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Fünftes Kapitel.
Versuche und Kämpfe

 

»Nur der Irrtum ist das Leben,
Nur die Fülle birgt die Klarheit,
Und im Abgrund wohnt die Wahrheit.«

Goethe.

 

Werner Hoffmann hatte mehrere Wochen im Sanatorium zugebracht. Nach dem aufreibenden Existenzkampf vieler Jahre waren diese Monate die erste Erholung gewesen. Dabei hatte er diese Ruhepause seinen Verhältnissen nicht in einer Weise abgezwungen, die ihren Genuß mit neuer Sorge beladen hätte. Er zehrte nicht von irgendeinem zu diesem Zweck mühsam aufgetriebenen Gelde, er bangte nicht, was »dann« werden sollte, – wie die meisten seiner Kreise, die, ohne ein wirtschaftlich gesichertes Endziel ihres Strebens zu sehen, auch zu einer beruhigten und gesicherten Rast keine Gelegenheit haben. Seine Stellung im Verlag, die ihm erst wenig Befriedigung gegeben hatte, festigte sich immer besser, und es lockte sein Interesse, als Hüter an einem jener Tore zu sitzen, durch welches das, was der persönlichsten Erkenntnis des einzelnen geworden, in die Fülle der Gemeinschaft drängte, in ihr zur Wirkung zu gelangen. Dieser Gedanke, den er in seinem Amt ausgedrückt fand, hatte in ihm den ersten Zweifel erweckt, über das Wort, das bisher seine trotzige Parole gewesen: »Was habe ›ich‹ mit der Gesellschaft zu tun?«

Der Chef seines Verlages hatte ihm bereitwillig den Urlaub zur Herstellung seiner Gesundheit gewährt. Durch Empfehlung war ihm zu sehr ermäßigtem Preise Aufnahme in einer Anstalt geworden, in der die jüngste Heilweise der Moderne, die physikalisch-diätetische Therapie ihre Wunder tat. Müde, unfrei, beladen war er hingegangen, und unbewußt und ungefühlt ging bei einer höchst einfachen, aber glücklich zusammengestellten Lebensweise, bei der besten Ausnutzung von Licht, Luft, Wasser, Elektrizität und bedächtiger Auswahl der Nahrungsstoffe jene Erneuerung mit ihm vonstatten, die zwar nicht den organischen Defekten, wohl aber den von der steeple chase des modernen Lebens an den Nerven Geschundenen wieder zur Häufung neuer Energien verhilft und ihre zeittypisch gewordenen »funktionellen Störungen« behebt.

Er hatte nicht »gedacht« in diesen Wochen, hatte mit vollem Willen alles Grübeln und Sinnieren ausgeschaltet. Ja, er hatte auch nur wenig gelesen, – die Gedichte der Baronin, um ihren Verlagsantrag zu erledigen, sonst fast nichts; und geschrieben hatte er eigentlich nur an Olga, da, fast ohne Willen und Absicht, ihr Bild, in dieser Zeit der Ruhe, stark und fest umrissen vor seine Seele getreten war. Ja, – er sah sie: in ihrem reifen, reinen Werden, sah sie, wie eine Erscheinung, die, hart an der Grenze der zeitlichen Gegenwart, wach und zielsicher in die Zukunft schritt, – eine Wegebahnerin der Kommenden, jener Frauen, die mit instinktstarkem Willen ein ganzes Menschtum forderten, die nicht mehr satt wurden in generativer Beschränkung, die es aber auch nicht ertragen mochten, aus dem Zauberkreis der Gattung ausgeschlossen zu bleiben. So war sie plötzlich vor ihm gestanden, so hatte er sie »gewußt« – erlebt, – ohne über sie viel gedacht zu haben. Wie schon manchmal in seinem Leben war hier ein Bild, ein Gefühl, ein Gedanke entstanden, an dem sein Bewußtsein kein Teil hatte, zumindest nicht das Bewußtsein, wie es deutlich der Tag gibt. So war über ihn auch manchmal, wie eine wahrhaftige Offenbarung, ein Rhythmus, ja ein Gedankenkomplex gekommen, war mit erstaunlicher Deutlichkeit plötzlich vor ihm gestanden; aber nur in guten Zeiten, in denen seine Kräfte geheimnisvoll sich erneuten und häuften, geschah ihm, – wie allen Findern, Erfindern, Propheten und Dichtern geschieht. Darum auch hatte er erkannt – in jener Nacht: die Harmonie – die geschlossene Einheit ist da, – sie wartet im All, wegsprengen, was sie birgt, das ist es. Und in begnadeten Zeiten geschah es, daß die chaotischen Massen, die irgendeine geheimnisumwobene Einheit umgaben, – die zu finden vielleicht einem einzigen Gehirn bestimmt war, – von selbst auseinander rückten, wie Kulissen, die auf den Wink der entscheidenden Hand auseinanderweichen, zur Seite rücken, in die Erde versinken, als Vorhang in die Höhe gehen – und das geordnete Bildnis in ihrer Mitte freigeben.

So war ihm in jenen Wochen geschehen – ohne Wissen und Willen. Die eine Erkenntnis, die er »erfahren«, war Olga. Aber da war noch eine andere, und sie überraschte ihn tief, als sie plötzlich, in unerwarteter Helle, vor seinem Auge stand.

Im Sanatorium selbst hatte er »geschlafen«. Aber schon als er im Bahnzug saß, der ihn fortführte, war eine wundervolle geistige Lebendigkeit über ihn gekommen. Es war, als ob die Energien, die die Kur mit Absicht zum Stillstand verurteilt hatte, nun tausendfältig hereinbrächen; und nicht versplitternd, auseinanderstrebend, – nein, sie fügten sich leichthin zusammen, tummelten sich, wie feurige Genien, die zum Werke strömen. Das fruchtbare Land, das kluge Absicht für eine Weile vollkommen brachgelegt hatte, begann nun zu treiben, die Aussaat, die vordem ermattet in seinem Schoß gelegen, keimte in neuer Frische und trieb ihre Schößlinge – herauf – ans Licht.

*

Mit Stanislaus sprach er sich zuerst über die neugewonnene Erkenntnis aus.

»Sie erinnern sich an unser letztes Gespräch, – damals bei Ihnen – als – als Ihre Schwester hier war? Wir sprachen von – Menschenliebe, wissen Sie es noch?«

Stanislaus lächelte. Er sah friedlich und ruhevoll drein, in letzter Zeit. »Was geht nun wieder in jenem Kopf vor«, dachte er.

»Gewiß erinnere ich mich. Sie vertraten die Ansicht, daß man die Menschen, wie sie da sind, nicht lieben könne.«

»Nicht in Bausch und Bogen.«

»Haben Sie Ihre Ansicht geändert?«

»Nein.« Hoffmann sah ihn ruhig an. In seinem Blick brannte wieder jene sanfte Glut, aber die Schatten, die sonst sein Gesicht verdeckten, waren verscheucht. – »Nein, ich glaube nach wie vor nicht an die Liebe zur Menschheit, – wie sie da ist, wie sie kreucht und fleucht. Das ist – abgesehen von jenen seltenen Erbarmern, die über die Erde gingen, von jenen großen Gnadenherzen, – ein Demagogenbetrug.«

»Wollen Sie leugnen, daß diese Masse, wie sie da kreucht und fleucht, mit Edelstoffen durchsprengt ist, die nur der richtigen Chemie bedürfen, um frei zu werden?«

»O nein, das leugne ich nicht. Das ist's ja eben. Der richtige Lösungsprozeß – das ist hier die Aufgabe.« Und da er sah, daß der andere gespannt horchte, fuhr er, mit frohem Feuer im Auge, fort: »Hören Sie! Auf das wertvolle Individuum kommt es an, nicht wahr? Darüber sind wir doch einig.«

»Immerhin auch auf die bestmögliche Gestaltung der Masse.«

»Die ist nur möglich – durch ihre Zusammensetzung aus wertvollen und tauglichen einzelnen. Und diese Möglichkeit ist es, an die ich glaube, die ich liebe – und der ich dienen möchte.«

»An dieser Möglichkeit arbeitet eine starke Partei.«

»Ist sie auf dem Weg?« Gedankenvoll ging er auf und ab. »Ich glaube es nicht. Diese Partei identifiziert sich mit der Masse. Aber nur Münchhausen kann sich selbst beim Schopf aus dem Sumpfe ziehen.«

»Sie wollen sagen –«

»Daß das Volk, die Masse, – wie sie ist, – sich unmöglich über sich selbst erheben kann.«

»Die Masse hat Führer.«

»Ich weiß es. Aber ich vermisse unter ihnen ein Element, das in voller Wirksamkeit bei diesem Werk am Platze sein müßte.«

»Und wer sollte das sein?«

»Das sind – wir.«

»Wir?«

»Ja wir, – die – Intellektuellen.«

»Und warum halten Sie – uns – da für so unentbehrlich?«

»Die Intellektuellen müssen den Sozialismus auf ihre Weise mitgestalten; die zerebrale Klärung wird ihn wuchtiger trassieren, als die Tatsachenpropaganda der Masse.«

»Das Volk vertraut sich – uns – aber nicht an; es vertraut sich denen am liebsten, die aus ihm hervorgegangen sind.«

»Zu Unrecht. Ein Hirn, das sich in schwerer, physischer Fron verbraucht, das aus Erbmassen stammt, die durch Generationen diese Übertäubung ihres geistigen Teiles erfahren haben, – wie könnte es schöpferisch neue Gestaltung rufen, – – wegsprengen, was eine Harmonie verbirgt,« fügte er, wie für sich selbst, hinzu.

»Das Volk hat übrigens heute nicht nur Führer, die es aus sich selbst gezeugt hat, es hat auch andere, in Ihrem Sinne.«

»Ja, ich weiß; die ›Akademiker‹ fehlen nicht. Aber sie wirken noch nicht ihrer selbst gemäß, – nicht als Intellektuelle stehen sie am Kampfplatz, – sie ebnen sich zum Volk herab.« Er ging mit erregten Schritten auf und ab: »Stanislaus: ich träume von einer Partei der – der Tauglichsten – der Besten.«

»Und zu diesem Traum brauchen Sie –« fragend sah ihn Stanislaus an.

»Die Sozialisierung, ja gewiß, geebnetes Ackerland – als Boden für das Wachstum des einzelnen. Sehen Sie, da bin ich. Nicht aus Liebe, – aus Unliebe bin ich hierher gekommen. Aus Unliebe zum Vorhandenen und – aus heißer Sehnsucht nach – nach einer höheren Möglichkeit des Menschen.« Erregt, mit flammendem Blick, feurig, tief verwühlt in seinem Erlebnis, ging er auf und nieder.

»Ich bin schon lange da«, erwiderte Stanislaus bedächtig und wiegte den Kopf. »Und aus sehr naheliegender Einsicht. Denn gehören nicht gerade wir zu den Besitzlosen? Dabei sind wir nicht eins mit der Armut, wie der Proletarier, nicht gestählt durch sie. Mit unseren vielverzweigten Bedürfnissen sind wir in eine Situation gestellt, die es uns implicite verwehrt, gegen diese fremde und furchtbare Macht, die Armut, Front zu machen, – robust Gewinn zu suchen. Wer sonst als wir müßte ein heißeres Interesse daran haben, auf eine Gestaltung der menschlichen Gesellschaft hinzuwirken, die – Unfallstationen errichtet an allen Stellen, an denen sie gebraucht werden?! Wer sonst?«

Hoffmann schwieg, in Gedanken versunken.

Nach einer Weile sagte er: »Ich will versuchen, mich anzuschließen, – da, wo ich glaube, – daß es gut und nötig wäre.«

»Versuchen Sie es«, sagte Stanislaus. »Ich fürchte nur, daß man es – da – nicht für nötig hält.«

Beide schwiegen. Dann fuhr Stanislaus fort: »Da ist etwas, das ich nicht genau – wahrnehme, nicht ich und nicht Sie. Es ist – wie eine verschleierte Gestalt. Ich sehe die Erscheinung, aber ich könnte die Formen ihres verhüllten Leibes nicht mit scharfen, wahren Linien umreißen … nicht ich und nicht Sie. Da ist – glaube ich – ein Letztes, das fehlt, Ihnen und mir fehlt – ein letztes, notwendiges Wissen um dieses Ding.«

Hoffmann blieb still. Dann sagte er: »Wer weiß denn um dieses Ding? Wer kann diese Gestalt – kennen? Ahnung – das ist alles.«

»Ahnung – gewiß. Aber Ahnung, die am Wege wird, genügt nicht – fürchte ich, ist nicht die richtige Weiserin.«

»Sondern?«

»Es gibt ahnend Geborene, – Freund, – und das sind nicht Sie und nicht ich. Deren Ahnung wächst dann mit ihnen auf, wird immer leuchtender, – und eines Tages ist sie Wissen geworden. Vielleicht lebt auch der, der um dieses Ding – mit dem wir ringen – weiß, der dann spielend löst, worüber wir grübeln. Solche Gutgeborene sind öfters gekommen!«

»Und zu denen gehören – nicht Sie und nicht ich«, wiederholte Hoffmann Stanislaus' frühere Worte, und eine leise Bitterkeit zitterte über seine Lippen.

»Wir tun das Unsere, auch das ist nötig.«

Es war still und dunkel im Stübchen. Stanislaus holte die Lampe von der Kommode. »Seit wann sind Sie zurück?«

Hoffmann hatte seinen Hut ergriffen. »Seit zwei Wochen bin ich hier.«

»So lange? Ich bildete mir ein, Sie würden mich nach Ihrer Rückkehr früher finden«, fügte er, gutmütig lächelnd, hinzu. »Haben Sie Olga gesehen?«

»Ich sehe sie jeden Abend«, sagte Hoffmann mit leiser Stimme und blickte zu Boden.

Stanislaus, der eben den Zylinder auf die brennende Lampe preßte, – wandte sich jäh und sah ihn an. »Sie sehen sie –«

»jeden Abend«, sagte Hoffmann und hob den Blick voll zum Gesicht des andern.

Der Lampenschirm von weißem Milchglas schlug klirrend an den Zylinder, als Stanislaus jetzt die Lampe fertig machte.

»Leben Sie wohl, Stanislaus.«

»Gehen Sie schon?«

»Ich gehe … sie erwartet mich.«

*

In Olgas möbliertes Zimmer trat die Wirtin ein. Es war eine noch junge Frau, von kümmerlichem Aussehen, blaß, mager, dürftig, die immer mit einem schwer verärgerten und fast lauernden Gesichtsausdruck umherging. Sie besorgte, ohne Dienstmädchen, die große Wohnung, deren einzelne Zimmer sie bis auf eines, in dem sie mit Mann und Kindern wohnte, alle vermietete, kochte daneben und gab ihren Mietern neben dem Frühstück auch einzelne Mahlzeiten. Besonders wünschte sie, daß man »das Mittag« bei ihr abonniere. Da dieses »Mittag« aber zumeist aus mehlig wäßrigen Büchsengemüsen mit zweifelhaften Fleischbrocken bestand, hatte sich Olga dazu nicht entschließen können. Man hörte den ganzen Tag Frau Schöcherts Stöhnen, – schwere Seufzer, die an ein Erbrechen gemahnten. Sie war melancholisch veranlagt, mißtrauisch bis zu Verfolgungsideen und schon einmal in einer Heilanstalt interniert gewesen. Die Familie war erst vor kurzem aus der Provinz nach Berlin übersiedelt. Der Mann war in einem Inseratenbureau angestellt, wo er Adressen schrieb, Kuverts zuklebte und Briefe frankierte. Seine Frau hörte es gern, wenn sie mit ihrem vollen Titel angesprochen wurde: Frau Expeditor. Drei kümmerliche Kinder krochen in der sonnenlosen Hinterstube, in Küche und Korridor auf ihren dünnen Beinchen, die an gestreckte Froschschenkel erinnerten, umher, und zumeist hörte man ihr Schreien und Weinen; auch pflegten sie der Mutter, wenn sie in eines der Zimmer ihrer Mieter trat, nachzudrängeln, und schloß sich vor ihnen die Tür, so brach draußen ein ohrenbetäubendes Geschrei aus.

Als Frau Expeditor Schöchert bei Olga eintrat, zog sie die Nase kraus: »Ich rieche Spiiiritus«, sagte sie und blickte sich mißtrauisch um. Olga legte eben die Brennschere, mit der sie ein paarmal durch ihr Haar gefahren war, das in weiten und weich sich biegenden Wellen ihr Gesicht umrahmte, aus der Hand.

»Ich habe nichts gekocht, Frau Schöchert; Sie wissen ja, daß ich morgens mein warmes Wasser von Ihnen bekam.«

Frau Schöchert hatte ihr nicht gestattet, sich selbst Wasser zu wärmen, und nahm ihr für ein Kännchen heißen Wassers zehn Pfennige ab. Tief aufseufzend stellte sie das Tablett mit dem Frühstück, – dünnem Kaffee von graubrauner Farbe und einer kaum bestrichenen »Schrippe« – auf den Tisch; auch Olgas Post lag darauf.

»Mit dem Spiiiritusbrennen werden Sie mir noch die Politur ruinieren«, sagte sie weinerlich und strich mit den Fingerspitzen untersuchend über die Tischplatte.

»Das ist unmöglich, Frau Schö – – Frau Expeditor, – sehen Sie, die Maschine steht ja auf dem starken Nickeltablett.«

»Man braucht sich nicht die Haare zu brennen«, meinte Frau Schöchert, deren Stirnsträhne, in papierne Haarwickel eingerollt, um ihren Kopf gepreßt waren.

Olga war die Reden der Frau schon so gewöhnt, daß sie ihr nicht einmal antwortete; dieses möblierte Elend, das sie in der kurzen Zeit ihres Berliner Aufenthaltes schon in allen möglichen Variationen erfahren hatte, dauerte ja nicht mehr lange. Seit sie hier gekündigt hatte, war es am schlimmsten geworden. Sie griff nach ihrer Post, nahm die Briefe nacheinander zur Hand, ohne sie noch zu öffnen, und betrachtete die Poststempel. Es war wiederholt vorgekommen, daß ihre Briefe, anstatt ihr übergeben zu werden, in der Küche liegen geblieben waren. Als sie einmal, zu bestimmter Zeit, einen Brief erwartet hatte und, nachdem sie den Postboten kommen gehört, nach der Küche gegangen war, ihn zu holen, hatte ihr Frau Schöchert gesagt: die Mieter hätten in ihrer Küche nichts zu suchen, und sie habe zu warten, bis sie ihr die Post bringe. Auch heute wieder fand sie zwei Briefe, die schon am vorigen Abend angekommen waren. Es waren Nachrichten, die ihre Zeitung betrafen, auf die sie ungeduldig wartete. Der Unmut stieg in ihr auf. Trotz ihres Entschlusses, die Frau in der kurzen Zeit, in der sie noch auf eine Gemeinschaft mit ihr angewiesen war, durch nichts zu reizen, konnte sie die Beobachtung, die sie da wieder machte, nicht unterdrücken.

Sofort stieg der Frau die helle Zornesröte in das verzogene Gesicht. »Na nu, wollen Se mir in meinem Hause Vorschriften machen?«

»Meine Post gehört nicht zu Ihrem Hause. Entweder Sie weisen den Postboten direkt zu mir, oder, wenn Sie meine Briefe übernehmen, ist es Ihre Pflicht, sie sofort abzuliefern.«

»Haha! Das wäre ja noch schöner. Übrigens Ihre Post! Da kann sich mancher was denken, wenn ein Fräulein, was anständig sein will, so viele Briefe auf einmal bekommt.«

»Frau Schöchert, nehmen Sie sich in acht!«

»Und überhaupt: Sie haben sich hier als Fräulein angemeldet, – in Ihrem Meldezettel haben Sie geschrieben ›unverehelicht‹ – und hier – hier – – –« sie wies auf einen Brief, – »hier steht Frau Olga Diamant! – –Nu ja, in Berlin kommt eben alles Mögliche vor, – auch Falschmeldungen – alle Tage kommt das hier vor, – wo so viel Schwindler sind.«

Die rabiate Dummdreistigkeit der Frau machte es Olga schwer, sie nicht tätlich hinauszubefördern.

»Wie kommt das, wie denn?« bohrte sie weiter, – »nu, geben Se doch gefälligst Auskunft, sonst sage ich das augenblicklich meinem Mann.«

»Mein Mann,« pflegte sich vor seiner keifenden und stöhnenden Lebenshälfte in alle Winkel zu verkriechen; aber den Mietern gegenüber wurde das zusammengedrückte Kerlchen als »mein Mann« und damit als autoritative Instanz dieses Hauses ins Treffen geführt.

Olga hatte die kindliche Idee, die Frau belehren zu wollen. »Sehen Sie, Frau Schöchert – wenn ich Sie und Ihre Verhältnisse vielleicht nicht genau kennen würde, so könnte ich ja ebenfalls einen Brief an Sie schreiben mit der Aufschrift: Fräulein Schöchert; dann würden Sie eben einen solchen Brief bekommen. Wären Sie deswegen eine Schwindlerin?«

»Gelungene Ausrede!« war die Antwort, und ein verzweifelter Seufzer, der aus der Tiefe des Magens zu kommen schien, folgte.

»Übrigens hat das Wort ›Frau‹ hier auch noch darin seinen Grund, daß man heutzutage auch selbständige Mädchen mit dem Titel ›Frau‹ anzureden pflegt.«

»Eine schöne Mode wäre mir das! Haha! Wenn ein Mädel, das sich mit allen möglichen Ker … Herren abgibt, noch eine ›gnädige Frau‹ vorstellen wollte!«

»Frau Schöchert«, sagte Olga warnend.

»Und daß ich's Ihnen nur sage,« brüllte die Wütende, – »Ihre Herrenbesuche dulde ich nicht.«

»Ich habe Ihnen beim Mieten dieses Zimmers gesagt, daß ich Bekannte empfange; und meine Nachbarin hier, das Barfräulein, gibt in ihrem Zimmer einem Mann, der gar nicht einmal gemeldet ist, – Unterkunft, – das wissen Sie sehr wohl.«

»Das geht Sie einen Dreck an. Das ist dem Fräulein ihr Bräutjam! Aber Sie – Sie haben keinen Bräutjam, – zu Ihnen laufen alle möglichen Mannsleute – am hellichten Tag!«

Von dem nächtlichen Besuche Hoffmanns wußte die Wütende nichts, sie hatte nur Koszinsky und Stanislaus kommen sehen. – »Und alle möglichen Frauenzimmer dazu! – Wer weiß, was da vorgeht, – man kennt das schon!«

»Hinaus!« Olga wies, mit funkelnden Augen, auf die Tür und trat dicht vor die Frau, die plötzlich Angst bekam und hinausrannte. Gleich darauf hörte man ihr Gezeter im Nebenzimmer, wo es aber bald von einer brutalen Männerstimme übertönt wurde.

Mit vor Ekel und Erregung zitternden Händen öffnete Olga ihre Post. Nein, das wäre so nicht weiter gegangen. Aber was lag ihr jetzt daran! Die kleine Wohnung im Vorort war gemietet, und am nächsten Ersten zog sie in ihr Heim.

Nachmittags – es war Sonntag – kamen bei den Wirtsleuten Verwandte zu Besuch. Eine jüngere Schwester der Frau, die »Lehrdame« bei einer Schneiderin war, und der Bruder des Mannes, der eine »Besohlanstalt« besaß; ein anderer Bruder der Frau war »Kammerjäger«, das heißt, er besaß ein »Institut zur untrüglichen und radikalen Vertilgung von Schwaben (Russen, Franzosen), Wanzen, Ratten, Motten« … Die Gevatterschaft rückte mit Kind und Kegel zum Kaffee an, und den ganzen Nachmittag quietschte das Grammophon durch die dünnen Wände. Gemartert, mußte Olga zu Hause bleiben, bis Hoffmann sie abholte; dann flohen sie die gastliche Stätte. Er tröstete sie; was lag ihnen jetzt an diesen Widerwärtigkeiten.

*

Wenige Wochen später stand sie, in ein Tuch gehüllt, auf dem kleinen Balkon ihrer Wohnung; die lag voll nach Süden. Die Häuser gegenüber waren durch Gärten voneinander geschieden. Diese Villengärten hatten auch jetzt, zum Winter, noch grüne Rasendecken, von denen sich der ockergelbe Kies farbenfröhlich abhob. Gegen Westen war die Gegend noch unbebaut, und sie konnte weithin über freie Felder sehen. Immer hatte sich, wenn sie einem Stückchen freier Natur gegenüberstand, ein Glücksgefühl bei ihr eingestellt. Sie bedurfte auch nicht der großen Effekte. Sie hatte wohl die Berge, aber noch nicht das Meer gesehen. Schon wenn sie, in ihrer Heimat, aus dem schmutzigen Städtchen in die dürftige nähere Umgebung, mit ihrem heidenartigen Charakter, herausgeeilt war, hatte sie sich freier gefühlt. In ihrem Vaterhaus waren nur düstere Räume gewesen, und alle Fenster gingen nach dem Marktplatz mit seinem widerlich belebten Getriebe und seinen Schmutztümpeln zwischen dem schlechten Pflaster oder aber, noch schlimmer, – in einen erbärmlichen Hof, mit nassem, kotigem Grund, der von allen Seiten von rußigen Mauern umragt war. Heraus, heraus, – so hatte alles in ihr drängend gerufen, wenn ihr Blick auf diese Umgebung fiel. Und dieser Ruf in ihr hatte sie gedrängt, getrieben, – bis sie wirklich heraus war.

Und nun stand sie hier, auf dem Balkon ihrer Wohnung und blickte in die gepflegten, zierlichen Bauten, die die Weltstadt bis hier heraus schob, – blickte in die freien Felder hinüber. Diese letzten Herbsttage waren feucht und für Berlin ungewöhnlich stürmisch. Manchen Augenblick, wenn der Wind um sie herum blies, glaubte sie, so ähnlich, nur noch kräftiger und deutlicher im Geruch, müsse die Luft sein, die über die See strich. Die See! In vier Stunden konnte man sie von hier erreichen! Diese Nähe beglückte sie.

Durch die kahlen Zweige einer Allee, die drüben den Weg begrenzte, sah sie die braune Erde sich ins Weite strecken. Über die Landschaft spannte sich, flach, ein verdunkelter, regenschwerer, herbstlicher Himmel, der, nahe dem Horizont, mit einer Geraden abschnitt. Von da an schlossen sich zarte, hellgelbe Lichtstreifen an das dunkle Grau der Wolkenballen, die in eine breite, gelbleuchtende Fläche, die wie geschmolzenes Gold glühte, einmündeten. Stellenweise war diese leuchtende Masse zerrissen und, flimmernd umrahmt, schimmerten diese Stellen in zartestem Blau. Sie atmete die bewegte, feuchte Luft ein und blickte in den Glanz, bis der Himmel abendlich erlosch. Dann ging sie in ihre Wohnung, die aus zwei Zimmern und Nebenräumen bestand, und mit einfachen, hellen Möbeln, im modernen Geschmack eingerichtet war. Sie betrachtete alles noch einmal, und Dankbarkeit für dies bescheidene Eigentum war in ihrem Herzen. Draußen die blanke Emaillewanne, in die das heiße Wasser sprudelte, so oft man den Hahn aufdrehte, hatte sie ebenso entzückt, wie die Heizung, die ein Handgriff an den weißlackierten Rohren bediente und wie die elektrischen Flämmchen, die sie überall aufblitzen lassen mochte, wo es ihr gefiel; beinahe zärtlich streichelten ihre Blicke das Telephon, den kleinen, zierlichen Tischapparat, – an dessen unsichtbaren Enden die Welt hing …

Aber nun zur Arbeit. Fräulein Wigolski sollte heute Abend kommen. Wichtige Briefe und ein paar kurze Artikel waren zu diktieren. Auch diese Arbeit, dachte sie, während sie ihre Mappe öffnete, danke ich dir, Weltstadt, du Strenge, du Inspiratorische, du dem Suchenden Gnädige; ich glaube, ich verstehe dich, – Berlin.

*

Zwischen Lore Wigolski und den Geschwistern war bald Freundschaft geschlossen worden. Mit dem ruhigen Freimut, der ihr eigen war, hatte sie ihnen beiden ihr Schicksal erzählt, – ihre Schicksalslosigkeit, wie sie es nannte. Denn sie sah in dem, was ihr begegnet war, keine Entscheidung. Was sie in vollem Bewußtsein gewagt, – es hatte sie aus der Linie der bürgerlichen Sphäre, der sie entstammte, herausgeschoben, aber es hatte ihrem Leben nicht Ziel und Abschluß – sei es durch Erfüllung oder durch Entsagung, – zu geben vermocht.

Das Verhältnis, dem ihr Kind entstammte, war nicht einer unbesieglichen Leidenschaft entsprungen; ihrem heiter-klaren Wesen lag nichts ferner, als sich in einem »Rausch« zu »vergessen«. Die Ruhe, mit der sie das ihren Freunden bekannte, war ihnen beiden ein Neues. Gerade als sie Lores Geschichte erfuhr, grübelte Olga manchmal bis zur Selbstpeinigung über ihr Verhältnis zu Werner. Hier aber hatte ein Weib die Bestimmung seines fruchtbaren Leibes unter bedrohlichen Verhältnissen erfüllt, ohne im Gleichgewicht ihrer in sich selbst wurzelnden Natur erschüttert zu werden.

»Ich habe jahrelang niemanden kennen gelernt«, erzählte sie den Geschwistern. »Niemanden, mit dem auch nur im mindesten eine andere als eine konventionelle Beziehung möglich gewesen wäre. Sollte man das wohl glauben? Ist es nicht die landläufige Meinung aller Leute, Liebe, ja sogar Ehe, sei das selbstverständliche Geschick, das alle hübschen Mädchen erwarte? – Und dabei lebte ich immer in Berlin.« Ihr Vater war ein kleiner Kaufmann gewesen, nun tot. Die Mutter lebte bei einem älteren Bruder in Königsberg. Sie hatte der Tochter mit einem Teil ihrer Einrichtung ein eigenes Heim gründen helfen, – da nun, nach dem »Unglück«, an eine normale »Versorgung« nicht zu denken war. Das »Unglück« bestand darin, daß dem einsamen Mädchen, das schon im Hause der Eltern an der Schreibmaschine sein Brot verdiente, eines Tages ein Mann begegnete, der ein freundliches Gefühl für sie faßte. Es war ein Ingenieur, deutscher Abkunft, der seit Jahrzehnten in Amerika lebte. Zu kurzem Aufenthalt in Deutschland, suchte er eine Privatsekretärin und fand sie in Lore. Schon sein Äußeres gewann sie, mehr noch sein fröhliches Wesen. Von hohem Wuchs, mit dichtem, rötlichen Bartgestrüpp, klug, klar und ehrlich, – so trat er in ihr Leben. Daß der Mann sie begehrte und daß er vor dem Antrieb seiner Gefühle nicht »floh«, wie alle anderen, die sie kannte, – die, wenn nicht alles »stimmte«, keinen Glücksversuch mehr wagten, – das hatte Lore, die »Glücksjägerin«, als die sie sich selbst, wenig schonend, bezeichnete, mit einer starken, neuen Freude erfüllt. Mr. Shubert – wie er sich amerikanisiert nannte – war verheiratet, Vater dreier Kinder, und lebte in zufriedener Ehe. Seine Frau, eine Irin, war, nach seiner Erzählung, eine gute Genossin für ihn. Und obwohl Lore wußte, daß Mr. Shubert bald zu den Seinen zurückkehren werde und daß er ihr nichts weiter zu bieten hatte als eine freilich zärtliche Neigung, – ein Gefühl, das er selbst erotische Freundschaft nannte, – gab sie sich ihm.

Als das Kind geboren wurde, war er weit fort. Sie waren in Korrespondenz geblieben, in die zuzeiten große Pausen eingestreut waren, die aber nicht abbrach und die freundschaftliche Herzlichkeit nicht verlor. Als er von ihrer Schwangerschaft und dann von der Geburt des Kindes erfuhr, war der Ton seiner Briefe noch wärmer und herzlicher geworden. Nun hatte er das bisher als Geheimnis gehütete deutsche Erlebnis auch seiner Frau anvertraut. Trotz des Schmerzes, der über sie, wie über jede natürlich empfindende Frau, bei dem Gedanken gekommen war, daß er eine andere begehrt, – in seiner Art geliebt – und besessen hatte, war diese Ehe nicht erschüttert. Denn dieser Mann mit seiner fröhlichen, tüchtigen und starken Art, das Leben zu bewältigen, der ihr nie eine Stunde des Unwillens bereitet hatte, – dieser Mann, das fühlte sie, hatte ihr durch die Hinneigung zu einer anderen Frau nichts genommen. Und um eine Geringe konnte er die immer gewahrte Treue nicht gebrochen haben. Ihn hatte Lores Art an seine Frau gemahnt. Und das Mädchen, das anfing zu verbittern, weil es keinem begegnete, der so aussah wie man sich gemeinhin einen »Mann« vorstellt, – sie hatte dem deutlich frohen Gefühl, das sie zu ihm zog, mit keiner Faser ihres bewußten Willens widerstrebt. – Er sorgte treulich für das Kind. Ein Mehr lehnte sie ab, da sie für sich selbst arbeiten konnte.

Sie erzählte den Geschwistern an einem Abend, an dem sie in Olgas Heim zusammensaßen, dieses so seltsam scheinende und doch so schlichte Begebnis ihres Lebens.

»Wie vielfältig ist alles Sollen, Wollen und Müssen in Fragen des Geschlechtsschicksals eines Menschen«, sagte Olga. »Wie kann man in feste Regeln zwängen wollen, was in unendlichen Formen immer wieder sich offenbart.«

Stanislaus hatte mit glänzenden Augen, in tiefem Schweigen auf Lores Erzählung gehorcht.

»Und nun? Sind Sie froh?« Er fragte es gespannt, mit verhaltenem Atem, als erwarte er eine Entscheidung.

»Sie meinen mit dem Kind? Wie sollte ich da nicht froh sein?«

»Das ist gut, das ist gut«, sagte er freudig und erfaßte unwillkürlich ihre Hand, die sie ihm, mit freundlichem Blick, überließ. »Denn es ist wirklich ein Gutes, ein unzweifelhaft Gutes aus Ihrem Erlebnis geworden, – da Sie es so ganz und heil überstanden haben! Kennen Sie Ardinghello?« fuhr er fort. »Das ist eine kostbare Geschichte von Heinse, einem Zeitgenossen Goethes; da wird von einer ähnlichen – Verirrung etwas Rechtes gesagt.«

Er trat ans Bücherbrett, fand das Buch und die Stelle, die er suchte, und las:

»Und so ward ein süß verlassen Weib glücklich gemacht, und es lebt ein himmlisch Geschöpf auf der Welt mehr, aller Augen zu entzücken.«

Er ließ das Buch sinken und sah sie mit freudigen Blicken an. Olga nahm das Buch, das ihr der Bruder einmal geschenkt hatte, aus seiner Hand, blätterte darin, vertiefte sich in einen anderen Satz und las auch den. »Ein Weib ist doch das armseligste Ding auf Erden … Gefesselt auf allen Seiten, dürfen wir keinen freien Schritt tun, wo uns der Geist hinleitet, – ohne Schmach und Schande.«

Lore blickte ruhig vor sich hin, ihre großen, grauen Augen leuchteten auf, und sie schüttelte leise den Kopf.

Stanislaus betrachtete sie. Er sah, wie der lichte Schein sich über die strengen Züge ihres Gesichts breitete, die herben Linien des dunklen Teints weich erscheinen ließ. Er sah, wie sich ein Lächeln ihrer Seele offenbarte, ohne eine Bewegung der Lippen, – ein Lächeln, das auf dem Strahl des Auges herangeschwebt kam, aus der Tiefe.

Olga sagte: »Und hat Sie dieses Erlebnis niemals um Ihre Ruhe gebracht?«

Nun ergriff das Lächeln Besitz vom Munde, streckte die breitgezeichneten, geraden Lippen und ließ die weißen Zahnreihen fröhlich blinken. Sie schüttelte den Kopf. »Um meine Ruhe? – so manches Mal. Aber es war immer ein gutes, herzliches und glückliches Gefühl dabei«, sagte sie einfach, mit ihrer starken Stimme.

»Und Sie haben sich nie – unfrei gefühlt?«

»Liebe – und was ihr verwandt ist – darf nie unfrei machen.«

»Und wenn sie es doch tut?«

»Dann muß man laufen, – fortlaufen über alle Berge!«

»Und wenn Sie der Mann im Stich gelassen hätte?«

»Nun, rein äußerlich, sozusagen lokal«, sie lachte kräftig, – »hat er mich ja im Stich gelassen. Und innerlich –«

»Nun?«

»Innerlich war ich nie verkettet«, fügte sie leise, bekennend hinzu.

»Er hat aber nie etwas getan, – was Sie schwer enttäuschte«, fuhr Olga fort, und ein fremder, schmerzlicher Zug, den Stanislaus mit Bangen betrachtete, lag auf ihrem Gesicht.

Lore schüttelte den Kopf. »Alles war klar und kam, wie erwartet.«

»Und wenn er Sie getäuscht hätte?«

»Dann hätte ich, da ich ja doch das Lörchen davontrug, – mich wohl von ihm, aber nicht vom Schicksal betrogen gefühlt.«

»Das Lörchen, das liebe Lörchen! – Das ist freilich ein reeller Besitz«, sagte Stanislaus. »Aber das Kind hat viel verloren durch die Trennung der Eltern, durch die Vaterlosigkeit.«

»Ich weiß nicht, ob das so schlimm ist, wie es erscheinen könnte. Der Vater hilft mir ja, dafür zu sorgen.«

»Doch – doch! Es ist nicht gut für das Kind, – glauben Sie es mir! Und nicht etwa aus konventionellen Gründen. Ein Kind braucht einen Vater, – einen ihm immer nahen, dauernden Freund, der ihm hilft, sich zurecht zu finden, in diesem Wirrwarr.«

»Aber ist denn jeder Vater ein solcher Freund?« meinte Olga, »ich zweifele daran.«

»Ich zweifele sicherlich nicht minder,« sagte Stanislaus lächelnd, »ich sage nur: schlimm ist's für jedes Kind, das solchen Freund, der über seine Jugend wacht, nicht neben der Mutter noch hat … Nicht gerade der Vater muß es sein«, fuhr er nachdenklich fort. »Der Erzeuger ist wohl der erste für dieses Amt. Aber ist er nicht zur Stelle« – er blickte grübelnd vor sich hin, – »dann kann es auch ein anderer sein.«

»Welcher andere«, meinte Lore, seufzend, »wird wohl gern und dauernd dieses Amt übernehmen.«

Gedämpft, mit schamhaftem Gesicht, erwiderte Stanislaus: »Das wird einer tun, – der – der sein Schicksal mit dem der Mutter verbindet.«

»Der Stiefvater also«, sagte Lore und sah ihn, mit lächelnden Augen, voll an.

»Der Stiefvater – ganz recht!« erwiderte Stanislaus, über dessen Gesicht sich Röte verbreitet hatte, – brach ab und schien seine Gedanken weiter zu spinnen.

Die drei schwiegen. Nach einer Weile fuhr Stanislaus fort: »Es müßte interessant sein, das zu erforschen.«

»Was denn?« fragte Olga.

»Das Schicksal der unehelichen Kinder. – Hier müßte man nach zwei Gesichtspunkten untersuchen«, fuhr er fort, vertieft in sein Thema, – als zeichne er eine Disposition. »Man müßte erstens« – er schob den Daumen vor – »die Entwickelung jener Kinder verfolgen, deren Mütter ledig blieben, – und zweitens«, der Zeigefinger folgte, »die der anderen, deren Mütter später noch zur Ehe gelangten.«

»Du meinst die, die schließlich den Vater ihres Kindes heiraten?«

Zögernd und gedehnt, kam es heraus: »Die meine ich eigentlich nicht, – das heißt auch, aber hier liegt nicht das wesentliche Problem.«

»Sondern?«

»Ich meine – mich interessiert eine besondere Gruppe – – ich meine die – eben die Familie, – in der der Gatte nicht der Vater des Kindes ist, das das Mädchen schon vor der Ehe besaß … Diese – diese Stiefvaterfamilie, die erscheint mir sehr merkwürdig und sehr beachtenswert.«

»Sieh da, – das klingt ja wie ein Plan! wie ein neues Buch!«

»Das wäre schon ein Stoff«, erwiderte er lächelnd, und gedankenvoll vor sich hinblickend, fuhr er fort: »Einer, der einen fein herausbrächte aus der steril-theoretischen Zerfaserung der Nervenstränge der Moderne – hinein, ins Lebendigste. – – «

*

Einige Wochen später schrieb Lore an Olga:

»– – Wer ist ein Freund? Der, dem wir die peinlichsten Erfahrungen mitteilen können, ohne die Befürchtung, in seinen Augen geringer zu werden oder seine Schadenfreude zu erregen. Darum werde ich mit einer Beichte morgen zu Ihnen kommen. Ich habe eine Menge Komisches und eigentlich Trauriges erlebt, – das durchaus erzählt werden will. Also, ich komme morgen, eine Stunde vor Beginn der Arbeit, um Ihnen Dinge zu berichten, – Dinge, über die sich ein zartes Inwendiges (sprich: Inwenjes) um und um wenden könnte.

Um Sie schonend auf das Thema vorzubereiten: ich bin und bleibe eine unverbesserliche Glückssucherin, die sich noch die Nase platt schlagen wird, wenn nicht ein glücklicher Zufall verhindert, daß sie auf besagte Nase fällt, – das heißt irgendein fester Griff die Herunterrutschende auffängt, was nicht erhofft

Ihre
Lore.«

Sie kam und erzählte:

»Das Alleinsein ist schwer, – darüber sind Sie mit mir einer Meinung, nicht wahr?«

»Auch Ihnen?«, sagte Olga überrascht.

»Jeder jungen Frau; sagt eine es anders, so lügt sie. Allgemein wird in diesem Punkte gelogen.«

»Aber Sie sind doch schon – nicht allein gewesen!«

»Kurze Zeit lebte ich so, wie ein jugendlicher Mensch, dessen Herz und Blut in normaler Verfassung sind, leben soll. Zu schnell war ich wieder allein – und doppelt schwer lagen die Tage und die Nächte auf mir.« Sie schwieg und atmete schwer, und das erstemal sah Olga, wie in dem stolzen, strengen Gesicht die Züge sich senkten, die Schatten sich breiteten, wie die Lippen, in herber Verächtlichkeit, sich aufwarfen. »Mein Leben lang«, fuhr sie fort, – »habe ich niemanden kennen gelernt, – in dem Sinne, wie es ein Mädchen erwartet, – wie man es ein Mädchen als Selbstverständliches erwarten lehrt. Torheit, überlieferte Lüge, verhängnisvoller Betrug! … Keiner tritt so vor diese Mädchen, wie sie es erwarten, nichts dergleichen. Auf der Straße dreht sich ab und zu einer um, folgt einige Schritte, murmelt schamlose Worte … Endlich kommt einer – durch den Beruf. Wäre der nicht, so hätte der Heiratsvermittler einige ›zwanglose Bekanntschaften‹ vermittelt, – vorausgesetzt, daß er auf dem Folio der Kundschaft eine Zahl hätte notieren können; sonst auch nicht. – Also bei mir war's der Beruf, der mir endlich, zufällig, einen Mann präsentierte; und selbstverständlich scheint mir's, daß auch dieser einzige Fall der gegenseitigen Anziehung nicht glatt lag. Selbstverständlich, daß der Mann längst vergeben war, so daß er nur durch einen – Seitensprung –« ein gewaltsames Lächeln bedrängte ihren Mund, – »für kurze Zeit an meine Seite kam … ein Wunder war's daß alles schön war und blieb, – ein wahres Wunder!« Über ihrem gesenkten Kopf, der von den braunblonden Flechten fast gänzlich bedeckt war, lagerte tiefe Traurigkeit.

»Ein Wunder – das Ihre vornehme Selbstbescheidung ermöglichte.«

»Aber was nun!« stieß Lore heraus.

»Sie haben das Kind.«

»Sagen Sie das im Ernst? Sie? Soll das als letzte und endgültige Abschlagszahlung gelten? Für mich rangiert dieser Wert auf einem anderen – ganz anderen – Konto, der das andere, leere Blatt in der Bilanz nicht füllen kann.«

»Sie sind nicht eine, an der das Schicksal vorbeigeht, – es wird Ihnen früher oder später deutlichen und dauernden Besitz geben.«

Lore lachte, mit ihrer tiefen Kraftstimme, aber es klang rauh und unfroh. »Sie zählen also auch zu jenen bequemen Fatumsgläubigen. ›Es‹ wird schon kommen, – natürlich! Ohne daß wir den Finger rühren, – wird das Wunderbare – welches das Natürliche in dieser Welt der Unnatur schon geworden ist – das Notwendige – vor uns treten! Haha!« – sie stieß, mit finsterem Gesicht, ein Lachen aus – »wer's glaubt, wird selig!«

»Nicht ganz, ohne daß wir den Finger rühren«, sagte Olga, mit Bedeutsamkeit.

»Sehen Sie, das meine ich auch. Ich weiß, daß nichts von selbst kommt – und darum – habe ich mich aufgerafft und – und habe alles – Eklige, das dabei ist, – überwunden – – und habe – was – getan.« Sie betonte und zog das »getan« mit Selbstironie, hinter der schon wieder ihre ursprüngliche, kraftvolle Heiterkeit hervorkam. »Ich hab's getan«, sagte sie nochmals, warf sich auf das Sofa und lachte tief, laut, aus voller Brust, mit einem Gesicht, aus dem alle Bitternis verschwunden war; nur noch bedingungsloser Lachreiz machte sich geltend. Der Antrieb, die Welt und ihre mißlich-komischen Konstellationen mit Humor zu nehmen, der der stärkste ihres Wesens war, hatte sich auch jetzt wieder über ihre Verdüsterung hochgeschwungen. »Ich hab's getaan«! Sie vergrub das lachende Gesicht in die Kissen.

Olga setzte sich belustigt in den Schreibtischsessel. »Erzählen Sie Ihre Schandtaten, ich möchte schon gern etwas davon hören.«

Noch immer lachend übers Sofa geworfen, zog Lore einen Brief aus der Tasche und reichte ihr ihn hin. Es war ein Schreibmaschinendurchschlag. Olga überflog ihn:

»Sehr geehrter Herr! Ihre Annonce hat mir, ich muß es gestehen, Eindruck gemacht. Ganz zufällig blieb mein Blick an diesen großen Typen hängen, und je weiter ich las, desto mehr interessierte mich der Inhalt.« … Die Schreiberin ging dann auf diesen Inhalt – den einer Annonce, in welcher sich der Inserent als ein Herr vorgestellt hatte, der von »traditionellen Moralwerten« nichts wissen wollte, – des näheren ein. Als Antwort hatte sie ein Billett erhalten, das sie in den Wartesaal des Potsdamer Bahnhofs bestellte. Nachdem sie dort dreiviertel Stunden vergeblich gewartet, ohne einen Herrn von der beschriebenen Signatur eintreten zu sehen, – war sie fortgegangen, zur nächsten Filiale eines großen Blattes und hatte da selbst inseriert, daß sie die Bekanntschaft eines gebildeten Mannes suche. »Unabhängige junge Dame usw.« Hierauf hatte sie mehr als dreißig Briefe erhalten, von denen nur einige zur Auswahl in Betracht kamen. Diese Rendezvous' hatte sie absolviert.

So traf sie, am ersten Tag, einen kleinen, kurzbeinigen Herrn, der ihr gleich versicherte, er wisse, daß der Verkehr mit einer Frau Geld koste; darüber seien die Gelehrten einig; auf ein warmes Abendbrot und eine Flasche Wein käme es ihm auch nicht an. »Das, was Sie sind,« sagte der Kurzbeinige, indem er sie musterte, – »suche ich schon – seit Wochen.« – – Am anderen Tag kam sie mit einem Herrn, in der Uniform eines Freiwilligen, in einer kleinen Konditorei zusammen. (Sie hatte die Rendezvous' so eingeteilt, daß sie binnen einer Woche die »Reflektanten« kennen lernen konnte.) Beim Zahlen meinte der Freiwillige, ohne besondere Verlegenheit, er habe die Börse vergessen und ersuchte sie »auszulegen«. Auch erbat er, zum Abschied, ihre altmodische, goldene Brosche, – als Pfand, daß sie wiederkomme, wie er scherzhaft meinte. Sie stammelte, es handle sich um ein Familienerbstück, dessen sie sich nicht entäußern könne und machte, daß sie fortkam. – – Ein schneidiger, junger Arzt war der Dritte. Er war brünett, korpulent, unternehmend. »Sie sind pervers, – das kann ich als Arzt auf den ersten Blick konstatieren«, meinte er und zwinkerte sie an; darauf folgte eine Abhandlung, die sich der Wiedergabe entzog. Er bestellte sie »für nächstens« in seine Wohnung, da er lange »Fisematenten« nicht liebe. – Als sie an jenem Nachmittag wieder zuhause war, empfand sie die Einsamkeit wie ein Glück. Dennoch wollte sie noch einmal den Versuch machen und fand sich am nächsten Tag vor einem Postamt ein, wohin sie einen der Unbekannten bestellt hatte.

Ein großer, schlanker, feingekleideter, junger Herr trat bald aus der Tür des Amtes und ging auf sie zu. Er hatte angenehme, ebenmäßige Züge. »Pardon – Lagerkarte 32?« Und, als sie bejahte: – »Ich bitte um Entschuldigung, aber drin im Postamt begegneten mir zwei Kameraden, die ich leider nicht abwimmeln konnte.« Dann traten sie auch schon aus der Tür, und es schien ihr gar nicht so zufällig, daß sie hier waren.

»Welchen Namen, bitte?«

»Weißmann«, sagte sie.

»Zur Leiden«, flüsterte er.

Die beiden Herren traten langsam heran und maßen sie dabei mit langen Blicken. Der eine war ein blonder, großer, massiger Kerl, mit brutalem Gesicht. Der andere – eine Karikatur für den Simplizissimus. Schlotterig, klappernd, mit dandyhafter Eleganz gekleidet, mit verlebtem, verfältetem Gesicht, das nie jung gewesen zu sein schien, das Monokel ins Auge gekniffen. Ein kleines, steifes Hütchen saß ihm auf der Schädelspitze; darunter sahen semmelblonde, kindlich weiche Härchen hervor, – das einzige Erbteil seiner Rasse, das er, in seinen letzten Resten zumindest, bewahrt hatte. Beide hatten Operngläser umgehängt; sie wurden als Kollegen – Assessoren – vorgestellt.

»Loge im Apollotheater,« schnarrte der Klapprige, – »gehst du mit?«

Herr zur Leiden meinte, er würde kaum mithalten, aber vorher könne man noch in ein Café gehen. Sie traten in das Romanische Café und fanden mit Mühe einen Tisch. – Was sie mit den drei Fremden reden sollte, wußte Lore nicht. Man sprach über das Café, die Bedienung.

Herr zur Leiden steckte den Zucker in die Tasche. »Den muß ich meinem Koko mitbringen«, meinte er.

»Haben Sie einen Papagei?« fragte Lore, der schwül zumute geworden war, hilflos.

»Ich habe einen kleinen Vogel, – ist aber kein Papagei.«

Der massige Assessor schlug sich auf die Knie und brach in brüllendes Gelächter aus. – »Nen kleinen Vogel, famos! Pruh!!« Er schüttelte sich, unter schnaubendem Gelächter. – » Sein kleiner Vogel« – er stieß prustend dem Klapprigen in die Seite, – »is ein möchtjes Biest, mein Fräulein« …

Die Redensart: seinen Ohren nicht trauen – erlebte Lore in diesem Augenblick buchstäblich. Sie traute nicht – ihren Ohren. Sie mußte mißhört haben. Aber da grölte der Massige noch einmal: »Ein möchtjes Biest, mein Fräulein …«

Nach diesem letzten Rendezvous gab Lore die Versuche dieser Art auf.

*

In niedergeschlagener Stimmung kam Werner. Der frische Zug, den er aus dem Sanatorium mitgebracht, war aus seinem Gesicht schon wieder gewichen. Um die Lippen lag Enttäuschung, und die Augen hatten den frohen, sammetnen Glanz nicht mehr, den sie damals gehabt. Sein Gesicht schien wie ausgebleicht.

Er ließ sich schwer auf einen Lehnstuhl fallen.

»Die sauersten Jahre liegen noch vor uns, meine Liebe.«

»Wieso«, fragte sie.

»Hast du noch Sehnsucht nach einer Zuflucht in einen Glauben? Willst du dich unter das Dach eines Dogmas verkriechen? Schlag dir das aus dem Kopf! – Aber es ist schwer; denn in diesem Lebensalter will sich der Wahn, als müsse man Ziel und Mündung finden, nicht zufriedengeben.« Nervös sprang er auf und ging auf und ab. – »Unsinn, Täuschung, eingeborene Verstellung der inneren Optik! … Ziel- und uferlos ist alles, alles. Eine Weltanschauung – haha – das ist die drolligste Pygmäenerfindung der zweibeinigen Aufrechtgeher. Das Weltbild auf eine Formel bringen wollen! Und dieser Wahn wird in die Gehirne gepreßt und da aufgezogen, – gezüchtet, vererbt, – ein Verbrechen!«

Wie der Wahn in die Gehirne der Mädchen, das Wunderbare müsse kommen, – dachte Olga.

»Die sauersten Jahre«, wiederholte er, – »sind die, die man durchmachen muß, um diesen eingezüchteten Talmiglauben loszuwerden.« Sein Gesicht verfinsterte sich. »Aus dem kommt alle falsche Begeisterung, – die man dann tappend, irrlichternd wieder an falsche Adressen richtet.«

Und er erzählte, wie er zu dem hervorragendsten Führer der sozialistischen Partei gekommen war.

»Ich sage dir – ein Mensch, ein Mann! Eine Ruhe, eine Wurzelsicherheit, die – einen – wie mich – erschüttern muß. Kein Genie, kein ›Feuergeist‹, ein nüchterner Rundkopf,« – er formte mit hohlen Händen die Konturen, – »klar wie der helle Tag. Sein Wesen – nur mit dem griechischen Wort wiederzugeben: Sophrosyne; Gestalt gewordene Besonnenheit. Der ganze Mann: Balance. Und der Mann kennt nur eine Liebe: die Proles, das Volk, die Masse. Reagiert auf Leute wie mich – mit automatischer Ablehnung; natürlich. Will die Güter der Welt, um sie aufzuteilen, wenn's sein muß, auf die magerste Einheit bringen; nicht zwecks Akkumulation der Kräfte an besonderen Stellen, – zu einem neuen Adel der Persönlichkeit – nein, ganz regelrecht, wie sich der kleine Moritz den Sozialismus vorstellt: ver–teilen, – – weil alle ›gleich‹ sind.«

»Alle sind ungleich, sage ich, – das ist das Stupendeste, in die Augen Springendste, Unübersehbarste!«

»Was wollen Sie mit dieser Gesinnung bei uns?«

»Gerade deswegen bin ich hier. Weil alle ungleich sind, müssen Verfälschungen der Erhebung – durch die Verschiedenheit des ursprünglichen Standplatzes – ausgeschlossen sein; ebenes Terrain für alle – zwecks Erkenntnis der verschiedenen Höhen.«

»Sehr gut« sagt er und lächelt – wie der Chirurg, der im Seziersaal, am zerlegten Gehirn, die vermutete kranke Windung findet, – »ausgezeichnet und dann?«

»Dann? Dann, – nach unverfälschter Erkenntnis verschiedener Höhen – verschiedene Verteilung der Güter, Adelsklassifikation, ja nennen Sie es meinetwegen Kastenbildung, bestimmt von der verschiedenen Leistung; – aber – auf nivelliertem Terrain! von Haus aus: gleiche Chancen für alle – beim Auslaufen; ungleiche Chancen, verschiedene Preise – je nach der Tüchtigkeit im Rennen, – am Ziel!«

»Sie kommen mit einem aristokratischen Prinzip und – als Mann von Geist«, sagt er mit dem höflichsten Gesicht.

»Ich komme als natürlicher Verbündeter. Wir Intellektuellen sind längst nicht mehr die Schmarotzer der Theorie; wir sind Arbeiter, wie die Ihren! Stellen Sie uns auf den Posten, – wir gehören zu ihnen. Wir sind es, wir waren es, – die die Massen ursprünglich beunruhigten und damit in Bewegung brachten. Unser Gehirn hat die Hände zur Tat gelenkt. Die bloße Politik des derben Trittes, wie sie heute geübt wird, tut es nicht mehr allein. Stellen Sie uns ein in die Reihen!«

Er antwortet: »Der Sozialismus fußt allerdings auf wissenschaftlichen Theorien, indessen – gerade die verschiedenen Theorien haben sich zu Hypothesen – unsere Feinde sagen: Utopien – zurückentwickelt. Wahr und unanfechtbar, einleuchtend auch für unsere Gegner ist nur eines« – sein Gesicht wird eisern –: »die Politik des derben Trittes«, – – jetzt lächelt er wieder, mit dieser verfluchten Höflichkeit, – »die wir machen und die Ihnen mißfällt.« Hoffmann schwieg.

»Und somit?« sagte Olga.

»Somit – gezählt, gewogen und zu leicht befunden; das ist alles.«

*

Versuche und Kämpfe überall. Es war, als stünden alle die Ihren jenseits der Zone der Beruhigten und Gesicherten. Der Briefwechsel mit den Wiener Freunden, der in den ersten Berliner Wochen, da sie zu tun hatte, sich hier einzufinden, gestockt hatte, war wieder aufgenommen worden. Auch von da kamen Nachrichten der Unruhe. Professor Diamant war mit seiner großen Arbeit über Krebsforschung hervorgetreten. Nach der ersten Pause der Verblüffung, die seine durchaus neue Methode der Diagnose, die fast einer Entdeckung glich, erzeugt hatte, brach der Sturm der Gegner los. Seine Methode bezog sich auf die frühzeitige Erkennung innerer Krebsleiden, mittels gewisser Reaktionen. Ja, seine Diagnose ging noch weiter als über die bloße Feststellung des schrecklichen Leidens im Anfangsstadium. Sie unterschied zwischen heilbarem und unheilbarem Karzinom, gab eine kombinierte neue Behandlungsmethode durch Lichtbogenoperation, Fulguration und Radium für die heilbaren Krankheitsformen – und wollte auch die unheilbare in ihren ersten Anfängen erkennen. Den heftigsten Kampf aber rief seine Theorie von der Übertragbarkeit des Krebses durch Infektion hervor.

Edda schrieb noch mehr. Sie sprach von ihrem Bruder Vinzenz, dessen geschäftliche Transaktionen sie und Eva sorgenvoll machten. Eva selbst aber deutete kommende Änderungen an und meinte, es sei nicht unmöglich, daß sie sie bald in Berlin sehen würde.

*

Hoffmanns starke und friedensfrohe Stimmung, mit der er sie werbend umschlossen hatte, wich mehr und mehr einer wachsenden Verdüsterung. Eines Abends bekam sie einen Brief von ihm. Er schrieb von der Baronin, deren Gedichte sein Verlag brachte. »Diese Frau – der Edeltypus der Kaukasierin – verbindet die pompöse Wucht der Sphinx mit der strahlenden Kraft eines befeuerten Ingeniums. Freilich glüht dieses Feuer in tiefster Seelenstille, denn da sprüht und knattert nichts … Ihren Mann kenne ich nicht, wohl aber einen Verwandten, mit dem sie meist zusammen ist, ein Diplomat und Philosoph. Ich wünsche sehr, Dich den beiden näher zu bringen. Sie haben die Leere, die schon wieder ihre Fänge um mich wirft, verscheucht.«

Wie der Alp einer überschweren Last senkte es sich auf Olgas Seele; als ob sie, über ihre Tragefähigkeit beladen, einen Berg überklimmen sollte, so schien sie sich. Glückshungrig hatte sie den gefährlichen Einsatz gewagt, gefährlich – weil sie sich gab mit ihrer Weiblichkeit; nun wuchs in ihr das Bangen.

Der Brief bat sie, an einem bestimmten Tag im Café zu sein, um die Baronin und ihren Verwandten kennen zu lernen.

*

Das Café, in das sie Werner Hoffmann bestellt hatte, war ein Sammelpunkt nicht nur der Literaten und gewisser Erscheinungen der Bohème, sondern auch der Zugehörigen anderer intellektueller Zonen, – junger Rechtsanwälte und Ärzte, die meist Publizisten »dazu« waren, akkreditierter Pressevertreter, erfolgreicher und erfolgloser Theaterdichter, studierender Japaner, die weiter drin, in Charlottenburg, siedelten; und da im Gebiet dieses Straßensternes einige exotische Gesandtschaften lagen, fand man hier auch junge Diplomaten, zumeist romanischer Nationen, Hispanier, Argentinier, Chilenen. Am Nachmittag war das Bild hier belebt von den beweglichen Gesichtern dieser verschiedenen geistig »Hauptberuflichen«. Gegen acht Uhr abends änderte sich die Szenerie: die »Intellektuellen« gingen, und die begüterte Bourgeoisie von »Berlin W. W.« kam hier herein zum »warmen Abendbrot«; die Herren – stämmige Geschäftsleute, die Damen – zu sehr nach den allerneuesten Moden kostümiert, um elegant zu sein, wie wandelnde Schaufensterpuppen der Warenhäuser anzusehen, – mit reichbelockten Frisuren, riesigen, beladenen Hüten, enggearbeiteten Kleidern, auf verschnürten Formen, mit ihren sämtlichen Schmuckstücken, von nachweislich legitimer Herkunft, bedeckt. Gegen zehn Uhr saßen jene noch hier, – und die »anderen« kamen zurück von den »Stullen«, die sie zwischendurch an minder kostspieligen Stellen genommen, – sie kehrten wieder, zum Café, zu einem Gläschen Curaçao oder zum halben Eis. Und unter die Tiergärtnerinnen und die Zoopuppen mengten sich nun ätherische Gestalten, die mit tiefen, tiefen Blicken zwischen den zwei Zopfschnecken, die die Ohren aus der Welt schaffen sollten, hervorsahen. Da kam, weiß geschminkt, die dämonische »Aspasia«, von der es hieß, sie sei »erotisch unempfindlich«, aber sie inspiriere die sie umgebenden Künstler trotzdem oder gerade deswegen. Mit ihr schritt ein von wildem Locken- und Bartgestrüpp umwallter Feind des Staatsgedankens und zwei Dichter aus der Schule der »Teuflischen«, der eine von satanischer Hagerkeit, der andere kompromittierend dick und gemütlich. Kurz geschorene, reizende, blonde Schwedenmädchen, die in Berlin studierten, flatterten auf und hüllten sich mit Kolleginnen aus dem Zarenreich und deren Genossen in dichte Dampfwolken. Backenbärtige, gelbliche Tartarengesichter mit dem finsteren Blick der russischen Intelliguenza waren da zu sehen und, ein wenig weiter von ihnen, am gemeinsamen, langen Tisch, – mit lauernd beobachtenden Forscherblicken, den Mund zu süßlich feindseligem Lächeln verzogen, – die asiatischen Mongolen, denen die Zoopuppen ungenierte Blicke zuwarfen. Die ätherischen Mädchen in phantastischen Hängern studierten die Kunstzeitschriften, von denen sie ab und zu, wie entgeistert, emporblickten und nur, wenn ein Dichter oder Denker an ihren Tisch trat, hoben sie die Lider und schienen sich mit tiefem, tiefem Blick in dieser Welt zurecht zu finden. Auch ein paar energisch dreinblickende Frauen, die weder zu den Ätherischen noch zu den Zoopuppen gehörten, saßen da, sprachen von Versammlungen und verlangten weniger die Kunstblätter als die literarischen und politischen Monatsschriften.

Olga, die selten hierher kam, hatte in einer Ecke Platz gefunden und wartete auf Hoffmann und die von ihm Angekündigten; auch Stanislaus sollte kommen. Sie trug ihr neues, blaues Tuchkleid, dessen rechteckiger Halsausschnitt mit einer bunten, türkischen Borte abschloß, und, inmitten der breiten, kupfrig schimmernden Wellen ihres Haares, ein rundes Astrachankäppchen, das sie seit Jahren besaß. – Sie ließ die Blicke wandern und sah sich die Leute an.

Nahe der Kasse, am »Privattisch«, saß der Cafetier, ein Mann, dessen Kopf an den eines Spanferkels erinnerte und der, wann immer man in das Café kam, sei es am frühen Vormittag, mittags oder spät nachts, zur Stelle war. Man sah es ihm an, wie sein Beruf ihm schmeckte, wie er sich in Gewissensruhe sonnte, weil, im Café zu sitzen, für ihn im »Geschäft« sein hieß. – Nicht weit davon saß ein schwarzhaariger Literat mit großem, bleichem Gesicht; er hatte hier »warm gegessen« und schwelgte, wie nur je einer am Zahltag. Von weitem sah seine Stirn hoch und blank aus, aber es war nur der ungewöhnlich weit hinten beginnende Ansatz der Haare, die in Büschen bis zu den Schultern hingen, der ihr Dimensionen gab. Die leere Schnitzelplatte stand noch vor ihm, und schon war er dabei, den Kaffee mit reichlichen Mengen Kuchens sich schmecken zu lassen. Er aß mit Wohlbehagen, wie einer, der auf solche Tafelei im Geiste vorbereitet war; er hatte erst kürzlich eine Abfindungssumme von einem Verleger erhalten dafür, daß er von dem Vertrag über die Drucklegung seines philosophisch-lyrischen Werkes »An die Ewigkeit« zurücktrat …

Im goldstrahlenden Licht, das den weißgetäfelten, mit roten Plüschbänken möblierten, vielfach abgeteilten Saal erfüllte, erschienen Olga plötzlich alle diese bewegten Figuren silhouettenhaft, wie skizzierte und nicht ausgezeichnete »interessante« Schattenrisse; aber nirgends, nirgends – ein wirkliches Porträt, nirgends ein durcharbeiteter Kopf, mit großen, deutlichen Linien, ein echtes Antlitz …

Plötzlich blieb ihr Blick hängen: wem gehörte nur dieses braune, schwarzbärtige Gesicht mit den eckigen, fast verzerrt erscheinenden Zügen, die an primitive Holzschnitzerei erinnerten. Halt – diesen selben Vergleich hatte sie schon einmal gemacht, als sie, bei einem Sommeraufenthalt bei Verwandten in Böhmen, an allen Kreuzwegen des Dorfes den Statuen des örtlichen Schutzpatrons, des heiligen Nepomuk, begegnete. Der holzgeschnitzte Märtyrer, mit dem in frommem Leiden verzogenen, viereckigen Gesicht, hatte sie an jemanden erinnert, – dem sie einstmals – flüchtig – begegnet war, – – damals zuhause, als sie Koszinsky fand und verlor. Es war Koszinskys ehemaliger Kamerad, Karl Stiller, der hier saß. Seine magere, starkknochige Gestalt stak in einem vertragenen, buntkarierten Anzug; er hatte eine Zeitung in der Hand und sah, über das Blatt weg, starr und müd ins Leere. Unwillkürlich blieb Olgas Blick fest an seinem Gesicht hängen; nach einer Weile drehte er den Kopf, und sah nun plötzlich auch sie. Seine Stirn zog sich gleich in grüblerische Falten und erschien, unter der starren, schwarzen Haarbürste, finster wie ein Wald, über den sich abendliche Gewitterwolken sammeln. Sekundenlang sahen sie einander an, dann wandte sie den Kopf und überließ es ihm, sich zu erinnern. Er grübelte; wo hatte er dieses stark ausgeprägte Mädchengesicht mit den Haaren, die den Kopf umbogen, wie geschmiedetes Kupfer, dieser gebogenen Nase, die doch in diesem Gesicht nicht störte und den klugen, schwarzen Augen schon gesehen? Und er erinnerte sich dunkel, diese selben Augen auch schon wie hinter Schleiern, die sich über ihnen verwebten, erblickt zu haben … Auf einmal fuhr die Erinnerung durch ihn, wie ein Riß. Die Augenbrauen wurden hoch zur Stirn gezogen, die verkniffenen Lippen lösten sich, ein gutes Lächeln kroch aus den bartumwallten Mundwinkeln und verscheuchte, für einen Moment, die Düsterheit der Stirne.

Entschlossen ging er an sie heran.

»Freil'n Diamant?«

»Herr Leutnant Stiller?«

»Ich bin doch ka Preuß', Freil'n, daß ich mir den ehemaligen Titel in Zivil konservier'! Wir Deutsch-Magyaren kokettieren nicht mit sowas … aber was machen's hier?« Er schüttelte ihr kräftig die Hand und setzte sich, auf ihre Aufforderung, zu ihr.

Sie berichtete ungefähr, was sie hier trieb.

»Und Koszinsky?« fragte er geradezu, obwohl er die Lösung der Beziehung noch mit erlebt hatte. »Verfluchte G'schicht' war das damals.«

»Er ist auch in Berlin.«

Er dachte nicht anders, als daß sie wieder zusammen waren. »So? Haben's sich also ausg'söhnt?«

Nun berichtete sie, wie und wo sie Koszinsky in Wien und dann wieder hier begegnet war und wie sie miteinander standen.

»Armer Teufel, armer Teufel«, murmelte er. »Im Grund ein Kerl, dem man die eine Dummheit nicht ankreiden dürft', auch nicht in Gedanken. – Wie kann es sein,« fuhr er fort – »daß sich in Ihrem Herzen so – so gar nichts mehr regt für ihn?« Und, als sie schwieg und nur mit wehmütigem Lächeln die Achseln hob, begann er, wie in Erinnerung verloren, mit hellem, gutem Gesicht zu erzählen – von damals. Er schilderte, wie Koszinsky, im Rausch der ersten Leidenschaft, fiebernd vor Erwartung nach ihren Briefen, immer aufs Postamt gestürmt war. Manchmal hatte er ihm auch gezeigt, was er ihr schrieb. »Bitt' Sie, – er war schon so ein Mensch und hat nix Böses dabei g'sehn …« Stiller sprach noch immer im österreichischen Dialekt, mit der speziellen, slawisierten Rauheit der Provinzoffiziere der Monarchie.

»Ich erinner' mich noch, wie er einmal, statt der Überschrift, nur ein Motto oben g'schrieben hat, – aus – aus dem Westöstlichen Divan war es, wie mir scheint: ›Sieh, da war –‹« – er zog die Worte ehrfürchtig auseinander, – »›meine Chiffre leis' gezogen‹ … komisch, komisch,« schloß er nachdenklich, – »wie so einem Menschen, wie er, – so was hat passieren können.«

»Ich glaube,« meinte sie, »es gibt in den Seelen der meisten von uns Heutigen – mancherlei Bewegung gegeneinander, – Strömungen vom und zum Ufer.«

»Kann sein – kann sein. Dem Koszinsky fehlt vor allem – das Weib, wissen's, – so eine ganz eine einfache, schlichte Häuslichkeit, mit Frau und Kindern, – ohne die ein Mann wie unsereiner nicht sein soll, wenn er sich nicht ruinieren will in Mark und Gehirn.«

»Und Sie?« sagte sie lächelnd.

»Ich hab' ein Weib, – natürlich«, sagte er. »Is ein armes Madel, das an mir hängt und ich an ihr. Nächstens laß ich mich mit ihr trauen, – wegen die Kinder, wissen's. Is schon a jahrelange G'schicht. Wir haben drei Kinder. Zwei sind bei die Eltern untergebracht, zuhaus in Ungarn; und das dritte« – die Stirn verzog sich sorgenvoll – »is vor a paar Tagen angekommen.«

»Hier?«

»Ja, es is ein Elend. – – Wann sie gesund is, die Meine, schneidert sie; jetzt soll ich uns alle ernähren, – furchtbare G'schicht is das.« Er ballte unwillkürlich die Fäuste, unter der Tischplatte.

»Sie hatten dort eine Stellung bei einer deutschen Redaktion – zuhause?«

»Bitt' Sie, wie kann sich da eine deutsche, literarische Zeitschrift halten! Die kleine, deutsche Insel da unten, – die Sachsen in Siebenbürgen und die Schwaben im Banat – das is alles. Die sogenannten Deutschen da oben – Budapest, Raab, Preßburg, – die G'sellschaft zählt bei so was wie das, um was wir kämpfen, nicht mit. Denn erschtens sind's verjudet (pardon) und zweitens spielen's die Magyarenpatrioten; da heißt einer, zum Beispiel, Salomon Bauchspeck und magyarisiert sich auf Andrassy oder Hunyady oder sonst auf den Namen irgendeines alten Fürsten- oder Grafengeschlechtes. – Den Idealismus da unten im Rassenkampf haben nur wir dort, in der südöstlichen Ecke.« Er machte eine Pause und starrte finster vor sich hin. »Das Blatt'l«, fuhr er fort, »is bald eingegangen, und so bin ich nach Berlin. Leb' hier als freier Schriftsteller«, – er verzog die Lippen, fletschend, – »saubere Freiheit das. Herumhausieren mit Artikeln – und davon soll man Weib und Kinder und sich selbst ernähren. Nun, ein Glück is zweierlei: erschtens, daß ich meine Spezialität hab' – die Geschichte der Deutschen in Ungarn, – das interessiert hier, gibt noch viel unbekannten Stoff und findet Abnehmer, wissen's; und zweitens –« und jetzt hob er unwillkürlich die geballten Fäuste aus ihrem Versteck, unter der Tischplatte, und hielt sie in Kopfeshöhe hoch, – »meine zwei Arbeiterhänd'! Sehen's, – was ich mir mit'm Kopf nicht d'rspekulier' und mit'm Hintern – pardon – beim Schreibtisch nicht d'rsitz', das schaffen meine Pratzen, – meine echten deutschen Fäust'! Die können arbeiten und zugreifen, – wo's a Brot gibt.« Er ließ die Arme langsam sinken … »Sehen's, wenn die Not da in der Wohnung von Küche und Kammer im ›Quergebäude‹ groß wird, – sehr groß – wie jetzt, wo a Kind nach Milch schreit und a arm's Weib daliegt und sich nicht rühren kann, – sehen's, da geht man halt taglöhnern, – wo's was gibt.« Es war trotzig gesagt, fast prahlerisch herausgestoßen; aber der Kopf hatte sich unwillkürlich gesenkt, die Lider beschatteten die ehrlichen Augen, die eben noch wild dreingeblickt hatten, und es schien, als verbreite sich über das braune Gesicht, langsam steigend, eine Blutwelle … »Aber glauben's nicht, daß meine Arbeit – die eigentliche – deswegen zurückbleibt, – im Gegenteil: wenn ich auf solche Art hab' schuften müssen, – sag' ich mir – justament weiter – durch mußt und wirst! – – Ich schreib' jetzt ein Drama, – wissen's, so was Urdeutsches.«

»Ein historischer Stoff?«

»Den hab' ich auch angefangen, – hab' n aber inzwischen weggelegt. Er is aus der Geschichte der Sachsen – und bei historischen Sachen is der Erfolg riskiert, wissen's, der Aufführungs- und der Gelderfolg, und den brauch' ich. Nein, – ich mach' jetzt was anderes, was Aktuelles. Ihnen kann ich's ja sagen – Sie werden mir's nicht stehlen, – also hören's: ein urdeutsches Stück aus der Gegenwart. Ein neuer, nationaler Held –« er machte eine geheimnisvolle Miene – »denken's, es wär' der Graf Zeppelin – steht im Mittelpunkt. In einem echt deutschen Stück«, fuhr er lebhaft fort, »darf aber neben dem heroischen auch das komische Motiv nicht fehlen, wissen's! Nehmens' an – dazu lang' ich mir den Zeitgenossen vom Grafen, – den Schuster Voigt, genannt Hauptmann von Köpenick; fein, was? Natürlich werden die zwei Helden in einen Zusammenhang gebracht … dazu hat man ja seine Phantasie! Und da gibt's Episoden – urdeutsch, sag' ich Ihnen. Erinnern Sie sich an den Meister Hilbrecht, der den Sträfling bei sich aufgenommen hat, – den echten, deutschen Meister Hilf–recht, der so recht und ganz half, – bis die Polizei kam und das Wild weiter jagte?« Er war ganz heiß und froh geworden bei seiner Schilderung. »Und über all dem – der Adler – der greise Graf. – Er flog – flog über Luzern – mit Adlern um die Wette,« – zitierte er ein Gedicht aus der »Jugend«, – »er flog über die Berge der Schweiz; ein Augenblick, wert, miterlebt und« fuhr er pathetisch fort, »auf der Schaubühne dem deutschen Volke erhalten zu werden.« Er war ganz verklärt. – »Wär' was für unseren Schiller gewesen; aber so was interessiert natürlich die richtigen modernen Literaten nicht« – schloß er mit gereizter Betonung.

In seiner Kraft, die manchmal von naiver Roheit nicht fern schien, mit seinem dampfenden Schnauben, seinem Lebens- und Siegeswillen schien er ihr wie ein echter Nachkomme jener Berserker, die sich durch die deutschen Urwälder Wege gehauen und dem Feind nackt und mit wildem Geheul entgegengestürmt waren …

Ein langer, hagerer Herr mit schmalem, gelblichem Gesicht und schwarzem Knebelbart, dessen Kopf an die Männerporträts des Velasquez erinnern konnte, drängte sich zwischen den Tischen durch, sah dabei Olga und grüßte sie; zögernd blieb er stehen und kam dann, auf ihren freundlichen Gegengruß, heran.

»Stiller.«

»Doktor Emmerich.«

Es war einer der Ärzte aus dem Sanatorium, in dem sich Hoffmann aufgehalten hatte. Er war mit ihm gleichzeitig abgereist, da er von seiner Stellung zurücktrat und sich selbständig niederlassen wollte. Olga hatte ihn einmal bei Werner angetroffen. Beide hatten erraten, daß er ihre Beziehung erkannte, ohne daß sie sich dadurch beunruhigt fühlten.

Olga interessierte ihn, und so wollte er nicht vorbeigehen, ohne sie zu begrüßen.

»Und unser Freund? Kommt er nicht auch? Ich sehe ihn öfters hier.«

»Doch, ich erwarte ihn hier. Wollen Sie Platz nehmen?« Und sie bog einen der Stühle, die sie umgelehnt hatte, um sie zu reservieren, zurück.

»Wenn Sie gestatten, bleibe ich gern einen Augenblick.«

Mißtrauisch blickte Stiller nach dem neuen Tischgenossen, und seine Stirn war wieder gefaltet und finster.

Doktor Emmerich war ein Apostel der lichten Lebensauffassung. Einer, der die Menschen, wie er sagte, liebte; der alle moralischen Mängel als Entartung und Entartung als Krankheit erklärte. »Der ganz gesunde Mensch ist gut und heiter«, – das war sein Glaube; aber freilich, wo gab es solche ganz Gesunde? Auf Olgas Frage nach seinen nächsten Plänen, von denen er bei Werner in ihrer Gegenwart gesprochen, erwiderte er, es schreite alles zur Zufriedenheit und programmäßig fort. Ein passendes Haus für sein neu zu gründendes Sanatorium habe er bereits gefunden, – im Süden, in herrlicher Lage, ganz wie er sich's gewünscht, – in einer Gegend, in welcher sich auch schon Menschen von besonderer Art angesiedelt hatten, in Askona bei Locarno, am Lago Maggiore. Schon nächster Tage reise er dahin ab.

Er erzählte von der Kolonie der Weltflüchtigen, die da in den Bergen verstreut ihre Hütten gebaut hatten. Sie alle hatten sich von den Überlieferungen der Kultur losgesagt. Sie lebten dort als eine besondere Sekte, den Dorfbewohnern bekannt unter dem Namen »Vegetarii«, – fast ohne Geld, im Tauschverkehr mit den Einwohnern des Dorfes, denen sie ihre selbstgezogenen Früchte brachten, wenn sie von ihnen etwas brauchten. In ihren Hütten und Gärten gingen sie meist nackt. Es gab Leute unter ihnen, die früher mitten am Kampfplatz der Intellekte gestanden – und sich dann weiter und weiter zurückgezogen hatten, scheu und beängstigt zurückweichend vor diesem Getümmel, in dem die Gedanken nicht leicht beieinander wohnten, sondern sich fast so hart stießen, wie die Sachen … Die meisten waren jetzt religiösen Problemen ergeben.

Olga schüttelte den Kopf.

»Diese Menschen leben doch zumeist von Renten, die ihnen solche, die sich vom Kampfplatz nicht drückten, – übersenden. Heißt das nicht, sich's recht bequem machen? Ihr Tauschverkehr, den Sie da schildern, ist meines Erachtens eine Torheit. Frau Gräser bringt, wie Sie erzählen, dem Zahnarzt Apfel oder singt ein Lied als Gegengabe, wenn sie einen Zahn gezogen haben will; wenn der Zahnarzt darauf eingeht, ist das seine persönliche Kulanz. Logisch und berechtigt ist der Vorgang nicht, – denn wie, wenn der Zahnarzt keinen Bedarf an Äpfeln oder an Liedern hat? … Wie kann man leugnen wollen, daß das Geld, diese universelle Einheit, durch die alle materiellen Werte ausdrückbar sind, das logischste Medium beim Austausch der Güter ist? – – Oder wenn diese Menschen da unten alles, was sie brauchen, selbst verfertigen, – welches Dilettieren in allem Handwerk, welche Vergeudung an Kraft und welcher Mißbrauch des Materials!«

Doktor Emmerich erklärte: »Der Glaube – oder der Wahn – der zu solcher Sektenbildung führt, – liegt vielen Gemütern gänzlich fern, aber nur mit dem Gemüte läßt er sich begreifen … Glauben Sie aber ja nicht, daß ich etwa im Geiste jener Sekte dort hausen werde«, fuhr er lächelnd fort. – – »Das Plätzchen ist wundervoll gewählt. Mit den Leutchen da werde ich mich wohl anfreunden – wie sollten gerade sie den Arzt und Psychologen nicht interessieren, – im übrigen aber will ich solche Menschen heranziehen, die sich in einem köstlichen Klima, in einer gutgeführten Anstalt physisch und seelisch erholen wollen; und besonders zu dieser seelischen Erholung ihnen zu verhelfen, – soll mir am meisten am Herzen liegen.«

»Aha, – eine Therapie, deren Kurmittel nicht nur Diät, Wasser, Luft, Sonne, farbige Bestrahlung, faradische und andere Ströme, sondern auch seelische Kräftigung umfassen soll, umfaßt Ihr Heilprogramm?« bemerkte Stiller mit gallbitterem Gesicht.

»Ganz genau das ist es«, meinte Doktor Emmerich ruhig. »Die Zukunft des Arztes«, fuhr er fort, »begreift auch diese Mission.«

»Der Arzt als Heiland«, knurrte Stiller ironisch.

»Nicht gerade als Heiland, aber, sagen wir, als der moderne Stellvertreter des Priesters, den die heutige Menschheit sehr notwendig hat, – den Stellvertreter nämlich, nicht den Beamten des Klerus.«

»Also wieder ein neuer Weg zum Heil«, meinte Stiller. »Hirsebrei, Obstbaumzucht, Atmungsgymnastik, mystische Übungen und Nacktkultur – das alles tut's nicht mehr, es muß auch der ärztliche Seel-Sorger über all dem wachen.«

»Nacktkultur ist durchaus nichts Lächerliches. Nackt laufen in freier Luft, nackt baden, turnen und tanzen würde bald aus unserem Volk etwas anderes machen, als es zum großen Teil heute ist; lächerlich wird die Sache erst, wenn nackte Menschen auf Möbeln in Salons sitzen und da Tee trinken und ästhetische Gespräche führen.«

Stiller beachtete diese Erklärung nicht, die erste Mitteilung Doktor Emmerichs hielt ihn in Atem. »Nach welchen Gesichtspunkten, Herr Doktor Emmerich, wollen Sie für ›seelische Kräftigung‹ Honorar nehmen?«

Doktor Emmerich hatte keinen Augenblick sein heiteres Lächeln verloren. Er erwiderte: »Vor allem will ich ein materiell sehr leistungsfähiges Publikum da hinunterziehen. Als langjähriger Arzt in einem großen Sanatorium habe ich Fühlung mit dieser Klientel.«

Stillers braunes Gesicht war gefältet, wie ein entrollter Fächer und ganz von drohenden Schatten bedeckt. »So, so«, knurrte er.

»Ja; dieses Publikum wird dann da unten in Atem gehalten. Sie zählten ja vorhin schon die Methoden auf: elektrische Ströme, Wasser- und Sonnenbäder, und was sonst noch drum und dran hängt. Besonders mit den billigen Kurmitteln des Wassers, der Sonne und einer entwöhnenden Diät rechne ich. Eine heilsame Frugalität der Ernährung ist aber den Patienten nur dann vertrauenswürdig, wenn man die höchsten Preise dafür nimmt.«

»Wunderbares Prinzip«, kam es pfauchend zwischen Stillers Zähnen hervor.

»Das Haus wird natürlich sehr gut ausgestattet: modernes Inventar, gute, hygienische Betten, W. C., – das fehlt da unten. Und wenn mir das glückt, wie ich es meine,« fuhr Doktor Emmerich fort, und seine bebrillten Augen wurden licht, – »dann kann ich – sozusagen – die leitende Idee meines Lebens endlich ausführen.«

»Und die ist?« fragte Olga.

»Sehen Sie, dann – dann schaffe ich da unten nach und nach eine Einrichtung, die uns fehlt, – eine sehr notwendige Einrichtung: eine Erholungsstätte großen und vornehmen Stils für geistig Arbeitende, – die kein Geld für Erholungsreisen übrig haben und die das völlige Ausspannen bei sehr gutem und sorglosem Leben notwendiger brauchen, wie alle anderen. Denn hier, in ihnen, sind die Kapitalien der Zukunft; das Material, aus dem sie gebaut wird, sind aber diese Menschen selbst. Sie haben nicht ihr Arbeitsmaterial neben sich, wie Tischler und Schuster, – in sich haben sie es, sie selbst sind es, ihr eigener Leib ist die Möglichkeit ihres Wirkens, aus sich selbst heraus holen sie alles. Diese Menschen leben gehetzter und aufreibender wie alle anderen, ihre Existenz bedingt ein ewiges Hasard, wie die des Spielers, nur daß sie positive Leistungen daneben noch erübrigen müssen. Er–übrigen,« demonstrierte er, – »das heißt, – ein Mehr, ein Übriges muß da sein, ein Übriges an Kraft. Darum bedürfen sie – gerade sie – aller Akkumulatoren der Kraft, der Schonung, der Pflege, der Ruhe und – ja und« mit verbindlichem Lächeln wandte er sich zu Stiller – »und der günstigen seelischen Beeinflussung.«

»Das also wollen Sie«, kam es, nach kurzem Schweigen, aus Stillers Munde, und sein Gesicht war glatt und licht, wie ein Sommertag.

»Ich habe mir die Sache gut ausgerechnet«, sagte Doktor Emmerich. »Ein reicher Patient – das gibt, bei Weglegung der nötigen Reserven für das Haus, – zwei, vielleicht auch drei Plätze für meine anderen Invaliden. Das Unternehmen ist zwar mein privater Besitz, soll aber verwaltet werden, als ob es einer Genossenschaft diente: alles, was erübrigt wird, kommt dem Hause selbst und dem einen Teil der Insassen wieder zugute.«

Olga hatte fast vergessen, wo sie war, – einen Augenblick war ihr, als ob das Dunkelblau des italienischen Sees, das strahlende Licht jener Landschaft vor ihre Seele getreten wäre.

»Diese Stürmenden, – wollen Sie einfrieden,« sagte sie, »diesen ewig Unsicheren – eine Spanne Sicherheit gewähren. Aber glauben Sie, daß die wirklich – Tüchtigen, die Echten und Starken, die mit dem großen Können und Wollen, – solche Hilfe auch brauchen?«

»Blicken Sie um sich«, sagte Emmerich und senkte unwillkürlich die Stimme. »Nicht gerade hier«, fügte er lächelnd hinzu, da sie die Augen über das Lokal schweifen ließ, »blicken Sie im Leben, in Ihren Kreisen um Sich! Sie werden echtes Können und manches edle Wollen sehen. Aber Sie werden auch sehen, daß dieser Wille fast überall gegen Nervenohnmacht kämpft und sich dabei versplittert und verstäubt, wie Wellen, die auf Felsen schlagen. Daher sind unter diesen geistig Ringenden jene so selten, die – wie soll ich es richtig sagen, – großen Lebenszuständen gewachsen sind: der Liebe, dem sozialen Kampf, dem Erwerbsleben mit seinem brutalen Gedränge, der Anpassung an das Milieu und den Krisen der eigenen Brust in Sachen der Kunst, der Weltanschauung, des inneren Dogmas und der Bedrängung durch eigene Triebe. Darum sehen Sie die einen zu Sklaven ihrer Begierden werden, – andere wieder, die ihre Triebschwäche lähmt.«

Er unterbrach sich. Olga grüßte nach der Tür hin, durch deren Rondell eben Stanislaus eingetreten war. »Der schöne Mensch«, fuhr Doktor Emmerich fort, »wird immer seltener: das ist der, der Gefühlsströme zwischen sich und andere zu leiten vermag, der die Freude in der Welt mehrt. Denn aus der Freude kommt die Kraft und die Tat über sich selbst hinaus …«

Er machte eine Pause und nickte, wie für sich selbst: »Darum will ich – helfen, soweit ich kann.«

Stanislaus war herangekommen. Der Begrüßung folgte der Aufbruch Stillers.

»Ich muß nach Hause schauen,« sagte er, – »aber ich komm' dann wieder und find' Sie dann gewiß noch hier«, fügte er, zu Olga gewendet, hinzu. »Ihnen dank' ich – dank' ich, Herr Doktor, – für das, was ich von Ihnen hab' hören dürfen.«

Er ging. Olga erzählte Stanislaus, der sich seiner nicht gleich erinnerte, wer er war, und berichtete den beiden Männern von seinem Leben.

»Einer von meinen künftigen Gästen, – von denen, die ich vorzumerken habe«, meinte Emmerich.

»Ich fürchte, Ihre Liste wird lang werden«, antwortete Olga.

»Ihren Namen lese ich jetzt oft«, sagte Doktor Emmerich, zu Stanislaus gewandt.

»Im Zusammenhang mit der alten Sache. Mich interessiert die aber momentan nicht mehr. Mein Herz gehört – der neuen.«

»Schriftsteller sind immer um eine Nasenlänge über sich selbst hinaus«, sagte Doktor Emmerich.

Man sprach von Werner Hoffmann. »Kennen Sie ihn?« sagte Stanislaus, mit eindringlicher Betonung.

»Ich glaube,« erwiderte Emmerich und zog sein schwarzes Knebelbärtchen nachdenklich durch die Hand; – »ein möglicher Christus. Kompromißlos wie Ibsens Brand. Eigentlich ein Mystiker, – der nicht weiß, daß er es ist, sehr zum Heil seiner suchenden Seele. Ein Mensch mit heftigen Tatinstinkten, denen sich tausend ererbte Hemmungen entgegenstellen, die ihn hindern, sich selbst auf die Spur zu kommen; der sich suchen wird sein Leben lang; einer, dem jeder Irrtum zur Sünde wird, … ein Beladener.«

Die Geschwister horchten. Das Gesumme des überfüllten Saales umgab sie, ohne daß sie es hörten. Sie sahen auch nicht mehr die Einzelnen; nur noch die Fülle der bewegten Figuren, die sich im bläulichen Zigarrendampf und im gelben Kunstlicht bewegten, schob sich vor ihren Blicken, wie im Spiegel hin. Die gelben Gardinen des einen Fensters waren noch nicht vorgezogen. Draußen schimmerte die tiefe Nacht, blau, zwischen den fahlen Lichtkreisen der Gaslaternen, dicht und blendend fiel der Schnee, legte sich an die großen Spiegelscheiben, bildete da kristallene Sterne und schimmernde Ballen.

Plötzlich sahen sie Werner, in Begleitung zweier Fremder, über die Straße kommen. Werner, wie immer, in der Lodenpelerine, den weiten Schlapphut tief in die Stirn gedrückt. Gleich darauf waren sie eingetreten und bei ihnen.

»Herr von Bredow, – Baronin Kellenberg«, sagte Werner, nachdem er die Geschwister und Doktor Emmerich vorgestellt hatte.

Die hohe Gestalt der Dame war ihnen schon draußen aufgefallen. Nun, da sie ihren Pelzmantel ablegte und in ihrem breiten Federnhut und im tiefschwarzen, fließenden Sammetkleid vor dem Tisch stand, erschrak Olga beinahe über ihre Schönheit. Auf der hohen, üppigen, von keinem Mieder verschnürten Gestalt saß ein Kopf, mit vollendet ebenmäßigen, ruhigen, großgezeichneten Zügen. »Der Edeltyp der Kaukasierin«, so hatte Werner sie geschildert, und Olga hatte sich dabei nichts denken können. Nun, als sie dieses Gesicht sah, wußte sie, was er meinte. Das war das Antlitz der Europäerin, wie sie ursprünglich gewesen, bevor sie durch gefährliche Kreuzungen das ruhige, große Ebenmaß der Züge verlor und soubrettenhaft verniedlicht, wo nicht verhäßlicht wurde. Kühle, blaue Augen beherrschten das Gesicht, dessen Teint etwas blaß war, ohne daß die zarte Frische des Fleisches davon beeinträchtigt wurde. Die Augenbrauen waren hellbraun, wie das Haar, und lagen als vollendet geschwungene Bogen über den Augen, ja sie schienen etwas hochgezogen, was dem Gesicht den Ausdruck des Staunens, fast der Einfalt, gab, – eine Einfalt, an welche Olga nicht glaubte, und deren Schein ihr nur durch diese Bogen der Brauen erzeugt schien. In diesen Augen aber war noch etwas anderes: ein unaufhörliches Irisieren, das zu der sonstigen Ruhe des Antlitzes nicht paßte und wie künstlich ins Auge gebannt wirkte.

Stanislaus war beim Anblick der Baronin das Wort von der ochsenäugigen Hera in Erinnerung gekommen, – ganz in jenem ehrfürchtigen, mythologischen Sinn, der das große Auge der Göttin durch den Vergleich nicht erniedrigen, nur charakterisieren wollte. Er dachte an die Antiken, die er in Rom gesehen, an Kameen, in die die mächtigen Züge der Hera eingeschnitten waren; aber als er das Profil der Baronin sah, kamen ihm die geheimnisvollen, geradlinigen Züge in den Sinn, die man an uralten, ägyptischen Torsen fand, diese Profile, die tausendjährig und ewig jung, – unbeweglich und doch faszinierend erschienen.

Herr von Bredow war so groß wie die Baronin. Sein Kopf sah eckig und fest aus. Die zierlichen Ohren, deren Knorpelgewinde besonders fein und verschlungen war, saßen tief, dicht über dem Winkel der Kiefer; die Augen, von klarem Grau, lagen unter einer Spur hellblonder Brauen. Der Blick war durchdringend. Die kurzverschnittene Schnurrbartbürste sträubte sich steif und borstig, das gewaltige Gebiß war etwas vorgeschoben und ungleichmäßig. Als er den Hut abnahm, sah man einen fast kahlen Schädel von ungeheueren Dimensionen. Steil wie ein Dachgiebel, stieg die Stirn auf; die tief sitzenden Ohren ließen sie, seitlich besehen, von mächtiger Weite und Breite erscheinen, – von vorn betrachtet schwang sie sich, in überraschend reiner Linie, wie ein romanischer Bogen. Ohne Hut sah er ganz verändert aus. Olga dachte: wie eine Taschenuhr, wenn der goldumränderte Glasdeckel aufspringt und das Zifferblatt in seiner Kahlheit und Weite sich präsentiert.

Die Baronin sprach wenig, aber mit großer Verbindlichkeit. Sie begleitete ihre Worte mit einem anmutvollen Lächeln und dem Irisieren ihrer Augen. Werner Hoffmann, Herr von Bredow und Dr. Emmerich bestimmten die Konversation, in die Stanislaus und Olga ab und zu eingriffen.

Herr von Bredow, der in diplomatischen Diensten war, sollte in den nächsten Tagen als Gesandtschaftssekretär nach Genua abreisen.

»Habe mir eben Reiselektüre besorgt«, sagte er und zog ein Heft aus der Tasche.

Voll Interesse streckte Werner die Hand darnach aus. Es war eine spanische Grammatik.

»Gibt es eine bessere Gelegenheit, sich Verben einzupauken, als während einer Bahnfahrt?«

Mit bewunderndem Blick gab ihm Werner das Heft zurück. Herr von Bredow ließ sich gleich darauf vom Kellner das Kursbuch geben und sah die Züge nach. Stanislaus bot ihm einen Bleistift und riß ein Blatt aus seinem Notizbuch.

»Danke, ich notiere mir nichts«, meinte Herr von Bredow.

Stanislaus fragte, ob dies aus prinzipiellen Gründen unterbliebe.

»Allerdings«, erwiderte Herr von Bredow. »Die Sinne müssen wach und scharf bleiben, – man darf sie nicht einschläfern, darum auch nicht das Gedächtnis durch Notizen erleichtern. Ich weiß meine Züge«, fügte er lächelnd hinzu … »Übrigens habe ich keinerlei Grundsätze über das Positive, – über das, was zu tun ist; ich übe mich nur, – soweit ich kann, – im Unterlassen des Überflüssigen.«

»Wenn ich nicht irre, – so haben wir es hier mit einer vorsätzlichen Selbstverordnung zu tun?« meinte Dr. Emmerich forschend.

»Sehr richtig«, gab Herr von Bredow zurück. »Wenn man ein Mensch ist, der seiner Natur nach am liebsten Tat auf Tat setzen möchte, – vielleicht Untat auf Untat« – ein heiseres Lachen klang auf, – »so muß man sein bißchen Moral dahin kommandieren, – das Seinlassen zu lernen … Kontra dem Impuls – das ist wohl die einzige Erziehung von Menschen mit überschüssigem Aktivitätstrieb.«

»In welcher Schule, wenn ich so fragen darf«, forschte Dr. Emmerich weiter, – »haben Sie dies gelernt?«

»Dieses Axiom ist durch eigene Erfahrung erworben. Die Lehren asiatischer Lebensweisheit, denen ich später begegnet bin, haben mich dann in dieser Meinung bestärkt. Dem Bushido der Japaner, den Schriften des neueren Buddhismus danke ich so manches; freilich bin ich nur ein zerebraler Jünger dieser Schule, – denn aus seiner eigenen Haut kann man leider doch nicht heraus. – – Alle diese Lehren der Lebenskunst,« fuhr er fort, da niemand sprach, »wie sie die moderne, asiatische Philosophie lehrt, laufen darauf hinaus: besser zu leben; nicht etwa edler, nein, – besser. Das alles ist klarste Weisheit der Selbsterhaltung.«

»Warum sollte ein Mensch, der immer kontra seinem eigentlichen Wollen handelt, so viel besser daran sein, als andere«, meinte Werner.

Herr von Bredow sah ihn mit seinem durchdringenden Zentralblick an. »Weil es einem Menschen von direktem Wollen, der die Verhältnisse aller Dinge schändlich mißachtet und immer mit dem Kopf durch die Wand rennt, – schlimm ergeht. Dieser aufs Positive gerichtete Wille wird gestraft, und seine Strafe besteht zumeist darin,« fügte er leise, fast geheimnisvoll hinzu, »daß alle seine Wünsche in Erfüllung gehen, – daß er wirklich alles durchsetzt … Wünsche sind wie Sklaven, die sich abarbeiten, – bis alles vollbracht ist. Etwas Schlimmeres aber kann einem nicht passieren.«

Herr von Bredow stützte seinen mächtigen Kopf in die Hand und sah mit seinen klaren, grauen Augen vor sich hin. »Dieser gierige, europäisch-amerikanische Willenstrieb ist der Grund, warum uns die Orientalen gering schätzen; ihre durchaus nüchterne Moral verlangt vor allem: innere Abrüstung. Wir – sind dazu zu aggressiv, zu diesseitig, zu selbstgefällig und, vor allem, zu hungrig. Darum erscheinen wir den Völkern des Ostens zerrissen, verschwommen – und immer getäuscht.«

Werner horchte hingegeben. »Ich wußte nicht, daß die buddhistische Lehre im Grunde auf Vernunftsschlüsse hinzielt«, sagte er.

»Die vollkommene Reinigung von sentimentalen Motiven hat die modernisierte Schule des Buddhismus erbracht. Es ist ein nüchterner Kodex edler Lebensführung, den sie umschließt. Milde, Verstand und Wissen, logische Ergebung sind ihre Ziele. Untätigkeit bringt sie nur im Sinne einer Loslösung vom Gemenge weltlichen Getümmels mit sich, – dafür rastlose innere Mission an sich selbst. Das ist ihr Sinn. Und ihr letzter Schluß: das Seelenheil – erreichbar hienieden, – durch Verstand und Maß. Keine geheimnisvollen Riten, keine mystische, sondern eine vernünftige Ergebungstheorie, keine Gottgläubigkeit und auch keine Spekulation auf Nirwana mehr. Eine hochherzige, von Aberglauben gereinigte, vorwiegend intellektuelle Lehre.«

»Geben Sie mir mehr, – noch mehr davon«, stieß Hoffmann hervor, und sein Auge hing, wie der Blick eines Verdurstenden an der labenden Frucht, am Mund der Erzählers.

Mit ernster Freundlichkeit erwiderte Herr von Bredow: »Sie haben mich darnach schon so oft gefragt, mein Freund, und ich konnte Ihnen immer nur Stückwerk geben. Aber es existiert jetzt eine von der buddhistischen Gesellschaft Großbritanniens und Irlands ins Leben gerufene Aktion, die die Verbreitung des modernen Buddhismus bezweckt. Einzelne von ihr entsandte Propagandisten sollen auch schon auf dem Kontinent sein. Ich werde mich erkundigen, wo sie zu finden sind und es Sie wissen lassen. Sie können dann dort direkten Anschluß suchen.«

Hoffmann versank in tiefes Sinnen …

Olga wandte sich an die Baronin. »Ich habe Ihre Verse im Manuskript lesen dürfen. Ich glaube, Sie sind stark in der Anschauung und ruhig und klar im Wort, – trotz der leidenschaftlichen Gefühle, die Sie ausdrücken.«

Die Baronin neigte dankend den Kopf. Die großen Pupillen, mit der flimmernden Iris, begegneten einen Augenblick den dunklen und doch so klar durchleuchteten Augen des Mädchens.

Herr von Bredow sprach mit Stanislaus über das Problem der Stiefvaterfamilie, das ihn beschäftigte. Er riet ihm eine Reise durch Deutschland und empfahl genaue, statistische Untersuchungen.

Olga sah, wie Stiller wieder eintrat. Er nickte ihr zu, legte seinen Sommerüberzieher und das steife, schäbige Hütchen ab und nahm in einer entfernten Ecke Platz, wo er einen Berg von Zeitungen vor sich auftürmte.

Als die Baronin und Herr von Bredow aufbrachen, lud die Baronin die Geschwister, Dr. Emmerich und Werner Hoffmann ein, sie zu besuchen. »Sie sind uns ja kein Fremder mehr«, sagte sie zu Werner.

Werners Blicke umglitten scheu die Hoheit ihrer Gestalt. Er neigte den Kopf, wie in Ergebung, als leiste er, einer höheren Macht gegenüber, keinen Widerstand mehr … Dann ging er an den Kleiderständer und holte den Pelzmantel der Baronin.

Olgas Blick folgte ihm. Plötzlich überkam sie ein Gefühl, wie einen Menschen, den, im Meer, eine hohe Welle erfaßt, die er herankommen sieht, bis sie ihm den Atem und die Besinnung nimmt, während sie ihn brausend überflutet: sie glaubte eine Sekunde lang gesehen zu haben, als streiche Werners Hand, – heimlich und zitternd, – über das schimmernde, schwarze Sealfell des Pelzes, den er dann langsam vom Haken hob …

Als sie gegangen waren, sprach man von der Ehe der Baronin.

»Sie war die Tochter einer verarmten Offiziersfamilie«, berichtete Werner, »und ernährte sich durch Bureauarbeit. Die Entbehrung zwang sie auch, im Kabarett aufzutreten, wo sie ihre Gedichte vorlas. Hier sah sie Baron von Kellenberg. – Sie leben nicht gut zusammen«, fügte er kurz hinzu.

»Woraus schließen Sie das«, fragte Stanislaus.

»Sie sagte mir einmal,« entgegnete Werner nachdenklich, »sie wäre oft böse und gereizt gegen ihren Mann, und darum« – es kam fast drohend über seine Lippen – »möchte sie ihn lieber verlassen.«

»Weil sie böse gegen ihn ist, möchte sie ihn verlassen?« fragte Stanislaus.

»Leuchtet Ihnen das nicht ein,« antwortete Werner, ungewöhnlich schroff, »Menschen, die unser Wesen reizen, passen nicht für uns.«

Niemand hatte etwas zu sagen. Nach einer beklommenen Pause fragte Werner nach Olgas Zeitung; ob denn gute Beiträge zu beschaffen seien. – Sie nannte einige Namen.

»Zuviel vom Frauenklub«, meinte er stirnrunzelnd.

»Welchen Frauenklub meinen Sie?«

»En bloc gesprochen. – – Sie müssen vor allem trachten, – moralische Probleme zu erörtern; aber freilich, hier versagen die Frauen.«

Ein kalter Glanz kam in ihre Augen. Der Kopf, der trübe und schwer gesenkt gewesen, hob sich.

»Dann müssen Sie noch weiter gehen«, sagte sie, mit bebender Stimme, – »und behaupten, daß Frauen auch niemals im Sinn einer tieferen Moral zu verfügen wissen.«

»Wie – persönlich«! Er hob wie abwehrend die Hand.

»Um Phrasen so allgemeiner Art ins rechte Licht zu setzen, ist das notwendig.« Sie rang sich die Worte ab.

»Falsch – falsch«, sagte er und machte wieder die abwehrende Geste.

Ein Schauer überlief sie. Von der fröstelnden Haut drang diese Kälte in ihr Innerstes. »Wie spät ist's?«, sagte sie müd.

Es war über Mitternacht.

Drüben sah sie Stiller aufstehen und sich ankleiden. Da er zögernd zu ihr hinblickte, verließ sie ihren Platz und ging zu ihm hinüber.

»Auf Wiederschaun, Freil'n! Ich geh jetzt ein paar Stunden schlafen.«

»Für mich wird's auch Zeit«, sagte sie. »Aber warum nur ein paar Stunden? Sind Sie ein Vormittagsarbeiter? Da dürften Sie nicht so spät im Café sitzen.«

»Bewahre,« sagte er, »ich schlaf wie a Ratz', wann ich kann. Aber morgen früh,« – er blickte hinaus in das Schneegestöber, – »morgen früh heißt's, am Platz sein.« Und mit gedämpfter Stimme fügte er, da er ihren fragenden Blick sah, hinzu: »Jawohl, so is es. Da tritt man im Morgengrauen beim Magistrat von Charlottenburg an und laßt sich Schaufel und Besen geben.«

Sie starrte ihn an …

»Ja, ja,« sagte er, hielt ihren Blick standhaft aus und nickte, – »das ist der gute, liebe Schnee, – der gibt Brot« … Und er drückte ihr die Hand und ging dem Ausgang zu. An der Tür wandte er sich noch einmal um, als hätte er etwas vergessen und kam zurück. Sie stand noch immer regungslos an seinem Tisch. »Richtig! Wann's den Koszinsky sehen, Freil'n, – sagen's ihm, ich bitt' Sie, er soll nicht bös an mich denken. Ich bitt' Sie, – sagen's ihm's.«

»Ich habe ihn lange nicht gesehen. Seine Konzerttruppe gastiert irgendwo in der Provinz.«

»Also, wann's ihn sehen, – ich bitt' Sie!« Und er drückte ihr noch einmal die Hand, schlug den Mantelkragen hoch und stapfte hinaus, in die Winternacht.

Olga ging zurück zu ihrem Tisch. Sie setzte sich nicht mehr. Sie nahm ihre schwarze Jacke von schwerem Tuch, die für den strengeren, österreichischen Winter paßte, vom Haken und legte sie mechanisch über einen Stuhl. Einen weißen Seidenschal steckte sie über den Ausschnitt ihres Kleides fest und schlüpfte dann in die Jacke, die der Kellner bereit hielt. Man brach auf.

Stanislaus, der sich an dem letzten Gespräch zwischen Werner und Olga nicht mehr beteiligt hatte, verabschiedete sich hastig. Doktor Emmerich und Werner boten ihr ihre Begleitung an, sie aber dankte und meinte, sie ginge gut und gern allein das kleine Stück Weges zur Hochbahn, die sie dann zum Vorortbahnhof bringe.

Sie eilte davon … Sie versuchte, ihren schweren Atem niederzuhalten … Licht, silberig, friedlich fielen die Flocken, legten sich auf ihre Kleider, auf ihr Haar, auf die Brauen und Wimpern ihrer Augen, und sie fühlte, wie sie da zerflossen und kühl ihre brennenden Lider deckten. Und auf einmal kam es heiß und salzig aus der Tiefe ihres verwundeten Herzens und schoß ihr aus den Augen, – strömte unaufhaltsam. – – Schwer hoben sich die schneebedeckten Füße und setzten sich, in einförmigem Marsche, voreinander. Sie ging am Hochbahnhof vorüber, weiter und weiter, planlos durch die nächtlichen, einsamen Straßen. Und laut aufstöhnend, barg sie manchmal ihr heiß überflutetes Gesicht in dem Astrachan ihres alten, kleinen Kindermuffes …


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