Johannes Richard zur Megede
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Johannes Richard zur Megede

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Fünfzehntes Kapitel.

Ertrag' ich's, oder ertrag' ich's nicht? Sie hatte sich's schon manchmal gefragt, die schöne Frau im Damencoupé nebenan. Und jetzt fragte sie es sich immer wieder, während sie, die weiße Stirn gegen das kalte Coupéfenster gedrückt, in die Frühlingslandschaft hinausstarrte, die aus Halm und Blatt so lebensfreudig warm herübergrüßte. Sie sah nicht das schossende Grün, die schwellende Jugendkraft der weiten Ebene, über die eine milde Sonne flimmerte – sie sah nur den dünnen Rauch, der durch die schwere, düfteschwangere Luft dahinwallte. Sie sah nur den Rauch! Die alte Maschine arbeitete mit rasselnder Lunge, die ausgefahrenen Räder ratterten schwankend – und doch vernahm sie immer vom Nebencoupé die bekannten, die gehaßten Stimmen. Sie verstand kein Wort, aber sie fing die Laute auf, die lachenden, ernsten, höhnischen. Sie thaten ihr alle weh. Auch die Stimme Doerstedts. Und er war doch noch der Beste, er, den sie heute in Kaiserberg zu einer Unterredung gebeten hatte. Es hatte lange gedauert, ehe sie sich dazu entschlossen. Das Billet, welches damals der Dandy thöricht in die Ehe eingeschmuggelt hatte, spielte dabei keine Rolle. Sie hatte sich darüber geärgert, aber sie hatte es doch aufgehoben, wie gewisse Frauen alles verwahren, was 13 ihrer Eitelkeit schmeichelt. Jedoch zu diesem lächerlichen, schlecht motivierten Rendezvous zu kommen, wie eine Tänzerin ins chambre séparée oder wie ein verliebter Backfisch zum ersten Kuß – wie lächerlich! Gewiß hatte sie den Dandy gern, wie sie jeden Dandy seines Schlages gern gehabt hätte. Es war eben nur das ersehnte Milieu, das Milieu ihrer Anlagen und ihrer Erziehung. Martha Gellmann war sinnlich und schlau, verliebt und kalt. Wer sie haben wollte, mußte beiden Seiten ihres Wesens genügen. Daß in dieser seltsam gemischten Natur noch etwas Besseres schlummerte, etwas Edleres, Rassigeres, ahnte sie selbst nicht. Das eine nur wußte sie, ihren Mann liebte sie nicht! Und konnte sie ihn lieben? Sie hatte es doch ehrlich versucht, Wochen, Monate, nachdem sie erkannt, daß sie nie in die Orschauer Ecke hineinwachsen werde.

Es war noch nicht die schlechteste Zeit gewesen! Freundinnen aus Kaiserberg kamen, bequeme Freundinnen, die alles bewunderten und die Tochter des Bankerotteurs heimlich beneideten. Und da war in Martha die Lebensfreude schnell wieder erwacht. Sie fühlte sich als Gutsherrin, als wohlhabende Frau diesen bescheidenen Geschöpfen gegenüber, die kaum über die Mauern der Riesenfestung hinübergeschaut hatten, an das nahende Gouvernantenexamen mit Schrecken, an die Heirat als etwas ganz Fernes, Nebelhaftes dachten. Denn auch darin war die schöne Frau selbständig gewesen: sie bewunderte die Schönen, Reichen, Klugen, aber sie liebte sie nicht. Darum waren ihre Freundschaften immer etwas subalterner Natur gewesen und stets oberflächlich. Jetzt freute sie sich ihrer Wahl. Freilich ganz bequem war ihr dies zuweilen auch nicht. 14 Wenn man die Ställe inspiziert hatte, vor dem angeketteten Bullen kreischend geflüchtet, von den lieben Schafen aber in herzlicher Freundschaft geschieden war – wenn man die eigne neue Einrichtung genügend besprochen, den schönen Flügel, die grünen Plüschsessel, den mit wertlosen Nippes beladenen Schreibtisch, vereinigte man sich unter der traulich blinkenden Hängelampe im Wohnzimmer. Und da ging das Fragen los: »Aber mit wem verkehrt ihr hier nun eigentlich? Das ist doch die berüchtigte Adelsecke, die keinen Bürgerlichen für Gottes Geschöpf ansieht!« Es war ganz harmlos gesagt, und doch errötete die junge Frau im Anfang bis an den Hals.

Zuweilen profitierte auch der Gatte in einem Schaukelstuhle von dieser gemütlichen Klatscherei. Der nahm den Mund gleich ganz voll: »Da ist der Freiherr von Loja aus dem Hause Dessenheim, uraltes Geschlecht – der geht bei uns aus und ein . . . und dann die Doerstedts . . . der Kommissionsrat aus Senkenhagen . . . Man sieht sich nur bei den offiziellen Abfütterungen, aber da geht's sehr nett zu. Außerdem haben wir noch ein paar speziellere Bekannte: Natzfeld, genannt Prinz Lack. Den müßten Sie sehen! So was Arrogantes und Hochmütiges giebt es nicht wieder. Doch gegen uns, nicht wahr, Martha, ist er immer reizend!« Er zählte unverfroren die ganze Gegend auf. Als er auf die Wilneins zu sprechen kam, warf ihm die junge Frau einen finsteren Blick zu. Das genierte ihn aber gar nicht, und er fuhr fort: »Sehen Sie, die Wilnein hat uns die Stellung hier erst gemacht. Meine Frau ist ja mit der Marie schon von Jugend auf befreundet und im regsten Briefwechsel. Ja 15 freilich, wenn wir die nicht gehabt hätten! Denn in diese feudale Gesellschaft hineinzukommen, ist natürlich für einen Bürgerlichen kolossal schwer.«

Der schönen Martha blieb das: »Nein, Otto, du übertreibst doch wohl!« regelmäßig in der Kehle stecken, und sie konnte nur immer wieder den dicken Mann mit den wässerigen Augen ansehen, der sie gekauft hatte, und der jetzt so planlos log. Warum log er eigentlich? – Sie begriff es nicht, und im Schlafzimmer gab's öfters erregte Aussprachen. Allmählich aber, und das ist der Fluch der Lüge und des Pariatums, log sie mit, nicht ganz so schlimm, aber sie machte doch den alten Kauffmann, den einzigen, der mit ihnen Jagdverkehr hielt, schleunigst zum legitimen Besitzer von Dennhöfen. Die Lüge war so angenehm, so bequem, und die Wahrheit so herb! Martha war eben jung, sie wollte noch etwas vom Leben und täuschte sich gern über eine öde Wirklichkeit hinweg. Das war die Zeit, wo sie für ihn zu empfinden meinte – wie eben gemeinsamer Makel, gemeinsames Vergehen verbindet. Und es lebte in einem Winkel ihres Herzens die Hoffnung, daß der Bann sich doch noch einmal lösen, daß die Sonne der Vornehmheit, des Vergnügens, des erlaubten Leichtsinns auch ihr einmal strahlen würde – freilich wider besseres Wissen.

Damals beging sie einen thörichten Streich. Eigentlich war Gellmann selbst daran schuld, der von einer Stadtfahrt recht illuminiert heimkehrte, und nachdem er wirres Zeug von Natzfeld und Loja und einem Grog in einer ganz obskuren Damenkneipe erzählt hatte, plötzlich meinte: »Du, Marthachen, wir müssen doch auch mal an eine große Abfütterung denken . . . so alles, wo wir Besuch gemacht haben?« 16 Sie erbebte halb in Angst, halb in wahnsinniger Freude. Ihr erster Impuls war, dem Gatten um den Hals zu fallen, in dem festen Glauben, daß die Anregung von Loja oder Natzfeld stamme. Doch sie brachte es nicht über sich. Ein Fluidum von Wein und Grog umfloß den Mann, und noch war sie diese Atmosphäre nicht gewöhnt. Am andern Morgen war er kleinlaut, murmelte ein verdrießliches »Meinetwegen« und schimpfte dann heiser im Hofe herum.

Die Einladungskarten waren geschrieben, weggeschickt. Am selben Vormittag kam Loja. Kaum hatte sie das erste Wort triumphierend gesagt, da faßte er über den Tisch hinweg hastig ihr Handgelenk: »Warum haben Sie mich nicht zuerst gefragt, warum? Lassen Sie doch die Leute, wie ich sie lasse!«

Sie war empört, vielleicht mehr über sich als über den Freund, der doch recht behielt. Jeden Tag sah sie mit klopfendem Herzen den Briefträger schwerfällig durch den gefrorenen Schnee stampfen, und jeden Tag las sie dieselben eisigen Absagen. Nur ein einziger sagte zu, freilich der, von dem sie's nie erwartet hätte, der Majoratsherr von Sassen. Sie hätte am liebsten alles rückgängig gemacht, sich ins Bett gelegt und Halsentzündung geheuchelt, doch es war zu spät. Was hätten sich die Kaiserberger Freundinnen denken sollen! Der Tag kam, der entehrendste, schmachvollste ihres Lebens! Wie zum Hohne glänzte eine tiefrote Sonne über den glitzernden Schneefeldern. Die schöne Frau hatte den heimlichen Wunsch, daß das Eis die Pontonbrücke im Thale zerstören oder irgend etwas Ungeahntes, Unmögliches wie ein Wunder diese Gesellschaft vereiteln solle. Aber sie kamen alle sehr pünktlich, sehr lustig, sehr 17 neugierig auf diesen feudalen Winkel. Und sie hatte nur zwei Namen in die Wagschale zu werfen: Natzfeld und Loja, zwei Namen, die ihr vorkamen wie geborgte Tafelaufsätze. Es war ihr so wirr im Kopfe, so weh in den Nerven, daß ihr als Erinnerung von der ganzen Gesellschaft mit ihrem wirklich ausgesuchten Menü, der gemachten peinlichen Lustigkeit nichts blieb als eine Bemerkung ihrer Freundin, der hübschesten unter der Altjungfernschar: »Er ist ja sehr vornehm, euer Natzfeld! Doch sag mal, unterhalten sich die Adligen bei euch auch alle so frei? Wagt er solche Dinge auch Damen in andern Gesellschaften zu sagen?«

Gellmann kümmerte die Niederlage wenig. Er war schon beim Braten benebelt und hielt einen Toast auf die Damen und seinen hochverehrten Freund Natzfeld, den er bald Herr Leutnant, bald Kamerad, bald Prinz Lack nannte. Darauf war der Sasser spurlos verschwunden, und niemand hatte eigentlich eine Freude an der Anwesenheit des hohen Herrn gehabt als das hübsche Stubenmädchen in der Garderobe, das er in die Backen kniff und mit einem Thaler belohnte.

Seitdem begann aus der Gleichgültigkeit eine Abneigung gegen den Gatten bei Martha hervorzuwachsen, und er that das Seine, sie zu vermehren. War die schöne Frau eigentlich bis jetzt blind gewesen? Gellmann trank. Wollte er Lethe trinken, oder war's eine entartete Natur?

Die Wahrheit begann ihr zu dämmern. Lethe war es – doch zeigte sich der physische Ekel stärker als der Instinkt des Mitleids, der ja in jedem Weibe ruht. Gellmann sank schnell. Der angefressene, wurmstichige Charakter fand zum 18 ehrlichen Kampfe keine Kraft mehr. Und sie sah alles ruhig, kalt, mit dem gefrorenen Hasse der Frau, die nicht liebt – wie er den Vespergrog stärker und stärker trank, wie er in scheinbarer Selbstvergessenheit immer wieder nach der Arrakflasche griff und eingoß. Sie sah die bläulich geschwollenen Adern, sie hörte die alkoholheisere Stimme. Aber nie eine sanftere Mahnung, nie eine Bitte! Auch wie er, der Verstellung müde, die Kümmelflasche mit in die Wirtschaft nahm und stieren Blickes zurückkehrte, hatte sie nur einen eigentümlichen Blick für den Verlorenen. Und er fühlte die Verachtung gar wohl durch alle Alkoholdünste hindurch. Ein paarmal ertrug er den Blick. Dann jedoch begannen seltsame, unkontrollierbare Gerüchte bis zu ihr durchzudringen. Er kneipe im Dorfkruge ganz in der Nähe, komme betrunken hin, ginge betrunken weg, und der Wirt witzle frech: »Wenn ich den Gellmann nicht hätte, wär's mit dem ganzen Kornusgeschäfte nichts.« – Sie dachte kaltblütig an das Ende. Wenn ihn nun einmal die wankenden Füße im Stiche ließen, wenn er im Schnee liegen bliebe und erfröre? Und wenn das geschah – war das so schlimm?

Eines Nachmittags war er auf frisch geschärftem Pferde ausgeritten, um Lämmer zu kaufen, wie er sagte. – Zehn Uhr . . . elf Uhr . . . er kam nicht. Sie ging resigniert zu Bette. Plötzlich erwachte sie mitten in der Nacht. Der fahle Mond strahlte hell ins Zimmer, und die Weckeruhr tickte eilig. Es war drei Uhr und er noch nicht zu Hause. Da überwand die Angst des Weibes, das Mitleid doch den Widerwillen. In wenigen Minuten war sie angezogen. Draußen lag eine stille, eisige 19 Frostnacht mit bläulichem Schein über dem Hofe; der Kettenhund schlug an und kam dann tapptapp mit wedelndem Schwanze näher, als er die Herrin erblickte; über das Strohdach des Insthauses stieg bedächtig eine gelbe Katze. »Such! such Herrchen!« sagte Martha leise, um den alten Nachtwächter nicht zu wecken, der im Pferdestall schlief. Da sprang das Tier mit heiserem Gebelle an ihr in die Höhe und ging voran auf die Suche.

Martha folgte auf knirschendem Schnee dem Hunde, der laut schnuppernd hin und her lief. Sie kamen aufs Feld. Plötzlich winselte der Hund, – Wiehern antwortete. Ein eigentümlicher Anblick bot sich: der riesige Schattenriß eines Pferdes zeichnete sich auf dem schneeweißen Grunde ab. Unten im Thal an einer alten Weide, nicht weit vom Fluß, der auf schwarzem Wasser dünne Eisschollen trieb, stand Gellmanns Reitbrauner; der Sattel war verschoben, die Zügel hingen über den Kopf auf die Erde, und unter den Flanken hing weißer Reif im Winterhaar. Zuweilen beugte das Tier den Kopf auf eine zusammengekrümmte Männergestalt im Pelz, dann schüttelte es sich und schnaubte unmutig. Martha erkannte den Liegenden sofort, es war Gellmann. Ein paar Sprünge über den gefrorenen Schnee . . . sie war bei ihm, sie beugte sich über ihn. »Wenn er nur noch lebt, nur noch lebt!« flehte sie; das ganze großherzige Mitleid der Frau war in ihr erwacht. Und er lebte! Sie hob den Halberstarrten auf, sie drückte ihn an sich und schleppte die schwere Last bis in den Hof. Das Pferd und der Hund folgten. Es gehörte die ganze ungeschwächte Kraft ihrer Jugend, die Stärke des Mitleids zu dieser raschen That. Aber als Gellmann endlich in der 20 Schlafstube zu sich gekommen war und mit blödem Blick erst das Zimmer, dann die Frau ansah, übermannte sie wieder der Ekel, und sie wandte sich ab. »Aber, Marthachen, sag doch, bin ich jetzt erst zu Hause gekommen?« lallte er trunken. Und sie antwortete über die Schulter hinweg nur ein einziges »Pfui!«

»Wa . . . wa . . .?« Mit einem Schlage war der halberfrorene Trunkenbold nüchtern geworden. Er brummte etwas und kroch ins Bett.

War das »Pfui!« eine so furchtbare Lehre, oder sah der Nüchterne mit einem Male die häßlichen Schatten eines häßlichen Todes? – Er trank nicht mehr. Sie gab nicht viel auf die plötzliche Besserung, diese Abstinenz, die er mit zitternden Gliedern und einem verzweifelten Mute trug. ›Natürlich wird der Rückfall kommen,‹ entschied sie praktisch.

Es gab eine Unterredung zwischen den beiden. Der Erfolg war, daß er gehorsam in eine Nervenheilanstalt ging, während es allgemein hieß, er müsse nach Marienbad wegen beginnender Herzverfettung.

Es war ein merkwürdiges Zusammentreffen, daß am Tage der Abreise gerade Kontrollversammlung in Orschau war. Schon vormittags wimmelte das kleine Nest von etwas unsicher tretenden Landwehrleuten, und die Winkelkneipen machten gute Geschäfte. Auf dem Markte stand ein bärbeißiger Gendarm und prüfte mißtrauisch jeden vorübergehenden Zivilisten auf seine militärischen Qualitäten. Offiziere aller Waffengattungen schlenderten durch die Straßen; der Sporn herrschte vor und der Kavalleriesäbel. Etwas kleinlaut schlichen dazwischen die Linieninfanteristen herum. Der Orschauer Landadel hielt 21 sich exklusiv und grüßte nur mit kühler Kameradschaftlichkeit den einzigen Herrn vom schweren Geschütz. Der Gellmannsche Wagen donnerte durchs Stadtthor. Die schöne Frau, die immer eine kleine Schwäche für die Uniform hatte, sah einen Trupp der vornehmen Kavalleristen, gerade als er lachend und sporenklirrend die Stufen zur Sauerschen Konditorei emporstieg.

»Ich habe dich seit unsrer Verlobung nie in Uniform gesehen; wie kommt das, Otto? Taille hast du wohl nicht mehr viel . . . Aber müßt ihr Reserveoffiziere nicht manchmal in Uniform sein?«

Er war dunkelrot geworden, und während er angelegentlich auf seine Uhr starrte, stotterte er: »Offizier? . . . Ich? Ja, ja, eigentlich sollte ich heute auch dabei sein; ich habe mich aber losgemacht. Und dann – ich trage ungern die Uniform; es ist mir zu ungemütlich und zu warm drin.« Darauf sagte er, zum Kutscher gewendet, hastig: »Fahr, fahr! mein Sohn, sonst verpassen wir den Zug.« Die Peitsche knallte, die Braunen stoben im scharfen Trabe vorwärts die bergige, schmutzige Bahnhofstraße entlang bis zum Kriegerdenkmal. Die Pferde preschten an dem Obelisken vorüber.

Plötzlich drehte Gellmann den Kopf scharf nach der Seite. Die junge Frau stieß ihn an: »Otto, da ist ja euer Bezirkskommandeur, den mußt du doch grüßen!« Der ältliche, bewegliche Herr mit dem Unteroffiziersgesicht passierte ganz dicht den Wagen. Mit automatenhafter Bewegung folgte Gellmann der Mahnung und griff nach dem Hute; auch Martha setzte sich in Positur. Da blitzte aus dem grauen, harten Auge des Offiziers ein so 22 deutliches: »Untersteh dich, Canaille!« zu ihrem Gatten herüber, daß sie wieder in die Kissen zurücksank. Eine Minute später hielten sie vor dem Bahnhof. Gellmann sah aschgrau aus. Mit auffälliger Ritterlichkeit hob er die schöne Frau aus dem Wagen, dabei blickte er sie unsicher an. Sie merkte nur, daß seine Arme zitterten, und preßte die Zähne zusammen.

Während sie die Billette besorgte, trat er geräuschvoll in den Wartesaal und bestellte einen Grog: »Aber steif, Mannchen, steif, ich bin verdammt durchgefroren.« Draußen schien die Sonne, und die Pferde wurden schon warm nach kurzer Fahrt in der schweren Frühlingsluft. Jetzt kam auch Frau Martha. Sie sah den Rückfall gar nicht. Er freute sich wie ein unpräparierter Schuljunge, den der Lehrer wider Erwarten nicht fragt. Das scharfe, heiße Getränk rann durch die dürstende Kehle. Heute mußte er Lethe haben, heute mußte er! Vielleicht begriff sie das auch, vielleicht dachte sie nicht einmal an ihn. In ihrem Gesichte lag ein eiskalter Zug, der nicht zur Abschiedsstimmung paßte. Dann gingen sie hinaus, der Zug rollte langsam heran, der lahme Gepäckträger humpelte eifrig die Coupés entlang.

»Leb wohl, Schatz, leb wohl!« Die Rührung stieg ihm in die wässerigen Augen.

»Bist du eigentlich noch Offizier?« fragte sie langsam mit niedergeschlagenem Auge.

Er verfärbte sich, und weil sie ihn nicht ansah, log er fröhlich: »Ja gewiß, Kind, aber die Ueberei habe ich nun auch satt.« Darauf küßten sie sich, und er hatte seine ganze Grogwehmut nötig, um nicht ihre kühlen Lippen erkältend zu fühlen. Er stieg 23 schnell ein, die Lokomotive pfiff, die kreischenden Räder begannen sich langsam zu bewegen – noch ein heftiges Taschentuchwinken von ihm, ein leichter Gruß von ihr – wieder war in dieser Ehe eine Etappe vorüber. Jetzt wußte sie, daß er gelogen hatte. Er war nicht mehr Offizier.

Draußen hielt der Kutscher und schlug mit der Peitsche nach den ersten Fliegen. Ursprünglich hatte die schöne Frau in der Stadt bleiben wollen, um Besorgungen zu machen, jetzt befahl sie nur kurz: »Schwolmen! Freiherr v. Loja!« Als sie der Rosselenker etwas verwundert ansah, fügte sie kalt hinzu: »Die Pferde werden es doch wohl noch aushalten – und wenn nicht, so müssen sie's eben. Fort!«

Wieder rasselte der Wagen über das holperige Pflaster durch das alte Thor. Die Wehrleute zogen in Gruppen zum Kontrollplatz, die Offiziere bummelten nach. Sie sah nicht nach rechts und links. Erst als sie das Nest im Rücken hatte, atmete sie erleichtert auf. Schon deckte Frühlingsdämmerung lichtgrau die Ebene, da hielten die dampfenden Tiere vor des Doktors Bauernhause. Er war daheim. Ohne Umschweife ging sie aufs Ziel los.

»Ist mein Mann noch Offizier?«

»Nein, gnädige Frau.«

»Wissen Sie, warum nicht mehr?«

»Ja und nein, jedenfalls nichts Bestimmtes.« Die Antwort ward ihm schwer, wie sie merkte.

»So sagen Sie mir den Grund, Herr v. Loja, ich will's wissen.«

Sie hatten beide stehend, mitten im Zimmer gesprochen. Jetzt faßte er ruhig ihre fiebernde Hand: 24 »Setzen Sie sich, gnädige Frau, und vergessen Sie auch jetzt nicht, daß ich Ihr aufrichtiger Freund bin. Was er auch gethan haben mag, Sie sind seine Frau. Und wozu soll ich Ihr Gefühl mit einem Ehrbegriff beschweren, den Sie nicht mal ganz verstehen.« Sie wollte ihn unterbrechen – er fuhr fort: »Deswegen kann er doch ein anständiger Mensch sein, wenn auch nicht nach dem Ehrenkodex einer Gesellschaft, nach dem ich selbst vielleicht nicht mehr anständig bin. Sind Sie das kluge, großherzige Geschöpf, für das ich Sie gerne halten möchte – dann bringen Sie ihn dazu, aus dieser Gegend hier wegzuziehen. Es ist der einzige Ausweg! Und glauben Sie mir's, oder glauben Sie mir's nicht: ich habe ein Recht an Ihnen und an Ihrem Glück.«

Sie sah ihn starr an. Es war dasselbe häßliche, energische Gesicht, das ihr stets unsympathisch gewesen, doch in dem Augenblick sah sie den adligen Zug seines Wesens durchblitzen; ein sicheres Gefühl sagte ihr, daß hier ein Freund vor ihr stehe, ihr einziger Freund. Doch ein andrer Instinkt hob sich gleich dagegen, der ihr zuraunte, daß sie ihn hassen müsse wie ihren schlimmsten Feind. Das alte, niedrige Zimmer versank allmählich in grauen Schatten, nur der Kachelofen blinkte heimlich und der Goldrücken der Bücher auf dem Regale. Martha Gellmann hatte in einem alten, kleinen Photographiealbum geblättert, das auf dem Tische lag, ohne hineinzusehen. Jetzt schlug sie's gedankenlos wieder auf und sah hinein. Sie beugte sich tiefer, immer tiefer darauf, bis fast das Haar das Bild berührte. Eine seltsame Wandlung war in dem Gesichte vorgegangen, als sie's jetzt wieder hob. Fahle Blässe lag auf Lippen und Wangen, das Auge blickte wie 25 tot. Was ihr der Zufall da zeigte, war ihr Ebenbild – doch die Photographie war alt, und die Züge waren edler. Martha Gellmanns Hand zitterte. Der Freiherr sah sie fest an. Plötzlich, als wenn sie etwas Entsetzliches abschüttelte, sprang sie auf, und die Hand um die Sofalehne gekrampft, sagte sie mit dumpfem, zerbrochenem Klang: »Also Sie . . . Sie . . .!« Dann sank sie ohnmächtig zusammen.

*

Sie machte das alles noch hier im Coupé wieder durch, und wieder drohten ihr die Sinne zu schwinden, als sie an Loja dachte. Das eine aber ward ihr klar, daß sie recht gethan, als sie sich an Doerstedt gewendet. Erst mußte sie wissen, was ihr Mann verbrochen, und erst dann konnte sie handeln.

Der Zug lief langsam in den Ring der Befestigung ein. Grünlich-trübes Wasser blinkte matt aus dem Wallgraben – eine alte Eisenbrücke schwankte unter der schwerfällig rollenden Last – ein Ausfallthor, ein dumpfiger Tunnel mit roten Ziegeln verblendet – sie war in der Residenz.

Auf dem Bahnhofe zögerte sie mit dem Aussteigen, sie wollte die Orschauer Gesellschaft voranlassen. Da blitzten auf dem schmalen Perron ein paar Kürassierhelme auf. »Ah! Gräfin.« – »Na, Natzfeld, immer auf Deck?« Darauf irgend eine nichtssagende Bemerkung in der wundervollen Klangfarbe der Comtesse, die der schönen Frau wehe that – eine maliziöse Redensart von Prinz Lack, die gebührend belacht wurde. Als es still geworden war, stieg Frau Martha aus. Aber am Bahnhofseingang stand noch die Gruppe. Es ging jetzt sehr förmlich zu: »Jawohl, Excellenz« . . . »Nein, Excellenz«. Die nach der Mode unbehandschuhten Hände 26 der Offiziere fuhren aus den Paletottaschen öfter als nötig zum Gruße nach dem Helmschirm. Die Devotion galt einer eleganten Dame mit langem Hals und farblosen Augen, die nach Turfmanier ungeniert sich bewegte und sprach. Märkischer Dialekt, scharf, nüchtern neben dem rollenden, gemütlichen Ostpreußisch. Als Frau Martha vorüberging, strich die vornehme Dame gerade den langen dänischen Vorhandschuh zurück und pfiff mit der Geschicklichkeit eines Grooms schrill durch die zusammengepreßten Knöchel nach zwei bellend umherspringenden Terriers. Darauf sah sie die schöne Frau verwundert an und sagte laut: »Parbleu! In Ostpreußen gezogen? Famos! Aus Ihrer Gegend, Herr v. Natzfeld?«

Prinz Lack erwiderte kühl: »Bedaure. Aber wenn sich Excellenz an meinen Freund Doerstedt wenden wollen – in Damenangelegenheiten immer kompetent.«

Die schöne Frau hörte es, und die Bewunderung that ihr wohl. Im Stationsgebäude drehte sie sich noch einmal neugierig um. Doch sie sah nur die Helme und die Comtesse Wilnein. Die hatte einen müden Zug um den Mund. ›Ist die blasiert!‹ dachte sie und ging weiter.

Der mächtige Bahnhofplatz lag vor ihr. Die Droschkenkutscher schrieen und peitschten auf die mageren Pferde, Gepäckträger sprangen die hohe Freitreppe hinauf und herunter. Vornehme Lederkoffer mit Kronen, bescheidene Segeltuchtaschen. Eine kleine Beisitzerfrau schrie im breitesten Litauisch nach ihren Sachen, ein Gepäckträger schimpfte darauf kopfschüttelnd hinter ihr her, als er das Geld in der Hand zählte. Aber abseits hielt ein eleganter Selbstkutschierer mit Rassepferden; der Diener im 27 langen Mantel stand breitspurig dabei und sah hochmütig auf das gewöhnliche Volk.

Frau Marthas Herz schlug höher. Sie fühlte, daß sie wieder in der Heimat sei. Ihr war's, als hätte sie die nie verlassen, als sei die beginnende Orschauer Tragödie nur ein böser Traum. Sie schritt elastisch mit erhobenem Kopfe durch das Spalier der Hoteldiener, an der Pferdebahn mit den müden Schimmeln vorbei, einem großen Hotel, einer Konditorei; sie hatte kein bestimmtes Ziel, sie wußte nur, daß sie immer tiefer hinein müsse in die Heimatstadt. Und jetzt kam sie in eine andre Gegend. Da roch es nach Handel, und schwere Rollwagen rasselten über das Pflaster. An der Seite standen himmelhohe, düstere Speicher. Etwas wie fauliger Wasserdunst und Teergeruch wehten herüber. – Und da ward sie auf einmal wieder jung, ganz jung. Sie sah die riesigen Speicherkater in den Thüren sitzen und Stichlinge fressen. Die Gassenjungen schlichen um die Ecke und warfen mit Steinen. Dazwischen klang der gemütlich rohe Lastträgerdialekt, Fässer wurden gerollt, am glänzend gescheuerten Tau schwangen sich riesige Säcke in die luftige Höhe. Sie selbst war mitten drin in dem Treiben, prügelte sich mit einem halbwüchsigen Bengel, der sie erst küssen wollte und dann an den Zöpfen riß. Und zuletzt saß sie allein an einer Straßenecke und versuchte, die häßlichen Schimpfworte, die sie aufgeschnappt, nachzusprechen. Ja, die Jugend – die gelehrige Jugend!

Auch dieses Bild entschwand, als sie weiterging. Pferdebahnen klingelten, geschäftige Menschen streiften sich; viel Läden . . . Spaziergänger, auch vereinzelte Uniformen, elegante Toiletten in schwerfällig 28 vornehmen Karossen reicher Kaufherren. Hier in einer Seitenstraße hatte sie zuerst gewohnt. Es war eine enge Gasse gewesen, aber gemütlich. Ganz in der Nähe wälzte der Pregel seine ewig lehmigen Fluten durch die Stadt. Da löschten Seeschiffe am Quai, ganz neue Dampfer aus den Ostseestädten mit komischen Namen, aber einem unbeschreiblichen Seedufte, der thörichte Träume weckte. Da stand auch der alte Schutzmann vor der schwankenden Holzbrücke und wachte eifersüchtig darüber, daß niemand die großen Tafeln mit »Rechts gehen!« übersah – und sie war doch so gerne links gegangen, wie später auch! Die neue Börse hart am Flusse trat hervor. Einst hatte auch ein reicher Kaufmann in ihren Phantasien eine Rolle gespielt, doch war er schnell wieder fallen gelassen, die Uniform hatte sie immer mehr geliebt. – Dann kam noch ein Pregelarm, schmaler, ruhiger. Leichtsinnige Eislauferinnerungen knüpften sich an ihn, die erste, unschuldige Liebelei mit einem Artilleriefähnrich. Bei sinkender Nacht waren sie einmal zu weit gelaufen und eingebrochen. Die Sache hatte ein ungefährliches Ende genommen – und die Liebe auch.

Vor einem eleganten Laden blieb sie jetzt stehen. Dort hatte sie mit Gellmanns Geld ihre Ausstattung gekauft und viel Hoffnungen in das weiße Linnen gestickt. Jetzt schien ihr die Auslage gewöhnlich, sie gefiel ihr gar nicht. Die Häuser waren hier grau, verräuchert, die niederen Läden klein und schlecht erhellt. Doch zwischen diesen Häusern auf den schlüpfrigen, schmalen Trottoiren hatte sich ihre Jugend abgespielt, und wie damals empfand sie den Frühlingshauch stärker, obgleich er gar nicht so köstlich war wie daheim – und das vergangene Leben wie etwas 29 Zauberisches, Unwiederbringliches, obgleich es niemals köstlich gewesen. Das alte Ordensschloß tauchte dicht vor ihr auf, die Kapelle mit ihren riesigen Fenstern und den gewaltigen Strebepfeilern. Ein kleines Geschäft lag da gerade gegenüber. Niemand fiel's auf. Doch sie sah auf dem Platz nur dieses unscheinbare Geschäft allein. Ihr größtes Glück und ihre größte Trauer hatte sie da hineingetragen; dort waren ihre Verlobungsanzeigen und die des Todes ihrer Mutter fast zu gleicher Zeit gedruckt worden. Die alte Feudalburg der Deutschherren sah finster, stumm, unbewegt wie damals auf sie herab und tröstete sie nicht. Sie mochte nicht weiter denken; ihre Jugend war hiermit zu Ende.

Eine Stunde später lag sie in einem kleinen Zimmer eines kleinen Chambregarnies. Sie weinte. Ihr ganzes Leben zog an ihr vorüber, und das Weltkind wußte nicht, daß sie sich leichtsinnig das Geschick selbst heraufbeschworen. Da klopfte es: »Gnädige Frau wollten um sechs Uhr ausgehen, es ist jetzt halb!« Rasch sprang sie auf. Das Ende, die Gewißheit sollte ihr erst jetzt kommen. Noch einen langen Blick in den Spiegel – eine leichte, korrigierende Bewegung des Brenneisens durch das blonde Stirnhaar, das in Unordnung geraten – sie ging . . .

Die Unterredung sollte in einer eleganten Konditorei sein. Frau Martha hatte mit Bedacht diese Stunde gewählt, weil da der »Damen« viel, doch keine einzige Dame zu finden war. Durch einen Seiteneingang trat sie ein, ging ein paar Stufen in die Höhe, wo die kleinen Zimmer lagen; die Gelegenheit kannte sie von dem Fähnrich her. Heiße, trockene Luft, trübe brennende Gaskronen, auf den 30 Marmortischchen einige Journale, auf dem roten Sofa laute Damen mit halbgeöffnetem Pelzjackett, hübsch, geschminkt, dreist. In dem Fauteuil saß gähnend, zusammengekrümmt ein junges Geschöpf und sprach, ohne aufzusehen, zu einem frechen Kellner mit weißer Schürze, während ihr Lackschuh den Tischfuß maltraitierte. Die Unterhaltung war nicht für Backfische. Es roch nach Patschuli und blitzte von falschen Steinen. Als die schöne Frau eintrat, prallte sie doch einigermaßen entsetzt zurück. Es war die Atmosphäre des Leichtsinns. Die Damen steckten darauf die Köpfe zusammen und lachten herausfordernd. Der Kellner aber sagte, ohne sich von der Stelle zu rühren, von oben herab: »Schokolade?« Martha hatte sich in eine Ecke gesetzt und war einen Augenblick unschlüssig, ob sie überhaupt antworten solle. Da hörte sie einen leisen Schritt an der Thür, und eine bekannte Stimme sagte arrogant: »Ich werde Ihnen Manieren beibringen, mein Sohn! Warten Sie gefälligst ab, bis Sie gefragt sind! . . . Lümmelei!«

Der Kellner knickte erschreckt zusammen: »Ich wußte nicht, daß die Dame zu Ihnen gehört, Herr v. Doerstedt.« Mit kavaliermäßiger Verbeugung trat der Dandy näher.

»Gnädige Frau müssen verzeihen, denn Sie selbst haben das Lokal bestimmt.« Von dem Sofa tönte freches Gelächter. Sie saßen eine Weile zusammen und wußten nicht, was sie reden sollten. Endlich sagte Doerstedt halblaut: »Sie haben also mein Billet bekommen, gnädige Frau, ich bin Ihnen sehr dankbar . . .«

Sie zuckte zusammen. An das Billet hatte sie nicht mehr gedacht. Dann sprach sie leise, 31 eindringlich: »Sagen Sie nichts mehr von dem Billet, Herr v. Doerstedt! Sie sollten sich schämen, es geschrieben zu haben.« Und in steigender Erbitterung: »Wenn ich eine aus Ihrer Orschauer Feudalecke gewesen wäre, würden Sie auch nur den Gedanken gewagt haben? Denn nichts berechtigt Sie dazu. Ich habe keine Vergangenheit, gewiß nicht! Und wenn ich nicht zu Ihrer Sphäre gehöre, ist das ein Privileg für Sie? – Ich habe über das Billet gelächelt, ich habe es mir sogar aufgehoben, wie ich mir die aus der Backfischzeit aufgehoben habe. Sie haben jedenfalls Wappen gesammelt, ich sammle Schriftstücke dieser Art, vielleicht aus Eitelkeit, denn ich weiß, daß ich hübsch bin, vielleicht aus Caprice . . . Glauben Sie, daß ich dies Zeug aufgehoben hätte, daß ich es Ihnen sagen würde, wenn ich mich nicht ganz reiner Lehre fühlte?«

Der Dandy ließ das Monocle fallen und machte kein geistreiches Gesicht. Daß sie ehrlich sprach, begriff er, aber es wollte ihm nicht in den Sinn, daß sie zu einem andern Zwecke gekommen, daß es aus sei mit der Möglichkeit eines beginnenden Verhältnisses. Der Mann im Bade, die Residenz so bequem nahe – ja, den Teufel auch, was wollte denn die Frau von ihm, wenn nicht ihn? Wozu hatte sie gerade dieses Lokal bestimmt, um sechs Uhr, wo die anständigen Damen mit einem Bogen um den Seiteneingang gingen? Hier war doch die großstädtische verdorbene Lust, die Lust, in der die Vergiftung der Moral so selbstverständlich vor sich geht. Er sah die schöne Frau an, zweifelnd, ein wenig spöttisch, noch voll Hoffnung, in dem regelmäßigen, blassen Gesichte den leichtsinnigen Zug zu entdecken. Er fand ihn nicht. Es war ein schönes, aber ein 32 kaltes Gesicht. Fragend wandte er sich an die schönen grauen Augen, die es ihm mit ihrem verschleierten Blitz angethan hatten, gleich beim erstenmal.

Die Damen mit dem Patschuligeruch und den falschen Steinen erhoben sich geräuschvoll und gingen.

Frau Martha wandte halb den blonden Kopf nach ihnen mit kalter Verachtung. Und da erblickte er wieder den feinen, dichten Goldflaum des Nackens, die weiße Haut des göttlichen Halses. Der gerissene Hasso hatte doch recht: Weiber mit solcher Haut sind nie Heilige!

»Also, gnädige Frau, ich bitte um gnädige Strafe! Gewiß lag mir an einem Wiedersehen mit Ihnen« – die schöne Frau lächelte trübe dazu – »aber weil das sonst nicht möglich ist, wählte ich den Ausweg.«

»Ich verzeihe Ihnen, Herr v. Doerstedt; was ich für Sie alle bin, weiß ich: eine Verfemte.«

»Wieso, gnädige Frau? Ich würde jeden, der das behauptete, mit dieser Hand hier züchtigen.«

In dem Augenblick war er durchaus Kavalier.

»Und wenn Sie's thäten – bei uns zu Lande gehört die Frau unbedingt zum Mann. Eben deshalb bin ich hier. Warum ist mein Mann nicht mehr Offizier? Sie müssen es wissen. Sie haben vielleicht im Ehrengericht über ihn gesessen!«

Der Schatten peinlichster Verlegenheit zuckte über sein Gesicht. Er hatte seinerzeit sein »Schuldig!« mit kalter Selbstverständlichkeit gesprochen – als Offizier, als Edelmann, wie's die Pflicht gebot und die anerzogene Moral. Jetzt fühlte er mit Widerwillen das Fremde, Menschliche, das solche moralische Hinrichtungen so tragisch macht. Der widerwärtige Doktor hatte in seiner berühmten Brandrede 33 vielleicht doch recht: Man tötet nicht einen, sondern man tötet zwei. »Ich darf's nicht sagen,« antwortete er endlich leise.

»Sie müssen!« klang es befehlend zurück.

Scheu sah er auf das hübsche, blasse Gesicht, auf den schlanken, vollen Körper. Die zweite, die man tötete, war sie. Mitleid, Begehrlichkeit, Gutmütigkeit vermischten sich in dem blonden, leeren Kopfe. Die da war doch zu etwas anderm erschaffen, zu Glanz, Genuß, Liebe. An den Mann dachte er kaum. Ertrug der ein Leben ohne Ehre, dann verdiente er es nicht besser. Der Kerl von Entschluß greift zur Pistole! Weg mit dem Dasein! Der andre greift zum Alkohol; der thut es langsamer, aber qualvoller. Naturgemäß besaß Doerstedt nur für den einen Verständnis. Doch daß sich das Weib auch dabei verbluten sollte, das erschien ihm grausam, ungerecht.

»Sie müssen!« wiederholte sie finster.

»Na, meinetwegen,« antwortete er brüsk, um seine Bewegung zu verbergen. »Herr Gellmann bekam nach einer Kontrollversammlung Händel mit einem Zivilisten in einer obskuren Kneipe. Es war spät, und beide Herren wohl nicht ganz nüchtern. Ein erregter Wortwechsel, ein Schlag, den Gellmann schlug – am andern Morgen bekam er seine Pistolenforderung. Der Geohrfeigte war zwar ein armes Subjekt, ein Agent, ein wegen Schulden geschaßter Offizier, aber er hatte doch sein Ehrgefühl. Ihr Herr Gemahl nahm an, that jedoch darauf etwas, was er nie thun durfte. Weil er wußte, daß sein Gegner arm war, bot er ihm Geld. Die Sache kam an die große Glocke, das Ehrengericht tagte, und der Spruch lautete einstimmig auf schlichten Abschied aus der Armee. Solche Fälle sind immer traurig. Doch 34 die Ehre des Corps, das sich auf keine Gefühlslogik einläßt, erforderte es. Ihr Mann hätte damals nach Amerika gehen müssen oder irgendwohin – weit weg; daß er es nicht that, daß er blieb, verdachten wir ihm alle schwer.«

Die schöne Frau hatte zu Beginn mit schmerzlich gespanntem Ausdrucke zugehört, der langsam einem grausamen Zuge wich, dem Zuge des Hasses, der sich weidet an den Qualen seines Opfers. »Also feige?« flüsterte sie.

Wohl hatte der Dandy die Wandlung gesehen, und auch seinem trägen Geiste dämmerte etwas von dem Verständnis der Situation auf. Von der Verwandlung konnte ein geschickter Stratege viel profitieren. Die rassigen Frauen vermögen ein Verbrechen zu vergeben, eine Feigheit nie. Doch den verliebten Kitzel überwand ein aufrichtiges Mitleid. Es drängte den Dandy, zu entschuldigen, menschlicher zu sein, als er vielleicht selbst war, und er sagte zögernd: »Eine Erklärung giebt's. Er war schon mit Ihnen verlobt. Vielleicht lag ihm am Leben viel weniger als an Ihnen.«

Das letzte Wort war noch nicht heraus, und schon wußte er, daß er seinem Ziele ferner war als je. Die schöne Frau hatte sich langsam erhoben, ihr graues Auge strahlte in einem eignen Glanze: »Ich danke Ihnen, Herr v. Doerstedt! Lebte er für mich, so will ich auch für ihn leben.« Das einzig Gute, das diese leichte Frauennatur doch barg, war mit einem Schlag an die Oberfläche gekommen: der Instinkt der Treue und der Instinkt des Mitleides. Ein kurzer Händedruck, eine leichte Verbeugung – sie schritt über den ausgetretenen Teppich, schlank, elastisch, entschlossen. Der Dandy sah ihr 35 mit gemischten Gefühlen nach. Er war ein schlechter Feldherr und ein guter Mensch gewesen.

Eine Stunde später kam Natzfeld durch Zufall in dasselbe Zimmer, wo der Kürassier nachdenklich noch vor einem halbgeleerten Fine Champagne saß.

»Morgen, Doerstedt . . . Ausgeschlafen?«

»Morgen, Prinz Lack.«

Hasso schnüffelte mit erhobener Nase. »Es riecht stark nach Patschuli. Nana hier gewesen?«

Da fuhr der Dandy wie von einer Natter gestochen auf: »Lassen Sie mich mit Ihren Scheußlichkeiten zufrieden! Sie ist anständig vom Scheitel bis zur Sohle, und eure Orschauer Gräfinnen könnten sich gratulieren, wenn sie so viel Herz hätten.«

Natzfeld sah ihn mit kaltem Hohne an: »Also reell verliebt? – Uebrigens, wenn Sie sich durchaus schießen wollen, ich kneife nicht wie Otto Gellmann.«

Im Nachtzug benutzten die Herren nicht dasselbe Coupé. 36

 


 


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