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Zehntes Kapitel.
Prüfungen

 

»Sinke nicht – und wenn der ganze Orkus auf dich drückte.«

Kleist.

 

Olga hatte sich beeilt, Eva die gute Mitteilung zu machen. Sie schrieb ihr von der Stellung, die sich ganz ohne Mühe für sie gefunden hatte. Eva brach sogleich ihren Aufenthalt in Genf ab und eilte, mit kurzem Aufenthalt in Stuttgart, ihrer Vaterstadt, nach Berlin. In Stuttgart brachte sie bei nahen Verwandten vorläufig ihre kleine Tochter unter, die sie holen wollte, wenn sie in Berlin erst seßhaft war.

Sie war dieselbe. Die Grazie ihres Wesens strahlte unverändert aus jeder ihrer Gesten, – die heitere Freiheit ihres Gemütes aus all ihren Worten. Von ihrer Ehe und deren jähem Abschluß sprach sie mit der überzeugten Beruhigung eines Menschen, der eine lösende Katastrophe erwartet hat, ohne sie zu beschleunigen, und der erleichtert aufatmet, als sie endlich eintrifft.

»Wissen Sie noch, wie wir davon sprachen, daß man bei solchen entscheidenden Lösungen etwas – wie eine unzweideutige Erlaubnis abwarten müsse, bevor man sie unternähme?« fragte sie und wandte ihr ruhig heiteres Antlitz der Freundin zu. »Zu groß wären sonst die Selbstvorwürfe. Nur, was man tun muß – darf man tun … Da haben Sie wieder meine große Weisheit.« Und sie erhob sich, und die schlanken zierlichen Glieder schienen sich zu strecken, – wie erlöst.

Es war der Tag, an dem die erste Sitzung der redaktionellen Kommission stattfand. Man sollte im reservierten Klubzimmer eines Cafés zusammenkommen. Olga ging nicht mit Eva zusammen, – denn sie hatte eine Karte erhalten, auf welcher Dr. Wallentin sie bat, eine Stunde vor Beginn der Sitzung ihn in jenem Café zu treffen, nicht im reservierten Klublokal, sondern vorn, im allgemeinen Saal des Cafés. Sie ging also früher fort, und Eva, die vorläufig bei ihr wohnte, sollte zur Stunde der Sitzung nachkommen und auf diese Art gleich in ihr neues Amt eingeführt werden.

Diese Karte war schon am Morgen gekommen und hatte ein brausendes Frohgefühl in die Seele des Mädchens ergossen. Ihr war, als ob ihr Blut mit wunderbarer Leichtigkeit durch ihre Adern perlte … Länger als sonst dauerte es, bevor sie sich nachmittags zum Ausgehen fertig machte. Sie hatte sich für die Zeit der Trauer zwei schwarze Kleider machen lassen, und nun zog sie das schönere bedächtig an. Die weiche Seide, von mattem, glanzlosen Schwarz schmiegte sich, in fließenden Falten, die schleppend zur Erde fielen, an ihren Leib. Aus dem viereckigen Ausschnitt hob sich der schlanke, sehnige, edel geschwungene Hals, vom leuchtenden Weiß der Rothaarigen. Das Gesicht war in letzter Zeit voller geworden, die scharf geschwungene Nase war nun entsprechend umrahmt, und der Kopf schien, gerade durch sie, von unverkennbarer Bedeutung. Die schwarzen Augen glänzten, als wäre frischer Tau auf sie gefallen. Das Haar trug sie schon längere Zeit nicht mehr schlicht geknotet, sondern in breiten Flechten, unter denen hervor sich schimmernde Wellen um das Gesicht drängten. Wenn ihr dieses Spiegelbild jetzt zulachte, so konnte es an jenes andere ihrer frühen Jugend nur gemahnen, wie an eine dürftige Skizze ihres eigenen Wesens, die nun endlich Bildnis geworden, reif in Form und Farbe, durchleuchtet vom Glanze frauenhafter Blüte.

Sie kam noch vor der festgesetzten Zeit. Aber das schadete nichts, sie konnte ja warten. Sie setzte sich in eine Ecke des kleinen Saales, nahm Zeitungen zur Hand und behielt dabei die Tür fest im Auge. Warum, warum hatte er sie hierher gebeten? Sie allein, bevor man sich mit den anderen traf? Durch jene Tür würde er nun gleich eintreten. Ihre Nerven spannten sich in Erwartung, ihre geschärften Blicke würden seinen Schatten erkannt haben, wenn er an den hellen Gardinen, die die Spiegelscheiben verhüllten, vorübergeeilt wäre. Das Rondell drehte sich fast unaufhörlich, Leute traten ein, – Leute … Nie war es ihr so klar geworden, wie übervoll die Welt von häßlichen und dürftigen Menschen war, als heute, wo sie in dem Dreieck des Rondells die eine Gestalt sehen sollte, – die keiner zu vergleichen war. Da kam ein Herr, der hatte freundliche und kluge Augen von ähnlichem Blau, wie er, aber die Lippen des Mundes waren wulstig aufgeworfen und von den gewöhnlichsten Trieben geformt. Da kam ein anderer, – die Konturen seines vollen, grauen Haares unter dem weiten Filzhut, erinnerten, einen schattenhaften Augenblick lang, an jenen anderen Kopf, – aber wie hätte der auf solcher Gestalt wohl sitzen können? Es kamen Leute – kurze und lange, dünne und dicke, blonde, schwarze und graue, aber keiner, keiner – von seiner Art. Es schien ihr, als gehöre er einem Geschlecht an, das die Merkmale des lichten Rassenideals mit reinster Vergeistigung gepaart hatte, und nun, wie eine fremde Art, herausleuchtet aus der Menge. Und eine bedrückende Angst senkte sich plötzlich auf sie: – wie würde sie die Häßlichkeit, die Dürftigkeit dieser Welt ertragen, wenn – wenn jenes Bild – ihr wieder daraus entschwand? Ein namenloses Bangen erfaßte sie und machte sie schwindeln. Jenes Bild aber – sie hatte es gesehen! War denn das nicht schon ein Wunderbares, – war denn das nicht eine seltene Erfüllung? Mußte man nicht am Leben irre werden, wenn man dem Bildnis seiner Sehnsucht in eben diesem Leben niemals begegnete? Wenn es aber geschah, – wenn diese wunderbare Bestätigung einem wurde, – mußte dann nicht der Glaube kommen, der große Glaube an die Idee der Möglichkeit höchster Vervollkommnung? Und hatte man erst diesen Glauben – war man denn da nicht frei geworden, – losgelöst vom zufälligen Spiele des Schicksals, das einen in diesem einen, kleinen Leben herumwirbeln mochte auf krause und scheinbar sinnlose Art? Nur der bestätigte Glaube an das Idol der eigenen transzendenten Sehnsucht, – nur der war der sichere Wegweiser im Labyrinth.

Sie hatte die Blicke von der Tür gewendet und sie auf eine illustrierte Zeitung gesenkt, die sie in Händen hielt. Plötzlich fiel ein Schatten auf das Blatt, – wie ein glückliches Erschrecken ging es durch ihr Wesen, wie ein Riß vom Herzen in die Glieder … Manfred stand an ihrem Tisch. Sein Gesicht lachte ihr zu, und während er seinen Mantel ablegte und dem wartenden Kellner übergab, entschuldigte er sich für die kleine Verspätung.

Er hatte sie hierher gerufen, um mit ihr einen Plan zu besprechen, der schon geklärt sein sollte, wenn die Sitzung zusammentraf: er wünschte möglichst bald in dem neuen Blatt einen Artikel von ihr zu bringen, betitelt »Die Freiheit der Frau«.

Sie horchte und wurde nachdenklich. Dieses Thema, – – war sie wohl diesem Thema gewachsen? Sie bat ihn, ihr das Thema deutlicher zu machen.

»Die Freiheit, die ich meine – – Sie können sich denken, daß es nicht etwa die Freiheit ist, mit der man auf Frauenversammlungen irgendein politisches Recht im Schweiße seines Angesichtes erkämpft … obwohl die Erkämpfung solcher Rechte auch zur Sache gehört. Aber die Freiheit, die ich meine,« er stockte, und sein vollkommen geformtes Antlitz, dem ihren so nahe, blieb ihr einen Augenblick nachdenklich zugewendet, – »die ist eine, die alle jene Kämpfe um positive, materielle Güter erst sinnvoll machen soll.« Und ernst und aufmunternd forderte er sie auf: »Umgrenzen Sie mir das Problem.«

Er neigte ihr den Kopf zu, und die Lichtströme seiner Augen nahmen ungehindert den Weg in die ihren. Er fuhr fort: »Gestalten Sie das Problem der – fast möchte ich sagen, der esoterischen Frauenbewegung wenn das Wort esoterisch nicht gerade für mich«, er seufzte – »einen unerquicklich mystagogischen und anrüchigen Klang hätte. Aber abgesehen von dieser suggestiven Färbung, die das Wort gerade für mich hat, – hat es hier Geltung. Jawohl, – umgrenzen Sie mir das Problem der esoterischen Freiheitsregung der neuen Frau!«

»Und warum – ich?«

»Sie – nur Sie. Denn wer sonst? Da wäre noch meine Mutter, aber sie kann diesen Gedanken nicht mehr das Blut der Jugend geben. Neben ihr sind nur Sie – die einzige, – – die davon etwas weiß, die einzige, die darüber etwas sagen kann.«

Sie lächelte: » Sagen kann; das vielleicht, aber schreiben, ich?« Und fast schamhaft wiederholte sie: »Sagen könnte ich es vielleicht.«

Er lachte, – ein herzliches, vollkommenes, von keinem verdeckten Geheimnis verfärbtes Lachen. »Nun dann sagen Sie es, – und dann – dann können wir ja stenographieren.«

So gingen sie in die Heiterkeit ein. Aber im Ernst sagte sie dann wieder: »Ich darf das heute noch nicht versprechen, – denn ich weiß nicht«, ihre Augen bekamen plötzlich wieder jenen Schleier, der sich manchmal, wenn sie die Fährte ihrer Gedanken suchend verfolgte, über sie senkte, – »ich weiß nicht, – ob ich selbst in dieser Freiheit bin … Erst – wenn ich das deutlich fühle, – dann erst werde ich Worte finden dafür.«

Also darum hatte er sie gerufen. Auch er glaubte, daß dies der wahre Grund gewesen, warum er sie hier, eine Stunde vor der Begegnung mit den anderen, sehen wollte. War es aber auch der einzige Grund? War es nicht vielleicht auch, weil er sich freute, sie zu sehen, weil es ihn lockte, dieses Mädchen näher zu kennen? Er wußte schon viel von ihr; mit seinem erkennenden Auge, seiner inneren Erfahrung, die die Seele der Organismen ahnte, – verstand und ahnte er auch sie. Er erkannte: sie ist durch Kampf geworden, – so wie sie ist. Gekämpft hat sie auf allen Linien ihres Lebens. Und es war edle Art, die solche Kämpfe – so bestand. Wäre sie ihm doch vor Jahren begegnet! Da hätte dem Kampf seine ganze Seele gehört. Heute – heute hatte seine Seele ein anderes Ziel, heute, da die Stürme hinter ihm lagen. Seit seine Scheidung von Lucinda ausgesprochen war, seit er diese unerträglich zweideutige Atmosphäre aus seinem Leben gebannt hatte, da war es wie eine letzte Griechensehnsucht in ihm, – nach der heiteren Vollendung des harmonisch Geborenen. Dies hier, was er vor sich sah, – war vielleicht ein Größeres. Auf einen anderen, – einen jüngeren vielleicht, – und doch ihm ähnlichen – mußte jenes Mädchen wie eine lebendige und feurige Lehre wirken, eine große und seltsame Belehrung vom Werden dieser neuen, noch geheimnisvollen Weiblichkeit, die da in die Zeit hineinwuchs … Und plötzlich dachte er an seinen Bruder Florian, – den jüngsten … Er aber? … Es lag wohl an ihm. Vielleicht konnte seine Sehnsucht überhaupt nicht mehr jung und leidenschaftlich emporschlagen. So stark, so jung, wie sie es einzig mußte, sollte er sich die letzte Sehnsucht erfüllen dürfen, – seine Art zu bewahren, im Schoße eines Weibes …

Zu schnell verflog diese Stunde. Er sprach mit ihr über die große Aufgabe, die er sich und anderen gestellt hatte. Die Macht des Unsinns, der sieghaft noch immer seine Herrschaft übte, zu brechen oder doch zu schwächen. Dazu bedarf es eines Hochdrucks von Intelligenz. Und da der Grad der intellektuellen Potenz sowohl im Komplex des Individuums als in dem der Art beschlossen lag, hieß es, die Vorgänge des körperlichen Lebens ganz ebenso ergründen, wie jene des sozialen und des immateriellen Gefüges der Welt. Nun, da der Stab der Helfer gebildet war, nun schien das Werk keine Utopie mehr. –

Die Uhr war acht. Manfred grüßte zur Tür. Einer der Herren, die zur Sitzung kamen, war eingetreten. Man erhob sich und ging hinauf in das reservierte Klubzimmer. Im Verlauf einer Viertelstunde waren die Erwarteten fast vollzählig zur Stelle.

Da war ein Gelehrter, ein älterer Mann, der ein großes Werk über soziale Ökonomie geschrieben hatte, dann ein Physiologe, der für die Regeneration der Menschen durch Verbreitung einer Ernährungswissenschaft auf chemischer Grundlage kämpfte … Justus war gekommen und Stanislaus. Nachdem der Arzt und der Nationalökonom ihr Programm entwickelten, ging man zur Abteilung für Technik über. Hier war alles schon beschlossen. Ein junger Mann mit großem, kahlen Kopf und heiterem Gesicht, sehr hellblond, stellte den Antrag, eine Rubrik des Blattes zu benennen: »Register des Unsinns«. Hier sollte jeder Unsinn, der die soziale, generative, moralische und ästhetische Entwicklung der Menschheit bedrohte, gleich in seinen ersten Äußerungen eingefangen und gespießt werden. Die barbarischen Atavismen der Zeit, – hier wollte man sie ins Netz kriegen und, entsprechend präpariert, zur Schau stellen.

Stanislaus übernahm die Redaktion des Blattes und sollte später als Herausgeber zeichnen. Es war beinahe ein zu großes Amt, das auf ihn gelegt wurde, wenn er daneben auch noch weiter produktiv bleiben wollte. Hier wäre ein Platz für Werner gewesen, dachte er, für Werner, der ein scharfer Leser war. Aber der saß nun im gelben Kleid und grübelte über den Rätseln des Daseins. – Besondere Beachtung sollte, neben allen anderen Künsten, der Schauspielkunst geschenkt werden. Und neben deren Kritik sollten von Zeit zu Zeit Aufsätze über das Wesen dieser Kunst von einem der ihrigen veröffentlicht werden. Auch er war da: ein so vollkommener Schauspieler, daß er nichts mehr Theatralisches in seinem Wesen hatte; dieser schlanke, kaum über Mittelgröße ragende Körper, der wie ein dämonisches Instrument des Geistes schien, – wie der wahre Mittler zwischen Geist und Erscheinung, – hatte die freie Gebärde des vollkommen vergeistigten Instinktes. Dieser Mann, den die Gegenwart als den größten seiner Zunft pries, und der die beherrschte Haltung des immer Gefeierten hatte, war in enger Fühlung mit Manfreds Lebensplan. Manfred erklärte, warum die Schauspielkunst hier besonders beobachtet werden sollte: »Diese Kunst veranschaulicht den äußeren Adel der menschlichen Erscheinung, – die höchste Möglichkeit der menschlichen Gestalt – und die reine Idee aller Affekte.« Vergleichende Sprachforschung sollte gepflegt werden, und, vor allem, vergleichende Völkerkunde. Hier fehlte noch Florian. Seine Rückkehr wurde erwartet. Aber nicht nur der Ethnologe der Gesellschaft sollte Florian sein, – nein, er würde in diesem Blatt die Stimme der Zukunft, die Stimme der Forderungen, die Stimme kosmopolitischer Wünsche laut werden lassen. Denn dieses war die wahrhafte Stimme jenes jüngsten Bruders, Florian. An dieser Stelle sollte sie – neben seinen Erfahrungen – hörbar werden.

Olga erinnerte sich, was ihr die Mutter der Wallentins von Florian erzählt hatte: Er hatte nicht aus eigenem Antrieb daran gedacht, Anthropologe zu werden. Mit revolutionärem Ansturm war er nach vollendeten Studien, ein Jugendlicher, zu des Bruders reifem Werk gestürmt. Der aber hatte ihm geboten: erst das Auge zu schärfen, für die Dinge, die sind, bevor er an die Propaganda der Dinge, die werden sollten, denken dürfe. »Das Auge schulen, – es ruhen, ruhen lassen – die Erscheinung ergründen, die da ist«. Und darum hatte er ihn dahin gesandt, wo es zu schauen gab, wo alles, was er sah, mit ursprünglichem Blicke gefaßt und gewertet werden mußte.

Zum Schlusse wies Manfred auch Olga ihren Platz an. Frau Wallentin und sie sollten über jene Fragen berichten, die große Schichten der Frauen bewegend hoben. Besonders sollte diese Frauenfrage unter dem Gesichtspunkt der Weibesfrage und ihres Zentralsten: des Mutterproblems, erörtert werden.

Für die Strebungen der Frauenbewegung trat Manfred nur bedingungsweise ein; er wünschte die wirtschaftliche Selbständigkeit der Frau – aber – ergänzt durch Frauenschonung und Frauenschutz, zur Zeit der Belastung durch die Vorgänge der Fortpflanzung. Ja, er verlangte die gesellschaftliche Sicherung der Frau als Pflegerin und Erzieherin der Generation. Natürlich sollte die Frau ihr Leben nicht etwa nur auf ihren Gattungszweck einstellen, – da das höchste Gut der organischen Welt: das Gehirn, auch bei ihr entwicklungsfähig und vielfach hochentwickelt war. Nur vor der Schädigung durch grobe Brotfrohn wollte er sie behütet wissen. Die Frauenarbeit in ihrer heutigen Form, die besonders die Kräfte der Proletarierfrau zerrieb, betrachtete er wie ein gefährliches Medikament, das man einem kranken Gesellschaftskörper zuführt, weil man die eigentliche Methode seiner Heilung noch nicht weiß. Diese Methode aber würde dahin streben, – daß das echteste Recht des Weibes, das Recht auf Mutterschaft, jedem dazu tauglichen Weibe gesichert würde. Dann erst wird die Frau nur zu jenen Berufen streben, die ihre Lebenskraft und ihre Lebensfreude erhöhen, anstatt sie zu zermürben.

Olga erwiderte: »Das war von jeher, wenn auch unbewußt, die geheimste Strömung der Bewegung. Um bewußt zu werden, mußte sich die Bewegung im Kreise drehen: sie ging aus – von der Stellung der Frau als Weib, gelangte zu ihrer Situation als Erwerbende und geistig und wirtschaftlich Selbständige und kehrte zurück – zum Mutterproblem.«

Nun war noch über die Technik der Redaktion zu sprechen. Hier hätte man die neue Helferin gebraucht. Wo war sie? Olga machte sich Vorwürfe, in der frohen Hast, mit der sie vom Hause weggeeilt war, Eva nicht deutlich genug über den Weg [vom] Vorort hierher unterrichtet zu haben. Nun hatte sie sich verspätet, weil sie den Weg nicht kannte, und würde wohl kaum noch kommen. Ihr Blick glitt über die Runde von Männern, unter denen sie die einzige Frau war. Sie saß Manfred gegenüber. Plötzlich, zum erstenmal, überkam sie der Gedanke: Warum – warum ist er allein? Seine Verbindung mit Lucinda war längst ein leerer Schein gewesen. Warum fehlte diesem Mann bis heute die Gefährtin? Auf seinen weiten Reisen in allen Zonen der Kultur, hätte er sie da nicht finden müssen? Ihre Gedanken waren plötzlich versponnen in diese Frage. Die eigentliche Sitzung war beendet, aber man blieb noch zusammen. Sie grübelte … Warum war er – allein? Aber freilich, wo war die Gefährtin für ihn? Diesen Mann konnte zum zweitenmal kein Mißgriff beirren. Wo war die Ergänzung für ihn, – wo eine Weiblichkeit, rhythmisch in Blut und Geist, wie sie allein neben ihm zu denken war? …

Es klopfte. Ein bescheidenes, aber doch ein deutliches Klopfen war es. Manfred ging zur Tür und öffnete.

Eva Nestor stand vor ihm, und Olga sah sie – sah sie, mit großen, erstaunten, mit wissenden Augen, – als hätte sie sie das erstemal gesehen, – sah sie neben jenem Manne, der für sie der vollkommenste des Geschlechtes war …

*

Der Sommer war vergangen, für Olga – überwunden. Stanislaus und Lore hatten kürzlich geheiratet, und Stanislaus verwurzelte sich tief in sein Gatten- und Vaterglück. Jetzt rüsteten auch noch zwei andere zu dauernder Bindung. Koszinsky sollte für seine Firma nach Buenos Aires gehen, um eine deutsche Filiale des Geschäftes da zu leiten. Er nahm Erika mit. Und da sie drüben keinen Anstoß erregen wollten, so gingen sie vorher, brav, zum Standesamt. Olga, Stanislaus und seine Frau wohnten der Zeremonie bei. Nachher ging man zu fünft in ein kleines Restaurant, zum gemeinschaftlichen Mittagessen.

Erika strahlte vor Glück. In ihrem neuen, grauen Kleid sah sie wirklich wie eine Jungvermählte aus. Es war, als ob alles, was vordem ihr Leben bedrängt hatte, in dem schwarzen Wasser des Kanals geblieben wäre. Aus Koszinskys Gesicht war der unstäte Zug gewichen. Seine Miene war ernst, zufrieden, und um seinen Mund, verborgen in dem blonden Spitzbart, lagerte ein Zug von heimlicher Heiterkeit, den er früher niemals gehabt.

Erika war entzückt von der neuen überseeischen Aussicht.

»Nach Buenos Aires – denken Sie nur, in dies herrliche Klima, diese fremden, interessanten Verhältnisse!« Sie schwärmte begeistert.

»Erinnern Sie sich, Koszinsky,« – sagte Olga – »wie es einstmals ein – Traum von Ihnen war, sich irgendwo auf einer grünen Insel im blauen Meer niederzulassen – irgendwo fern von Europa – und dort als Farmer zu leben?«

Woher nahm sie den Mut, ihn an jene Stunde zu mahnen?! Die Gegenwart war es, die ihr diesen Mut gegeben. Ungescheut durfte sie jetzt, heute, auch dieses Bild heraufbeschwören. War denn das nicht wirklich sein Schicksal gewesen? War er nicht erst hinausgeschleudert worden ins Uferlose und hatte sich dann doch auf einem Stückchen grünenden Landes gerettet? …

Koszinsky nickte, mit rückschauendem Erinnern …

»Das schönste ist doch – daß Kasimir« – Erika behandelte den Namen als ihr unzweifelhaftes Eigentum – »in ganz selbständiger Stellung da hinüber kommt. Er soll ja nicht nur die Filiale leiten, sondern den Austausch der Produkte vermitteln – sein Chef will seiner Fabrik ein Ex- und Importgeschäft anschließen und läßt ihm freie Hand. Und denken Sie,« fuhr sie eifrig fort, »wie man dabei den deutschen Interessen dient!«

Koszinsky dämpfte ihre kühnen Hoffnungen. »Wenn es mir nun nicht gelingt, Erika?« Und ernsthaft setzte er hinzu: »Dann bleibt mir nichts anderes übrig, als zu den Siouxindianern überzugehen, um mich im blutigen Krieg gegen die Bleichgesichter auszuzeichnen. Es ist nicht unmöglich, daß ich es vom gewöhnlichen Krieger dann bis zum Häuptling bringe und etwa als ›große Wolke‹ viel von mir reden mache. Auf diese Art wirst du dann doch noch die Frau eines angesehenen Mannes.«

»Sehen Sie, so spottet er immer. Aber ich mache mir nichts daraus, und es ist doch gut, daß er auf dem – Wege ist. Und sicher ist es auch kein Unsinn, daß er sich als Kaufmann da drüben auch noch spezifisch deutsche Verdienste erwerben kann,« sie blieb dabei, – »die auf solchen Plätzen auch anerkannt werden« … Mit dieser immer gleichen Beharrlichkeit ihres Wesens, mit der sie jetzt diese neueste Idee verfolgte, hatte sie den Mann auf die Linie einer bürgerlichen Existenz gebracht.

»Sie sieht sich im Geist schon als Frau Generalkonsul«, erklärte Koszinsky. – – –

So schloß sich überall zusammen, was sich im Leben ergänzen, vielleicht vollenden konnte. Nur sie, sie allein stand außerhalb all dieser Ringe. So hatte auch das Schicksal – wenn man jene geheimnisvolle Schiebung einer höchsten Logik, die die Dinge in sich tragen, und die in ihren Geschicken fortwirkt, so nennen wollte – jene bedeutsame Konfrontation herbeigeführt – zwischen Manfred und Eva. Mit erkennenden Augen, mit der sich selbst hochhaltenden Art der seltenen Persönlichkeit, so waren sie einander damals gegenübergestanden. Welch Rätselvolles lag doch in solcher Begegnung. Zwei kreuzen ihre Wege zur bestimmten Sekunde, und diese wird ihr Schicksal. Sie kann aber auch das Schicksal eines Dritten werden, – des Ausgeschlossenen … Olga wußte, daß, da sie diesem Mann begegnet war, – kein Mensch von anderer Art als von seiner, jemals die Einsamkeit von ihr nehmen konnte. – Und da dieser Eine die Genossin gefunden, die nicht sie war, so betrachtete sie ihr Urteil als gesprochen. Seine schnelle Entscheidung für Eva, die Olga in der Minute ihrer ersten Begegnung erkannt hatte, – sie war den Instinkten höchsten Lebenstriebes entsprungen. Denn unter allen Frauen, wahrlich, war diese eine, die er spät gefunden, die einzige, die das angestammte Seine vollenden, erhöhen konnte. Im Sturm einer Minute hatten sie einander erkannt … diese beiden, von der Natur so wohl Erdachten.

Einmal, bald nach dieser Begegnung, da hatte Manfred ihr – Olga – sein Herz ausgeschüttet, hatte ihr bekannt, wie er Eva sah. »Ich hörte einmal eine tiefe Deutung der Gestalten der Sixtinischen Kapelle. In den Figuren unterhalb der Bilder der Schöpfungsgeschichte, – in den Dreiecken zwischen den einzelnen Tableaus – waren Sie schon in Rom? Nein, das müssen Sie nachholen, – – in jenen vermittelnden Figuren sah der Kritiker die Freudigkeit der Götter, die Weisheit der Propheten, die Tiefe der Sibyllen, und die Liebe der Mütter gestaltet. Und sie, Eva, – hat sie nicht die Freudigkeit der Göttin, die Tiefe der Sibylle und das Herz einer Frau?«

Aber sie war nicht nur freudig, tief und liebreich, sondern die hohe Vernunft, die all ihr Leben sie getragen, führte sie auch hier. Als er sich ihr mit junger Sehnsucht näherte, vergaß sie doch nicht, was ihr fast erratendes Wissen um die Dinge ihr mitgeteilt hatte, – daß dieses Mannes Erlebnis mit dem Weibe sich unterordnen müsse seinem Erleben am Werke. Und sie wußte, daß sie nur dann sein werden und sein bleiben dürfte, wenn seine Bestimmung zum Werke darunter nicht litt. –

Unter all den Halben, Geborstenen, Geschwächten, die ihm im Leben begegnet waren, faszinierte ihn diese einzige durch die hohe Vernunft, die aus ihrem Wesen strahlte. Wie waren hier selbst jene Triebe, deren Wesen Begierde ist, geedelt und hochgezogen, wie war sie doch so »berechnend« im sibyllinischen Sinn! Glücklich ergab sie sich seinem und ihrem Begehren, – sah sie doch darin ihre endliche Bestimmung. Aber über allen Leidenschaften, die ihrer starkströmigen Natur fröhlich entsprangen, stand, wachsam, eine erhabene Besonnenheit, die das Leben beschützt und mehrt. –

Von diesem Schauspiel, das sich vor Olgas Augen abspielte, drohte ihr der Fall. In tiefem Bangen sah sie sich vor ein Schicksal gestellt, das ihren Willen überwuchs, und das Dogma dieses Willens, – den Pfeiler, an den sie sich, lebendig rankend, immer gehalten, – zum Sturze brachte. Dieser Grundpfeiler ihres Willens war der Antrieb – zu wachsen, bis an die letzten Grenzen des Maßes, das die Natur ihr zugebilligt. Darum durfte sie – so hatte sie in Zeiten schwerster Not erkannt – nicht sinken durch dunkle Erlebnisse. »Sinke nicht – und wenn der ganze Orkus auf dich drückte.« Dieses Wort der Amazone Penthesilea war auch das ihre. Und – horch! – war hier nicht die wahre Prüfung der Frau, – jener Frau, die der Zukunft gehörte, – war dies nicht die wahre ›Freiheit der Frau‹ – daß sie eine Ungebrochene bleiben mußte, und eine Wachsende, so schwer und dunkel auch ihr Weibesschicksal sich über ihr zusammenballte? Ach, wie war sie dieser Freiheit doch so fern. In schmerzlichem Erleben glitten die Kräfte. Aber sie eilte ihnen nach, raffte sie zusammen; brauchte sie denn nicht ihre ganze Seelenmacht, da doch an jedem Wegende ein Schicksal von ihr besiegt sein wollte?

Sie rang mit sich, – diese beiden ihr teueren Menschen – beide lieben zu können. Aber es schien, als wäre die Stunde, wo solches Lieben freien Herzens möglich war, noch nicht gekommen. Der Ertrag ihres heldenmütigen Versuches aber war, daß sie, wenn auch nicht die Vereinigung der beiden, so doch jeden einzelnen weiter liebte, sie beide weiter sah, im Licht ihrer besonderen Art. – – – »Liebe darf niemals unfrei machen«, so hatte einst Lore, die ja auch zu jenen gehörte, die ihre Füße sicher setzen, gesagt. Sie lächelte schmerzlich, wenn sie dieses Wort überdachte. Jene höchste Weiblichkeit, die ein Dichter der Zeit auf den Mars verlegt hatte, jene Numenfrauen, – die vielleicht konnten dies Wort zur Wahrheit führen. Sie aber fühlte sich als Übergangene, – dies war ihr wiederkehrendes Los; auf totem Gleise fuhr ihr Leben dahin, und ihr war, als müsse sie dieses Todesbewußtsein erdrücken.

In dieser Zeit hatte sie eine dichterische Offenbarung. Da das gesprochene Wort und nicht die Feder ihr Instrument war, blieb diese Offenbarung als reines Erlebnis in ihr. Es war dieses: Sie erlebte neu die tiefe Idee, die sich an der Mythe von Königin Dido erhalten hat. – – –

– – – Unter die geringe Art der Phönizier, die am nordafrikanischen Strande siedelt, tritt der Held, – eine Gestalt des Lichtes, der Sohn aus edlem Stamme, – Aeneas. Die Königin – Dido, die Städtegründerin, die Selbsteigene – die Emanzipierte! – wird von der Liebe getroffen. Daß sie es bis heute nicht war, – es hatte seinen Grund darin, daß sie edler Mannheit nicht begegnete. In Didos Seele wohnt der Frohsinn, die Tapferkeit, die Tatkraft, und wie eine rote, blätterreiche, tief in ihren Kelch hinein verdunkelte Rose ist ihr Herz. Nicht umsonst heißt sie die »vollherzige Dido«. Sie reitet mit Aeneas zur Jagd, sie gibt sich ihm hin – oh, die Welt ist ein Strahlenmeer geworden für die Königin Dido. »Brennend vor Liebe durchschweift sie … die Stadt.« Und nun erlebt sie – die Königin: das schwärzeste Weibeslos. Der Held verläßt sie, – überläßt sie denen, die um sie sind – den Geringen. Über die zur Tat geborene, selbsteigene Dido kommt das Leid, das zermalmende. Das Leben bedroht sie mit der Schmach der Lächerlichkeit. Ein nomadischer König, Jarbas, strebt nach ihrer Hand. Der Geringe, den sie verschmäht, soll sich wieder in ihren Umkreis wagen dürfen, da sie dem Hohen so nahe, so nahe war? – Unter der Sonne Afrikas friert die Königin Dido, eisige Verzweiflung durchdringt sie immer tiefer.

»Wäre zum wenigsten mir ein Denkmal unserer Liebe,
Ehe du fliehest, gewährt, und spielte ein kleiner Aeneas
Mir im Palaste herum, der dir doch gliche von Antlitz,
Ach, nicht schien' ich mir ganz die Gefangene oder die Witwe!«

Aber ohne ein Pfand ihrer Liebe ihr zu lassen, ist der Held enteilt, – für immer. Nur, weil sie so friert, weil sie sich langsam zu Tode friert, kann es geschehen, daß sie den Scheiterhaufen für sich errichten läßt, Dido, die Königin, die Städtegründerin, die herrlich Selbsteigene, – die ein zu Tode frierendes Weib ward, da der Held sie verließ …

Olgas Traumleben hatte alle ihre Schicksale begleitet. Was dunkel oft in ihrer Seele noch war – der Traum erschloß es zu letzter Klarheit. So träumte sie auch jetzt: Dido stand auf dem Scheiterhaufen, den sie zu magischem Gebrauch errichten ließ. Und sie – sie selbst war die brennende Königin. Kaum faßten die Flammen ihre Kleider, so entfloh sie. Sie sah sich im Traum, flammenlohend, über einen Hügel laufen; immer näher kam sie der Klippe am Gipfel, und von da erblickte sie das Meer, das rettende Meer, in das sie sich stürzte. Nicht, daß sie ertrinken mußte, dachte sie, – nein, nur, daß die Glut gelöscht wurde, das war es, was sie wußte, als sie jenen Sprung tat, im Traume. – – –

Sie erwachte, mitten in der Nacht, allein, mit ihrer Herzensnot. Draußen spannte sich ein sternenklarer Sommernachtshimmel. Sie blickte von ihrem Bett aus in das blaue Feuer der Venus; nicht ihr, nicht ihr schien dieser Stern. – – –

Eva, die jetzt mit ihrem Töchterchen nahe dem Grunewald wohnte, besuchte sie. Wie immer, so wirkte die Heilsamkeit ihres Wesens auch heute. Sie hob ihren Mut, ihren Glauben an ein logisches Geschick, das auch ihr bestimmt sei. Sie sänftigte den Aufruhr, und als sie sie friedlicher wußte, umschlang sie sie, und wagte es, zu gestehen, was Olga doch bald erfahren mußte: daß sie von Manfreds Liebe ein Pfand trug.

*

»Sinke nicht – und wenn der ganze Orkus auf dich drückte«, – das sprach die irrende, einsame Stimme. Stirb, du begehrendes Ich, stirb und werde – ein anderes. Auf, du entbehrende Seele – auf zur heldischen Tat: zur Tat der Freude darüber, daß die Art, die du als die höchste kennst, unter dem Herzen einer Frau geborgen liegt. Auf zur Freiheit, du Ringende, zur höchsten Freiheit. Stirb und werde. – – –

Hier war eine glückliche Mutter: Eva. Aber auch eine verlassene Mutter – die vom Elend spricht, welch ein Hohn, welch eine Lüge. War nicht jede Verlassene, eine kaiserlich Besitzende, die vom Geliebten das Kind empfangen? Verlassen, – das war nur jene, die so stand – wie sie stand. Und wußte sie denn, wohin sie noch mußte? Auf welche fremde, öde Straßen mochte sie ihr Weg noch führen, – – ehe sie an einem Punkt, der fern in der Ewigkeit lag – den Geliebten wiedersah.

Wie? Verirrten sich ihre Träume? War die Seele so geschwächt, daß sie sich dennoch an das Märchen klammerte, an das Märchen vom ewigen Begegnen, vom ewigen Wiedersehen, bis es, im Stadium der Vollendung, Vereinigung wurde?

Sie wollte fort. Stanislaus und Lore hatten ihr zugesprochen, eine Italienreise zu machen. Auch Manfred hatte ja gesagt, daß sie dieses nachholen müßte. Ihre Korrespondenz warf ihren Lebensunterhalt ab; sie konnte wohl ihr kleines Vermögen jetzt angreifen und das Blatt, mit Lores Hilfe, eine Zeitlang auch von ferne leiten. Fluchtgedanken trieben sie nach Italien, aber es war keine Lust und keine Sehnsucht dabei. Auch fürchtete sie sich, im geheimen, vor dieser geplanten Reise. Die Worte des Antonius, die er zu Tasso spricht, kamen ihr in den Sinn: »Schmerz, Verwirrung, Trübsinn harrt in Rom auf dich …« Sollte sie fort? War es geboten, war es erlaubt? War es Feigheit, daß sie fliehen wollte, oder war es Feigheit, daß sie blieb, – weil sie nicht fort wollte, ohne – ihn – noch einmal gesehen zu haben?

Sie konnte ihn jetzt nicht sehen. Manfred war auf einer Reise nach London. Dorthin hatte er einen internationalen Kongreß einberufen. Abend- und morgenländische Gelehrte, vorwiegend Physiologen und Staatsmänner, sollten auf diesem Kongreß über jene Probleme beraten, welche eine internationale Intellektspolitik forderten, und deren Verwirklichung durch die Verschiedenheit der Rassen verhindert war; ohne die überragende biologische Position der weißen Rasse durch Mischung zu gefährden, mußte doch eine verbindende Brücke über diese verschiedenen Völker geschlagen werden.

Sollte sie fort? Trübsinn harrt in Rom auf dich … War es Feigheit, wenn sie reiste, Mut, wenn sie blieb, – oder umgekehrt? Sie war beirrt und sah den Weg nicht klar.

*

– – – Im Unwetter eilt Olga über die Straßen. Große Wassermengen bedecken die Wege. Der Regen strömt im Wolkenbruch. Die Blitze, diese flinken, funkelnden, zornigen Gesellen, stürmen im Zickzack über das Firmament. Jeder tritt, angekündigt von einem Donnerschlag, einen Augenblick lang, zackig und glühend, in Erscheinung und verschwindet wieder, als stürme er durch den Weltenraum.

Diese Regenmassen der letzten Tage hatten einen Damm unterwaschen, – einen Damm, auf dem ein Eisenbahnzug – von Vlissingen nach Berlin fuhr. Der Damm war zusammengebrochen und jener Zug entgleist …

Sie jagt über die Wege, sie watet durch das Wasser. Die tiefer gelegenen Plätze in Friedenau sind überschwemmt. Sie wird naß bis zu den Knieen hinauf, sie schürzt das Kleid, so hoch sie kann, und watet weiter, um nur den Bahnhof zu erreichen. Endlich ist sie im Zug. Am Bahnhof Grunewald angelangt, sieht sie sich vergebens nach einem Wagen um. Es ist keiner da. Im Unwetter verfolgt sie die Spuren des verwüsteten Weges durch den Wald. Und dann, dann steht sie endlich am Hause. In ihren nassen, triefenden Kleidern eilt sie hinauf. Frau Wallentin kommt ihr entgegen, – gebeugt – eine alte, alte Frau. Sie zieht sie in die Arme, und das Mädchen läßt hier ihre Tränen fließen. Dann nimmt sie die Mutter an der Hand und führt sie hin, bis an die Tür jenes Zimmers, – in dem Manfred den Tod erwartet …

Der Zug, der einige Teilnehmer des Kongresses von Vlissingen nach Berlin bringen sollte, war entgleist. Als man Manfred nach Hause brachte, war er ein verlorener Mann. Äußerlich unverwundet, hatte er innere tödliche Verletzungen davongetragen. »Hoffnungslos«, sagten die Ärzte.

Die Mutter hat leise die Tür geöffnet, aber Olga tritt nicht ein. Sie bleibt im Nebenzimmer, hinter der Portiere, die sie behutsam beiseite schiebt. Sie will sich nicht an sein Lager drängen, dort ist nicht ihr Platz. An seinem Bett sitzt Eva. Sie will nur noch einmal die geliebten Züge schauen. Und zum zweitenmal sieht sie einen Menschen sterben. Sie sieht, wie er die Augen aufschlägt und wie ein letzter, goldener Strahl daraus zu Eva gleitet. Sie sieht, wie Eva sich über ihn beugt, wie er seine Hände hebt, – wie sie auf ihrem Leibe ruhen …

So steht sie an der Tür, so blickt sie, zum letztenmal, in das Antlitz, – über das sich die Schatten lagern, die bald für immer bedecken, was sie geliebt. – – –

*

Manfreds sterbliche Reste wurden in das Krematorium von Gotha überführt und dort verbrannt. Dann wurde die Urne mit seiner Asche provisorisch beigesetzt, – verwahrt. Die endgültige Bestattung sollte von einer besonderen Manifestation der Kulturwelt begleitet sein. Noch waren die Teilnehmer des Kongresses, den Manfred einberufen, in Europa, als die Kunde von seinem plötzlichen Tode bekannt wurde. Sofort bildete sich ein Komitee, welches sich die Aufgabe stellte, die Mitglieder des Kongresses in möglichst großer Zahl zu Manfreds Begräbnis zu führen.

Und sie kamen. Sie strömten herbei – hunderte von Menschen, die an den Spitzen der geistigen Entwicklung der Welt standen. Hunderte von Trägern internationaler Kulturgedanken kamen, seine Asche zu bestatten. Es war ein Zug, wie man ihn noch nie gesehen, – ein Zug von Menschen, deren Haltung und Antlitz der Geist die entscheidende Form gegeben, deren Stirne vom Werke leuchtete. Ein Teil des großen Parkes war von einem Gitter umfriedet und bestimmt worden, die Urne zu bergen. Ohne jede religiöse Zeremonie bewegte sich der Zug vom Hause bis zu jenem Teil des Parkes.

Das Unwetter hatte ausgerast, und einer jener goldenen Oktobertage überleuchtete Himmel und Erde. Unter einer breitkronigen Rotbuche war ein überwölbter Sockel, von weißem Marmor, errichtet worden, eine Art von steinernem Schrank, in dem die Asche in einer antiken Urne, die Manfred selbst von einer Weltreise mitgebracht, und deren schwärzliche Bronze die Jahrtausende patiniert hatten, beigesetzt wurde. Es war dies in jenem Teil des Parkes, der an herrlichen Gewächsen am reichsten war. In edler Anlage schloß sich hier dichtes Baumwerk zusammen, Kiefern, Taxus, Lebensbäume, und Zypressen; Kirschlorbeer und Rhododendron rankten sich in geschützten Lagen. Neben jungen Blautannen glühten die granatroten Beeren des Ilex. Moos bedeckte die Erde und den Ansatz der Bäume, und hohe Farne schmiegten, wie tröstend, ihre zärtlichen Spitzen an das marmorne Gehäuse, das in tiefer Nische die Urne barg. Hier rankte echter Wein, von dichten Büscheln roter Kletterrosen durchglüht. Bunte Nesseln leuchteten neben den Farnen und eilten von hier den Sträuchern zu. Weiße Palmlilien hoben sich in schlanker Schwermut aus dem dichten Dunkel des Gartens, und auf kletterndem Gesträuch wiegten die Passionsblumen ihre rosa, lila und weißen Köpfe, mit ihren sechs- und achtblättrigen Blüten schimmernd, wie entflohene Sterne.

Ein großer Dichter trat vor. Sein bartloses, feierliches Antlitz, mit der gewaltigen Stirn, erinnerte an das Haupt eines jungen, geistlichen Sehers, dem in der Stille seiner Zelle Offenbarung wurde. Mit schöpferischen Worten zauberte er das Bildnis des Toten herauf. Er sprach von den erschließenden Augen, die liebreich auf den Dingen geruht. Er stellte sein festliches Wesen vor die Seele der Trauernden. In dem jähen Tode des Freundes sah er ein Symbol, wie es das Schicksal nicht sinnfälliger erdenken konnte: ein Symbol für den tollen Zufall der Vernichtung, der das Hohe auf dem Wege zur Vollendung immer wieder zerschmettert. »Der Neid der Götter schlug hier wieder einen nieder, der die Menschheit in ihre Nähe zu rücken sich vermaß. Ein Ritter, der den leuchtenden Degen schwang, ward hier niedergestreckt. Er starb in der letzten Stunde vor der wohlbereiteten Tat, nachdem er den Ertrag seines Lebens in von ihm gewählte und geeinte Hände gelegt. Von hier aus wird das verwahrte Pfund erwachsen, bis es jene Gestalt erreicht, die die Sehnsucht des Toten war, die ihm vorgeschwebt, deren Bild ihn auf langer Wanderschaft geführt … Wie eine sagenhaft ritterliche Gestalt, so wird uns, im trüben Tag irdischen Wirkens, sein Bild umschweben …« Als die letzten Worte verhallten, fluteten aus der Verborgenheit des Parkes die erhabenen Klänge des Trauermarsches, der Siegfrieds Tod begleitet. Und die Töne folgten dem Zug, als er sich langsam in Bewegung setzte und dem Hause zuging. – – –

Einsam, in der strahlenden Herbstsonne, blieb die Urne in ihrem steinernen Gehäuse, und die Buche ließ das Blut ihrer Blätter über dem weißen Marmor rauschen. Zärtlich schmiegten die Farne ihre gefiederten Spitzen an den leuchtenden, kalten Stein; der frische Herbstwind strich durch die bunten Nesseln und fuhr flüsternd weiter, bis er die Sterne der Passionsblumen wiegte und dann aufstieg, in die Kronen der Bäume, denen er raunend erzählte, was sich unten, an dem einsamen Stein, begeben …

*

Tage verstrichen, Tage, in denen die Seele sich tief und willig ihrem Weh verkettet … Da kam ein Brief von Werner.

Er erzählte von seinem Leben in der Blockhütte … Zwei Stunden täglich arbeitete er auf dem Acker- und Gartenland, das die Hütten einte, und dessen Ertrag die Ansiedler zum größten Teil nährte. Reichte die Ernte nicht aus, so half der europäische Verein, denn Bettelmönchtum lag nicht im Sinne neubuddhistischer Reform. Vor der Aufnahme hatte er ein tiefschürfendes philosophisches Verhör zu bestehen gehabt. Wie er jetzt erfuhr, hatte ein besonderes Schreiben des Herrn von Bredow seine Aufnahme begünstigt. Die ganze übrige Zeit – außer jener zweistündigen Gartenarbeit, – gehörte den Jüngern, zur Versenkung und zum Gespräche über die tiefsten Fragen. So hatte er den Sommer verbracht, und geistliche Stille hatte sich über seine Seele gebreitet. Manchmal freilich geschah es, daß es wie ein Aufschrecken, wie eine plötzliche Unruhe immer noch über ihn kam; er glaubte dann hinhorchen zu müssen, – hin, nach der Welt des Kampfes, in der die Muße nur in spärlichen Mengen gewährt ist und in der die höchsten Preise andere sind als die, die ihm jetzt beschieden sein mochten … Dann fragte er sich wohl, ob nicht seinem scheinbar so einfachen Leben, doch ein Gedanke von Künstlichkeit, ja von Gewaltsamkeit zugrunde lag, – ob nicht dieses absichtsvolle Vermeiden aller Möglichkeiten des Glückes, – dieses ängstliche Erdrücken aller Wunschkeime – – eine Gewalttat war, die dem Gang des Lebens in die Zügel fiel? … Gewiß, das Ziel war ein hohes: Ruhe des Herzens ohne die Mitwirkung anderer zu erobern; so wurde man frei …

Hier sank der Brief aus Olgas Händen. Ein Gedanke durcheilte sie, ließ sie den Kopf starr aufrichten, als lausche sie einer verborgenen Stimme … Wie? War denn nicht gerade das auch die Freiheit, um die sie rang, – hier, mitten am Kampfplatz? »Ruhe des Herzens ohne die Mitwirkung anderer zu erobern« – war das nicht auch gerade die neue Aufgabe der Frau? Jahrtausendelang hatte die Frau nur dann im Frieden geruht, wenn ihr das Schicksal zuteil wurde, ihr Leben mit anderem Leben aufs engste zu verknüpfen. Außerhalb dieser Ruhe war für sie – Vogelfreiheit gewesen, Verfolgung, Rastlosigkeit und Gram. Aber die neue Frau – die auf ihr Selbst verwiesene, – die hatte eine neue Ruhe zu erobern, deren Seele mußte es lernen, stille und friedlich zu sein, regsam und frei zu bleiben, – auch ohne die Mitwirkung anderer …

Werner sprach auch über das Geheimnis, das ihm ihr letzter Brief vertraut hatte. Es schien, daß die Gestalt Manfreds – das Schriftbild des teuern Namens grub sich brennend in ihr mühsam bezwungenes Herz, – stark vor sein inneres Auge getreten war … »Ein vollkommener Mensch ist der,« – so schrieb er – »dessen Erscheinungsform dem Urbild seiner Idee am nächsten kommt. Denn die Urbilder allein sind die letzten Wesenheiten der Dinge. Die Vielen und Meisten, in sich selbst Zerstückelten, in sich selbst Vielfachen, entfernen sich mehr und mehr von ihrem eigenen Urbild, von dem letzten Gedanken, der ihrer Erscheinung zugrunde liegt; selten taucht Einer empor, der den Sinn seines Wesens erfüllt. Ist Dir das unsagbare Glück begegnet, die Gestalt Deiner Sehnsucht leibhaftig zu sehen, Deinen Weg mit dem jener Erscheinung zu kreuzen, so vergiß niemals dieses wunderbare Geschehen immer nur als Glück zu werten. Einerlei ob der Besitz der geliebten Person damit verbunden ist oder nicht, öffne diesem einzigen Gedanken Dein Herz, und alles triebhaft Undeutliche wird friedlich und deutlich werden, und alle verstreuten und spukenden Kräfte werden das Zentrum suchen. Du wirst Dich dann stark fühlen – Du wirst Dich fühlen. Du bist dann. Es ist Dir, als müßtest Du Dich einer Führung überlassen, die als höhere empfunden wird. Du bist scheinbar unbeteiligt mit dem Willen, das heißt, Du spürst ihn nicht. Du gelangst in einen wahrhaft seligen Zustand, – wenn selig als das Wort gefaßt wird, das von Seele stammt … Nur jene Reinigung des Herzens läßt Dir das geliebte Bildnis so hell erstrahlen, daß es Dein bleibt auf allen Wegen …

Gedanken der innigsten Versöhnung mit dem Leben sind in diesen Zeiten, die ich hier verbringe, über mich gekommen. Ich sehe einen beruhigenden Sinn in allem mir früher so sinnlos scheinenden Walten, und einzig der Glaube an diese kristallene Vernunft, die auf dem Grunde der Dinge wirkt, – einzig dieser Gedanke läßt mich das Leben ertragen – ja lieben. Es ist die Flucht vor den Irreführungen des Treibens der Welt, die diese beglückende Hellsichtigkeit in mancher Stunde im Gemüt entstehen läßt – ich weiß es. Aber manchmal überkommt mich dennoch, – ich sagte es Dir schon, – etwas wie bange Sehnsucht nach jenem verwirrenden Brausen, – nach der dumpfen Musik des tätigen Lebens. Fast sehne ich mich dann, den geraden und glatten Weg, den ich nun wandle, wieder zu verlassen und an jenen vielfach verkreuzten Pfaden, – von neuem – irrend – die Richtung zu suchen. Stimmen erheben sich, Stimmen der Verführung, Stimmen, die zur Unrast der Welt hinlocken und zu wagemutiger Beteiligung an den Gefechten des Tages. Dann sage ich mir wohl: ist das eine Antwort, die ich hier erhielt, – oder ist es nicht eine neue Frage jener ewigen Sphinx? … Weißt Du, was die Koralle im Meer bedeutet? Darwin erzählt, daß jene Korallenriffe die letzten Anstrengungen untersinkender Kontinente sind, – ihre Häupter über Wasser zu halten. Und ich? Habe ich nicht das Atmende und Lebende und Zuckende meiner Seele zu rosiger Versteinerung gerüstet? Eine letzte Anstrengung untersinkender Kontinente? … Die Sphinx blickt mich an mit toten, steinernen Augen …«

Und Olga dachte: Weit – weit ist der Weg nach Indien. Die gelbe, mönchische Toga, die er jetzt nur geliehen, – sie zu erwerben wird ihn einer hindern: sein Genius, – sein Dämon? Wer wollte das entscheiden. – – –


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