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Der Tong-tschi sorgte dafür, daß unsre Helden gute Wohnung erhielten, welche eigentlich für höhere Staatsgefangene bestimmt war, und wies dann den Pang-tschok-kuan an, ihnen eine gute Mahlzeit und alles Erlaubte, was sie verlangen würden, zu verabreichen. Daran fügte er die Bemerkung, daß er zwar heute verhindert sei, morgen aber mit hohen Mandarinen kommen werde, um den Stand und das Herkommen der Gefangenen festzustellen. Bis dahin sollten dieselben gut bewacht werden.
»Ich werde sie nicht aus den Augen lassen,« versicherte der Beamte. »Es soll mir nicht so gehen, wie dem Teu dieses Gefängnisses, welcher nun heute selbst Gefangener ist, weil er gestern die drei Götterdiebe entwischen ließ.«
»Er hat seine Strafe verdient,« sagte der Tong-tschi streng. »Er ist nicht aufmerksam genug gewesen.«
»Aber zu mir sagte er, daß ihn keine Schuld treffe. Er weiß nicht, wie es möglich gewesen ist, daß sie entkommen konnten. Ich habe mich heute erkundigt und weiß nun, auf welche Weise sie ihre Freiheit erlangt haben.«
»Nun, wie?«
»Gestern spät am Abend ist einer hier gewesen, welcher von den Wachen eingelassen wurde, weil er das hohe Zeichen besaß –«
»Der muß also ein vornehmer Kuan-fu gewesen sein,« fiel der Tong-tschi ein.
»Nein, ein Betrüger ist er gewesen, denn er hat die Gefangenen befreit, was ein Kuan-fu nicht thun würde.«
»Dieser Mann? Unmöglich! Wer das hohe Zeichen besitzt, der ist ein hoher Mandarin.«
»Eigentlich, ja. Aber es ist auch möglich, daß das Zeichen ein falsches, ein nachgemachtes war. Man kann das des Abends wohl nicht genau erkennen. Der Teu hat diesen Mann nicht zu beaufsichtigen gewagt, da er ihn für einen hohen Beamten hielt. Heute nun erfuhr ich von den Wachen, daß derselbe mit den drei Gefangenen durch zwei Mauerpforten hinaus ist.«
»So trifft den Teu doch immer die Schuld. Wenn er auch den Kuang-fu nicht beaufsichtigen durfte, so mußte er doch die Gefangenen bewachen. Wenn es so ist, wie mein junger Kollege sagt, so war dieser Mann allerdings ein Betrüger, dem wir nachforschen werden, und wehe ihm, wenn wir ihn entdecken!«
»Wir würde das nicht geschehen können. Nun ich die Aufsicht über dieses Gefängnis führe, werde ich mir, wenn ein solcher Fall eintritt, das Zeichen sehr genau betrachten. Man muß sehr vorsichtig sein, zumal wenn man solche Gefangene hat wie diejenigen, welche ich jetzt herbegleitet habe.«
Der Tong-tschi gab ihm sehr ernsthaft den Rat, diesen Vorsatz ja auszuführen, und entfernte sich dann, um nach Hause zu gehen, wo er von dem Methusalem mit Ungeduld erwartet wurde.
Dieser hatte indessen mit Gottfried und Richard sehr gut zu Mittag gespeist, aber mit wenig Appetit, da er sich in großer Sorge um die Freunde befand. Der Tong-tschi gab sich Mühe, ihn zu beruhigen, doch vergebens.
»Morgen werden sie verhört,« sagte der Mandarin. »Bis dahin ist eine lange Zeit, und es wird uns wohl ein guter Gedanke kommen.«
»Wenn wir auf die Gedanken warten wollen, so sind meine Gefährten verloren. Wir müssen zwar denken, vor allen Dingen aber auch handeln. Wer wird das Verhör führen?«
»Ich und der Fu-yuen.«
»Der höchste Beamte der Stadt, welcher zugleich der Stellvertreter des Generalgouverneurs der ganzen Provinz ist? Da sind meine Freunde verloren. Wird er es glauben, daß sie Lamas sind?«
»Nein; er ist in Lhassa und auch im Lande der Mongolen gewesen. Auch hat er soviel mit Ausländern verkehrt, daß er sofort erkennen wird, wen er vor sich hat.«
»So dürfen wir es unmöglich bis zu diesem Verhör kommen lassen. Meine Gefährten müssen schon morgen früh frei sein. Ich muß sie schon heut nacht aus dem Gefängnisse holen!«
Der Mandarin sah nachdenklich vor sich nieder, dann sagte er: »Das beste, was ich Ihnen raten kann, ist, daß Sie die Sache ruhig abwarten. Man darf ihnen ja nichts thun. Man muß sie dem Vertreter ihres Landes ausliefern.«
»Aber wie man sie dabei behandeln wird! Und ohne Strafe kommen sie nicht davon.«
»Die Strafe wird keine schwere sein; aber mit Ihrer Reise ist es dann aus. Und wer sagt mir, daß ich trotz aller Vorsicht nicht doch auch selbst in die Angelegenheit verwickelt werde!«
»Das haben Sie freilich zu befürchten, denn ich muß leider offen gestehen, daß diese Leute nicht allzu vorsichtig sind, wie sie bewiesen haben.«
»Nicht nur unvorsichtig sind sie, sondern auch übermütig trotz aller Gefahr. Sie hätten diesen Tu-lu-ne-re-si-ti-ki sehen sollen, als er die Augen herausnahm.«
»Doch mir das eine!«
»Ja. Dann verlangte er das Bein des Oberpriesters. Welcher andre wagt das, wenn er sich in einer solchen Gefahr befindet! Ich habe noch nie einen Menschen gesehen, welcher seine Augen entfernen und sie wieder hineinthun kann, ohne das Gesicht zu verlieren.«
Der Student erklärte ihm die Sache und fuhr dann fort: »Sie müssen frei werden, schon um Ihretwillen! Darf ich auf Ihre Hilfe rechnen?«
»Hm! Ich bin Beamter.«
»Sie sind Kuan-fu, sogar Tong-tschi, aber Sie haben trotzdem in der letzten Nacht drei Gefangenen die Freiheit gegeben.«
»Eben deshalb kann ich nun heut nichts thun. Dieser junge Pang-tschok-kuan ist trotz seiner Jugend ein tüchtiger Mann. Er wird sich nicht betrügen lassen.«
»Und es muß doch versucht werden!«
»Wollen Sie es wagen, so begeben Sie sich in eine große Gefahr. Ich will Ihnen weder zu- noch abreden. Ich werde Sie nicht hindern, denn Sie sind verschwiegen und werden mich nicht verraten. Vielleicht gebe ich Ihnen sogar einen guten Rat. Aber verlangen Sie nicht, daß ich mich persönlich beteilige, und führen Sie die Sache so aus, daß ich dabei gar nicht in Betracht komme! Ich werde jetzt in mein Zimmer gehen, um zu überlegen. Denken auch Sie nach! Selbst wenn Sie etwas wagen wollen, ist vor der Nacht nichts zu thun. Bis dahin wird wohl ein Entschluß kommen.«
Auch der Methusalem suchte seine Stube auf. Er ging in derselben ruhelos hin und her. Sie wurde ihm zu eng, und er begab sich in den Garten, wo er den Wichsier und Richard fand, welche sich sehr angelegentlich mit demselben Thema beschäftigten.
Sie setzten sich an einer Stelle nieder, wo sie nicht belauscht werden konnten, und schmiedeten Pläne, ohne aber einen zu finden, welcher Erfolg verhieß.
»Sie müssen heraus und sollte ich sie mit Kanonen herausschießen!« rief endlich Degenfeld ungeduldig aus. »Es handelt sich nicht nur um Turnerstick und den Mijnheer. Diesen beiden könnte ein kleiner Denkzettel gar nichts schaden; sie haben ihn reichlich verdient; aber daß Liang-ssi nun mit in diese Tinte geraten soll!«
»Es weiß doch niemand, daß er zu ihnen gehört,« meinte Richard.
»Jetzt noch nicht, aber sie werden es erfahren. Wenn sie morgen vor den Fu-yuen kommen, so werden alle Ausreden hinfällig; das sehe ich voraus. Diesem Beamten machen sie nichts weiß!«
»Dat glaube auch ich,« stimmte Gottfried bei. »Am allerbesten wäre es, man schickte mir hin, sie zu verhören. Mein Urteil würde lauten: Jebt jedem einen jehörigen Nasenstüber und laßt sie dann laufen, soweit sie wollen! Hier in China Jötters zu spielen! So etwas ist noch aus keine Dachtraufe jefallen! Wie sie nur auf diesen unvernünftigen Jedanken jekommen sind?«
»Jedenfalls hat Turnerstick ihn gehabt, und der gute Dicke ist mit in die Patsche getrollt. Ich wette, daß beide noch gar nicht glauben, daß es ihnen unter Umständen recht schlimm ergehen kann. Hätte sich Liang-ssi nicht so mutig ihrer angenommen, und wäre der Mandarin nicht noch einmal zu ihnen zurückgekehrt, so hätten sie in der Gefahr geschwebt, vom Pöbel gelyncht zu werden. Kommt es nun morgen heraus, daß Liang-ssi zu ihnen gehört, so ist es um ihn geschehen. Er ist ein Chinese; ihn kann kein Konsul und kein Resident retten. Ueber ihm und auf ihn wird sich das ganze Gewitter entladen. Ich war so froh, ihn gefunden zu haben. Jetzt befindet er sich in der Gefahr, uns wieder entrissen zu werden. Das darf nicht geschehen; ich habe unserm Ye-kin-li mein Kong-kheou gegeben und werde unter Umständen mein Leben daran setzen, es halten zu können. Liang-ssi muß unbedingt befreit werden; er muß heraus!«
»Ja, und sollte er mit Ketten an dat Firmament jebunden sein, wie Wallenstein jeschworen hat. Sollte uns denn keine jute Idee beikommen! Mein Kopf ist doch sonst kein Kohlenkasten!«
»Aber ich wüßte wohl etwas; aber es geht nicht.«
»Er weiß etwas, doch jeht es nicht! Nun, da wissen Sie eben nichts, mein oller Methusalem. Wat ist es denn, wat Sie wissen?«
»Wenn der Tong-tschi wollte, so wäre uns geholfen.«
»Ja, dat weiß ich auch. Hat er jestern die drei herausjeholt, warum sollte er es heut nicht fertig bringen!«
»Weil man nun klug geworden ist, und weil heut eine andre und schärfere Beaufsichtigung da ist.«
»Er hat doch die Medalljen, die ihm dat Thor und alle Thüren öffnen, wie Sie erzählten.«
»Ja, aber ich kann es ihm nicht verdenken, wenn er sich nicht persönlich in Gefahr begeben will. Bei ihm steht eben mehr auf dem Spiele als bei jedem andern, und wir können von ihm nicht verlangen, daß er für uns alles, geradezu alles wagt, während es eigentlich seine Pflicht wäre, das gerade Gegenteil zu thun.«
»Richtig! Aberst wat er nicht kann oder nicht will, dat können doch wir!«
»Was?«
»Als Mandarinen ins Jefängnis jehen und dann mit die Jefangenen wieder herausspazieren.«
»Daran habe auch ich schon gedacht. Aber das ist leichter gedacht als gethan!«
»Dat weiß ich sehr wohl. Es läßt sich ja überhaupt alles leichter denken als thun. Denke ich mich zum Beispiel, daß ich Ihre Hukah rauche, da haben Sie dat Mundstück zwischen die Zähne, und ich kann mich den Rauch inschnuppern. Ich weiß auch ebenso jenau, daß die Sache mit eine jewisse Jefahr verbunden ist, aber ich kann den Jedanken nicht los werden, daß wir unsern ›Jeldbriefträger von Ninive‹ nochmal wiedersehen, und da ist mich sonne chinesische Jefährlichkeit ziemlich schnuppe. Wollen Sie hinein in dat Huok-tschu-fang, so bin ich augenblicklich mit dabei.«
»Ich auch,« sagte Richard.
»Das glaube ich,« antwortete Degenfeld dem letzteren. »Dich aber könnte ich nicht gebrauchen. Du treibst Chinesisch erst seit unsrer Reise; Gottfried aber hat sich schon vorher so oft und eingehend mit seinem guten Freunde Ye-kin-li herumgeärgert, daß, um mit Turnerstick zu sprechen, genug Endungen an ihm hangen geblieben sind, um ihm hier und da einmal über die Lippen zu laufen. Er kann leichter als du für einen Chinesen gehalten werden, ganz abgesehen davon, daß du zu jung und zu klein bist, an so einer Gefahr teilzunehmen.«
»Schön!« meinte Gottfried. »Also mein Jedanke jefällt Ihnen?«
»Er ist nicht allein der deinige. Ich sagte ja bereits, daß ich ihn selbst auch schon gehabt habe. Wenn ich mir die Sache recht überlege, so wird uns wohl nichts andres übrig bleiben.«
»Jut. Ich jehe also mit?«
»Ja. Allein kann ich es nicht wagen. Ich muß einen Soutien haben, auf den ich mich zurückziehen kann.«
»Jottfried und Soutien! Ich avanciere immer höher! Wollen diese Anjelegenheit weiter betrachten. Wenn wir diesen Plan ausführen wollen, so müssen wir chinesische Kleider haben.«
»Mandarinenanzüge sogar!«
»Doch woher nehmen?«
»Freilich hier ist es nicht wie daheim, wo man nur zum Maskenverleiher zu gehen braucht, um alles zu finden, was nötig ist.«
»Werden es auch hier finden!«
»Wo?«
»Davon später. Ferner brauchen wir den Hauptschlüssel in Jestalt von eine Medaille.«
»Den hat der Tong-tschi.«
»Und jiebt ihn nicht her?«
»Ich zweifle.«
»Ferner brauchen wir Sänften, nicht?«
»Ja. Gehen können die drei nicht, wenn es uns gelingen sollte, sie bis vor das Thor des Gefängnisses zu bringen. Die Kleidung des Mijnheer würde auffallen und alles verraten.«
»So müssen wir Sänftenträger bestechen, und dat kostet Jeld.«
»Das Geld würde ich nicht sparen; aber welcher Fremde findet gleich Kulis, denen man trauen darf. Wir wären gezwungen, diesen Leuten unsern Plan mitzuteilen, und müßten gewärtig sein, daß die Kerls zum Pang-tschok-kuan liefen, um ihm alles zu sagen.«
»Wie viele brauchen wir ihrer denn?«
»Zwölf.«
»Zwölf? Warum so viele?«
»Weil wir sechs Personen sind? Es versteht sich ja ganz von selbst, daß wir nicht nach hier zurückkehren könnten. Wir müßten sofort die Stadt verlassen.«
»O weh! Und die Straßen und Jassen sind alle verschlossen!«
»Das würde uns wenig hindern, da ich den Paß habe, welcher alle Thore öffnet, leider aber nicht Gefängnisthüren.«
»Hm! Je länger ich mich die Sache betrachte, desto freundlicher lächelt sie mir an. Ich werbe 'mal einige Augenblicke auf und nieder steigen; dann sollen Sie hören, wat der Jottfried für kein Aujust ist!«
Er stand von seinem Sitze auf und stieg einigemal im Garten hin und her. Dabei warf er die langen Arme um sich und zog allerlei wunderliche Gesichter, lachte dabei laut auf, brummte wieder sehr ernst vor sich hin und kehrte endlich mit einem höchst pfiffigen Gesicht wieder zurück.
»Ich habe es!« sagte er. »Die janze Jeschichte liegt hell und klar vor meine jeistige Fähigkeiten; nur mit die Sänftenträger weiß ich noch nicht, woher sie nehmen.«
»Nun, schieß los!«
»Soll jeschehen. Sie wissen wohl, daß ich länger bin als Sie?«
»Natürlich! Was soll diese Frage?«
»Stören Sie mir nicht in meinem Zirkel! Auch werden Sie bemerkt haben, daß Sie dicker sind als ich?«
»Zu meiner Kenntnis ist auch das gekommen, ja.«
»Und wat sagen Sie nun von die Jestalt unsres heutigen Wirtes?«
»Wieso? In welcher Beziehung meinst du das?«
»In Beziehung der seinigen Jestalt auf die unsrige Figur.«
»Nun, er ist nicht ganz so beleibt wie ich und auch nicht ganz so lang wie du.«
»Janz recht! Er steht so mitten inne. Darum jebe ich mir der Ueberzeugung hin, daß seine Anzüge uns beiden so leidlich passen würden, wenigstens für des Nachts.«
»Möglich, sogar wahrscheinlich. Aber denkst du etwa, daß er sie uns leihen würde?«
»Warum nicht?«
»Nein. Er mag von der Sache persönlich nichts wissen.«
»Aberst fragen können Sie ihn doch! Und sollte er sie nicht herjeben wollen, nun, so schafft unser Jottfried Rat.«
»Ich mause sie, oder ›ek muise zij‹, wie der Mijnheer sagen würde.«
»Gottfried, wie lautet das siebente Gebot?«
»Weiß schon: Du sollst nicht stehlen! Doch will ich dat auch jar nicht. Er soll seine Habitussens zurück erhalten. Und diese Medailljens, welche wir brauchen, werben ›ook gemuist‹, wenn wir sie nicht anders bekommen können.«
»Gottfried, Gottfried!«
»Methusalem, Methusalem! Wenn Sie wat bessers wissen, so sagen Sie es! Sie können nur als Mandarin und mit einem Zeichen versehen sich Eingang verschaffen. Ueberlejen Sie sich den Schlafrock; ich werde Ihnen nicht dabei stören.«
Er ging fort, um seinen Spaziergang wieder aufzunehmen, und kehrte erst nach längerer Zeit zurück, um zu fragen: »Nun, haben Sie einen andern Weg entdeckt?«
»Nein.«
»So muß es bei dem meinigen bleiben.«
»Das fällt mir schwer. Sollen wir das Vertrauen des Tong-tschi in dieser Weise täuschen? Denn was wir ihm heimlich nehmen, können wir ihm dann nicht wieder zustellen.«
»Warum denn nicht?«
»Weil wir keine Zeit dazu haben und die Sachen auch keinem Boten anvertrauen dürfen.«
»Hm! Dann wären sie allerdings jestohlen, und ein Spitzbube ist der Jottfried nie jewesen. Hier, grad hier sitzt der Hase, über den ich nicht jern stolpern möchte. Denken wir also weiter nach!«
Aber das Grübeln war umsonst. Degenfeld sah ein, daß er vor allen Dingen hören müsse, welchen Vorschlag ihm der Tong-tschi machen werde. Dieser hatte ihm ja einen guten Rat versprochen.
Aber der Nachmittag verging, ohne daß der Mandarin sich sehen ließ. Es wurde Abend und man rief die drei zum Mahle in das Haus. Es war für sie allein gedeckt. Degenfeld fragte den servierenden Diener nach seinem Herrn und hörte, daß derselbe Besuch empfangen habe.
»Es ist der Ho-po-so, welcher mit ihm in seinem Zimmer speist,« fügte der redselige Mann hinzu.
»Der Ho-po-so? Wann ist er gekommen?«
»Vor einer halben Zeit.«
Eine halbe Zeit ist gerade eine Stunde. Also schon so lange war er da! Er aß mit dem Tong-tschi, ohne sich vor den Gästen sehen zu lassen, welche zu begrüßen er gekommen war! Das war sonderbar.
Später hörte Degenfeld die Schritte mehrerer Leute, welche draußen am Speisezimmer vorübergingen. Dann erfuhr er, daß der Ho-po-so sich entfernt habe.
»Das ist beleidigend,« sagte er zu Gottfried. »Wir haben ihn von der Piratendschunke geholt; er verdankt uns nicht nur das Leben, sondern auch die Ehre und Reputation; er hat auch dem Tong-tschi gesagt, daß er morgen oder sogar schon heut kommen wolle, um uns zu sehen, und nun er da ist, sucht er uns nicht auf und entfernt sich wieder, ohne uns sein mongolisches Angesicht gezeigt zu haben. Was soll man davon denken?«
»Wat ich denken soll, dat weiß ich.«
»Nun, was?«
»Der Tong-tschi wird erzählt haben, wat jeschehen ist, und nun mag dieser liebe Hafen- und Flußmeister nichts von uns wissen. Als er sich in Jefahr befand, waren wir ihm willkommen; nun aber wir uns in Jefahr befinden, beeilt er sich, heiler Haut nach Hause zu gehen. Dat ist so der Lauf der Welt und die Gepflogenheit des Menschenjeschlechtes.«
»Aber feig und undankbar!«
»Wat mir betrifft, so bin ich nicht zu den Chinesigen jekommen, um Mut und Dankbarkeit bei sie zu suchen. Meinetwegen mag dieser Ho-po-so sich – – –«
Er hielt inne, denn der Tong-tschi trat ein, grüßte sehr freundlich und erkundigte sich, wie sie bedient worden seien. Der Methusalem antwortete anerkennend und war dann ziemlich erstaunt, als der Wirt ihm sagte, daß der Ho-po-so dagewesen und soeben fortgegangen sei. Er hatte erwartet, daß er diesen Besuch verheimlichen werde, um seine Gäste nicht zu kränken.
»War er nicht gekommen, uns zu begrüßen?« konnte der Student sich doch nicht enthalten zu fragen.
»Ja,« antwortete der Mandarin ganz unbefangen. »Er hatte sich sehr darauf gefreut, Sie zu sehen.«
»So kommt er wieder?«
»Nein.«
»Dann ist es mir unbegreiflich, daß er gegangen ist, ohne sich sehen zu lassen!«
»Es fiel ihm plötzlich ein, daß er etwas sehr Wichtiges vergessen hatte; darum mußte er sich beeilen und hat mich gebeten, ihn zu entschuldigen.«
»Dessen bedarf es nicht. Wir dürfen ja nicht so unbescheiden sein, ihn von wichtigen Dingen abzuhalten.«
Ueber das Gesicht des Tong-tschi glitt ein feines Lächeln. Er wußte gar wohl, wie Degenfeld seine Worte meinte, that aber gar nicht so, als ob er ihn verstehe. Er setzte sich zu den dreien an den Tisch, verlangte Pfeifen und gab, als diese brannten, dem Diener den Befehl, sich zurückzuziehen und jede Störung fern zu halten.
Nach dieser Einleitung wollte der Methusalem vermuten, daß der Mandarin nun von den Gefangenen sprechen und vielleicht einen guten Rat zum Vorschein bringen werde. Dem war aber nicht so, denn der Chinese begann wieder von dem Ho-po-so zu sprechen. Er sagte: »Dieser Mandarin hat über den Hafen von Kuang-tséu-fu und alle Flüsse des Landes zu gebieten. Es darf ohne seine Erlaubnis kein Schiff kommen oder gehen. Vorhin nun besann er sich darauf, daß der Kapitän eines Ts'ein-kiok um die Genehmigung nachgesucht habe, abzusegeln. Der Ho-po-so hatte das vergessen, und da das Schiff morgen schon weit von hier sein muß, so eilte er fort, um das Versäumte nachzuholen.«
Ts'ien-kiok heißt wörtlich: Tausendfuß. So werden die leicht gebauten Kriegsdschunken genannt, welche besonders die Flüsse des Binnenlandes und Kanäle befahren. Sie werden außer von den Segeln auch durch eine Menge von langen Rudern fortgetrieben, welche zu beiden Seiten des Fahrzeuges in das Wasser greifen. Die schnelle Bewegung und große Anzahl dieser Ruder ist der Grund, daß man diese Fahrzeuge oft Tausendfüße nennen hört.
Was aber hatte so ein Schiff heute abend für eine Wichtigkeit? Warum sprach der Tong-tschi von demselben, wo man von ihm ganz andres erwartet hatte?
»Haben Sie schon einmal so einen Ts'ien-kiok rudern sehen?« fragte er in einem Tone, als ob dieser Gesprächsgegenstand der vorzüglichste sei, den es nur geben könne.
»Nein,« antwortete der Methusalem kurz.
»Sie werden es noch sehen und sich über die Schnelligkeit wundern, mit welcher es in kurzer Zeit große Strecken zurücklegt.«
»Später! Heut aber habe ich an ganz andres zu denken!«
»O, warum wollen Sie nicht auch einmal von einem Tausendfuße sprechen oder hören? Er wird zwei Stunden nach Mitternacht abgehen, kann aber auch vorher bereit dazu sein.«
»So!« dehnte Degenfeld.
»Er muß nämlich noch in dieser Nacht fort, um einen Yao-tschang-ti Steuereintreiber, Exekutor nach Schü-juan zu bringen.«
»Wohnen dort viele Leute, welche die Steuern schlecht bezahlen?« fragte der Student, um nur etwas zu sagen.
»Ja. Aber wissen Sie, wo Schü-juan liegt?«
»Nein.«
»Es liegt jenseits hoch oben am Pe-kiang, wenn man nach Schao-tschéu fährt.«
Jetzt wurde der Methusalem aufmerksam, denn die letztgenannte Stadt lag auf der Route, welche er einschlagen wollte. Warum erwähnte der Mandarin sie? Hatte er doch einen Grund, von dem Tausendfuße zu sprechen?
»Dieses Schiff,« fuhr er fort, indem er mit den kleinen Augen blinzelte, »ist das schnellste, welches ich kenne. Wenn es heute zwei Stunden nach Mitternacht fortfährt, wird es übermorgen noch vor Mittag den Pe-kiang erreichen, wozu ein andres Schiff zwei volle Tage braucht. Es legt bis dorthin nicht am Ufer an und würde für denjenigen, welcher sehr schnell und rasch weit von hier entfernt sein will, eine vortreffliche Gelegenheit bieten.«
Es war klar, er sagte das nicht ohne eine gewisse Absicht. Sollte das etwa der Rat sein, den er hatte geben wollen? Wollte er als Beamter ihn nicht direkt erteilen, sondern ihn erraten lassen? Dies war immerhin anzunehmen, und darum fragte der Methusalem: »Nimmt denn ein Kriegsschiff auch Passagiere mit?«
»Ja, wenn sie dem Kapitän empfohlen sind.«
»Auch Fremde?«
»Jeden, der eine Empfehlung besitzt.«
»Und muß dieselbe eine schriftliche sein?«
»Ja. Noch besser aber ist es, wenn derselben eine mündliche vorangegangen ist. Aber wer einen Paß besitzt, wie zum Beispiel ich Ihnen ausgestellt habe, bedarf dessen gar nicht. Besitzt er aber außer demselben auch noch eine schriftliche und mündliche Empfehlung, so kann er auf dem Tausendfuße schalten und walten, als ob derselbe sein Eigentum sei.«
»Das würde der Kapitän sich nicht gefallen lassen!«
»O, was ist der Kapitän einer Flußdschunke! Nichts, gar nichts! Sie wissen ja, daß China gar keine Seeoffiziere besitzt. Sie existieren nur dem Namen nach. Ein Soldat wird zu Lande oder zu Wasser verwendet, ganz wie es seinem Vorgesetzten beliebt. Landoffiziere kommandieren auf Dschunken, und Seeoffiziere befehligen Landabteilungen, und dabei verstehen sie keins von beiden. Ich bin Chinese, aber ich kenne unsre Mängel und weiß recht gut, weshalb wir in jedem Kriege, den wir mit den Fremden führen, geschlagen werden und geschlagen werden müssen. Der Kapitän dieses Tausendfußes ist ein gewöhnlicher Scheu-hü-tsiang-tsung, auch Scheu-pi Beides heißt Hauptmann genannt, dem kaum seine Soldaten gehorchen. Die eigentliche Führung des Schiffes fällt, wie auch bei den Handelsdschunken, dem Ho-tschang zu.«
»Und hat der Yao-tschang-ti etwas zu befehlen?«
»Der Steuereintreiber? Diese Leute treten überall befehlend auf und gebärden sich, als ob sie hohe Mandarinen seien; aber sie haben nur Macht über die säumigen Steuerzahler, sonst über keinen Menschen. Sie brüllen einen jeden an, kriechen aber in dem Staube, wenn er sie noch lauter anschreit.«
»Dann muß eine Segel- und Ruderfahrt mit solchen Leuten sehr interessant sein.«
»Das ist sie gewiß. Vielleicht haben Sie bald Gelegenheit, eine solche Fahrt zu unternehmen, da Sie ja auch den Pe-kiang hinauf wollen.«
»Woher wissen Sie das? Ich erinnere mich nicht, es Ihnen gesagt zu haben.«
»Ihr Liang-ssi sprach davon, als ich ihn heute früh zufällig im Garten traf.«
»So hat er Ihnen auch gesagt, weshalb ich diese Richtung einschlage?«
»Nein. Er teilte mir nur mit, daß Sie hinauf nach Schao-tschéu wollen.«
»Ist Ihnen der Kapitän des Tausendfußes bekannt?«
»Ja. Der Ho-po-so hat mir seinen Namen genannt.«
»Und wohl auch der Steuereintreiber?«
»Auch dieser. Ich kenne ihn persönlich. Er ist ein kleiner, dürrer Mann, dünkt sich aber ein Riese von Verstand und Würde zu sein. Er wird von allen ausgelacht, die keine Steuern schuldig sind. Es befinden sich auf diesem Tausendfuße einige Waren, welche ich holen lassen will.«
»Wann?«
»Nach Mitternacht.«
»Warum so spät und wenn alle Thore der Gassen verschlossen sind?«
Er blinzelte wieder sehr listig mit den Augen und antwortete: »Weil – – nun, Ihnen kann ich es anvertrauen, weil es Waren sind, von denen niemand etwas wissen darf.«
»Dürfen die Träger denn durch die Gassen? Wird man ihnen die Thore öffnen?«
»Ganz gewiß, denn ich denke, es wird einer dabei sein, welcher einen guten Paß besitzt.«
»Und dieser Mann muß mit ihnen gehen?«
»Gehen? O nein! Ein Mann, welcher einen solchen Paß besitzt, darf nicht gehen. Er ist zu vornehm dazu. Auch muß ich die Waren in Sänften holen lasten, damit sie nicht von den Wächtern gesehen werden.«
Jetzt begann der Methusalem zu begreifen. Um sich völlig zu überzeugen, ob er recht vermute, erkundigte er sich noch weiter: »Wie viele Sänften werden Sie senden?«
»Eigentlich nur sechs. Aber es kommt noch eine Doppelsänfte dazu, um die Gewehre und Kleider aufzunehmen.«
»Welche Gewehre?«
»Diejenigen, welche ich von hier nach dem Tausendfuße sende. Für sie wäre eine einfache Sänfte nicht räumlich genug. Und dann bekomme ich von dem Schiffe aus Kleider zugeschickt. Es ist ein kleines, heimliches Geschäft, von welchem ich sehr wünsche, daß es gelingen möge.«
Jetzt wußte Degenfeld ganz genau, woran er war. Der Mandarin wollte ihm Kleider leihen, um sich unkenntlich machen zu können. In diesen Kleidern sollte er die Gefangenen befreien. Dann sollte er sich mit seinen Genossen nach dem Schiffe tragen lassen und die Kleider zurücksenden.
»Aber wird man nicht die Sänften und ihre Träger erkennen?« fragte der Student, um sich genau zu unterrichten.
»Nein, denn die Leute sind wie ganz gewöhnliche Kulis gekleidet, und ich habe auch dafür gesorgt, daß ganz einfache Palankins vorhanden sind.«
»Das ist ja ganz ausgezeichnet. Aber werden die Träger auch so klug sein, ohne anzuhalten nach dem Schiffe zu laufen?«
»Sie brauchen nur ein einziges Mal auszuruhen. Wo das geschehen soll, das hat der Mann mit dem Passe zu bestimmen. Auch habe ich es ihnen schon gesagt. Es ist nicht allzuweit von hier.«
»Sind es viele Kleider?«
»Nur zwei Mandarinenanzüge. Wollen Sie dieselben sehen?«
»Ich bitte, es zu dürfen.«
»So kommen Sie!«
Der Tong-tschi führte Degenfeld in eine Stube, welche für den letzteren nicht bequemer liegen konnte, denn sie stieß an die seinige. Da hingen zwei vollständige Anzüge nebst Mützen mit Knöpfen und Pfauenfedern, welche letztere ein Zeichen großer kaiserlicher Gewogenheit und Anerkennung sind. Nicht das Geringste fehlte. Selbst die Gegenstände, welche trotz ihrer Kleinheit eine so große Wichtigkeit besaßen, waren vorhanden, denn der Mandarin griff in die Aermel, welche in China bekanntlich als Taschen benutzt werden, und zog zwei Medaillen hervor, welche er dem Methusalem zeigte, um sie dann wieder zurückzustecken. Dabei sagte er lächelnd: »Diese Kleider und Münzen sind nämlich für zwei gute Freunde bestimmt, welche einmal versuchen wollen, wie man sich als Mandarin fühlt. Es ist nur ein Scherz, und sie werden mir diese Gegenstände alle sofort zurücksenden, damit mir später nichts davon fehle, denn über diese Münzen habe ich Rechenschaft abzulegen.«
»Wann werden sich diese Freunde ankleiden?«
»Kurz bevor sie gehen. Sie nehmen ihre eigenen Anzüge in der Doppelsänfte mit, um sie dann, bevor sie das Schiff erreichen, wieder zu vertauschen.«
Das war alles genau so arrangiert, als ob der Gottfried dem Mandarin seine Gedanken und Pläne mitgeteilt hätte. Nur handelte es sich darum, die Gefährten glücklich aus dem Gefängnisse und in die Sänften zu bringen. Das war freilich die Hauptsache, zu deren Gelingen aber der Tong-tschi nichts beitragen konnte, wenigstens nicht direkt.
Indirekt aber that er sein möglichstes. Denn als er nun mit Degenfeld in das Speisezimmer zurückgekehrt war, brachte er das Gespräch auf die Gefangenen und beschrieb bei dieser Gelegenheit das Gefängnis so genau und eingehend, daß der Methusalem schließlich auf das allerbeste orientiert war.
Ungefähr eine Stunde vor Mitternacht brach er auf. Er sagte, daß er heute noch einige Stunden zu arbeiten habe und auch auf die Rücksendung der Kleider und Münzen warten müsse. Er schüttelte den dreien die Hände auf das herzlichste, that ganz so, als ob er nur für diese Nacht Abschied von ihnen nehme, drehte sich aber unter der Thür noch einmal um und sagte in gerührtem Tone: »I lu fu sing!«
Als er dann fort war, schüttelte Gottfried den Kopf und sagte: »Jetzt weiß ich nicht, ob ich ihn recht verstanden habe. Es ist mich janz so, als ob er jelauscht hätte, als wir unten im Garten miteinander sprachen.«
»Das kann nicht geschehen sein, weil der Ho-po-so bei ihm war.«
»Dann ist mich diese Jeschichte ein noch viel jrößeres Rätsel. Was hatten denn seine letzten Worte zu bedeuten?«
»Möge euch das Glück auf eurer Reise begleiten!«
»So hat er gesagt? Donner und Doria, dann ist es richtig! Dann habe ich ihm verstanden! Wir sollen auf das Schiff. Oder nicht?«
»Ja.«
»Und wat war's mit die Kleidage?«
»Kommt! Ich will es euch zeigen.«
Er führte die beiden in die erwähnte Stube. Als Gottfried die Anzüge erblickte, sagte er: »Da ist ja jeder Wunsch erfüllt. Dieser Tong-tschi muß heut mal allwissend jewesen sein. Ich könnte ihn küssen oder ihm ein Morjenständchen off meine Oboe bringen. Nur die Zöpfe fehlen.«
»Brauchen wir nicht, denn wir haben da nicht gewöhnliche Mützen, sondern Regenhüte mit Kaputzen. Er hat eben alles überlegt.«
»Wie soll denn dat allens werden?«
»Das wirst du nachher erfahren. Jetzt will ich einmal sehen, wie es im Hause steht, wer noch wach und munter ist und wo sich die Sänften befinden.«
Im Stockwerke brannte nur eine einzige einsame Lampe. Unten hing zwischen Vorder- und Hinterthür auch eine solche. Die erstere Thür war verschlossen; die zweite stand offen. Als Degenfeld hinaustrat, sah er die Sänften stehen. Ein Mann erhob sich vom Boden, trat nahe zu ihm heran, verbeugte sich und fragte: »Wann befiehlt Ihre hohe Würde, daß wir aufbrechen?«
Der Sprecher war ganz einfach, wie ein Kuli gekleidet.
»Weißt du, wen ihr zu tragen habt?« fragte der Methusalem.
»Ja.«
»Auch wohin?«
»Auch das.«
»Nun, wohin?«
»Nach dem Schiffe.«
»Direkt?«
»Nein. Wir halten einmal. Zwei hohe Herren steigen aus; der jüngere Gebieter bleibt in seinem Palankin. Dann kommen die beiden Ehrwürdigen mit drei andern Achtunggebietenden zurück; sie steigen ein, und der Weg wird fortgesetzt, bis wir in der Nähe des Schiffes halten, um die Umkleidung abzuwarten und sie dann auf das Deck des Tausendfußes zu bringen.«
»Du hast sehr genaue Befehle erhalten. Aber wo ist die Stelle, an welcher ihr zu halten habt?«
»In der Nähe des Gefängnisses steht die Thür eines Hauses offen, in dessen Hof wir warten werden.«
»Wem gehört dieses Haus?«
»Einem sehr ergebenen Diener unsres mächtigen Tong-tschi.«
»Gut! In kurzer Zeit werden wir aufbrechen. Haltet euch bereit!«
Degenfeld ging in seine Stube zurück, in welcher er den Gottfried instruierte. Als er mit seiner Weisung zu Ende war, kratzte sich der Wichsier hinter den Ohren und schmunzelte: »Allens ist jut, allens, aberst ob es jelingen wird, dat müssen wir abwarten. Leicht ist es nicht. Es scheint mich vielmehr, als ob wir noch niemals ein so jroßes Wagnis unternommen hätten. Wenn es auch nicht den Kopf kostet, so kann doch der Kragen verloren jehen. Doch, frisch jewagt ist halb ertrunken! Ein tapferer Ritter zaudert nicht. Machen wir uns also in die Jewänder und dann auf die Beine!«
Sie vertauschten ihre Kleider mit den beiden Anzügen, wobei Richard ihnen behilflich war. Dann mußte der letztere die Habseligkeiten der gefangenen Gefährten aus deren Stuben holen. Der Hund bekam seinen Tornister aufgeschnallt, und dann begaben sie sich hinab zu den Sänften.
Dort standen jetzt vierzehn Kulis, welche ihrer warteten. Degenfeld befahl ihnen, die Effekten herabzuholen und in die Doppelsänfte zu thun. Als dies geschehen war, stiegen die drei ein.
Es schien im ganzen Hause außer den Genannten kein Mensch anwesend oder wach zu sein, eine so tiefe Stille herrschte überall. Der Zug setzte sich in Bewegung. Die Thür wurde leise geöffnet und wieder verschlossen; dann ging es im Trabe die Gasse hinab.
Es war dem Methusalem keineswegs allzu behaglich zu Mute. Er stand vor einem Wagnisse, von welchem hundert gegen zehn zu wetten war, daß es übel ablaufen werde; er vertraute aber auf sein gutes Glück und sagte sich, daß sein Vorhaben zwar ein ziemlich leichtsinniges, aber doch nicht unbegründetes sei.
Die Straße war dunkel. Nur ganz vorn, wo sie durch einen Gitterbogen von der nächsten Gasse getrennt war, gab es eine Papierlaterne, bei welcher ein Wächter stand.
»Schui ni-meo – wer seid ihr?« fragte er, als die Träger Degenfelds, welcher in der vordersten Sänfte saß, bei der Pforte anhielten.
Der Student hatte seinen Paß bereit gehalten und zeigte ihn vor. Der Wächter leuchtete mit der Laterne auf die Schrift; als er die ersten Charaktere und dann das Siegel erblickte, riß et die Pforte auf und warf sich, ohne ein weiteres Wort zu sagen oder zu fragen, platt auf den Boden nieder. Sie konnten passieren.
Ebenso ging es am Ende von noch vier andern Straßen. Ueberall ertönte das Schui-ni-men, und sobald die Wächter den Paß erblickten, öffneten sie schleunigst und warfen sich dann auf die Erde.
Dann bogen die Träger in ein Haus ein, dessen Thür offen stand, und setzten die Sänften draußen im Hofe ab. Degenfeld, Gottfried und Richard stiegen aus. Es war hier so finster und still wie in einer Kirche um Mitternacht.
»Ich wollte, ich könnte mit euch gehen,« sagte Richard. »Mir ist so bange um euch, Onkel Methusalem.«
»Pah, bange!« antwortete der Blaurote. »Wer wird da ängstlich sein.«
»Aber es ist so gefährlich. Was thue ich, wenn man euch festhält?«
»Da läßt du dich zurück zum Tong-tschi tragen. Aber das kann gar nicht geschehen. Als Mandarinen haben wir das Recht, das Gefängnis zu jeder Stunde, auch des Nachts zu besuchen. Da kann uns niemand etwas thun. Und sind wir drin, so werden wir ja sehen, ob die Sache leicht oder schwer ist. Ist sie unmöglich, so gehen wir unterrichteter Dinge wieder fort. Kopflos werde ich gar nicht handeln. Also den Kopf in die Höhe, Junge! In einer Viertelstunde sehen wir uns wieder.«
Richard schlang den Arm um ihn, drückte ihn an sich und trat dann still zurück. Degenfeld ging mit dem Gottlieb durch das Haus zurück auf die Straße. Diese war vollständig dunkel. Nur gerade ihnen gegenüber schimmerten einige geölte Papierfenster.
»Das ist im Gefängnisse,« sagte Degenfeld. »Dort muß es liegen.«
»Ja, nach der Beschreibung des Tong-tschi liegt es dort. Doch sagen Sie mich erst mal, welches Jefühl Sie in der Magenjegend empfinden?«
»Ungefähr so, als ob ich saures Bier getrunken hätte.«
»Mich ist es ebenso. Und oben im Halse habe ich die Empfindung, als ob ich zur Hälfte einen Schangdarm verschlungen hätte. Ist es dat Jewissen, nämlich dat böse, oder die Angst?«
»Wohl beides. Einen Schritt, wie wir ihn vorhaben, kann man unmöglich ohne Sorge und Beklemmung thun. Wer das leugnet, der lügt einfach. Doch je schneller man ins Wasser springt, desto eher ist man naß. Komm, alter Gottfried!«
»Jottfried? Dat verbitte ich mich. Ich bin jetzt der Kuan-fu Ziegenkopf. Verstanden? Ich werde versuchen, mein Chinesisch an den Mann zu bringen.«
»Ja nicht! Sprich so wenig wie möglich; am besten ist's, du schweigst ganz.«
»Jut, so schweige ich chinesisch. Auch dat habe ich jelernt.«
Sie schritten über die Straße hinüber und standen vor einem Thore, welches durch eine hohe dicke Mauer führte. Ueber dem Thore hing ein Gong, an welches der Methusalem schlug.
»Schui-tsi – wer da?« fragte es von innen.
»Ri kuan fu – zwei Mandarinen,« antwortete Degenfeld.
Ein Riegel wurde zurückgeschoben und das Thor ein wenig geöffnet. In der Lücke erschien zuerst ein Spieß und dann die Gestalt eines Soldaten, welcher ein kleines Laternchen in der Hand hielt.
»Lao-ye put tek lai – die alten Herren dürfen nicht herein,« sagte er.
Da zogen die beiden ihre Münzen vor und zeigten sie ihm. Sofort trat er zur Seite, um sie eintreten zu lassen, und verbeugte sich fast bis zur Erde herab.
Aus der Beschreibung, welche der Tong-tschi ihm geliefert hatte, kannte Degenfeld die Oertlichkeiten des Gefängnisses. Sie schritten über einen schmalen Hof und standen nun vor der Thür des eigentlichen Gebäudes, welches sich lang und nur ein Stockwerk hoch in der Dunkelheit verlor.
Auch hier mußte an ein Gong geschlagen werden, worauf hinter der Thür dasselbe Schui-tsi ertönte. Der Posten öffnete, als er die schon erwähnte Antwort bekam, und ließ sie nach Vorzeigen der Münze eintreten. Jetzt befanden sie sich in einem schmalen Gang, welcher von zwei Laternen erleuchtet wurde.
»Dummes Zeug!« brummte Gottfried.
»Was? Die Angst?«
»Nein, der Anzug. Dat schleppt bis auf die Füße, gerade wie bei sonne Promenadendame mit oblijate Schleppe. Ich bringe die Beine nicht vorwärts.«
In der Mitte des Ganges gab es rechts und links eine Thür. Degenfeld wußte vom Tong-tschi, wo die Gefangenen sich befanden. Er klopfte links.
»Schui-tsi?« rief es dahinter.
Die beschriebene Scene wiederholte sich abermals. Auch hier stand ein Soldat, welcher auf Brust und Rücken das Wort Ping zur Schau trug, welches eben »Soldat« bedeutet.
Als die Thür hinter ihnen wieder verriegelt worden war, befanden sie sich in einem breiteten Gang, in welchem zu beiden Seiten niedrige Thüren mündeten. Da lagen die besseren Gefängnisse.
Hinten am Ende des Ganges wurde jetzt eine Thür geöffnet. Der Schein eines hellen Lichtes fiel heraus und beleuchtete die Person, welche erschienen war, um zu erfahren, wer in so später Stunde komme. Es war der junge Mandarin. Das Bewußtsein seiner Verantwortlichkeit hatte ihm den Schlaf verboten. Er wartete, bis die beiden in den Kreis seines Lichtes traten, betrachtete sie mit mißtrauischen Blicken, verbeugte sich nur wenig und fragte: »Sui-tsün, wer sind Sie.«
Die beiden zeigten, ohne mit einem Worte zu antworten, ihre Münzen vor.
»Kommen Sie herein!«
Er führte sie in eine kleine Stube, in welcher sich ein Tisch, ein Stuhl und eine niedrige Lagerstätte befand. Auf dem Tische brannten zwei Talgkerzen, bei denen ein aufgeschlagenes Buch lag. Der Mandarin betrachtete die Münzen längere Zeit und sehr genau; dann hatte er sich überzeugt, daß dieselben echt seien. Nun verbeugte er sich tiefer, also höflicher, und fragte: »Welcher Veranlassung habe ich es zu verdanken, daß meine höheren Brüder mich besuchen?«
Das war noch immer nicht diejenige Höflichkeit, welche der Methusalem erwartet hatte. Darum antwortete er in ziemlich barschem Tone: »Sind Sie der Pang-tschok-kuan dieses Hauses?«
»Ja.«
»Gibt es in dieser Stunde noch andre Oberbeamten hier, welche anwesend sind?«
»Nein.«
»Es sind heut zwei Lamas mit einem Dolmetscher eingeliefert worden?«
»Nein.«
»Ich glaube, Sie sprechen die Unwahrheit!«
»Ich sage keine Lüge. Diese Leute sind nicht das, wofür sie sich ausgeben. Der eine ist ein Holländer und der andre ein Deutscher.«
»Wie können Sie das wissen?«
»Ich habe mich überzeugt. Ich habe von Scha-mien einen Dolmetscher kommen lassen, welcher mir genaue Auskunft gab.«
»Hat er mit ihnen gesprochen?«
»Nein, denn in diesem Falle hätten sie sich in acht genommen, sich nicht zu verraten. Er hat an ihrer Thür gehorcht, und da sie laut sprachen, verstand er alle ihre Worte. Der dritte ist ein Chinese, welcher auch deutsch spricht.«
»Wer hat Ihnen denn die Erlaubnis erteilt, einen Dolmetscher kommen zu lassen?«
»Niemand. Ich bedarf dazu keiner besonderen Genehmigung.«
»Da dürften Sie sich irren, besonders da Ihnen schon der Tong-tschi eine ernste Verwarnung erteilt und Ihnen gesagt hat, daß er in dieser Angelegenheit allein zuständig sei.«
»Das habe ich auch geachtet. Ich habe diese Gefangenen nicht belästigt und nur wissen wollen, wer sie sind.«
»Die allergrößte Belästigung für einen Menschen aber ist es, wenn er sich belauschen lassen muß. Die drei Männer wohnen hier?«
Er zeigte auf eine verschlossene Thür, welche nach der Seite hin aus dem Zimmer führte.
»Ja,« bestätigte der Mandarin.
»Oeffnen Sie! Ich wünsche mit ihnen zu sprechen.«
Anstatt zu gehorchen, musterte ihn der Pang-tschok-kuan abermals genau und antwortete: »Diesem Wunsche kann ich nicht Folge leisten.«
»Wunsch? Von einem Wunsche ist keine Rede; es handelt sich vielmehr um einen Befehl, den ich Ihnen erteile.«
»Dem muß ich widersprechen. Ich kann eine Willensäußerung von Ihnen beiden nicht als Befehl gelten lassen.«
»Warum nicht?«
»Weil ich Sie nicht kenne.«
»Sie sehen es unsrer Kleidung an, daß wir Ihnen vorgesetzt sind. Ihr geblümter goldener Mützenknopf und unsre blauen Kugeln müssen Ihnen sagen, daß wir in die dritte, Sie aber in die siebente Rangklasse gehören. Wir fordern also von Ihnen denjenigen Gehorsam, welchen Sie uns schuldig sind!«
Der junge Mann ließ kein Zeichen von Furcht blicken. Er sah dem Methusalem fest in die Augen und antwortete in ebenso festem Tone: »Dieser Gehorsam soll Ihnen werden, sobald Sie mir beweisen, daß Sie berechtigt sind, diesen blauen Knopf zu tragen.«
»Was! Zweifeln Sie etwa daran.«
»Ich zweifle weder, noch glaube ich daran; aber ich verlange Beweise. Gestern um dieselbe Zeit ist auch ein Mandarin desselben Knopfes hier gewesen und hat drei Gefangene entführt. Mir soll das nicht passieren.«
Der Methusalem hätte diesem braven und furchtlosen Manne am liebsten die Hand drücken mögen, obgleich ihm diese Festigkeit sehr ungelegen kam. Darum zog er seinen Paß heraus und zeigte ihn dem Mandarin, doch so, daß et ihn nicht lesen konnte, da er sonst aus dem Inhalte ersehen hätte, daß der Vorzeiger ein Fremder sei.
»Kennen Sie dieses Siegel?«
»Ja; es ist dasjenige des Himmelssohnes,« antwortete der junge Mann, indem er zwar sich nicht auf die Erde warf, aber doch niederkniete. »Sie sind also ein Schün-tschi-schu-tse, ein Vertrauter der höchsten Majestät; ich beuge mich vor Ihnen.«
»Stehen Sie auf, und öffnen Sie die Gefängnisthür!«
Jetzt gehorchte der Mandarin. Die Stube, in welche der Methusalem jetzt blicken konnte, war allerdings keines der gewöhnlichen chinesischen Gefängnislöcher. Sie bot für drei Personen Raum genug und hatte einen Tisch, drei Stühle und ebenso viele Lagerstätten. Eine Laterne beleuchtete die Reste eines wohl nicht gefängnismäßigen Abendessens.
Die Gefangenen standen erwartungsvoll inmitten des Raumes; sie hatten die Sprechenden durch die Thür gehört und den Blauroten an der Stimme erkannt. Als sie ihn nun sahen, stutzten sie. Er bot in seiner chinesischen Tracht einen sonderbaren Anblick. Zwar kleidete dieselbe sein Bierbäuchlein gar nicht so übel, aber sein dichter, dunkler Vollbart paßte nicht zu ihr, und eine solche Nase hatte man wohl auch niemals bei einem Mandarin gesehen.
Noch anders, fast komisch, wirkte das Aussehen Gottfrieds. Die weite Tracht hing an seinem langen, hageren Körper wie ein Reisemantel um einen Gartenpfahl, und sein bartloses, vielfaltiges Gesicht nahm sich unter der Mandarinenmütze höchst sonderbar aus.
»Gott sei Dank, da sind sie endlich!« rief Turnerstick. »Und zwar in Maskerade! Aber, bester Methusalem, wie kommen Sie denn auf den Gedanken, Ihren Studentenanzug mit dieser Tracht zu vertauschen? Sie sehen so lächerlich aus, daß – – –«
»Still!« fuhr ihn der Blaurote an. »Ich glaube gar, Sie wollen lachen! Damit würden Sie alles verderben. Dieser junge Mann darf nicht ahnen, daß wir uns kennen. Er hält uns für sehr hohe Beamte. Kommen Sie aber mit Vertraulichkeiten, so ist es aus damit.«
»Aber – er versteht uns ja nicht,« stotterte der Kapitän verlegen.
»Ihr Gesicht und Ihr Ton sprechen deutlicher als alle Worte. Sie scheinen überhaupt keinen Begriff von der Gefahr zu haben, in welcher Sie schwebten und noch schweben. Sie sind geradezu leichtsinnig gewesen und haben gar keine Veranlassung, lustig zu sein. Doch habe ich zu Vorwürfen keine Zeit. Wir müssen handeln. Kommen Sie heraus in die Stube des Mandarins! Läßt er Sie nicht fort, so müssen wir ihn überwältigen.«
Indem er das sagte, trat er schnell an die vordere Thür, welche nach dem Gefängnisgange führte, um dem Mandarin diese Richtung abzuschneiden. Ebenso rasch kamen die Gefangenen herein in das Zimmer. Das ging so plötzlich vor sich, daß der Pang-tschok-kuan keine Zeit fand, es zu verhindern. Er stand neben Gottfried, hinter sich die drei Gefangenen und vor sich den Methusalem. Die Situation überschauend, fragte er in betroffenem Tone: »Was soll das? Warum dürfen diese Leute herein?«
»Weil sie mit mir gehen werden,« antwortete Degenfeld. »Ich bin gekommen, sie abzuholen.«
»Das gebe ich nicht zu!«
»Wollen Sie mir, dem Schün-tschi-schu-tse, ungehorsam sein?«
»Ihnen und jedem andern, und wenn sein Rang noch so hoch wäre! Diese Leute sind mir von dem Tong-tschi anvertraut worden, und nur ihm allein werde ich sie übergeben. Ich rufe sofort die Wache!«
Er trat an das neben der Thür hängende Gong, um ein Alarmzeichen zu geben, doch der Methusalem schleuderte ihn zurück. Da richtete der furchtlose junge Mann sich stolz auf und rief: »Jetzt weiß ich, woran ich bin. Sie sind kein Mandarin. Sie reden die Sprache dieser Gefangenen. Sie sind ein Bekannter von ihnen und wollen sie befreien. Gestehen Sie das?«
Diesem achtunggebietenden Wesen gegenüber konnte der Methusalem sich nicht zu einer Lüge entschließen; er hätte sich dann ihrer schämen müssen. Darum antwortete er: »Sie haben es erraten, können aber die Ausführung unsrer Absicht nicht verhindern. Sie sind einer gegen fünf.«
»Sie irren. Ich brauche nur um Hilfe zu rufen, so kommt die Wache!«
»Ja, der eine Mann, welcher draußen im Gange steht; von andern können Sie nicht gehört werden. Und ob wir den mürben Spieß dieses Mannes fürchten, mögen Sie hiernach beurteilen!«
Er zog seine zwei Revolver aus der Tasche, zeigte sie ihm und spannte sie; Gottfried that desgleichen. Der Mandarin erbleichte, denn et wußte wohl, daß er nur von dem nächsten Posten gehört werden könne. Ein Widerstand seinerseits hatte nicht die geringste Aussicht auf Erfolg. Ja, selbst wenn alle wachehaltenden Soldaten hätten herbeikommen können, wären dieselben diesen vier Drehpistolen gegenüber ohnmächtig gewesen. Sie wären wohl schon vor dem selbstbewußten, furchtlosen Auftreten des Methusalem in alle Winkel gekrochen. Die Hauptsache aber war, daß dieser letztere sich in dem Besitze eines Passes befand, welchen jeder Soldat, bis hinauf zum General, zu respektieren gezwungen war. Er brauchte ihn nur vorzuzeigen, so gehorchte man seinen Befehlen, nicht aber denjenigen eines Gefängnisbeamten. Aus diesen Gründen konnte gar kein Zweifel darüber gehegt werden, daß die Gefangenen aus dem Huok-tschu-fang entkommen würden.
Wenn infolgedessen der Student der Ansicht gewesen war, daß der junge Mandarin sich fügen werde, so hatte er sich dennoch geirrt. Der Beamte zeigte eine sehr ernste, ja entschlossene Miene und sagte: »Herr, Sie sind sehr gut vorbereitet. Ich sehe ein, daß ich zu schwach bin, die Ausführung Ihres Vorhabens zu verhindern. Aber Sie haben etwas nicht mit in Betracht gezogen, was Sie mit in Berechnung hätten ziehen sollen, nämlich das Schicksal, welchem ich erliegen werde, wenn Sie Ihren Vorsatz wirklich ausführen.«
»Sie irren. Ich habe daran gedacht.«
»So sind Sie wohl der Ansicht gewesen, daß man mich vielleicht nur meines Amtes entheben werde. Es ist sogar möglich, daß Sie angenommen haben, ich werde ganz ohne Strafe davon kommen. Ihnen kann es ja überhaupt gleichgültig sein, was mir geschieht; Ihr Gewissen wird sich nicht davon beschwert fühlen.«
Das klang so eindringlich und wurde in so ernstem, traurigem Tone vorgebracht, daß der Methusalem sich davon gerührt fühlte. Er antwortete: »Ich denke nicht, daß Sie ganz ohne Strafe davon kommen werden; aber die Ahndung wird wohl auch nicht allzu hart sein. Man wird Ihnen einen Verweis erteilen.«
»Sie irren. Es sind gestern zwei Verbrecher entkommen; an ihrer Stelle sitzt nun der betreffende Beamte im Gefängnisse. Ganz ebenso wird es auch mir ergehen, und ich sage Ihnen, daß mir mein Ehrgefühl verbietet, das geschehen zu lassen. Ich sehe ein, daß ich Sie nicht hindern kann, diese Leute hier zu befreien; aber mich dann einsperren und meines Amtes entsetzen lassen, das kann ich verhüten. Sobald Sie sich entfernt haben, werde ich mich töten, und ich halte Sie nicht für so gewissenlos, daß Ihnen der Gedanke, der Mörder eines pflichtgetreuen Beamten zu sein, gleichgültig ist.«
Man sah ihm an, daß es ihm mit diesen Worten vollständig ernst sei. Degenfeld erkannte, daß er es hier mit einem festen Charakter zu thun habe. Er war vollständig überzeugt, daß der Mandarin sich wirklich das Leben nehmen werde. Das brachte ihn natürlich in große Verlegenheit. Die Gefährten sollten und mußten befreit werden; aber sollte ihre Freiheit mit dem Tode eines so braven Mannes bezahlt werden? Das mußte man vermeiden. Aber wie? Er versuchte, ihn durch freundliche und eindringliche Vorstellungen von seinem Vorhaben abzubringen, doch vergebens. Der Mandarin hörte ihn ruhig an und antwortete dann, indem er langsam den Kopf schüttelte: »Ihre Bemühung, mich davon abzubringen, ist vollständig überflüssig. Das Amt, welches ich bekleide, steht so hoch über meinem Alter, daß tausend Mandarinen mich um dasselbe beneiden. Ich habe es durch ernste Anstrengung und treue Pflichterfüllung errungen und weiß, daß mir die höchsten Würden offen stehen. Aber keine einzige dieser Hoffnungen wird sich erfüllen, wenn ich morgen melden muß, daß meine Gefangenen entkommen seien. Man wird mich selbst in den Kerker stecken; dann gehöre ich zu der untersten Klasse des Volkes, zu den Unehrlichen und kann niemals wieder eine Anstellung finden. Lieber will ich sterben. Sie besitzen einen Paß, den selbst die höchsten Mandarinen respektieren müssen; aber keiner von ihnen darf sich durch denselben zu einer direkten Pflichtwidrigkeit verleiten lassen; bringen Sie mir einen Befehl, dem ich unbedingt zu gehorchen habe, so will ich diese Männer gern frei geben und den Folgen ruhig entgegensehen.«
»Das kann ich nicht, denn ich bin nicht im Besitze eines solchen schriftlichen Befehles.«
»So thun Sie, was Sie vor Ihrem Gewissen verantworten können. Ich weiche der Gewalt, wiederhole aber, daß das Thor, durch welches Sie Ihre Freunde aus dem Gefängnisse führen, sich morgen auch meiner Leiche öffnen wird.«
»Entsagen Sie diesem Gedanken, und denken Sie an Ihre Verwandten, denen Sie damit den größten Schmerz bereiten würden,« bat der Student.
»Ehrlosigkeit ist schlimmer als der Tod. Uebrigens habe ich keine Verwandten. Ich weiß nicht, wo meine Eltern und Geschwistern sich befinden, ob sie überhaupt noch leben. Kein Auge wird weinen, wenn das meinige sich geschlossen hat.«
Der Chinese hält die Familienbande außerordentlich heilig. Die Verehrung der Ahnen ist bei ihm ein Gegenstand des Kultus, und er hält es für ein großes Unglück, über seine Vorfahren nicht Rechenschaft geben zu können. Die letzten Worte des Mandarinen enthielten also nicht nur ein außerordentliches aufrichtiges Geständnis, sondern sie waren auch ganz geeignet, das Mitgefühl, welches die Anwesenden für ihn empfanden, noch zu erhöhen.
Gottfried von Bouillon verstand Chinesisch genug, um das erraten zu können, was er nicht gerade wörtlich verstand. Er sagte zu dem Blauroten: »Dieser jute Mensch kann mich leid thun. Er macht mit seine Drohung janz jewißlich Ernst. Haben wir keinen Befehl für ihn, so wollen wir es doch wenigstens einmal mit dem Paß des Bettlerkönigs versuchen, den Sie von Hu-tsin empfangen haben. Denken Sie nicht?«
»Nein. Dieser T'eu-kuan ist kein amtliches Schriftstück.«
»Aber der Juwelier hat jesagt, dat ein jeder ihm respektieren werde.«
»Ja, aber ohne dann den Gehorsam eigentlich verantworten zu können.«
»Dennoch rate ich, es zu probieren. Thun Sie wenigstens mich den Jefallen!«
»Meinetwegen! Wenn es nichts nützt, so wird es jedenfalls auch nichts schaden.«
Er zog die erwähnte Legitimation hervor, reichte dieselbe dem Mandarin hin und sagte: »Sehen Sie einmal dieses Schriftstück an! Vielleicht hat es die Wirkung, Sie von Ihrem grausigen Entschlusse abzubringen.«
Der Beamte griff nach dem Kuan. Als sein Auge auf die Zeichen fiel, nahm sein Gesicht einen ganz andern Ausdruck an.
»Ein T'eu-kuan!« rief er aus. »Und zwar ein derartiger, wie ihn nur ganz bevorzugte Personen bekommen! Herr, Sie sind ein vornehmer Schützling des T'eu. Ich darf mich nicht weigern; ich muß thun, was Sie wollen.«
»Das wußten Sie schon vorher, da wir die Macht hatten, Sie zu zwingen. Es handelt sich jetzt darum, ob Sie auch jetzt noch entschlossen sind, sich das Leben zu nehmen?«
»Jetzt nicht mehr, da die Befürchtungen, welche ich hegte, nun nicht mehr zutreffend sind. Welch ein Glück, daß Sie einen solchen T'eu-kuan besitzen! Er entbindet mich ja jeder Verantwortung.«
»Wirklich.«
»Ja, Herr. Wehe dem, welcher mich wegen einer That bestrafen wollte, welche ich auf Vorzeigen dieses Kuan vorgenommen habe!«
»Aber Sie müssen Ihren Vorgesetzten beweisen können, daß Ihnen derselbe gezeigt worden ist?«
»Allerdings.«
»Wie aber wollen Sie das thun?«
»Können Sie mir den Kuan nicht zurücklassen?«
»Nein. Sie sehen ein, daß ich mich von so einem wichtigen Schriftstücke unmöglich trennen kann. Es ist wahrscheinlich, daß ich seiner noch sehr oft bedarf.«
»Aber Sie wissen, wo der T'eu sich jetzt befindet?«
»Nein. Derjenige, von welchem ich den Kuan empfing, konnte es mir nicht sagen. Der T'eu hat ja keinen festen, bleibenden Aufenthaltsort.«
»Das ist wahr. Aber es ist zu erfahren, wo man ihn treffen kann. Wer einen solchen Kuan besitzt, dem muß jeder Unterthan des T'eu genaue Auskunft erteilen. Wohin wollen Sie die Gefangenen bringen?«
»Sie sehen ein, daß Sie der allerletzte sind, dem ich das verraten darf.«
»O nein. Ich bin der allererste, dem Sie es sagen können, denn ich werde mit Ihnen gehen. Ich selbst werde diese Herren aus dem Gefängnisse führen.«
»Darf ich diesen Worten Glauben schenken?«
»Gewiß! Ich muß dem T'eu gehorchen. Aber um meine Ehre zu retten, muß ich nachweisen können, daß er es ist, dem ich zu Willen gewesen bin. Infolgedessen muß ich ihn aufsuchen, ihn oder einen seiner Offiziere, um mir das Zeugnis zu holen, dessen ich bedarf, wenn ich nicht allen meinen Hoffnungen auf die Zukunft entsagen will.«
»Sie wollen also sogleich mit uns fort? Jetzt?«
»Ja, denn wenn ich eingesperrt werde, kann ich den erwähnten Beweis nicht liefern. Und da Sie den Kuan besitzen und nicht aus der Hand geben wollen, ist es mir nur mit Ihrer Hilfe möglich, das Zeugnis zu erlangen.«
»Können Sie es denn verantworten, das Gefängnis ohne Aufsicht zu lassen?«
»Das beabsichtige ich ja gar nicht. Ich werde, bevor ich gehe, die Aufsicht einem Unterbeamten übergeben und ihm zugleich sagen, daß ich auf höhern Befehl die Gefangenen entlassen und persönlich begleiten muß.«
Der Mandarin sprach mit dem Ausdrucke der Wahrheit und zeigte dabei eine so aufrichtige Miene, daß es dem Methusalem schwer wurde, an ihm zu zweifeln. Aber es galt, vorsichtig zu sein. Der so schnelle Entschluß des Mandarinen konnte eine Kriegslist sein. Darum erkundigte sich der Student: »Wenn Sie mit uns gehen wollen, so müssen Sie sich vorher auf eine längere Abwesenheit vorbereiten?«
»Ja.«
»Wir sollen Ihnen also erlauben, dieses Zimmer zu verlassen?«
»Ich muß Sie freilich darum bitten.«
»Und da haben Sie Gelegenheit, alle Ihre Leute gegen uns zusammen zu rufen! Nein, das kann ich nicht genehmigen.«
Der Mandarin antwortete in bescheidenem Tone: »Ich kann es Ihnen nicht verdenken, daß Sie Mißtrauen hegen; aber ich will dasselbe zerstreuen, indem ich Sie bitte, mich nach meiner Wohnung zu begleiten. Sie liegt hier in diesem Gange. Ich werde zwischen Ihnen gehen, und Sie können mich sofort töten, wenn ich das Geringste thue, was Ihren Verdacht rechtfertigt.«
»Damit bin ich einverstanden, vorausgesetzt, daß Sie mir erlauben, die bisherigen Gefangenen vorher aus diesem Hause zu bringen.«
»Wohin?«
»Ganz in die Nähe, wo unsre Tragsessel halten.«
»Wollen Sie mich zurücklassen?«
»Nein. Ich meine es ehrlich mit Ihnen. Hier dieser Mann wird bei Ihnen bleiben, teils um Sie bis zu meiner Rückkehr hier zu beaufsichtigen, wie ich Ihnen ganz offen gestehe, teils aber auch um Ihnen die Sicherheit zu geben, daß ich wiederkehre, um Sie abzuholen.«
»Gut, ich werde Ihnen mehr Vertrauen schenken als Sie mir. Ich bleibe in diesem Zimmer, bis Sie wiederkommen. Gehen Sie; aber lassen Sie mich nicht allzulange warten!«
Als der Blaurote von dem Manne sprach, welcher bei dem Mandarin bleiben sollte, hatte er auf Gottfried gezeigt. Dieser sagte jetzt: »Ja, gehen Sie! Ich werde mir jetzt hierher setzen und kein Auge von dem Chinesigen verwenden. Zieht er mich ein falsches Jesicht, so steche ich ihm eine Revolverkugel in den Leib. Ich lasse keinen Spaß mit mich machen.«
Er setzte sich nieder, so daß er sich zwischen dem Beamten und der Thür befand. Die andern entfernten sich. Der Methusalem führte sie auf demselben Wege hinaus, auf welchem er in das Gefängnis gekommen war. Keiner der Wächter wagte es, Widerspruch zu erheben. Als sie das Thor erreicht hatten, führte der Student die Befreiten nach dem Hause, in dessen Hofe die Palankinträger warteten, und kehrte dann zu dem Mandarin zurück, indem er die Thüren hinter sich wieder verschließen ließ.
Der Beamte stand gerade noch so wie vorhin mitten in dem Zimmer, und der Gottfried saß mit einer wahren Cerberusmiene auf seinem Stuhle.
»Dat ist schnell jegangen,« sagte der letztere. »Es war mich nicht sehr wohl zu Mute, mir so allein in dieses Prison zu wissen. Nun Sie aber wieder da sind, befinde ich mir von neuem bei die jewöhnliche Jeistesjegenwart und Todesverachtung.«
Die beiden nahmen den Mandarin zwischen sich und begaben sich mit ihm hinaus auf den Gang. Er führte sie in seine Wohnung, welche sich an der anderen Seite befand und aus drei kleinen Stuben bestand. Der Raum, in welchem sie bisher gewesen waren, schien nur eine Art Expeditionszimmer zu sein.
Er suchte Kleider, Geld und andere Gegenstände, welche er zur Reise gebrauchte, zusammen und schrieb dann einen Zettel, welcher auf dem Tische liegen bleiben sollte. Derselbe enthielt die nöthige Instruktion für den erwähnten Unterbeamten. Dann bat er um die Erlaubnis, zwei Sänftenträger rufen zu dürfen, welche am Gefängnisse angestellt waren.
»Das ist nicht nötig,« antwortete der Methusalem. »Es wäre sogar sehr unvorsichtig, diese Leute zu wecken und ihnen wissen zu lassen, wohin wir gehen. Man würde uns vielleicht verfolgen. Wir haben eine Doppelsänfte, in welcher sich unsere Gewehre befinden. Da ist wohl noch Platz für Sie. Auf welche Weise aber können Sie mich sicher stellen, daß Sie, während wir durch die Stadt kommen, nicht Lärm schlagen und uns festhalten lassen?«
»Herr, ich bin kein Lügner. Ich versprach Ihnen, mit Ihnen zu gehen, und ich werde mein Wort halten. Doch habe ich Räucherstäbchen hier und kann Ihnen mein Kong-kheou geben, wenn Sie nicht damit zufrieden sind, daß ich Ihnen meinen Namen verpfände.«
»Wie heißen Sie?«
»Mein Schulname lautet Jin-tsian.«
»Und Ihr Geschlechtsname?«
»Pang.«
»Pang?« wiederholte der Methusalem überrascht. »Ist das möglich!«
»Warum sollte es nicht möglich sein?«
»Weil ich einen kenne, welcher denselben Namen hat.«
»Herr, das ist ja gar kein Wunder, da es nur vierhundertachtunddreißig Geschlechts- oder Familiennamen gibt. Es sind also viele Tausende, deren Namen ganz derselbe ist.«
»Aber Sie sehen dem Betreffenden sehr ähnlich. Darf ich Sie nach Ihrem Stamme fragen?«
»Er heißt Seng-ho.«
»Wirklich? Seng-ho? Dann hätte meine Ahnung mich nicht getäuscht. Sie sagten, daß Sie nicht wissen, wo Ihre Eltern sich befinden. Vielleicht kann ich Ihnen Aufschluß geben. Stammen Sie aus der Provinz Kwéi-tschou?«
»Ja, diese Provinz ist meine Heimat,« antwortete der Chinese schnell. »Herr, warum diese Frage? Sie sprechen von einem Aufschlusse. Kennen Sie meinen Stamm, meine Familie, meine Eltern?«
»Sagen Sie mit erst, ob Ihr Vater vielleicht Ye-kin-li geheißen hat!«
»Ja, ja, Herr! Ye-kin-li war sein Titelname. Sie kennen denselben! O Himmel, o Geist der Welten! Sie sind als Feind zu mir gekommen; Sie haben mich gezwungen, gegen meine Pflicht zu handeln, und nun sprechen Sie von meinem Vater. Vielleicht hat gerade das Glück Sie zu mir geführt. Vielleicht war es der Wille der Allweisheit, daß ich mein Amt verlassen und mit Ihnen gehen soll. Sprechen Sie schnell! Kennen Sie meinen Vater? Haben Sie von ihm gehört, wohl gar ihn gesehen? Lebt er noch? Wo befindet er sich, und warum hat er nicht nach seinen Kindern geforscht?«
Er hatte die beiden Hände des Methusalem ergriffen und seine Fragen mit großer Hast ausgesprochen. Degenfeld antwortete, indem seine Stimme vor Rührung zitterte: »Er lebt noch, fern von seinem Vaterlande, in welches er nicht zurückkehren darf, weil man ihn da für einen Empörer hält. Mich aber hat er ausgesandt, um nach seinem Weibe und seinen Kindern zu forschen.«
»Und wo, wo lebt er? O sagen Sie es mir.«
»In Deutschland, welches meine Heimat ist.«
»Herr, Sie sind wie ein Stern, der mir in dunkler Nacht erscheint. Sie geben mir meine Ehre zurück. Ich darf sagen, daß ich einen Vater habe. Ich bin nicht mehr ein Mensch, welcher sich schämen muß, wenn man ihn nach seinen Ahnen fragt. Mein Vater lebt. Er kann nicht kommen; aber ich werde zu ihm gehen. Ich werde China verlassen und allen Ehren, welche mich erwarten, entsagen, um bei dem zu sein, dem ich mein Leben, mein Dasein verdanke.«
Er hatte die Hände des Methusalem losgelassen und war langsam in die Kniee gesunken. Er legte sein Gesicht in seine Hände und schluchzte laut vor Freude und Seligkeit.
Dem Studenten standen Thränen der Rührung im Auge. Der Gottfried stand da, zog allerlei Gesichter, um seiner Bewegung Herr zu werden, und platzte, da ihm das nicht gelingen wollte, in zornigem Tone los: »Und dieser juten Seele habe ich eine Kugel in den Leib schießen wollen! 0 Jottfried, Jottfried. wat für dumme Augen hast du jehabt! Wie konntest du dir in diese Weise an dem Sohn deines juten Ye-kin-li verjehen!«
Degenfeld legte dem Chinesen die Hand auf die Schulter und sagte: »Fassen Sie sich jetzt, mein Lieber! Die Zeit ist uns kurz zugemessen. Warten Sie noch eine Stunde; dann sollen Sie alles erfahren.«
»Sie haben recht,« antwortete der Mandarin, indem er sich erhob. »Wir müssen fort. Ich darf nicht hier bleiben. Erst wollte ich gezwungen mit Ihnen gehen; nun aber bitte ich Sie, mich zu führen, wohin es Ihnen gefällt. Aber sagen Sie mir vorher nur noch, ob Sie etwas von meinen Geschwistern wissen?«
»Ich kenne ihre Namen,« antwortete Degenfeld. »Ihr Bruder führt den Namen Liang-ssi; ihre Mutter wurde Hao-keu genannt, und Ihre beiden Schwestern heißen Méi-pao und Sim-ming. Ist das richtig?«
»Ja, ja, es ist richtig. So heißen sie. Sie kennen die Namen ganz genau. Vielleicht wissen Sie auch, ob sie noch leben und wo sie sich befinden?«
»Von dem Bruder weiß ich es, von den andern noch nicht, doch hoffe ich, es auch noch zu erfahren.«
»Dann sagen Sie schnell, schnell, wo ich den Bruder zu suchen habe.«
»Hier in der Stadt.«
»Die ich so schnell verlassen soll! Herr ich gehe nicht fort; ich bleibe hier, bis ich ihn gesehen habe!«
»Das ist nicht nötig. Sie können getrost mit uns abreisen, da Ihr Bruder dieselbe Reise auf dem Tausendfuße mit uns machen wird.«
»Ist das wahr? Wirklich? Was ist er, und wohin will er? Haben Sie ihn schon gesehen, mit ihm gesprochen?«
»Ja. Er will auch den Fluß aufwärts fahren, da er sich hier nur vorübergehend aufgehalten hat und in der Provinz Hunan wohnt. Er hat keine Ahnung, daß sich sein verlorener Bruder hier befindet. Ich bin sogar überzeugt, daß Sie sich bereits gesehen haben, doch ohne sich zu erkennen. Man hat mir gesagt, daß Sie sich in Gefangenschaft befunden haben. Darf ich erfahren, wie Sie entkommen sind?«
»Mit Hilfe eines Freundes meines Vaters, welcher ein hoher Beamter war. Leider waren wir im Gefängnisse getrennt worden, so daß es ihm unmöglich war, uns zu gleicher Zeit zu befreien. Als er mir das Thor öffnete, versprach er mir, die Mutter mit den Geschwistern nachzusenden. Den Bruder hatte er bereits gerettet; er gab mir den Ort an, wo ich denselben treffen würde; aber als ich hinkam, fand ich ihn nicht mehr. Ich wartete auf seine Rückkehr ebenso vergeblich wie auf die Ankunft der Mutter und der Geschwister. Da ich nicht in Kwéi-tschou bleiben durfte, weil man dort nach mir forschte, ging ich nach der Provinz Kuang-tung, wo ich sicherer war. Ich zählte damals vierzehn Jahre und mußte mein Leben durch Betteln fristen. Glücklicherweise fand ich immer mitleidige Menschen und dann einen Beschützer, welcher mich lieb gewann und, da er keine Kinder hatte, mich als Sohn bei sich aufnahm. Ihm habe ich alles zu verdanken. Lebte er noch, so würde es mir schwer werden, das Vaterland zu verlassen, um mit Ihnen nach Deutschland zu gehen. Aber wenn es wirklich so ist, daß ich meinen Bruder Liang-ssi auf dem Tausendfuße treffen werde, so lassen Sie uns nicht länger zögern, sondern aufbrechen. Jeder Augenblick, den wir zögern, ist für mich verloren.«
Seine Habe war nicht groß, und da er nur das Notwendigste mit sich nehmen konnte, so hatte er nur ein kleines Packet zu tragen, welches den Wachen nicht auffiel. Die drei Männer gelangten glücklich aus dem Gefängnisse und hinüber in den Hof, wo die Gefährten ihrer warteten.
Dort fiel es keinem ein, viele Worte zu machen; es handelte sich darum, nun schnell die Stadt zu verlassen. Man brach sofort auf, nachdem ein jeder seine Sänfte bestiegen und der junge Mandarin in derjenigen Platz gefunden hatte, in welcher sich die Gewehre befanden.
So oft der Zug an ein verschlossenes Straßenthor kam, wurde er von dem betreffenden Wächter angehalten; dann zeigte der Methusalem seinen Paß vor, und die Pforte wurde geöffnet. So wurden alle Hindernisse glücklich passiert, und man gelangte in die Nähe des Flusses.
Da hielten die Sänftenträger an und baten, auszusteigen. Der Anführer derselben deutete nach dem in der Dunkelheit verborgenen Ufer und sagte: »Die würdigen Herren mögen nun noch zweihundert Schritte geradeaus gehen. Da gelangen sie zu dem Ts'ien-kiok, welchen sie daran erkennen werden, daß auf der Mitte seines Verdeckes drei blaue Papierlaternen dicht nebeneinander brennen. Der Ho-tschang wartet bereits, da er von ihrer Ankunft unterrichtet ist.«
Degenfeld gab ihm eine gute Belohnung und schritt dann mit seinen Gefährten in der angegebenen Richtung vorwärts.
Als sie das Ufer erreichten, sahen sie eine Menge von Dschunken liegen; auf jeder derselben brannte eine Laterne. Auf derjenigen aber, welche gerade vor ihnen lag, brannten deren drei von blauer Farbe. Das mußte also die richtige sein.
Im Lichtkreise dieser Laternen saßen zwei Männer. Ein dritter lehnte an der Bordbrüstung. Als er die Ankömmlinge bemerkte, bog er sich vor und rief ihnen zu: »Ho-ja, ho-ja! Hing ni-men lai?«
Ho-ja ist der chinesische Schifferruf, etwa wie bei uns das bekannte Ahoi der Seeleute. Die dann folgende Frage heißt: »Wollt ihr zu uns?«
»Tsche – ja.« antwortete der Methusalem.
»Lai schang – kommt herauf!«
Er ließ eine Bambusleiter herab, an welcher die sieben Personen an Deck stiegen. Turnerstick hatte sich vorgedrängt, um der Erste zu sein. Oben angekommen, wandte er sich sofort mit einer Verbeugung an den Mann, welcher der Ho-tschang der Dschunke war: »Tsching tsching, Mongsieu! Singt Sie etwa der Kapitaing vong dieseng Schiffe?«
Der Gefragte antwortete nicht, da er ihn nicht verstand. Darum fuhr Turnerstick fort: »Sie scheineng mich nicht verstandung zu habang. Wir kommeng, um mit Ihning zu fahrong. Lassing Sie sofort die Anker lichteng! Wir müssing beim Anbruch des Morgengs die Stadt weit hinter uns habing.«
Jetzt schob Degenfeld ihn ohne Umstände zur Seite und fragte den Ho-tschang in besserem Chinesisch: »Ich sehe, daß Sie uns erwartet haben. Wir sind von dem erlauchten Ho-po-so gesandt. Hoffentlich befinden wir uns an dem richtigen Orte?«
»Die hohen Gönner sind von diesem Augenblicke an die Herren und Gebieter meines Tausendfußes und aller, die sich auf demselben befinden,« antwortete der Gefragte. »Ich habe Sie erwartet, und es wurde mir der Befehl, Ihnen mitzuteilen, daß ich Ihnen das Schiff für die ganze Länge des Flusses zur Verfügung zu stellen habe. Ich soll mich allein nur nach Ihren Wünschen richten.«
Das war weit mehr, als der Methusalem erwartet hatte. Einer der beiden Männer, welche auf einem Teppiche am Boden saßen, stand auf, kam herbei und sagte, indem er sich tief verbeugte: »Ich bin der Scheu-pi dieses Schiffes und bitte, mir Ihren Namen zu sagen, damit ich Sie dem hochmächtigen Yao-tschang-ti vorstellen kann!«
Er war also der Hauptmann oder Kapitän, welcher von der Schiffahrt nichts verstand, und der andre, welcher stolz sitzen blieb, war der Steuereintreiber, von welchem der Tong-tschi gesagt hatte, daß auf sein Bramarbasieren nichts zu geben sei.
Der Methusalem hielt es für geraten, diesen beiden Männern gleich jetzt zu zeigen, daß er nicht die Absicht hege, sich von ihnen abhängig zu machen. Darum antwortete er: »Wie meinen Sie? Wir sollen ihm vorgestellt werden? Wer ist der Höhere, er oder ich?«
»Ich natürlich, ich!« rief der Steuerbeamte, welcher alles gehört hatte, indem er aufsprang: »Ich bin der hochgeehrte Yao-tschang-ti des Lichtes aller Könige. Wer kann behaupten, mehr zu sein als ich?«
Er kam säbelrasselnd herbei und richtete seine kleine, dürre Gestalt möglichst hoch vor dem Methusalem auf. Seine Kleidung war diejenige eines chinesischen Beamten, doch trug er auf seiner Mütze eine einfache vergoldete Kugel, das Zeichen des niedrigsten Mandarinenranges. Dafür aber hatte er, um Ehrfurcht zu erwecken, zwei lange Säbel umgeschnallt; der eine hing ihm an der rechten und der andere zu der linken Seite. Ein Bart war ihm nicht gewachsen, um so länger aber war sein Zopf, welcher ihm fast bis zu den Füßen reichte und jedenfalls eine tüchtige Portion falschen Haares gekostet hatte. Während er sprach, ergriff er die Säbel und stampfte mit denselben den Boden, daß es klirrte.
Da trat Jin-tsian zu ihm heran und fuhr ihn an: »Schweig! Was bist du gegen uns? Eine Mücke, welche ich mit dem Finger zerdrücken kann! Siehst du nicht, daß ich die blaue Kugel trage? Und dieser hochgeborene Herr, an welchen du deine albernen Worte gerichtet hast, zeigt nur aus Gnade nicht den kostbaren roten Stein, welchen zu tragen er berechtigt ist. Laß dir zeigen, daß er den Kuan des Himmelssohnes besitzt, und sinke auf die Knie vor ihm!«
Der Steuereintreiber knickte zusammen, als ob er von jemanden niedergedrückt würde. Er kniete wirklich vor Degenfeld hin, senkte das Gesicht fast auf den Boden nieder und bat: »Verzeihen Sie, erlauchter Gebieter, daß ich nicht wußte, welch eines Ranges Zeichen Ihre mir unbekannte ehrwürdige Kleidung ist. Ich bin der geringste Ihrer Sklaven und halte mich bereit, alle Ihre Befehle augenblicklich zu erfüllen!«
Degenfeld ließ ihn knien, ohne ihn weiter zu beachten, und wendete sich an den Ho-tschang, um diesem die Weisung zu geben, die Fahrt so bald wie möglich zu beginnen. Man hatte alles schon dazu vorbereitet; der Anker war bereits aufgezogen, und die Dschunke hing nur noch mit einem Tau am Ufer. Dieses wurde eingenommen, und sofort strebte das Fahrzeug unter dem Geräusch der Ruderschläge der Mitte des Stromes zu. Dort wurden die Segel gehißt, und der günstige Wind richtete den Schnabel des Schiffes gegen den Fluß.
Die dazu nötigen Befehle hatte der Ho-tschang erteilt. Von dem Scheu-pi war nichts zu sehen, und auch der mächtige Steuereintreiber schien verschwunden zu sein.
Nun wies der Ho-tschang seinen Passagieren die für sie bestimmten Räume an. Dieselben waren prächtig eingerichtet und nur für diejenigen Kriegsmandarinen bestimmt, welche den Tausendfuß gelegentlich zu ihren Dienstreisen benutzten.