte und Julius ausritten, sahen sie durch ein Gebüsch die schwarze Sutane des Pfarrers schimmern. Und eines Tages als sie nach Vrilette zurückkehrten, begegnete ihnen der Abbé Tolbiac auf der Zugbrücke.
Eine seltsame Unruhe überkam sie; aber bald hatten sie das Ereignis wieder vergessen.
Da eines Nachmittages, als Johanna lesend am Fenster sass, bemerkte sie Graf Fourville, der zu Fuss herankam. Sein Gang war so eilig, dass sie ein Unglück befürchtete. Sie eilte hinunter, um ihn zu empfangen. Sein Aussehen war das eines Wahnsinnigen. »Ist meine Frau hier?« stiess er rauh hervor. »Nein«, antwortete Johanna den Kopf verlierend, »ich habe sie heute noch nicht gesehen.« Die Wirkung dieser Worte war erschütternd. Der Riese schien zusammenzuknicken; er nahm den Hut ab, wischte sich den Schweiss von der Stirn. Seine Augen rollten. Er hatte den Mund geöffnet, wie um zu sprechen; aber kein Ton drang hervor. Endlich wandte er sich um und rannte mit einem Wutschrei dem Meere zu.
Einen Augenblick lief Johanna ihm nach, ihn bittend und beschwörend; er hörte sie nicht. Endlich gab sie ihre Bemühungen auf, als sie ihn mit Riesenschritten der Küste zueilen sah. Von qualvoller Angst gepeinigt, kehrte sie in's Haus zurück.
Der Wind war inzwischen immer heftiger geworden. Stoss um Stoss wehte er vom Meere herüber, schüttelte das junge Grün der Bäume und liess das Gras in seltsamen Gewimmel auf- und abwogen. Weisse Möven sausten wie Schaumflocken durch die Luft. Ein Hagelschauer folgte und grosse Körner peitschten das Gesicht des Grafen, der unbekümmert um alles dem Thale von Vaucotte zueilte. Zwei Pferde, die an einem Schäferkarren angebunden waren, zeigte ihm alles.
Er duckte sich nieder und wie der Jäger beim Anblick des Wildes pürschte er sich auf dem Bauche an den Karren heran. Mit seinem riesigen Körper glich er einem Untier, das auf Tod und Verderben sinnt. Jetzt war er unter dem Karren angelangt. Die Pferde wurden unruhig. Ein Schnitt mit seinem scharfen Waidmesser trennte das Riemenzeug. Als ein neuer Windstoss das Dach des Karrens erzittern liess, rannten die erschreckten Thiere wie gehetztes Wild davon. Leise legte der Riese sein Ohr an die Thür; dann lugte er durch eine schmale Ritze in's Innere. Hierauf sprang er mit einem mächtigen Satze auf, schob den Riegel an der Aussenseite vor und rannte wie besessen davon, den leichten Karren an den Deichselgabeln hinter sich herziehend. Keuchend klimmte er die Höhe hinauf, seine Last immer mit sich schleppend, bis er oben an dem steilsten Punkt der Küste angelangt war.
Aus dem Innern des Karrens tönte ersticktes Rufen und heftiges Pochen, aber der Riese beachtete es nicht.
Ein Ruck und der zweirädrige Sarg rollte die steile Klippe hinab. Immer schneller wurde sein Lauf, bald schlug er an eine hervorstehende Felsenkante, bald sprang er in einem grossen Bogen weiter, dann rollte er wieder wie ein Fass um und um, während jammernde Laute wie aus einem Grabe nach oben schallten. Endlich kam er auf den letzten Vorsprung an und nachdem er noch einen mächtigen Bogen beschrieben hatte, lag er wie ein zerplatztes Ei auf dem steinigen Geröll am Meeresufer.
Ein alter Landstreicher, der unten in einer Vertiefung gekauert hatte, sah plötzlich das seltsame Ungetüm über seinen Kopf hinwegsausen und wenige Schritte vor ihm auf dem Strande zerschellen. Eiligst rannte er davon, um die nächstwohnenden Landleute zu benachrichtigen.
Allmählich lief die ganze Umgebung zusammen. Entsetzt starrten alle die Menschen auf die schaurigen Trümmer unter denen zur Unkenntlichkeit zerschmettert die Körper der Beiden hervorragten. Was sollte nun geschehen? Man beschloss endlich, zwei Karren anzuspannen und die Leichen nach Peuples und Vrilette zu schaffen.
Als der Graf den Schäferkarren hatte rollen sehen, war er davongelaufen, so schnell ihn seine Füsse zu tragen vermochten. Nach stundenlangen Umherirren durch Sturm und Regen langte er endlich im Schlosse an. Man teilte ihm sofort mit, dass die Pferde reiterlos angekommen seien. »Es muss ihnen bei dem Sturm etwas passiert sein. Alles soll sofort auf die Suche gehen,« rief er mit stockender Stimme.
Eine Stunde später fuhr ein Karren in den Schlosshof. Man trug eine unkenntliche in Mäntel gehüllte Last die Treppe hinauf. Festen Schrittes folgte ihr der Graf.
Auch in Peuples fuhr ein Karren vor und Johanna brauchte nicht erst zu fragen, was dort unter Mänteln versteckt liege. Mit einem lauten Aufschrei brach sie zusammen. Als sie erwachte, stand ihr Vater neben ihr: »Weisst du schon . . .« begann er zögernd. »Ja, Papa,« antwortete sie.
An demselben Abend wurde sie von einem toten Kinde entbunden. Es war ein Mädchen.
Ein heftiges Fieber trübte für lange Zeit ihre Sinne.
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