Johannes Richard zur Megede
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Johannes Richard zur Megede

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Drittes Kapitel.

Ich habe mir alle Mühe gegeben, liebe Tante, ihn nett oder wenigstens erträglich zu finden. Es geht nicht! Dieser Doktor ist mir ein Greuel.«

»Aerzte sind nun einmal nicht anders, Mieze.«

»Was sage ich gegen den Arzt? – Obgleich ich auch den für sehr mittelmäßig halte – aber der Mensch! . . . Daß er mich wie eine Dreijährige behandelt, mich konsequent und mit einer insolenten Betonung ›gnädigste Gräfin‹ nennt – die Visitenkarten sind übrigens ein Geschenk von dir, Tante –, würde ich ihm vergeben; doch wie er sich gegen Papa, gegen Arthur, gegen alle benimmt! . . . Glaubt dieser Javaner vielleicht, uns Ostpreußen in jedem Wort, jeder Miene klar machen zu dürfen, daß er uns für dumm und schlecht hält? Ich bewundere Arthurs vornehme Gesinnung, der eine Freundschaft auch jetzt noch hoch hält, wo dieser ›Freund‹ sich doch zum ausgesprochenen Flegel entwickelt hat.«

»Du gebrauchst wieder sehr starke Ausdrücke, Marie.«

»Papas Sympathien halte ich offen für eine Schwäche. – Dieser Mensch bleibt auf vieles Bitten, 48 wohnt aber im Dorf, eine halbe Stunde von uns, dreiviertel von Gampeschkeim – und weist jede Freundlichkeit schroff zurück: ›Ich möchte hier keine Verpflichtungen haben!‹«

»Sag das alles nur deinem Vater, namentlich von der Schwäche! . . . Doch Scherz beiseite, auch ich habe für diesen Loja ein kleines Faible. Er ist nicht hübsch, nicht liebenswürdig – trotzdem hat er etwas, was ihn einer gewissen Sorte von Frauen gefährlich machen kann.«

Die Comtesse lachte laut auf. »Jawohl, Stubenmädchen!«

»Und, Mieze, er ist ein feinerer Diplomat, als du glaubst. Gerade diese ungezogene Abgeschlossenheit, dieses trotzige Selbstbewußtsein imponiert deinem Vater. ›Ich brauche euch nicht!‹ . . . Verwandte Naturen! Dein Vater war in jüngeren Jahren vielleicht noch schlimmer; freilich steht das einem Großgrundbesitzer und schönen Mann – das war er! – besser als einem Doktor, der von der Krankheit andrer leben muß. – Verstehen kann ich ja den Doktor auch nicht ganz, namentlich sein Verhältnis zu Arthur, deinem Bräutigam. Er muß ihm mal einen großen Dienst erwiesen haben, den der andre unerwidert gelassen hat.«

»Das glaube ich von Arthur nie!«

»Weil du jung und verliebt bist. Er wird wohl nicht immer der Tugendspiegel gewesen sein, dein Arthur. Gardekavallerie, Berlin – Spiel, Frauen! Denk doch nur an seinen Bruder und dessen Fahrten! In deinem Alter hätte ich auch niemand heiraten mögen, der schon eine andre angesehen hat – jetzt weiß ich, daß die Allerwüstesten die besten und bequemsten 49 Ehemänner werden. Das ist die Philosophie des Alters!«

Seit drei Tagen war die unverheiratete Schwester des Grafen, Tante Friederike, in Lorschen, und das Thema vom Doktor schon oft behandelt worden. Warum die Tante für diesen Loja Partei nahm, blieb der Nichte unerfindlich. Ein wenig schmollend ging die Comtesse in dem Kaminzimmer auf und ab, rasch, graziös. Das eng anliegende schwarze Kostüm zeigte deutlich die anmutig-schlanken Formen ihres jungfräulichen Körpers.

Tante Friederike saß in einem Lehnstuhl am Fenster – träge, dick geworden. Fünfzig Jahre waren über ihren grauen Scheitel dahingegangen. Aber noch erkannte man an den feinen Linien des Profils, der reizenden Fesselung an Hand und Fuß, mit der sie gern kokettierte, daß sie schön gewesen. Böse Zungen fügten hinzu: »auch leichtsinnig!«

Comtesse Marie wußte davon nichts. Für sie war Tante Friederike fast die Mutter gewesen. Eine gute Mutter? Der alte Graf hatte darüber seine besonderen Ansichten. Klug, unwiderstehlich, wenn sie bei Laune war, unerträglich, wenn eine Rüsche schlecht eingeheftet war oder bei der leichtesten Indisposition, hatte sie mit dem anders gearteten Bruder nur das starke Standesbewußtsein gemein – doch in jener unbeständigen Frauenmanier, die heute mit ihrer hauteur die besten Dienstboten aus dem Hause treibt und vielleicht morgen schon zu viel in unmotivierter Vertraulichkeit giebt. Das Kind war natürlich für die Tante, die es mit einer kritiklosen Liebe umfing, begeistert. Auch die Erziehung der ersten Jugend behagte ihm. Französisch parlieren, 50 sich sicher und anmutig bewegen lernen – war die Hauptsache. Die erwachsene Comtesse hielt noch starrsinnig an den Belehrungen der Tante fest, die den bürgerlichen Bekannten nur die leichte Verneigung, den einfachen »Vons« die gesellschaftsmäßige Verbeugung, den gänzlich ebenbürtigen Aelteren allein den Courknicks gönnte. Dann hatte sie Marie auch so ganz en passant merkwürdige Ideen über Staat und Gesellschaft eingeimpft. Das bestehende Verhältnis sei die alleräußerste Konzession an den Liberalismus, Auflehnung dagegen die größte Sünde. Der leicht erregten Phantasie der Nichte war darum das Andenken eines aus der Art geschlagenen hübschen Vetters immer mit der Vorstellung eines schrecklich heißen Höllenfeuers verquickt, in dem der Unselige schmorte. Gottselig und tugendhaft – wenn es ihr paßte –, hatte die Tante aus der Kleinen eine fanatische Protestantin gemacht.

Im Grunde ebenso hochmütig und vorurteilsvoll wie die Schwester, hatte der Graf doch geglaubt, solchen Belehrungen entgegenarbeiten zu müssen. »Was du ererbt von deinen Vätern hast, erwirb es, um es zu besitzen!« Der sparsame und thätige Mann hatte den Segen der Arbeit sein Lebtag empfunden und war praktisch und weitsichtig genug, um zu begreifen, daß der Landadel seine zähe Bauernkraft und die ganze Liebe zur Scholle in den Kampf werfen müsse gegen den Ansturm der modernen Ideen. Fromm, altväterisch, verlangte er dieselbe Auffassung von den Seinen. Das thatenlose Hindämmern der Schwester, das häufig genug von urplötzlich aufflackernden Spielerpassionen – Spekulationen und Capricen hatten ihr Vermögen verschlungen – unterbrochen wurde, paßte ihm nicht. 51 Marie war zehn Jahre alt, als nach einer heftigen Aussprache Tante Friederike Lorschen verließ, um es nur zu kurzen Besuchen wieder zu betreten.

Der Vater, der die Erziehung selbst übernahm, fand das Kind auf dem besten Wege, eine Närrin zu werden. Comtesse von Gottes Gnaden, reich, hübsch – fand das kleine Ding seine bevorzugte Stellung in der Welt so selbstverständlich! Es bedurfte langer Zeit, ehe dem eigensinnigen Köpfchen die große väterliche Energie und Liebe den klaffenden Spalt zwischen Wesen und Schein klar machen konnten. »Wir Wilneins sind alles durch uns selbst!«

»Aber das ist doch langweilig, Papa. Arbeiten macht häßlich, sagt Tante . . . Ich möchte auch eine Majestät heiraten, wie Urgroßtante Ulrike,« plapperte sie altklug weiter. »Die hat Carriere gemacht! . . . Nicht wahr, Papa, dann müßten alle Leute doch auch für mich arbeiten?«

»Nein, das müssen sie nicht, Kind! Und die Geschichte mit der Majestät, die dir Tante unnötigerweise erzählt hat, – ist eine Schande für uns . . . hörst du, eine Schande!« Mehr durfte der Alte der Vierzehnjährigen nicht sagen. Doch ihn empörte tief die laxe Adelsauffassung der Schwester in diesem Kardinalpunkte. Wenn eine Wilnein sich zur Maitresse eines Fürsten hergab – und wäre es zehnmal der König selbst –, so war sie eben eine Dirne, mochte sie ihm auch später zur linken Hand angetraut sein – und ihre Sprößlinge, so vielvermögende Herren sie auch geworden waren, nichts als Bastarde. Angesichts so gefährlicher kindlicher Regungen sah der Graf, daß er streng, unerbittlich gegen seine wilde Hummel sein müsse, die er so lieb hatte, und empfand es als ein großes Glück, daß allmählich ein 52 starkes Pflichtbewußtsein bei ihr sich zu bilden begann und eine rücksichtslose Wahrheitsliebe.

Die Tante war von dem allem gar nicht erbaut und versuchte bei jedem Aufenthalt kleine Diversionen. »Das ist unklug, Mieze. Ein bißchen Diplomatie schadet nie etwas. O Gott! Wenn jedes Frauenlächeln und jede Frauenthräne von Herzen kommen sollten! – Frauen ohne Capricen sind langweilig. So eine kleine, unschuldige Heuchelei ist zuweilen geradezu Pflicht. Heuchelei? – Das heißt, die Männer spielen mit uns oder wir mit ihnen. Man muß einen Gatten so gut ziehen, daß er glücklich ist, wenn er über eine Reitgerte springen darf, die man ihm vorhält. Der Liebe und der Achtung schadet das nicht im mindesten.«

Die Comtesse nahm die Tante bei solchen Ermahnungen zwar nicht ganz ernst, dennoch kitzelte sie der Gedanke ein wenig, auch ihren geliebten Arthur unterzukriegen. Springen, natürlich, sollte er nicht! Aber recht verliebt sein in seine kleine Frau, ihr jeden Wunsch von den Lippen ablesen und gewisse Launen reizend finden – das konnte sie doch verlangen!

Die Tante hatte aus dem Pompadour ein Kartenspiel herausgesucht und legte Patience. Sie brachte täglich Stunden damit zu. »Das ist dein Bräutigam . . . das hier bedeutet viel Geld . . . da ist auch noch ein andrer – ein finsterer Mann – hüte dich vor ihm! . . . Er haßt dich . . . wird aber großen Einfluß auf dein Leben üben . . .« Sie sagte das wichtig, ohne eine Miene zu verziehen, wie eine Seherin.

Die Comtesse glaubte nicht an den Unsinn und fragte spöttisch: »Vielleicht der Doktor?«

»Es steht ganz so aus.«

53 Der ernste Ton und überhaupt die Annahme einer solchen Möglichkeit machten Marie pikiert. Sie fand, daß die Tante heute einen kleinen Seitenhieb verdient habe. »Was sagte er doch bei der Konsultation gestern, dein Loja? . . . Ach ja! . . . ›Krank? – Keine Spur! Arbeit, Zerstreuung – da vergehen solche hypochondrische Anwandlungen, die Sie Ihrer sitzenden Lebensweise verdanken. Und da Sie wahrscheinlich nicht Holz hacken wollen, Comtesse, schlage ich ihnen vor: Arrangieren Sie eine Gesellschaft. Wenn der erste Wagen vorfährt, ist der Kopfschmerz verflogen – ich garantiere.‹ – Er war ungemein höflich!«

»Jedenfalls ist es von dir, Marie, viel unhöflicher, es zu wiederholen. Ja, das ist die gute väterliche Erziehung!« Beleidigt schob sie die Karten zusammen und stand auf.

»Aber Tantchen – böse?«

Die Tante wehrte hoheitsvoll mit der Hand. »Ihr seid mir doch etwas zu ländlich.« Sie rauschte nach der Thür und sagte auf der Schwelle, ohne sich umzudrehen: »Wenn du heute nach Gampeschkeim gehst, frage, bitte, ob Sonntag der junge Vikar predigt.«

»Gern.« Die Comtesse schüttelte verwundert den Kopf. Den Vikar und den Doktor? – Eigentlich hat sie gar keine Ursache, den beiden grün zu sein – und dennoch ist sie's!

Gewisse Damen halten im Alter einen jungen Arzt und einen jungen Priester für unumgänglich notwendig. Die Passion ist so begreiflich. Die Nichte war in vielen Dingen doch ein sehr unerfahrenes Kind.

*

54 Der Graf im Wirtschaftsanzuge – hohe Stiefel und schwedische Lederjoppe – ging an den Fenstern vorüber und rief, als er mit seinen scharfen Augen drinnen die Tochter bemerkte: »Willst du heute das Gut nicht revidieren helfen, Mieze?«

»Aber selbstverständlich, Papa! Ich komme sofort.«

Es war den beiden eine alte, liebe Gewohnheit, dieser Gang durch die Wirtschaft. Der Alte freute sich, daß sie so viel Interesse an allem hatte. »Du sollst mal eine tüchtige Landfrau werden.« Ihr aber schwoll das Herz in kindlichem Stolze auf den Vater, der, ein so prächtiges Bild bäuerlicher Tüchtigkeit, neben ihr schritt, die mit ihrer Bibermütze, den koketten Halbstiefelchen und den Stulpenhandschuhen wie eine kleine Insurgentin aussah.

Lorschen war ein stolzer Besitz. Auf dem höchsten Punkte der welligen Ebene gelegen, beherrschte es die Gegend. Das Herrenhaus, halb in den hohen Fichten des Parkes verborgen, blickte mit seiner freien Hauptfront auf ein großes Rasenrundell, im Sommer mit Blumenbeeten und blühenden Gebüschgruppen. Jetzt hoben sich von der schneebedeckten Fläche nur einige Cypressen und niedriges Taxusgestrüpp düster ab; in der Mitte aber reckte eine uralte Steineiche ihr knorriges Geäst in die Lüfte. Weiter hinten auf sanft abfallendem Gelände der Wirtschaftshof, ein nach dem Herrenhaus geöffnetes Carré, dessen mächtige Verhältnisse einen Begriff von der Größe des Gutes gaben. Durch eine breite Lücke zwischen den Stallungen sah man die Insthäuser, angeschmiegt an den Wald, der in schön geschwungener, dunkler Linie hier den östlichen Horizont abschloß. Die Hofgebäude waren zum Teil 55 altersgrau, schwerfällige Massen mit kleinen Fensterluken und dicken Eisenstangen davor; alles rot gedeckt. Keine Scheibe, kein Ziegel war defekt. Ueberall erkannte man den ordnungsliebenden Geist des Gutsherrn; die Wagen in langer Reihe gerichtet, unter dem Schuppen Wassertonnen und Feuereimer, zum Gebrauche fertig.

»Es giebt doch in der ganzen Gegend kein Gut mit solchem Hof wie Lorschen,« sagte die Tochter.

»Kann stimmen. Doch im Verhältnis auch kein so jämmerliches Herrenhaus.«

»Leider,« gab die Comtesse resigniert zurück.

»Weil meine Vorfahren so wenig wie ich polnische Wirtschaft geliebt haben! Ein Luftschloß mit Gobelins und Deckengemälden – jedes Möbel ein Kunstwerk, manche Nippfigur so viel wert wie meine beste Zuchtstute – und dazu in Strohhütten eine hungernde, diebische Leibeigenenhorde. Dafür danke ich! Sie sollen mich hochmütig nennen – ich verzichte auf keines meiner angestammten Rechte – aber mein Arbeiter soll auch fühlen, daß er nicht nur einen Herrn, sondern auch einen Beschützer hat. Es geht hundeschlecht mit der Landwirtschaft, mein kleiner Wildfang, und wenn du meine Bücher sehen würdest – ein so lächerliches Plus bei aller Arbeit! Trotzdem meine ich, daß der Herr lieber hungern mag als der Knecht. Und die Leute haben auch eine gewisse Anerkennung dafür. Weißt du noch vorige Ernte, wo überall der Weizen verregnete, nur bei uns nicht, weil ich mir in den Kopf gesetzt hatte, ihn noch Sonntag ganz unter Dach zu bringen? Da hat Mann und Pferd den letzten Krafttropfen hergeben müssen. Auf andern Gütern thun's die Kerls einfach nicht. Bei mir geht's! Da haben 56 sie gestakt so hundnaß auf ihren Wagen – Tag und Nacht; ich sah manchmal, wie der Schmied beim besten Willen die Gabel nicht mehr in die Höhe kriegen konnte. Aber da gab's kein: ›Ich kann nicht mehr, Herr Graf!‹ – ›Holl e Oogeblick, Aujust!‹ und nach zwei Minuten ging's wieder wie der Deibel. Weil ich die ganze Zeit dabeistand, obgleich die Sonne auf meinen alten Schädel brannte, daß ich beinahe verrückt geworden wäre. ›Der Alte sieht's!‹ Und da haben sie auch ihren Ehrenpunkt und beißen die Zähne zusammen. Kein Scharwerksmädel ist schlapp geworden. Nur der Lümmel von Inspektor, der von seinem Schinder nicht 'runterkommt, sagt mir trocken: ›Das greift mich zu sehr an; ich muß meinen Schlaf haben!‹

»Ja, Kind, so hat man Aerger genug, aber auch Freuden. Und man verwächst mit Menschen und Dingen so sehr! Mir wird's schwer, irgend ein altes Gesicht missen zu müssen. Wie neulich der alte Kurz starb – er war keiner von den Besten – trotzdem! Die Jugend hält ja bei uns doch nicht mehr aus. Da unten im Westen mögen sie mehr verdienen – ich halte auch niemand –, doch sie verlieren dabei ihr Bestes: die Heimat und den Sinn für die Heimat, um dafür das schnell verbrauchte Proletariat der Großstädte zu werden, ohne Gemüt, ohne Glauben . . . Und unsereiner, der alt und grau auf einem Flecke geworden, hängt sich kindisch sogar an das Leblose. Jedes Dach, das man hat ausbessern lassen, jedes Insthaus, das man neu gebaut hat, kommt einem wie ein Teil seines Selbst vor.«

»Da ist ja auch unser Felljude!« Er zeigte auf einen grauköpfigen, stark mosaisch aussehenden 57 Mann, der, den Hut in der Hand, herankam. Der Comtesse war solch ein Handel ungemein interessant. Der Vater, der sich nie über das Ohr hauen ließ, keinen Groschen nachgab – und dieser Händler, der das ganz genau wußte und dennoch aus alter Gewohnheit für das Geschäft kostbare Augenblicke mit Stöhnen, Schachern, Hinundherreden vergeudete.

»Und Sie, gnädigstes Comteßchen – ein Los von der ›Kölnischen‹? Wissen ja, der alte Wolff hat Glück. – Nehmen Sie gleich zehn . . . kriegen eins zu, nur weil Sie's sind!«

Die Comtesse lachte und kaufte ein Los. »Aber wenn's wieder nicht gewinnt, lasse ich Ihnen wirklich die Ohren abschneiden, Wolff, wie Sie mir so oft proponiert haben.«

Der Jude krümmte sich. »Thun Sie's, thun Sie's auf jeden Fall, Comtesse! . . . Empfehl' mich den Herrschaften unterthänigst, empfehl' mich! Schöner Wintertag, heute . . .« Schon war er weg, und der Klapperwagen rasselte über das Hofpflaster.

»In Bezug auf das Wetter hat er wenigstens die Wahrheit gesprochen, Papa.«

Es war so ein Wintertag, wie ihn das kleine Landfräulein liebte: kalt, hell; von dem weißblauen Himmel strahlte die klare Dezembersonne. Der hartgefrorene Schnee glitzerte, leichter Rauch stieg aus den Schornsteinen der Insthäuser, die Fenster blitzten. Um die Kronen der Parkfichten kreisten die Raben laut kreischend, mit hörbaren Fittichschlägen. Auf dem Hofe setzte gerade das Göpelwerk vor der Scheune, welches eine Weile geruht, wieder ein. Die Maschine summte, die dicken Pferde pusteten und schüttelten die Köpfe; von der Tenne aber klang das muntere Lachen und Sprechen der arbeitenden Scharwerker.

58 Nun revidierten sie ganz ordnungsgemäß die Wirtschaft. Erst der Kutschstall mit seinem warmen Brodem. Die Tiere zermalmten bedächtig den Hafer. Maries kleiner Reitfuchs, dem sie Zucker zu bringen pflegte, wendete den Kopf nach ihr und schlug mit dem Schwanze. Der alte Kutscher war aus der Schirrkammer gekommen und stand, die Mütze in der Hand drehend, lächelnd vor der Comtesse, die sich eingehend nach dem Befinden der Pferde erkundigte. »Die Orloffs fressen doch wieder gut? – Kann der Inspektorbraune jetzt mit dem Vorderfuß auftreten?«

»O ja – schon lange, gnädige Comtesse!«

Es sagte zu allem ja, das alte Faktotum, wenn es auch unbedingt nein hätte heißen müssen. Der Vater nahm das oft sehr übel. Sie aber hatte den Alten sehr gern, der alle ihre Aufträge so prompt ausrichtete und darüber die übrigen, auch die des Grafen, vergaß. Mochte er auch etwas sehr feurig aussehen, wenn er nach seinen Stadtfahrten der Comtesse rapportierte – er hatte die kleine Schwäche, öfters einige Pfennige mehr vorzurechnen –, sie konnte den Ewiglächelnden nicht ausschelten oder gar mit Wegjagen bedrohen wie Tante Friederike.

Dann ging es in den Schweinestall – hoch, gewölbt, wie der Kreuzgang eines Klosters. Die Ferkel, weiß und niedlich wie von Marzipan, grunzten satt und schläfrig, den Kopf in das Stroh eingewühlt. Sobald aber ein andres Gesicht als das der alten Schweinemarie sich über die Koben beugte, fuhren sie mit ohrenzerreißendem Gequietsch auf und jagten wie wild in den kleinen Buchten umher. Die Comtesse fand einzelne halberwachsene mit ordentlichen Höckern sehr possierlich. Der Graf 59 sagte ärgerlich: »Ja, das ist Gampeschkeimer Zucht! Arthur hat zwar geschworen, daß die Rücken sich gerade recken würden – da sieh selbst!«

»Schilt mir meinen Bräutigam nicht!« verwies sie scherzend. »Gerade solch ein Schwein wirst du mir als Mitgift geben! – Ich werde Arthur damit ärgern . . . Und auch einen von den Wolfshunden – ich habe ihr kurzes Gebell so gern – und ein Kalb, ein Huhn, eine Ente – etwas von allem, was da kreucht und fleucht! Lorschen ist ja dann zwar ganz nahe, doch ich möchte immer etwas von euch vor Augen haben, und wäre es bloß, um den Ehrgeiz der Tiere dort anzuregen. ›Sieh mal, das ist eine Lorscher Ente, rein Peking – das schwarzweiße Kalb dort ist Herdbuchtier; macht, daß ihr auch so edle Formen bekommt!‹ Am Ende kapiert das Gampeschkeimer Viehzeug meine Absicht und bessert sich. Nur Tyras soll sich nicht wieder vor meinen Augen mit einem Strolch raufen – der Unglückliche sah doch zu zerfetzt aus!«

»Kleiner Phantast!« Plötzlich sah er mit gerunzelter Stirn nach dem Kuhstall auf der andern Seite. Das Thor war geöffnet; ein hochbeladener Heuwagen fuhr gerade vor. Die ausströmende dicke Luft wirbelte wie Dampf in die Kälte hinaus. Die laute Stimme eines Betrunkenen hallte: »Ho! ho! Warsch't, Kret!« Die Ketten der scheugemachten Kühe rasselten, die Kälber blökten, ein von der Heugabel getroffener Stier sprang tief aufbrüllend zur Seite und versuchte sich loszureißen.

»Was ist denn da los? Der Rausch von Sonntag scheint bei dem Viehfütterer die ganze Woche vorzuhalten! . . . Einen Augenblick, Mieze . . .« Der Graf war mit langen Schritten hinübergeeilt. Bald 60 darauf hörte die Comtesse, welche neugierig nachsah, das tiefe Organ ihres Vaters: »Verderbt mir das Vieh nicht, in drei Teufels Namen!« – und dagegen eine brutale, rauhe Knechtsstimme: »Ach, Sie! . . . Sie sind ja als Leuteschinder bekannt!« Es war jetzt, als wenn sich zwei packten – ein stöhnendes Ringen – aus einer offenbar zusammengepreßten Kehle würgte es sich heiser heraus: »Ich lasse mich nicht von Ihnen schlagen . . . Sie . . . Sie . . . Ah!« Ein Schlag hatte dem Frechen den Mund geschlossen. Und gleich wurde durch den Dunst des Stalles ein verzweifelt sich wehrender junger Mensch gestoßen; der Graf mit weit ausgestrecktem Arm hatte ihn an der Gurgel und schleuderte ihn draußen von sich. »Mir vorschreiben, was ich thun oder lassen soll, du Canaille! Sofort zum Rendanten! Laß dich auszahlen! Und daß du mir in einer Stunde vom Hofe bist!« Der Hingetaumelte erhob sich mit blutendem Gesicht, wagte aber keine Widerrede. Nur ein wilder Blick traf den Grafen, der an ihm vorüber zum Herrenhaus schritt.

Er kam nicht zurück. Sie wußte das. Er liebte das Bedauern gar nicht. Aehnliche Scenen gehörten seit den letzten Jahren nicht zu den Seltenheiten. Immer waren es die Jungen – unbotmäßig und roh! Einen solchen Auftritt hatte sie mit dem Vater noch nicht erlebt. Tiere mißhandeln – das war für ihn freilich das Aeußerste. Die Comtesse sah nach der Uhr. Es war drei. Sie ging nach den Dorfhäusern zu. Dort am Gutsteich standen die Hundehütten. Sie löste einen Wolfshund von der Kette. Wenn sie durch den Wald nach Gampeschkeim wanderte, sah es der Vater gern, daß sie den scharfzahnigen Beschützer mitnahm. Der Weg bog 61 rechts am Teiche ab. Beinahe täglich machte sie seit ihrer Verlobung diesen Spaziergang. »Es ist etwas frei, sich mit einem Herrn allein auf der Gutsgrenze zu treffen,« bemerkte kritisch die Tante, worauf der Alte, der Zimperlichkeiten haßte, berichtigend entgegnete: »Nicht, wenn dieser Herr ihr Bräutigam ist!«

Die Comtesse war nicht viele Schritte gegangen, als ihr schon das häßliche Bild von vorhin zu verschwimmen begann. So etwas muß ja vorkommen! Warum sollte sie sich ihres Lebens nicht freuen? O, sie hatte dazu ein Recht, sogar eine Pflicht! So jung und zum Neide ihrer Bekannten schon mit dem hübschesten Kavalier verlobt! – Und sie liebte ihn! Ganz wie so ein kindliches, kleines Frauenherz lieben kann, vor dem das Leben sonnig liegt, der Horizont klein, aber wolkenlos. Der mädchenhaften Sehnsucht nach einer gewissen Romantik im Brautstande genügte der Parade-Attila Arthurs vollkommen. Daß der schickste Husarenstiefel über dem schmalsten Männerfuß, eine ewig gleichmäßige Liebenswürdigkeit, die aristokratische Gesinnung eines gut erzogenen Mannes für manche Ehe nicht ausreichen, begriff sie kaum. Ihr kam es vor, als wenn sie ihre Zukunft vor sich liegen sähe, glatt, glänzend wie das Schneefeld da, aber nicht kalt. Und doch fehlten die grauen Stimmungen auch diesem Köpfchen nicht. Es war ihr zuzeiten, als wenn in ihr sich etwas regte, empordrängte – etwas Heißes, Fremdes – der feurige Wunsch einer jugendkräftigen Natur nach Hindernissen, Gefahren, nach einem großen, selbstgesteckten Ziele, das zusammengepreßte Lippen, verhaltene Thränen, Wut, Verzweiflung verlangt – die aufs äußerste angespannte Kraft eines starken Ich. Einige 62 haben das nötig, andre nicht! tröstete sie sich sofort. Wenn Hindernisse kämen – wem kommen sie nicht? – sie würde sie nehmen, anmutig, im Spiel, wie ihr kleiner Fuchs, der keinen Graben refüsierte, doch über die kleinste Hecke nicht zu bringen war. Würde auch für sie diese Hecke kommen? – Dabei kam sie auf für ein prüdes Grafenfräulein sehr gewagte Gedanken. Sollten der Prüfstein nicht am Ende die Kinder sein?

Sie war unklar, wie sie diesen natürlich sehr hübschen und klugen Majoratserben großziehen sollte. Unter dem harten Joche der Pflicht, wie es ihr geliebter Vater wohl wünschen würde, – oder zärtlich, weich, zu einem gutherzigen, unwiderstehlichen Schmeichler mit der immer glücklichen Hand wie Arthur? Sie selbst war so ein Zwitterprodukt aus beiden Systemen, das fühlte sie ganz gut. Ihre Phantasie begann weit zu schweifen. Sie sah schon diesen noch Ungeborenen mit den Silberschnüren des Offiziers, was ihrem Mutterstolz sehr schmeichelte, und sich ein wenig verblüht, matronenhaft, welche Vorstellung wie ein leichter Schatten über ihre Seele huschte.

So ging sie in Thränen dahin. Leicht knirschte der Schnee unter ihrem kleinen Fuße, die Sonne lachte; der Wolfshund hatte einen Hasen aufgestöbert und jagte in großen Sprüngen über das Feld bis zum Walde, der, im weiten Bogen ausholend, den Pfad vor ihr im Grunde schnitt. Dort stand er wedelnd. Durch eine schmale Wiesenlichtung grüßte der Gampeschkeimer Kirchturm herüber – viereckig, ein gedrungener Ziegelbau, mit angedeuteten Spitzbogen statt der Fenster, mit seiner schweren Architektur eines Wartturmes, sich sofort als Ordensbau verratend.

63 »Meine Comtesse träumt – hoffentlich von mir!« sagte plötzlich das liebenswürdig-weiche Organ Arthurs, der am Waldsaum die Träumende belauert hatte.

Ein dunkles Auge hob sich leuchtend, und ein frisches Lippenpaar öffnete sich zum Kusse.

»Gewiß von dir! Aber was, erfährst du nie!«

Er hatte sie um die Hüfte gefaßt und zog sie an sich.

»Du sollst beichten!« flüsterte er verliebt. »War es etwas Nettes?«

»Der Herr Rittmeister neugierig? – Nein, nein!«

Als er wieder bat und küssen wollte, bog sie kokett den Kopf zur Seite.

»Willst du gleich artig sein! Du bekommst keinen Kuß mehr von mir – nicht einen einzigen!« Sie drohte schelmisch mit dem hübschen Finger.

»Um den Preis allerdings . . .« lachte er und faßte rasch die Hand. »Da muß ich es wohl für uns beide thun?«

Sie duldete mit reizendem, leichtem Sträuben seine leidenschaftlichen Liebkosungen. Endlich hauchte sie, atemlos von der halben Abwehr und dem ganzen Begehren: »Wenn uns jemand sieht!«

»Und wenn es deine Tante wäre – mir egal! Also sag, was du geträumt hast!« Und er schickte sich zu einer neuen Attacke an.

»Ich weiß es nicht mehr.«

»Hübsche Lügnerin!«

»Aber ganz gewiß nicht, Arthur!« Bekräftigend stampfte sie mit dem Füßchen.

Es war die Wahrheit. Unter Küssen und Kosen vergaß das junge Herz natürlich, daß außer ihnen beiden und ihrer Liebe noch irgend etwas existierte. Eng aneinander geschmiegt wandelten sie jetzt auf dem 64 sich schlängelnden Waldwege weiter. Von den schneebelasteten Fichtenzweigen ließ zuweilen ein Windhauch leichten Sprühregen herniederrieseln. Sie zuckte wohl ernüchtert zusammen: »Puh, ist das kalt!« – Doch ein Blick von ihm, ein Armdruck genügte, um sie in ihre traumselige Stimmung zurückzuzaubern.

»Liebst du mich auch wirklich?«

»Welche Frage!«

Es liegt wie der tauige Duft eines Frühmorgens über solcher Brautzeit – alles noch nebelig, unbestimmt, aber vom Sonnengolde so rosig durchzittert. Noch glaubt man, noch erhofft man alles von dem beginnenden Leben wie vom aufsteigenden Tage.

Da tönte der helle Stahlklang einer scharfgeschwungenen Axt durch den Wald; die Stimmen der Holzschläger wurden hörbar.

»Gampeschkeim verwüstet wieder seine Bestände.«

»Schwiegerväterliche Weisheit!« spöttelte er.

»Ich glaube, Arthur, es ist dies der erste verständige Dialog seit einer halben Stunde.«

»Ich glaube auch.«

Beide hatten in demselben Augenblick eine peinliche Empfindung. Sind die köstlichen Minuten eines jungen Glückes im fahlen Lichte der Alltäglichkeit wirklich so inhaltsleer, so kindisch? Auf einmal schämten sie sich ihrer Gefühle. Der Comtesse fiel das Gespräch mit der Tante über Loja wieder ein.

»Wie bist du eigentlich mit dem Doktor zusammengekommen?«

»Durch meinen Bruder. Sie kannten sich aus Bonn.«

»Ihr seid euch aber so ganz unähnlich, Arthur!«

»Das will mir manchmal jetzt auch so scheinen. Zehn Jahre verändern die Menschen. Im übrigen haben die Lojas einen gewissen Ruf als Sonderlinge.«

65 »Er hat doch offenbar nichts! Woher die ungleiche Freundschaft zwischen zwei jungen Kavallerieoffizieren und einem Studenten?«

»Student! – Er hielt sich ›Studierens halber‹ in Bonn und Berlin auf, hatte Reitpferde und eine Etage und wußte allenfalls, in welcher Straße die Universität lag. Denn mit dem Nichtshaben! Denke dir, Mieze, daß mein Bruder sich zwei Jahre lang durch Lojas Kredit gehalten hat – und ich weiß, was das heißt! . . . Jetzt hat er die Marotte, den Pauvren zu spielen.«

»Weißt du das auch ganz gewiß?«

»O ja! – Ich kann dir über Lojas noch mehr berichten. ›Vornehm, aber arm‹ – das wäre die beste Devise für dies Geschlecht. Dabei die richtigen Don Quichotte-Naturen – Leute, die allzeit bereit waren, für eine Ueberzeugung, eine Marotte selbst ohne Besinnen den Kopf auf den Block zu legen. Du lachst, Schatz? Die Weisheit stammt Wort für Wort von meinem Bruder. Ich für meinen Teil halte solch stahlharte Individualität für ein Unglück und für eine Dummheit. Sie haben sich in aller Herren Ländern als richtige Condottieri herumgeschlagen, haben in allen Berufen Schiffbruch gelitten – geleistet haben sie nur in ungesetzlichen Zeiten etwas, wo ihre Eisenschädel keine genügend dicke Wand fanden, sich einzurennen. Der einzige Verständige scheint mir Hans' Vater gewesen zu sein. Um das rostige Wappenschild zu vergolden, heiratete er ein Fräulein Schulz aus Hamburg, Schwester von dem berühmten Reeder, dem zwei große Dampferlinien gehören.«

»Vielleicht liebte er sie.«

»Jawohl! Fräulein Schulz? Jedenfalls war 66 die Pauvreté mit einem Schlage aus. Vater und Mutter genossen das eheliche Glück freilich nicht lange. Der Sohn hat die Goldfüchse nachher tüchtig ins Rollen gebracht. – Ich sehe mir den Duckmäuser jetzt manchmal zweifelnd an und frage mich: Ist das derselbe Loja, dem kein Wein, kein Pferd gut, kein Mädel hübsch genug war? Gelebt wie ein Wahnsinniger . . . Könnte dir Dinge erzählen! Er motivierte seine ›Wüschtheit‹ übrigens ganz originell: ›Ich möchte mir die Erfahrung, zu der man sonst ein ganzes Leben braucht, in viel kürzerer Zeit kaufen!‹ – In dem Menschen steckte eine unglaubliche Lebenskraft. Allerdings jetzt! Man sieht ihm doch wirklich nicht an, daß er zwei Jahre jünger ist als ich.«

»Vergleiche dich doch nur nicht mit ihm, mein hübscher Arthur!« antwortete sie ärgerlich.

»Sehr schmeichelhaft! Früher hat er uns jedenfalls alle geschlagen – durch eine Handbewegung, ein Wort, einen Blick . . . Weiß der Teufel, wo der Kerl bei all seiner Häßlichkeit dieses Vornehme zur rechten Zeit hernahm!«

»Davon merkt man nichts mehr!«

»Leider! Sein wüstes Leben fand ich übrigens niemals sehr nachahmungswert. Aber die andern! Wie vernarrt! . . . Mein Bruder würde sich mit mir geschossen haben, wenn ich etwas über Loja gesagt hätte!«

»Jetzt schwerlich mehr! Dein Freund hat abgewirtschaftet mit den Talenten und mit dem Gelde.« Wie kühl sie sein konnte!

»Das letztere hat er mir schon vor zehn Jahren weiszumachen versucht. Als wenn er nicht der einzige Erbe dieses Millionenonkels gewesen wäre!«

67 »Nun, sei mal ganz ehrlich, Hans! Du hast dir diesen ›Freund‹ nur aufgeladen, weil dein Bruder ihm verpflichtet war?«

Gampesch errötete leicht und blickte unsicher.

»Nein, nein! . . . Das heißt . . . natürlich ist das auch ein Grund für mich!«

»Der einzige?«

Er zögerte. »Ja, – wenn du es denn durchaus wissen willst.«

Marie fand den Bräutigam so ritterlich, so edel! Und daß er sogar männlich errötete über eine Handlungsweise voll Delikatesse, Selbstverleugnung, deren sich das feinfühligste Weib nicht hätte zu schämen brauchen – trieb eine Rührungsthräne in ihr Auge.

»Das habe ich doch gleich gewußt!« sagte sie und blickte bewundernd auf den Bräutigam, der den Kopf nach der andern Seite wandte. »Und er dankt es dir nicht einmal!«

»Doch, doch!« Seine Worte klangen hastig, nervös. »Berühre das niemals in seiner Gegenwart! Er ist so hochmütig. Ueberhaupt, das ist unser Geheimnis – verstehst du? . . . Lieber den Teufel zum Feinde als ihn!«

»Du scherzest! . . . Jedenfalls.« – Je höher ihr der Geliebte stieg, desto tiefer sank ihr der »Freund« – »ich wünschte, dieser Loja wäre, wo der Pfeffer wächst.«

Der Wolfshund, der dicht neben der Comtesse getrottet war, grollte leise. »Ruhig, Tyras! – Was gehen dich die Hasen an!«

»St! St!« machte Arthur. »Was ist das?«

Sie blieben stehen. »Der Doktor!«

68 Sie hatte so feine Sinne und erkannte den Mann sofort, der, an einen Fichtenstamm gelehnt, den Rücken gegen sie, wohl fünfzig Schritte vor ihnen mitten im Walde stand. Ein struppiger Dorfhund sprang mit freudigem Gewinsel um ihn herum, und der dicke Knüppel, den er am Halsband trug, machte dabei auf dem Schnee die possierlichsten Tanzsprünge. Ihr scharfes Ohr vernahm folgende Worte: »Ja, ja, du unzufriedener Plebejer, wir haben uns gegenseitig erkannt! Als ehrliche Kommunisten wollen wir auch ehrlich teilen. – Da!« Er warf die Hälfte eines Butterbrotes hin, das der Hund gierig verschlang.

Diesen Anblick ertrug der wackere Tyras nicht. Laut bellend sprang er vor. Blitzschnell wandte sich auch der Mann; zugleich wich der warmherzige Ausdruck, der sein häßliches Gesicht merkwürdig verschönt hatte, einem finsteren, leidenschaftlichen. »Zurück, Bestie!« und als er jetzt das Brautpaar bemerkte: »Rufen Sie den Hund ab, gnädigste Gräfin!«

»Er ist mal wieder sehr höflich!« murmelte sie. »Wegen eines Dorfköters!« Schnell war der Schatten von Sympathie, den sie einen Augenblick für den Sprecher empfunden hatte, verflogen.

Gampesch faßte Tyras am Halsband und rief: »Jag doch deinen Rumtreiber nach Haus!«

»Da ich ihn selbst mitgenommen habe, – nein!«

»Na, die Herrschaften werden sich auch so befreunden . . . Tyras, wenn du zuspringst!«

Und der bedrohte Hund trollte mürrisch hinter dem Brautpaar her. Der Comtesse war es eine sehr üble Zugabe, daß man den Weg nach Gampeschkeim jetzt mit dem Doktor machen mußte. Schon sein Anblick verdarb ihr die Stimmung. Selbst die unumgänglichsten Höflichkeitsfragen: »Wie gefällt es 69 Ihnen in der Einsiedelei? – Kann die alte Köhler auch kochen?« fielen ihr sehr schwer.

»Vorzüglich! Fluß und Wald gleich vor der Nase. Und für mein Bedürfnis an Komfort sorgt die alte Frau genügend.«

Der Waldweg mündete jetzt auf die Chaussee. Unter gleichgültigen Gesprächen kam man bis an das Kirchdorf. Gleich am Eingang lag das Schloß – alt, grau; das Hauptgebäude kaum mehr als ein riesiges Wohnhaus. Ein feudaler Ahn hatte seitlich einen zurückspringenden Flügel aus Ziegelsteinen angesetzt mit schmalen Fenstern und drohenden Zinnen; die Einfahrt, ein tiefes, gotisches Thor, schien auf einen Turnierplatz zu gehen, und man war einigermaßen erstaunt, daß dafür der Blick auf strohgedeckte Insthäuser, einen unsauberen Wirtschaftshof und eine ganze Reihe von Karpfenteichen fiel.

»Wollen wir bei mir einen Bügeltrunk nehmen?«

Loja lehnte ab. »Mich interessiert vor allem die Kirche.« Er wies nach dem Turm, der auf einem Hügel neben dem Gut sich erhob.

»Gehen wir mit, Mieze? Wir thun das zwar schon pflichtschuldigst jeden Sonntag . . .«

»Der Predigt wegen, Arthur, und gern!« fuhr die Comtesse fort, mit einer Anspielung auf den eingestandenen Unglauben des Arztes, der interessante Kirchen nur an Wochentagen besuchte.

Ein Junge wurde nach dem Prediger geschickt, die Schlüssel zu holen. Doch der alte Geistliche erschien aus Höflichkeit selbst mit seiner Frau, um die Gäste zu führen. Der Graf hatte viel für diesen Siebzigjährigen übrig, der noch aus der guten alten Zeit stammte. Achtundvierzig hatten die Gampeschkeimer Bauern ihren Seelsorger an einen Baum 70 gehängt, aus purer Nächstenliebe, »damit er eher in seinen Himmel komme«. Doch der morsche Ast war weniger menschenfreundlich und brach unter der Last des Wohlbeleibten. Von jener Todesnot habe er den bläulichen Schimmer um die Nase und die stark verwitterten Züge, deren Farbe an ausgewaschenen Tuffstein erinnerte – versicherte zungenfertig die Gattin gewissen heimtückischen Anschuldigungen gegenüber. Sie wußten es beide besser. Er war niemals ein Spielverderber beim Glase Grog oder der Whistpartie gewesen. Humoristisch und friedfertig hatte er auch dort als guter Hirte gewaltet. Seine Schutzbefohlenen im Dorfe murrten freilich darüber, daß bei der Kalende im Pfarrhaus die Eier so genau geprüft und die Gänse oft zu leicht befunden wurden. Außerdem hatte der Alte gegen seine Beichtkinder einen wohlwollend grobianischen Ton und verweigerte den meisten Bräuten starrköpfig den Kranz und die Lichter auf dem Altar. Trotzdem war er beliebter als sein kluges Ehegespons, dem die Bauern heimlich viel Niederträchtigkeiten und eine bitterböse Zunge nachsagten. Dagegen war sie sehr nach dem Geschmack des jungen Kirchenpatrons und seiner Verlobten. »Sie hat so ein angenehmes Wesen!« – Und wie sie jetzt – eine jugendlich-bewegliche Gestalt trotz der weißen Haare – mit der Brille auf der spitzen Nase um das »gnädigste Comteßchen« und den »Herrn Rittmeister« herumtanzte, erschien sie allerdings sehr liebenswürdig für den Kurzsichtigen, der ihr plärrendes Ostpreußisch und ihre Unterthänigkeit ernst nahm; während der Prediger, alt und steif geworden, nur eben so an seinem gefütterten Käppchen rückte und etwas profan an der Kirchenthür sich als Kettenraucher bekannte, der am 71 liebsten im Gotteshause weitergepafft haben würde. Aber er war kein schlechter Führer und wußte allerlei Histörchen zu erzählen über die Gampesche, deren Erbbegräbnis unter der dumpfig kühlen Halle lag, die, in ein ewiges Halbdunkel getaucht, mit den katholischen Glasmalereien an den gotischen Fenstern, dem bluttriefenden Skelett des holzgeschnitzten Heilandes über dem Altar, dem tiefgedunkelten Heiligenbilde in der Nische, aus dem nur das Rot der Gewandung leuchtete, schon etwas Beengendes, Gruftähnliches hatte. In Wand und Boden waren die Leichensteine der Patrone eingelassen. Mittelmäßige Künstler hatten die Grabschriften gemeißelt und die Wappenembleme eingegraben. Einige rohe Bildnisse der Ahnherren mit Schwert und Harnisch kündeten, daß hier ein waffenfrohes Geschlecht ruhe; obgleich Loja schon bei den ältesten an einer gewissen diplomatischen Biegung der Nase die Neigung zu erkennen glaubte, höfisch zu werden.

»Die haben viel für die Kirche gethan!« lobte die Pfarrfrau.

Der Alte nahm lächelnd eine Prise und schlug laut den Dosendeckel zu.

»Einige haben auch sonderbare Gewohnheiten gehabt. Die Gitterthür vor dem Altar hat ein Geistlicher machen lassen, weil Ihr Vorfahr die leidige Gewohnheit hatte, zwei Bracken mit zum Gottesdienst zu bringen, und der unglückliche Seelsorger bei dem Gebet trotz des Talars der Integrität seiner geheiligten Waden keineswegs sicher war. Und den Betstuhl da haben noch Ende vorigen Jahrhunderts zwei Gampesche stiften müssen, weil sie sich während der Kirche so wild gestritten hatten, daß der Prediger nicht weitersprechen konnte.«

72 »Nette Ahnen!« spöttelte Loja und wandte sich dann zu einem flachsköpfigen Bauernjungen, der neugierig sich mit in die Kirche gestohlen hatte und jetzt, die Faust im Munde, unbeweglich auf den Besuch stierte. »Wie heißt du, mein Junge?«

»Domat!«

»Auch Kreuzzeitungsmann? Versuche es wenigstens zu werden, wenn du lesen lernen solltest, damit du einigen Anspruch auf Anständigkeit hast!«

Die Comtesse wurde dunkelrot. »Was soll das heißen?« fragte sie blitzenden Auges mit vibrierender Stimme.

»Daß ich Hochtories nicht liebe, deren Großeltern noch höchsteigenhändig den Pflug ziehen mußten und dabei mit der Vogtspeitsche intime Bekanntschaft gemacht haben dürften.«

»Es können doch nicht alle Uradel sein wie ihr Lojas!« begütigte Gampesch.

»Gott sei Dank – nicht!« rief die Comtesse und wandte sich zur Pfarrerin, die zwar den Zusammenhang nicht recht begriff, aber sofort wußte, welche Partei zu nehmen war.

»Die Herrschaften trinken doch eine Tasse Kaffee im Pfarrhause – Comtesse? . . . Herr Rittmeister?«

Sie nahmen nicht an. Doch berührte es die Comtesse wohlthuend, daß die kluge Frau den Doktor ganz übersehen hatte.

Draußen hatte sich ein leichter Wind aufgemacht, Wolken türmten sich im Westen; die untergehende Sonne zog eine mürrische Grimasse.

Der Pfarrer hob die bläuliche Nase gegen die Windrichtung und wies auf einige wie Versprengte hinjagende Flocken. »Es sieht nach einem Schneesturm aus! . . . Sie gehen doch Chaussee?«

73 »Nur nicht zweimal denselben Weg!« erwiderte die Comtesse mit lebhafter Abneigung. »Sonst sind wir konservativ – nicht wahr, Arthur? Hinten ums Schloß, jenseits des Flusses bis zum Dennhöfer Kirchenweg und dann querfeldein! . . . Mir geht es wie Papa, der kaum einen Tag ohne unsern prächtigen Wald da drüben aushalten kann . . . Wir gehen freilich bedeutend um . . . Und wenn der Schneesturm wirklich kommen sollte . . .« – sie sog gierig die feucht-scharfe Luft ein – »so ein romantisches Umherirren, das wünschte ich mir gerade! . . . Vielen Dank! Adieu.« Und da sie fromm und feudal war, belohnte sie die geistlichen Herrschaften mit einem halben Courknicks.

Aber schon als sie bei den Gampeschkeimer Leutehäusern waren, hielt sie die Wahl des Weges für unklug. Warum gerade diesem Loja die zerbrochenen Töpfe zeigen? Es war ein wahres Chaos schlechtgebauter Hütten und baufälliger Ställe. Unter den niedrigen Strohdächern blinde Fenster, windschiefe Thüren mit ausgetretenen Bortschwellen – es sah alles so gedrückt, ungesund aus, selbst die Kinder, die sich neugierig aus den Thüren hervordrängten. Die großen, alten Wirtschaftsgebäude, an der Seite abgebröckelt, mit vermorschtem Gebälk, einige zusammengesunkene gestützt – forderten sehr zu einem Vergleich mit der peinlichen Ordnung und Sauberkeit des Lorscher Hofes auf.

»Du wirst viel bauen müssen, Arthur,« meinte die Comtesse.

»Wenigstens massive Stallungen. Dem Volk ist es ja ganz gleichgültig, wie es wohnt, am liebsten wie die Schweine. Pardon wegen des Wortes!«

74 »Ja, ja . . .« Aber sie fand den Grundsatz des Vaters, die Leute zuerst durch die eigne Wohnung an Reinlichkeit zu gewöhnen, doch richtiger. Loja sagte kein Wort und schüttelte nur langsam den Kopf. Auch das mißfiel ihr im höchsten Grade.

Sie überschritten den Waldfluß und waren jetzt zwischen mächtigen Fichten. Es war schon dämmerig, trotz des leuchtenden Schneegrundes. Der Wind pfiff hohl durch die Kronen; ein Käuzchen schrie; melancholisch rauschte der Fluß. Die Aeste schüttelten seinen Schneestaub, dazwischen mischten sich große Flocken. Ueber eine Waldschneise trabte flüchtig Freund Reineke. Die Hunde spitzten das Ohr und bleckten die Zähne, versuchten jedoch keine Verfolgung. Vor der Kirchthür hatten der Aristokrat und der Plebejer einen jederzeit aufkündbaren Waffenstillstand geschlossen; sie hatten kein rechtes Vertrauen zu dem Wetter und hielten sich dicht an die Menschen.

»O, so ist es wunderhübsch! Fichtendickung . . . heulender Wind . . . nur noch Gespenster!« rief die Comtesse, der die Walddämmerung einen angenehmen Angstschauder über den Leib jagte.

»Sind auch da!« Aus dem Dennhöfer Kirchenweg, den sie hier kreuzten, kam ihnen im scharfen Trabe ein Schlitten ohne Glocken entgegen.

»Doch nicht etwa Papa, der uns einfangen will?«

»Nein, nein. Nur 'rüber!« drängte Gampesch. »Es ist unser Gellmann. Seit vierzehn Tagen glücklicher Ehemann. Die Geschichte ist äußerst heimlich vor sich gegangen.«

»Ist sie hübsch?« fragte sie zurück mit der begreiflichen Neugier der Braut und spähte nach dem Schlitten.

»Für den Burschen viel zu hübsch! . . . Schnell, 75 Mieze!« Und er schob die Zögernde vorwärts. »Der Kerl ist im stande, uns anzureden.«

»Damit wird er kein Glück haben!« Hochmütig hob sie den Kopf.

Sie hatten wenige Schritte jenseits des Kirchenweges gemacht, als auch schon der heranjagende Schlitten hielt.

»Herr Rittmeister?«

»Siehst du! Das abgebrühte Subjekt!« sagte Gampesch leise, trat aber trotzdem sofort aus der Dickung. »Was steht zu Diensten?« War es Schwäche oder die vorzügliche Kinderstube des Kadettencorps, daß der Mann nun einmal nicht unhöflich sein konnte?

»In fünf Minuten haben wir ein tüchtiges Schneewetter. Darf ich Sie vielleicht bis zum Schloß mitnehmen? Sie haben eine Dame dabei?«

»Meine Braut. Wir kommen eben von meinem Gut.«

Gellmann mochte trotz aller Höflichkeit die alte Ablehnung herausgehört haben. Er war kein Weltmann und seiner verzweifelten sozialen Stellung sehr wohl bewußt. Zögernd stieg er aus dem Schlitten und fragte unsicher: »Also nicht? Es ist wirklich Platz genug . . . Uebrigens darf ich Ihnen meine Frau vorstellen? Liebe Martha . . . Herr Rittmeister v. Gampesch, Majoratsherr auf Gampeschkeim.«

Die junge Frau, welche ganz steif dagesessen hatte, verbeugte sich nur leicht. Unter dem roten Schleier faltete sie unwillig die weiße Stirn. Doch kaum hatte der Rittmeister den Namen seiner Verlobten, die sich sehr viel Zeit zum Näherkommen nahm, genannt, als die junge Frau den Schleier zurückschlug und leichtfüßig heraussprang.

76 »Comtesse Marie? Seh' ich Sie wirklich einmal wieder! Wissen Sie, daß es meine goldigste Kindererinnerung ist, dieser Sommer in Kranz . . . Unsre Sandfestung, zu der wir zwei Stunden gebraucht hatten, und die eine einzige ungezogene Sturzwelle wegriß! – O, wie genau ich mich erinnere – an den Schnupfen, die mütterlichen Züchtigungen, die nackten Füße; und wie stolz ich war, mit einer wirklichen Comtesse spielen zu dürfen. Meine Renommiercomtesse! Ich habe so viel von Ihnen erzählt noch jahrelang, daß meine Freundinnen neidisch wurden und Ihnen diesen Namen beilegten. Wir sind später ganz nach Kranz gezogen – es ist uns nicht gut gegangen – und ich habe immer vergeblich nach meiner Comtesse ausgeschaut. Haben Sie das Stück Bernstein noch, das Sie zum Andenken an mich ewig behalten wollten? Ihre bemalte Muschel bewahre ich sehr getreulich . . .«

Die Comtesse erinnerte sich wohl, daß sie sich geduzt hatten und gute Freundinnen gewesen waren. Doch war sie sehr blaublütig geworden und oft von herzloser Kälte gegen bürgerliche Bekannte. Und nun diese Martha Gellmann war gar nicht nach ihrem Geschmack! War es vielleicht der Neid der Einundzwanzigjährigen, die sich einer weit Hübscheren gegenübersah? – denn hübsch war sie, die junge Frau des Verfemten; hellblond, von hohem Wuchs, voll und schlank; unter der schön geschwungenen Braue leuchtete matt ein graues, lüsternes Auge. In der Provinzialhauptstadt nannten sie die Gourmets mit epikuräischem Augenblinzeln »Nana«. Und wirklich erinnerte sie mit dem weißen festen Fleisch, dem Goldflaum des Nackens an die Heldin des Straßenromans.

77 »Gnädige Frau haben wirklich ein vorzügliches Gedächtnis . . . Sehr schmeichelhaft . . .« Der kleine Eisklumpen verzog dabei keine Miene und hatte der Redseligen die Hand nur gerade so weit entgegengestreckt, als es die kühlste Höflichkeit erforderte.

Die junge Frau begriff sofort. Sie zog den Schleier hastig herunter; eine helle Röte bedeckte ihr Gesicht und floß in breiter Welle den vollen Hals hinab. Sie hatte eine Freundin gesucht und fand eine Fremde. Mit rascher Bewegung hatte sie ihre Hand aus der der Comtesse gelöst. »Ich bitte sehr um Verzeihung . . .« Und mit stolzer Verneigung trat sie zu dem Schlitten zurück. »Komm, Otto!«

Gellmann machte eine linkische, viel zu tiefe Reverenz. Der Schlitten entglitt rasch durch die Walddämmerung.

»Du hättest etwas liebenswürdiger sein können,« meinte Gampesch mit leisem Vorwurf.

»Und du, nach deinen Ansichten über diesen Menschen, etwas weniger höflich.« Sie spielte die Beleidigte, vielleicht gerade, weil sie sich ihres Betragens schämte. »Du solltest mir dankbar sein! Ich wußte recht genau, was ich that. Wenn ich nun sehr erfreut gewesen wäre? – Morgen hätten sie bei uns Besuch gemacht. Marie Wilnein wo möglich die beste Freundin der Frau eines infam kassierten Offiziers! . . . Und die Gegend? Der Oberst? – Man würde uns nicht die Zähne zeigen, wohl aber den Rücken!«

»Du hast recht. Nur die Art . . .«

»Das ist nun einmal meine Art! Was kümmert mich diese Badebekanntschaft! Mir sieht sie ganz so aus, als wenn man ihr Kleid nicht zu hart streifen dürfe – seines Rufes wegen. Sie roch nach Moschus. 78 Hast du bemerkt? – Und hübsch? Ich danke Gott, daß ich nicht so hübsch bin! Wo es sich um solche Schönheiten handelt, seid ihr alle zusammen merkwürdig nachsichtig. Die Katze läßt das Mausen nicht!«

»Die Katze hier doch!« antwortete Gampesch, auf sich zeigend. »Allerdings dies Gesicht? . . . An wen erinnert sie doch! Hilf mir, Hans! An ein sprechend ähnliches Gesicht knüpfen sich doch sehr stolze Reminiscenzen aus deiner wilden Zeit! – Du warst ja vorhin scheu im Dickicht geblieben?«

Die Comtesse sah auf Loja, unsicher, etwas schuldbewußt. Sie hatte während der Unterredung mit Frau Gellmann das unbehagliche Gefühl gehabt, als wenn sie sein feindlicher Blick vom Rücken her durchbohrte. Was hatte dieser Mann? – Erdfahl, mit unstetem Blick, als wenn er eine entsetzliche Vision gesehen!

»Wie hieß sie doch? – Anna, Klara . . . Nein, mit M fing sie an . . .«

Loja schien nicht zu hören; er ging schwankend wie in einem schweren Traum.

*

Die Flocken fielen dichter, schneller. Der Wind blies einen Augenblick aus vollen Backen – ein tolles Gewimmel entstand – dann erstarb mählich der singende Ton in den Fichtenwipfeln. Der Schnee sank gleichmäßig, dick, wie ein flockiges Tuch.

»Es wird fabelhaft schnell dunkel.« Gampesch warf einen besorgten Blick nach oben. Kein Schimmer von Mond oder Sternen, kein Fleckchen Himmel, auch die dunkeln Baumäste nur noch in verschwommener Abgrenzung sichtbar. Langsam schien alles in dem Flockenfall zu versinken.

79 »Wir hätten den Schlittenplatz doch acceptieren sollen! Wollen wir nicht nach Gampeschkeim zurück?«

»Jawohl, wenn wir könnten, Arthur! Siehst du etwas von unserm Wege? Sind wir überhaupt auf einem Wege? – Ich auf keinen Fall!« Lachend zog sie das Bein aus einem Schneeloch, in das sie bis zur Wade versunken war. »Und wo ist Gampeschkeim? Rechts, links, hinter uns? Ich habe keine Ahnung!«

»Ich auch nicht,« gab Arthur zögernd zu. »Hörst du den Fluß? Wenn wir den nur haben!«

Sie strengte stehenbleibend ihr feines Gehör aufs äußerste an. »Keinen Laut!« Es war, als wenn der niedersinkende Schnee jedes Geräusch verschluckt hätte.

»Die Geschichte wird ungemütlich.«

»Sag ruhig: Wir haben uns verirrt! – Als ob ich Angst hätte!«

Die feuchte Schneekühle war machtlos gegen ihre warmblütige Jugend. Sie war ausgelassen froh über dies Abenteuer und hing sich an des Bräutigams Arm.

»Führe nur! Wir werden ja sehen, ob du so blindes Vertrauen auch rechtfertigst.«

»Na, dann immer geradeaus! Wenn wir Glück haben, sind wir in einer halben Stunde aus dem Walde.«

Die halbe Stunde verging – noch eine – kein Ende.

»Wir sind verkehrt gegangen. Hier ist Hochwald.«

Der Marsch im losen Schnee hatte sie doch angegriffen. Auch die gefrorenen Massen darunter waren nachgiebiger geworden. Ein starker Wind hatte sich aufgemacht, fast ein Sturm. Sie fühlte, 80 wie die Flocken gegen ihren Nacken geschleudert wurden. Ein heiser pfeifendes Sausen ging in den Lüften. Hier war eine riesige Baumwurzel bloßgelegt; sie stolperte darüber, um gleich darauf in einem zusammengewehten Schneehaufen stecken zu bleiben.

»Du bist unliebenswürdig, mein geliebtes Ostpreußen!« scherzte sie. Aber ihr wurde doch etwas bänglich zu Mute. Die feinen Glieder waren solche Anstrengungen nicht gewöhnt. Ein Chaos kreisender Flocken hüllte sie ein. Es war tiefe Nacht. Sie sah die Baumstämme erst, wenn sie sich daran gestoßen hatte. Tückischer Nebel stieg vom Boden auf. – »Wir sind im Bruch!« stieß sie angstvoll hervor. Ihre Nase hatte die auch im Winter moorige Witterung des Sumpfes gefaßt. Sie erkannte das niedrige, dichte Erlengebüsch, welches ihn umsäumte. Dicht vor ihr blinzelte tückisch das schwarze, dünne Eis über einer Lache, die der Sturm freigelegt hatte.

Sie hielten Kriegsrat.

»Umkehren? – Aber an welcher Seite des Bruches sind wir?« Schnee und Wind hatten jedes Merkmal verwischt.

»Was denkst du, Hans?« fragte Gampesch.

Loja, dessen Gegenwart man beinahe vergessen hatte, weil er noch nicht ein Wort gesagt, sondern nur so mitgestolpert war, besann sich einen Augenblick. Es war, als wenn er gewaltsam etwas abschüttelte. Er sah auf den Dorfhund, der nach links ausbrechen wollte und leise winselnd den Kopf nach dem Doktor hob.

»Wir hätten uns schon vor einer Stunde an dich wenden sollen, Unkas. – Wir wollen nach Haus! Verstehst du, mon brave?« – Das Tier 81 wedelte und hob sich mit heiserem Geheul im Sprunge nach der Seite.

Die Comtesse war matt. Doch die tollste Fahrt begann erst. Es ging gegen den Sturm. Die Flocken peitschten ihr das Gesicht blutrünstig, die Füße schienen bei jedem Schritte ins Bodenlose zu versinken. Oft drohte der zarte Körper zu versagen.

»Soll ich dich tragen?« keuchte Gampesch.

»Nein, ich bin noch ganz frisch!« preßte sie mühsam hervor. Es flimmerte ihr vor den Augen, die Kniee zitterten. Doch sie war ehrgeizig, wollte nicht schlapp werden wie ein schlechter Rekrut. Lieber tot hinstürzen, als sich von dem Manne da an der Spitze belächeln lassen! Welche Kraft er haben mußte, der mit den Hunden um die Wette sich in die Schneewellen stürzte, Bahn brach, sich heraushob mit einer so wunderbaren Elasticität, daß die breite Gestalt fast etwas Graziöses hatte! Zuweilen drehte er sich um. Die Wangen waren ihm gerötet, die Augen glänzten; aber die Brust ging gleichmäßig, und an seiner Stimme merkte man wenig von der Anstrengung.

»Wir wollen warten. Die Herrschaften können wohl beide nicht mehr vorwärts?«

»Ich wohl!« Und sie ertappte sich auf einer widerwilligen Bewunderung. Wo andern die Grenze der Leistung schien, da begann das Rennen erst für ihn, der aus dem zähesten Widerstande, aus der höchsten Anspannung erst rechte Kraft zu schöpfen schien. Zugleich hob sich ihr dagegen ein andres, fast verächtliches Gefühl. Warum führte ihr Arthur nicht? Und sie, die den Geliebten so gern überall als Ersten, Bewunderten gesehen hätte, überwand 82 kraftvoll die Anstrengung, stürzte schneller vorwärts, um ihn anzufeuern, den schlummernden Ehrgeiz zu wecken.

»Du wirst dir den Tod holen, Mieze! Geh langsam!« Und durch die Besorgnis des Liebenden hindurch fühlte sie schmerzlich eine ihr unverständliche Angst für das eigne liebe Ich, eine Angst, die viel stärker war als die Scham des Mannes, der das Rennen nicht machen kann und nur anstandshalber mitreitet.

»Jawohl, gehen wir langsamer, Arthur! Die Spur haben wir ja.«

Sie waren jetzt auf weiter, völlig verwehter Schonung; die Tannenspitzen lugten nur noch als schwarze Punkte aus dem Schneemeer. Sie sah noch gerade, wie der Doktor vor ihnen durchbrach wie ein Hirsch durch die Dickung. Und mit der seltsamen Gefühlslogik des liebenden Weibes sagte sie plötzlich, des Geliebten glühendes Gesicht streichelnd:

»Zu dumm, dies Rasen! Er will uns wohl imponieren, dieser Plebejer? So sieht er erst recht gewöhnlich aus!«

»Er drückt uns alle, wenn er will!« antwortete Gampesch in neidvoller Anerkennung.

»Hörst du nichts?« Es grollte leise herüber. »Der Fluß!« Nach wenigen Minuten hörten sie deutlich das zornige, gurgelnde Rauschen des angeschwollenen Waldbaches. – »Nun sind wir bald zu Hause. Papa wird sich geängstigt haben!«

Der Spur nachgehend, arbeiteten sie sich bis zu dem Hange durch, der steil zum Fluß abfiel. Die Fußstapfen verloren sich hier plötzlich.

»Wenn er abgestürzt wäre?«

Und sie empfand bei dem Gedanken keine Spur von Mitleid, sondern eine häßliche Schadenfreude. Doch von unten klang Lojas Stimme.

83 »Zwanzig Schritte rechts ist der Hohlweg; vollkommen verschneit. Sie werden bis an die Taille versinken, gnädigste Gräfin. Aber meine Rutschpartie ist doch etwas zu gefährlich.«

»Warum? Wenn er herunter gekommen ist! Arthur, meinst du nicht auch?«

Er jedoch war ein verständiger Mann, der nutzlose Gefahren seiner Lebtage vermieden hatte, und entschied sich für den Weg. Beschwerlich war er genug. In der verwehten Hohlung versinken, sich herausarbeiten, wieder versinken, um endlich auf allen vieren kriechend den Grund zu erreichen. Die Comtesse war herzlich froh, daß Nacht und Schnee ihren dichten Schleier taktvoll über diese lächerliche Expedition breiteten. Die Poesie eines gefahrvollen Abstieges hätte der kleinen Phantastin besser behagt.

»Und nun durch!« riet Loja. Ueber dem Flußbett wogte dicker Nebel. »Ehe wir die Thalsohle entlang bis zur nächsten Brücke kommen, ertrinken wir im Schnee. Bei dem Wasser haben wir's wenigstens bequem.«

»Bist du toll, Hans? Im Winter, schweißgebadet in solches Eiswasser!«

»Welche Umstandsräte ihr Kavalleristen doch seid, wenn ihr keinen Gaul zwischen den Schenkeln habt! Was soll uns das Fußbad schaden? Du trägst die Gräfin hinüber. In den Romanen kommt Aehnliches regelmäßig vor, und es liest sich sehr nett. In der Praxis fehlt allerdings die poetische Narrenjacke. Das ist doch auch ein Vorzug!«

Gampesch weigerte sich fröstelnd. »Daß die verdammten Schwolmer Bauern den Steg hier weggenommen haben! Dies Gesindel! Im Sommer, wo eine bequeme Durchfahrt ist, haben wir ihn gar 84 nicht nötig. Das ›Flüßchen‹ da ist nämlich zu der Jahreszeit tief genug und sehr reißend. Es höhlt sich dazu regelmäßig heimtückische Löcher! – Ich sage das nicht meinetwegen. Mir macht das Bad auch nichts. Aber dann fällt uns Marie ins Wasser. Eine nette Bescherung!«

»Ich gehe auch durch!« warf die Comtesse lebhaft ein.

»Dann vertrauen Sie sich lieber meinem Arm an!« Loja schien eine Anwandlung von Galanterie zu haben. – »Genug der Rederei!«

Kurz entschlossen trat er ins Wasser. »Puh! Das wäre so etwas für einen Typhuskranken . . . Jetzt bin ich's schon ganz gewöhnt. Nur bis ans Knie! . . . Und da ist es noch flacher . . . Eine Beresina überschreiten wir nicht! . . . Kommen Sie, Gräfin!«

Und ehe sie sich's versah, hatte er sie ohne Formalitäten um die Taille gefaßt und schwang sie kraftvoll herüber. Gampesch folgte vorsichtig, langsam.

»Das wäre also ausgestanden! Hier ist ja auch meine Residenz Schwolmen!«

Trübe Lichter blinkten durch das Schneegestöber; niedergedrückter Rauch schlug ihnen ins Gesicht. Seine Residenz? – Comtesse Marie empfand den begreiflichen Horror des Herrenkindes vor der erdrückenden Atmosphäre all dieser Bauernhütten da. Wie er es nur aushalten konnte in dieser niedrigen, uralten Baracke, die fast bis an die viereckigen Schiebefenster im Schnee begraben lag? Zur Sommerszeit mochte es hier noch erträglich sein, wenn die Sonnenrosen und Kartoffeln in dem Bauerngarten blühten, die Bienen summten und vom Fluß herauf zuweilen ein kühler Luftzug durch 85 die flimmernde, blütendufterfüllte Hitze des Mittags floß; aber in dem ostpreußischen Winter unter diesem hohen Schindeldach mit der Feuerleiter darauf und dem ungefügen Schornstein kampieren zu wollen, während ihm die hohen Zimmer des Gampeschkeimer Schlosses zur Verfügung standen!

»Mir hat dies Nest hier im Grunde schon auf meiner ersten Fahrt nach Lorschen imponiert. Das Haus ist für mich Tropenmüden eine ausgezeichnete Vorbereitung auf die sibirische Filzjurte.«

Der Doktor war eben verrückt, verrückt wie sein adoptierter Dorfköter, der den ganzen Weg Frieden gehalten hatte, sich aber vor der Hausthür wie toll gebärdete, bellte, mit glühenden Lichtern auf ihren Tyras losfuhr, ein verbissener Plebejer, der die aristokratischen Ansichten über Gastfreundschaft durchaus nicht in seinem struppigen Schädel plazieren wollte.

»Unkas, alter Bursche, sei verständig! Kusch! Du verstehst jedes Wort; mach mich nicht böse!«

Sein Zorn erweichte sich nur widerwillig unter Lojas beruhigender Art, der zur Verwunderung der Comtesse den zottigen Unhold ganz wie ein vernünftiges Wesen behandelte.

Die alte Köhler kam dienstfertig mit einem Birkenbesen herbei: »Du infamigte Bestie!«

Als sie zuschlagen wollte, fiel ihr Loja in den Arm.

»Weg mit dem Knüppel! Wozu das ewige Prügeln?«

»Ich wer' auch nicht, ich wer' auch nicht, Herr Baron!«

Sie hatte die etwas kriechende ostpreußische Leutsmanier. Schnell ging sie nach der Küche und brachte die Lampe.

86 Als die Gesellschaft in der schlecht erleuchteten, niedrigen Bauernstube stand, mußte die Comtesse, welche die überstandenen Anstrengungen schon vergessen hatte, laut auflachen.

»Wie du aussiehst, Arthur! Ganz wie 'n armer Reisender.«

Dann sah sie sich mit verächtlich zuckenden Lippen in dem ungemütlichen Raum um, der mit seinem feuchtheißen Kalkdunst ihre Nase empörte.

Ein schreckliches Eschensofa, ein uralter Schreibtisch, an der weißgetünchten Wand die verblaßten Photographien von ein paar Rekrutengenerationen mit dumm-stumpfen Bauerngesichtern. Nein, auf Komfort schien der Javaner wirklich wenig zu geben! – Freilich die Honneurs machte er mit ungewöhnlicher Liebenswürdigkeit, pries Gampesch die vortrefflichen Eigenschaften eines »echten Rum« und nötigte sogar der Comtesse ein Gläschen auf. Dabei kam sie in gute Laune, lachte am braunen Kachelofen über den Schneesturm und die verunglückte Expedition. – Plötzlich ward sie auffallend wortkarg und beharrte in kühler Reserve, bis der Lorscher Schlitten kam, die Verunglückten abzuholen. 87

 


 


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