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»Wie konnt ich ahnen,
Daß seine Bahnen,
Sich einen sollten
meinen Wegen? … «
Rückert.
Mit einer großen Aktenmappe unter dem Arm ging Stanislaus eines abends nach Schöneberg. Er hatte nun das Material für seine Untersuchung über die Stiefvaterfamilie beisammen. Nun ging er mit einem großen Stoß Notizen, die er, nach seiner neuen Gewohnheit, verarbeiten wollte, indem er daraus einen ersten, zusammenhängenden Entwurf diktierte. Und zu wem anders hätte er gehen sollen, wenn er diktieren wollte, – als zu Lore Wigolski? …
Ein Lächeln ging licht über ihrem Gesicht auf, als sie ihm die Tür öffnete. Er fragte gleich nach Lörchen! Aber die war mit ihrer Duenna auf Reisen, zu Besuch bei der Großmutter in Königsberg. Lore war allein zu Hause.
»Wollen Sie nicht erst ein wenig von Ihrer Arbeit erzählen, bevor Sie Wort für Wort diktieren?« fragte sie. Das frohe Lächeln hielt noch immer ihre Lippen geöffnet.
»Gerne, gerne«, sagte er, preßte seine Aktenmappe gegen die Brust und dachte nach.
Es war gegen Abend, und sie zündete die Petroleumlampe an, die, verhängt von einem gelben Schirm, mildes, gedämpftes Licht verbreitete.
»Ich habe drei Gruppen von unehelichen Kindern gefunden, – verstehen Sie! … Da sind erstens solche, die bei Verwandten der Mutter, etwa in der Familie der Großeltern, untergebracht werden; die Sterblichkeit, – und diese war der Maßstab meiner Untersuchung, – ist hier nicht viel anders, wie bei den ehelichen Kindern.«
Sie saß lächelnd, horchend und nickte leise.
»Dann sind solche, die zu fremden Familien in Pflege kommen, – und diese,« er zog die Stirn in Falten, »diese haben eine doppelt so große Sterblichkeit.«
»Gibt es noch unglücklichere Würmer?« fragte Lore.
Er sah sie ernsthaft an. »Ja, Frau Lore, es gibt Kinder, die noch schlimmer daran sind, als solche, die zu fremden Familien in Pflege kommen.«
»Das sind wohl die, die in Findel- und Waisenhäusern untergebracht werden?«
Er schüttelte den Kopf. »O nein, die sind verhältnismäßig sogar sehr gut dran. Wissen Sie – welche Kinder das schlimmste Loos haben?« Und zaghaft, als habe er Angst, sie zu verwunden, – brachte er es heraus: »Das sind die Kinder – die allein unter der Fürsorge der Mutter aufwachsen … aus ihren Reihen kommt das große Heer der ungelernten Arbeiter und der Kriminellen, – sie weisen die größte Sterblichkeit und die geringste Militärtauglichkeit auf.«
»Wie kommt das?« fragte Lore, und ihr Gesicht hatte einen bestürzten Ausdruck.
»Das kommt daher,« sagte er erklärend, »daß es eine zu große Aufgabe für die Mutter ist, das Kind ohne jede Hilfe durchzubringen. Wenn sie fort muß, um zu erwerben, so bleibt das Kind natürlich allein … außerdem ist es doch natürlich – daß – hm, hm,« er hüstelte verlegen, – »daß der Vater des Kindes – im Leben einer vereinsamten Frau – nicht der letzte – Geliebte bleibt … da kommt sie denn, ehe sie sich's versieht … von einer Hand in die andere … und wenn sie nun auch wirtschaftlich keinen Boden unter den Füßen hat – so läßt es sich denken, daß sie nicht selten in immer tiefere Lebenslagen gedrückt wird.«
Lores Gesicht glühte, dunkler Purpur war ihr bis unter die Haare gestiegen. Sie atmete schwer. Endlich sagte sie leise, flüsternd: – »Das ist dann freilich schlimm für die armen Kinder« …
»In der Tat,« sagte Stanislaus, »ich habe hier eine umfangreiche Statistik gemacht«, – – er zog einen Stoß Blätter aus der Aktenmappe, suchte darin und legte ein mit Ziffern beschriebenes Blatt heraus. »Sehen Sie, ich habe hier statistische Aufzeichnungen, die noch mehrere Gruppen umfassen als die hauptsächlichsten, die ich Ihnen eben aufgezählt habe, – hier haben Sie zum Beispiel«, er deutete auf eine Ziffer, »die Gruppe der Kinder, deren Mutter stirbt. Das sind Vollwaisen. Sehen Sie hier deren Sterblichkeitsziffer,« – er fuhr mit dem Finger über das Papier, – »und hier jene andere, – die der Kinder, welche allein der Mutter überlassen bleiben. Sie sehen: Die Vollwaisen haben eine geringere Sterblichkeit, – als die der Mutter allein überlassenen Kinder.«
Sie blickte schweigend auf die Ziffern. »Das ist schwer begreiflich«, sagte sie dann. »Die Mutter gilt doch als die beste Pflegerin des Kindes; sie soll es doch auch nähren.«
»Ja – wenn sie ihr Kind nährt und pflegt, ist das freilich das Beste! Mutter und Kind sollen zusammen bleiben, – natürlich, – das ist das große Gebot; aber – es muß außerdem noch einer da sein, der das Futter heranbringt für beide … Freilich«, fügte er dann nachdenklich hinzu, »steht es nicht für alle Zeiten fest, daß das gerade der Vater tut … Es könnte wohl so kommen, daß die Gesellschaft ihren großen Vorteil darin sieht, sich dieses kostbare Material zu retten und der Mutter mit dem Kinde direkt beizuspringen … Aber die Mutter allein – die Schwangere, die kürzlich Entbundene, die Nährende, die oft zu keinem Beruf Vorgebildete, – die kann nur in seltenen Fällen für alles das aufkommen, was einem Kinde gebührt, damit es heil in die Höhe wachse.« Und mit sachlich ruhiger Stimme fuhr er fort: »Infolge unserer guten Waisenpflege ist für die ganz verwaisten Kinder tatsächlich besser gesorgt als für die meisten von denen, die eine verlassene Mutter hilflos durchs Leben schleppt.«
Sie blickte traurig, hob dann langsam den Kopf und sah ihn voll an. »Da ist wohl mein armes Lörchen auch sehr schlimm dran?«
Er stutzte erschrocken, dann schüttelte er hastig den Kopf. »Aber Frau Lore – wie können Sie das alles – so persönlich nehmen! Bei Ihnen liegt doch die Sache ganz anders. Hier,« er deutete auf die Akten – »hier diese Untersuchungen, die sind an der Masse der Halt- und Hilflosen gemacht … Sie, Sie stehen doch ruhig und sicher, Ihrem Lörchen wird ein Heim und ein Halt nicht fehlen; – freilich«, fügte er zaghaft hinzu, – »der Vater fehlt auch ihm, und das ist immerhin schlimm für ein Kind; aber das kann ja auch sein, wenn die Mutter verwitwet.«
Lore fuhr sich mit der Hand über die Stirn. »Sehen Sie, ich habe mir gerade im Gegenteil gedacht: die Kinder, die außerhalb jener – anerkannten Ehe geboren werden, welche doch oft aus allen möglichen Gründen, die mit – mit der freien Wahl zweier Menschen nichts zu schaffen haben, – geschlossen wird, – sehen Sie, – ich dachte mir, diese Außerehelichen, die so der freien Wahl ihr Leben verdanken, – gerade das ist eine besondere, – wie soll ich sagen – eine besondere …«
»Auslese,« fiel er ihr ins Wort – »das ist es auch. Die Unehelichen sind oft biologisch das wertvollste Material, und daß sie in so hohem Prozentsatz zugrunde gehen, ist meist nur die Schuld der Verhältnisse, in die sie nach ihrer Geburt gestoßen werden. – – Wissen Sie aber, Frau Lore,« fuhr er lebhaft fort, – »welches die wirkliche Elite unter den Unehelichen und unter den Geborenen überhaupt ist?«
»Das sind die Kinder, – die, trotzdem sie unehelich geboren werden, – doch noch in einer Familie aufwachsen, in einer Familie von Vater und Mutter – – nämlich – in der Stiefvaterfamilie.«
»So,« sagte sie und horchte hoch auf.
»Ja,« fuhr er fort, »wenn die Mutter später einen anderen Mann heiratet, dann ist das Kind zumeist geborgen. Hier liegen tatsächlich«, er fuhr mit den Fingern über seine Statistik, »die günstigsten Verhältnisse.« Er blickte in seine Akten: »Was Berufsausbildung und Militärtauglichkeit betrifft, so kommt diese Gruppe den Ehelichen am nächsten.«
»Aber, warum sagen Sie,« meinte Lore nachdenklich, – »daß diese Kinder zumeist auch eine biologische Elite darstellen?«
Er lächelte … »Liebe Frau Lore, – denken Sie doch mal, – was für ein Prachtweib muß so eine Frau sein, die – die, – trotzdem sie nach unseren heutigen verschrobenen Moralbegriffen eine – Gefallene ist,« – er sagte es lachend und ohne Scheu, – »die also, trotzdem sie eine – solche – Gefallene ist,« – nun lachten beide, – »doch noch geliebt und geheiratet wird.«
»Eine große Ehre,« sagte sie, noch immer lachend, – »und welche eine Hoffnung für so eine arme Gefallene!« Das Lachen verschwand nicht von ihrer beider Gesichtern.
Er fuhr fort: »Und selbstredend hat so eine Prachtfrau wieder ein Prachtkind, – es ist da also eine Art Auslese – sozusagen automatisch wirksam.«
»Und es entsteht nicht selten eine Prachtfamilie auf diese Art, nicht wahr?«
»Na,« meinte er mit verlegenem Gesicht, und griff nachdenklich an sein Ohrläppchen, »manchmal kann sich der Herr – Stiefvater – was biologische Pracht anbelangt, nicht gerade als Mehrer der Familienschönheit betrachten … – aber – das ist ja auch gar nicht seine Aufgabe.«
»Und was ist seine Aufgabe?« forschte Lore.
»Oh – das ist eine feine Sache.« Er stützte den Kopf in die Hand und blickte ein wenig über die Ränder des Zwickers. »Bedenken Sie, wie viel mehr dieser – Wahlvater – für die Mutter zumeist empfindet, als der wirkliche Vater des Kindes. Ich habe hier auch Material gesammelt,« er drückte mit der Hand gegen die Akten, – »darüber, wie die Ehen mit dem sogenannten Schwängerer ausgehen, – der irgendwie gezwungen oder beeinflußt wird, das schwangere Mädchen zu heiraten. Zumeist tut er das, um die Alimentation zu ersparen. Diese erzwungenen Ehen« fuhr er ernsthaft fort – »werden zumeist sehr unglücklich. Das Kind wird da sehr oft als Last empfunden, man haßt es, als die unglückliche Ursache der ganzen, erzwungenen Situation. Ganz anders aber liegt die Sache in den Ehen mit dem – Wahlvater, dem Stiefvater. Er ist der Mutter mit dem Kinde begegnet –«, seine Stimme wurde tief und war von einem fremden Ton, den sie noch nie an ihm gehört, durchbebt, – »und hat beide – frei gewählt. Er liebt nicht nur die Mutter, – nein, er liebt auch das Kind.«
Mild und lösend drangen diese Worte in sie. Ihr war auf einmal, – als wäre sie nicht mehr allein, nicht mehr suchend, nicht mehr zu neuer, abenteuerlicher Fahndung genötigt. Und das Gefühl wurde in ihr stark: hier ist Schutz, – guter, guter Schutz. Sie schloß die Augen und ihr war, als hätte sie eine Vision: sie sah sich im Gedränge, – geschoben, gestoßen, hastend, suchend, – und da kam einer – ein einziger unter allen – und bot ihr seinen Arm. Sie sah den tiefen Ernst auf seinem Gesicht, sie fühlte, wie er ihren Arm leise gegen seine Brust drückte, und auf einmal wußte sie, daß er ihr diesen Arm nicht nur geliehen, sondern gegeben hatte. Sie schlug die Augen auf und sah, im Schein der Lampe, voll in sein Gesicht. Sie sah, wie seine Augen auf ihrem Antlitz ruhten und sie sah, wie sein Gesicht durchleuchtet war von Liebe. Oft hatte sie, in letzter Zeit, vergeblich versucht, sich an sein Gesicht genau zu erinnern, nun war es ihr, als ob sie ihn – erkannte. Einen Augenblick schien es ihr, als wäre sie ihm schon einst – irgendwo – irgendwann einmal begegnet, – als hätte sie das alles schon erlebt, – was sie eben jetzt erlebte, – und sie hätten sich jetzt – nach langer, langer Trennung – wiedergefunden und hätten sich, in vielen Verhüllungen, entdeckt, – erkannt. Sie sah die mächtige Biegung der Stirn, sah, wie edel und steil die Nase sich zum Munde streckte, sah, wie verschönt das Gesicht von dem großen Gefühle war, das es durchleuchtete, wie eine Flamme ein transparentes Gehäuse durchschimmert, – und sie erkannte ihn …
*
Als er diesmal von Schöneberg nach Hause ging, hatte er nichts diktiert; aber sie hatten ernsthaft beschlossen, das am nächsten Tag nachzuholen; heute – hatten sie Besseres zu schaffen gehabt …
Mit glücklichem Gesicht ging er durch die nächtlichen Straßen. Eine Melodie summte ihm durch den Kopf, und er suchte Worte als Text. »Wenn ich bei meiner Christel bin«, so hatte Goethe gesungen, – wie wird mir da so froh zu Sinn.«
Erlöst fühlte er sich, – erlöst von dem Druck, der auf seiner Mannheit gelastet hatte. Daß ihm dieses je beschieden sein konnte, – nie hatte er es gedacht. Und daß er nicht nur eine Frau bekam, eine Frau von edler Art, – nein, auch eine Frau, die einen solchen Schatz, eine solche Mitgift ihr eigen nannte: ein wirkliches, lebendiges, fix und fertiges, wohlgeratenes Kind. Oh, was bedeutete dieser Schatz, diese Mitgift gerade für ihn! Er hatte es ihr schon heute gesagt, – ernst – Aug' in Aug' – nach der ersten, großen, seligen Freude, nachdem er das Wunderbare, das unsagbar Herrliche erlebt hatte … Er hatte ihr gesagt: »Wir werden kein Kind haben, – denn ich habe nichts zu vererben.« Da hatte sie mit ihrem kräftigen, frohen Lachen geantwortet und hatte gesagt: »Wir haben ja ein Kind.«
»Ein richtiges, lebendiges Kind«, flüsterte er jetzt vor sich hin.« – Lörchen Wigolski,« – so konnte sie nicht auf die Dauer heißen; das tat nicht gut; »Lörchen Schubert,« – ein Lächeln glitt über sein Gesicht, – »Gott sei Dank, ausgeschlossen; aber Lörchen Diamant, – das mochte taugen.« – – –
An diesem Abend saß er wieder vor seinem Tagebuch. Er schlug das Heft auf – und kaute an der Feder. Sein Gesicht, von dem das Lächeln nicht wich, hatte einen verlegenen Zug. Hin und her drehte er den Federstiel in den Händen, – wahrhaftig, er schämte sich vor dem Buch, – er wußte nicht, wie er es – gestehen sollte. Aber ein Vers wollte ihm nicht aus dem Sinn, er flüsterte ihn immer wieder vor sich hin: »Durchsüßet und geblumet …« Dann ging er zum Bücherregal, um den Vers auch wörtlich zu finden. Freund Walther von der Vogelweide, der wußte doch, wie man – solche Dinge – – sagte. Er legte das Buch vor sich hin und schrieb:
»Durchsüßet und geblumet sind die reinen Frauen.« Hier stock' ich schon, – – sollte er nicht besser schreiben: die neuen Frauen? – – Pfui, Pharisäer! Nun gerade:
»Durchsüßet und geblumet sind die reinen Frauen«, – die Feder kratzte eifrig, und Blicke ins Büchlein wurden geworfen, – »So Wonnigliches gab es niemals anzuschauen«, – sein selig verklärtes Gesicht beugte sich fast zärtlich zu dem Papier, – und weiter kritzelte die Feder, – »In Lüften noch auf Erden, – noch in allen grünen Auen« …
*
Während nun hier ein Schicksal in freundliche Bahnen bog, wurde ein anderes an gefährliche Klippen gedrängt.
Eines Tages kam Werner zu Olga, – bleich, verstört, zerrüttet.
»Es ist geschehen«, sagte er dumpf und preßte hilfesuchend ihre Hände.
»Was ist geschehen?« fragte sie, von banger Ahnung erfüllt.
Stammelnd berichtete er … Der Gatte der Baronin habe das Verhältnis entdeckt.
»Wie konnte das sein, – und was soll nun werden?«
»Wie es sein konnte, das weiß ich nicht. Es war gestern in meiner Wohnung. Sie sagte, – wir wären in voller Sicherheit. Plötzlich – spät abends, wird an der Glocke gerissen – gegen die Tür geschlagen … Wir schaffen kaum die nötigste – Ordnung, – als er auch schon an der Tür des Zimmers steht und Einlaß erzwingt.«
»Er hat mich gefordert … morgen früh …«
»Du sollst –?!«
Er lachte krampfhaft auf und fuhr sich mit der Hand in die Haare. »Ja, ja – bei der Tragödie darf das Satyrspiel nicht fehlen. Ich soll mich mit ihm schießen, – jawohl.«
»Willst du das wirklich?«
»Was bleibt mir andres übrig?« Und finster fügte er hinzu: »Mir kann es recht sein.«
»Werner,« sagte sie angstvoll – »du hast doch nicht die Absicht – den Mann der Baronin wie – wie einen Feind – aus der Welt zu schaffen?«
Starren Blickes sah er sie an. Dann schüttelte er den Kopf und sagte mit fester Stimme … »Nein, ich habe nicht die Absicht, kann sie auch nicht haben, denn ich weiß nur schlecht Bescheid mit der Pistole.«
»Und er,« flüsterte sie, »wird er? – –«
»Das bleibt ihm überlassen«, sagte er fest.
Dunkel – wie ein schon vergessener Traum – stieg die Erinnerung in ihr auf: wie auch sie einmal einer Pistole mutig die Brust geboten …
Am nächsten Tag, um die Mittagsstunde, als sie schon lange angstvoll wartete, stand er an ihrer Tür. Er war heil und unversehrt. Aber sein Gesicht schien blutlos, und sein Auge flackerte irr.
»Werner,« flüsterte sie, »ist es vorbei?«
»Es ist vorbei«, sagte er mit fremder, heiserer Stimme. »Es ist alles vorbei.«
Und dann erfuhr sie, was geschehen war … Werner hatte in die Luft schießen wollen … Aber als der Pulverdampf sich zerteilte, da sah er, drüben, den Gegner zurückgesunken, in den Armen seiner Zeugen.
»Ich habe ihn getötet«, flüsterte er. Und dann erzählte er noch mehr. Wie ein Gezeichneter war er durch die Straßen getaumelt, – hin, zu ihr, der Geliebten. Er traf sie und sagte ihr, was geschehen war, – sagte ihr, – daß sie nun frei war … wie sie es gewollt. Da war in ihren großen Sphinxaugen ein Feuer entbrannt.
War es ihr Wille gewesen, – der in ihm gewirkt, – gegen den seinen … oder war es doch auch sein Wille gewesen – verborgen dem wachen Sinn und nur wirkend in jener dunkelsten Tiefe, in die kein Auge blickt? …
»Geh jetzt,« hatte sie ihn gebeten, »und komm wieder – in zwei Stunden, nach meiner Wohnung.«
Zwei Stunden war er in den Straßen umhergeeilt – und dann in das Haus gegangen, – in dem der Tote schon lag. Als er sich scheu der Tür näherte, da hatte ihm, bevor er noch die Klingel berührte, die Jungfer der Baronin geöffnet und ihm einen Brief hinausgereicht … Er öffnete die zur Faust geballte Hand. Hier – hier – war der Brief.
Sie strich die zerdrückte Papierkugel glatt und las: »Die Tat ist geschehen, die geschehen mußte und doch nicht geschehen durfte. Ich eile zu dem – der solche Taten nicht setzt – und den ich liebe.«
Sie begriff nicht. Stumm hielt sie das rätselhafte Papier in der Hand. Da brach es aus ihm heraus. »Oh, verstehst du nicht – verstehst du nicht?! Ich – ich mußte die Tat begehen, – – – damit sie frei wurde – für einen anderen.«
»Aber du wolltest ihn doch nicht töten«, sagte Olga.
»Nein, ich wollte es nicht, – ich weiß nicht, – ich glaube, ich wollte es nicht … Aber hätte ich ihn nicht getötet, so wäre ich doch derjenige gewesen – durch den ihre Ehe gelöst wurde – und der Name des – anderen – wäre frei geblieben. Kein Gesetzesparagraph hätte verhindert, daß eine neue Ehe – dort – geschlossen wurde. Keine Schmach hätte diese neue Ehe befleckt, und keine Bürde wäre auf sie geladen worden.«
Wie ein schwerer, wallender Vorhang, – so rauschte das Geheimnis zurück. Sie begriffen beide. Sie wußten alles, – auch wer jener andere war. Sein Bild stand in diesem Augenblick vor ihrer beider Seelen. Sie sahen ihn, wie sie ihn damals gesehen, – an jenem Abend, da er mit der Baronin und mit ihnen zusammen war. Wie wenn auf eine dunkle Bühne plötzlich, auf eine einzige Stelle, volles Licht fällt und eine Gestalt beleuchtet, die hier im Dunkel gestanden und nun allen sichtbar wird, – so sah ihn Olga. Sie erinnerte sich an den fast kahlen Schädel von ungeheueren Dimensionen, an jene Stirn, die steil, wie ein Dachgiebel, aufstieg und sich schwang, wie ein romanischer Bogen. Sie erinnerte sich an den durchdringenden Blick – und an die Worte, die jener Mann über das Wollen gesprochen und über die Wünsche, die sich abarbeiten für dieses gefährliche Wollen, wie die Sklaven. Sie erinnerte sich, was er über die Orientalen gesagt, – über ihre nüchterne und entsühnende Moral der inneren Abrüstung.
Und sie wußte, daß sich ihre und Werners Gedanken an diesem Bilde, das plötzlich, im vollen Licht, inmitten der dunklen Szene stand, begegneten …
Sie war es, die aus dem betäubungsähnlichen Zustand zuerst erwachte. Sie raffte sich auf.
»Jetzt gilt es zu retten – was noch zu retten ist.«
»Und was sollte das sein, was hier noch zu retten wäre?« fragte er, mit verzerrtem Lächeln.
»Das bist du«, sagte sie. »Du mußt fort und sogleich.«
»Fort, warum?« Langsam nur drang durch die Nebel die Vorstellung zu ihm, die sie ihm klar machte: daß er verfolgt würde, – wegen Totschlags im Duell, – und daß er darum fort müßte, heute noch, sofort.
Er weigerte sich, vor den Folgen der Tat zu fliehen.
»Willst und kannst du denn bleiben, – jetzt, – hier – wo du solches erlebt hast?«
Die Scham des Mißbrauchten stieg ihm glühend zu Gesicht. »Fort, fort«, dachte nun auch er. Aber wohin? Nach der Schweiz, nach Italien, Amerika? Und ohne Mittel?
Sie grübelten beide. Plötzlich durchschoß sie ein Gedanke. »Ich weiß, wohin du gehst!« Und entschlossen teilte sie ihm ihren Plan mit. Er sollte zu Doktor Emmerich nach Ascona. Dort war er geborgen und konnte abwarten, bis er sich selbst wieder helfen konnte. Doktor Emmerich würde ihn aufnehmen.
Er ließ alles geschehen, wie sie wollte. Er blieb in ihrer Wohnung, während sie hastig den Hut aufsetzte und forteilte zu der Bank, bei der sie ihr Depot hatte. Sie hob einen Betrag ab. Die Filiale, bei welcher ihr Depot lag, war in einem großen Kaufhaus. Gerade gegenüber den Schaltern der Bank waren jene des Reisebureaus. Hier erfuhr sie, wann der nächste Zug ging, der nach der Schweiz Anschluß hatte. Dann nahm sie ein geschlossenes Automobil, fuhr zu ihrer Wohnung zurück und hieß den Chauffeur warten. In wenigen Minuten kam sie mit Werner wieder. Er hatte seinen breiten Filzhut tief in die Stirn gedrückt. Sie fuhren direkt zur Bahn. Ohne Gepäck reiste er ab.
*
Noch lag der Schreck über dieses gewaltsame Ereignis in Olgas Seele. Aber sie hatte keine Zeit, sich ihren bangen Gefühlen hinzugeben. Die Arbeit an ihrer Korrespondenz häufte sich immer mehr, und Lore mußte jetzt täglich kommen, ihr zu helfen. Und Lores Augen wurden immer froher und ihr tiefes Lachen immer herzlicher. Stanislaus kam, mit merkwürdiger Zufälligkeit, immer gerade dann, wenn Lore gehen sollte, – die er dann natürlich begleitete … Der Bruder erschien ihr plötzlich sonderbar jung und lebhaft, elastisch und verschönt. Seine Kleidung wurde sorgfältig, beinahe elegant; er hatte sich einen neuen, dunkelblauen Anzug bei einem teueren Schneider machen lassen.
»Ist er auch richtig, – sitzt er gut?« fragte er die Schwester, als er sich darin präsentierte.
»Aber sehr«, sagte sie und wunderte sich nicht wenig. »Warum denn nicht schwarz, jetzt, in der Trauer?«
»Dafür genügt die Florbinde um den Arm,« meinte er, – »übrigens habe ich mir außerdem – auch noch einen schwarzen Anzug bestellt; Smoking« …
Bald wußte sie, wie es mit beiden stand.
»Nur noch ein wenig sicherer stehen,« sagte Stan, – »soweit wir ›Freien‹ es überhaupt können; nur noch mehr Überblick über die Einnahmen, – geregelte Mitarbeit da und dort – Vollendung des Buches – ein neues Auflagenhonorar, dann sei es gewagt.« Und er arbeitete mit »Dampfkraft«, wie Lore erzählte, und stieß die Kapitel seines neuen Buches eines nach dem anderen heraus.
Nachdem Olga so viel über die Lage der Unehelichen zu hören bekam, fiel ihr ein, daß das Thema sich vorzüglich für einen Vortrag im »Bunde« eigne. Stanislaus war einverstanden und bat sie, sich für ihn mit Frau Dr. Wallentin in Verbindung zu setzen. Er hatte, solange er arbeitete, keine Zeit, irgendwelche »Schritte zu unternehmen« – außer die täglichen Schritte nach Schöneberg.
»Wie ein Kokon muß man sich einspinnen,« sagte er, – »will man ein Buch herausbringen.« Und er spann sich ein, und es gab jemanden – in Schöneberg – der ihm dabei half.
Olga schrieb an Frau Dr. Wallentin und erhielt bald Antwort.
»Sehr liebes Fräulein Diamant, ich möchte über die Arbeit Ihres Bruders, die mich in hohem Grade interessiert, recht ausführlich mit Ihnen sprechen, und vor allem möchte ich Sie endlich einmal wiedersehen. Es ist schon eine kleine Ewigkeit her, seit wir uns zuletzt begegnet sind. Vielleicht kommen Sie beide eines Nachmittags zu mir heraus in den Grunewald?«
Und da Stanislaus noch immer keine »Schritte unternahm«, so ging sie allein.
Es war richtiger Frühling geworden, auch in Berlin. Der Park um die Villa blühte … Der See funkelte in goldenen Reflexen, als hielte er alle Strahlen der Sonne gefangen.
Olga saß mit Frau Wallentin auf der Terrasse, unter dem Dach der Markise, am runden Teetisch, und sie blickten in die wiegenden Wipfel der Kiefern und in das zarte Laub der Buchen.
»Ich habe mich in letzter Zeit dem Bunde wenig widmen können«, sagte die alte Frau. Sie schenkte selbst den Tee ein. Wie liebte Olga diese edlen, durchstrahlten Hände, wie dankte sie im Herzen dieser alten Frau dafür, daß sie ihr und allen, die sie kannten, ein wunderbares Märchen kündete, – daß sie ihnen allen zeigte, wie schön das Alter sein kann. Selten nur war sie herausgekommen, trotzdem sie wußte, daß sie kommen durfte. Zuviel der Störung und der Verstörung hatte sie erlebt in all der Zeit, und schamhaft hatte sie sich dann vor dieser Lichten verborgen.
Jetzt, wo sie wieder bei ihr saß, dachte sie, daß man immer nur zu den Menschen gehen sollte, in deren Nähe man selbst schöner würde, – ruhiger und reiner in der Linie. Hier schien es ihr, als ob ihre Seele mit gebändigtem Feuer, wie ein Vogel, der sich sicher in reinen Lüften wiegt, frei und leicht ihres Weges flöge … Und so, wie es Menschen gab, – so dachte sie, – die alle Schichten eines anderen Seins in wilde Wirbel brachten, bis es Aufruhr und Lava gab, – so andere, die die Elemente sänftigten, die Dämonen bannten, – in deren milder Sphäre Vollbringen wohnte. Und Goethes erhaben-demütiges Danklied kam ihr in den Sinn: »... Spähtest, – wo die reinste Nerve klingt.«
Sie hatte Frau Wallentin nicht gesehen, seit sie nach Hause gereist war, und auch vorher, während der Bitternisse, die sie erlebt, – nur selten. Sie erzählte ihr, daß der Vater nun tot war.
»Und nun bleiben Sie hier – bei uns. Denn wir brauchen Sie«; und mit innigem Lächeln nickte sie ihr zu.
Olga berichtete von Stanislaus und seinem neuen Buch. Frau Wallentin riet, den Vortrag bis zum Herbst zu verschieben. Denn da er das Buch noch nicht abgeschlossen habe, so würde es zu spät in der Jahreszeit werden, um mit einem Vortrag herauszutreten. Aber sie wollte erfahren, was er gesammelt hatte, und Olga mußte ihr versprechen, dem Bruder zuzureden, daß er sie bald aufsuchen möge.
Dann erzählte Olga von Erika, – der einstigen Helferin beim Ordnen der Bibliothek. Stumm und bang horchte die alte Frau, als sie von jenem Abend sprach, an dem Erika sterben wollte, und ein großes Leuchten brach aus ihren Augen, als sie hörte, was dann geschehen war.
»Die Welt ist voll von Wundern,« sagte sie leise, – »ihr Glücklichen – ihr Jungen, vergeßt das nie.« Ein wehmütiges Lächeln umschattete ihren Mund.
In Olga stieg die Sorge auf, ob die alte Frau sich gesund fühle, und sie fragte, warum sie sich dem Bunde weniger gewidmet habe. »Es ist doch nicht – weil Sie behindert waren?«
»Ich war behindert – aber durch etwas sehr Glückliches«, sagte Frau Wallentin. Ihre blauen, tiefen Lichtaugen strahlten auf. »Mein Sohn Manfred ist endlich gekommen.«
Und sie erzählte ihr von ihm.
Sie berichtete – nicht als ob sie die Mutter wäre. Sie sprach mit der glücklichen Begeisterung, mit der ein junges Mädchen von dem Manne spricht, der seine Träume verwirklicht. Sie erzählte, – daß er ein Mensch war, der nach einem vorgefaßten, festen Plan systematisch ein Lebenswerk baute. Er hatte ein Programm von Taten, für deren Beendigung ein Menschenleben nicht ausreichte.
»Aber was tut dies,« warf sie mit frohem Lächeln ein. – Sind wir denn nicht da, um unsere Taten an andere weiter zu geben? Und nun gar er! Sobald seine Pläne ›selbständig laufen‹, wie er es nennt, dann überläßt er sie ihrem Schicksal und nimmt das nächste Werk in Angriff.«
Manfred hatte erst Medizin und dann Nationalökonomie und Philosophie studiert. »Und doch ist er kein Gelehrter – wie Erasmus von Rotterdam«, berichtete die Mutter, lächelnd. Und ernst fügte sie hinzu: »Er ist ein Organisator … Ihn beschäftigte alles, was die Welt vollkommener macht. Zehn Jahre hat er damit zugebracht, die Erde zu bereisen. Und während er wanderte und das Leben der Völker durchforschte – ging er zu den Einzelnen – zu den Großen, zu denen, die die Welt vorwärtsrücken. Diese Größten – ob sie Einsame waren oder Gefeierte, – die hat er in aller Herren Länder aufgesucht, – und hat sie verknüpft – zu einheitlicher Tat.«
Es war eine Organisation gewaltiger Namen, eine Organisation der bewegenden, geistigen Kräfte dieser Welt, die er, in aller Stille, geschaffen hatte. Eine Zentralstelle zur Durchforschung der Probleme der Entwickelung sollte gegründet werden. Jetzt erst, nach zehnjähriger Vorbereitung, ausgerüstet mit diesem Stabe glänzender Namen, die allein jene Autorität erringen konnten, die notwendig war, um der Organisation zur Macht zu verhelfen, – sollte das Zentralkomitee öffentlich begründet werden. Und Frau Wallentin erzählte, daß das Unternehmen eingeteilt war in die verschiedensten Kulturkreise, mit einzelnen, stofflich verschiedenen Arbeitsbezirken. Die bewegenden Probleme der Welt galt es, nach dem Standpunkt internationaler Kenntnis, zu sichten. Auf dem Gebiete der sozialen Gestaltung, der Organisation der Völker, der Verbindung der Intellekte, der Revision der moralischen Gesetze, auf denen die Menschheit fußen konnte, galt es, zu wirken. Und im Mittelpunkt der ganzen, globischen Zentralisation stand ein Komitee zur Erforschung der Gesetze der Deszendenz und der Variation, – eine wissenschaftliche Kommission, die die sozialen und die biologischen Gesetze untersuchte, durch welche die Erzeugung hochwertiger Menschen gesichert schien. Von diesem Zentralgedanken ausgehend, hatte auch die Mutter jenen Bund begründet. Der Grundgedanke, der sie und die Söhne leitete, war der, daß alle Kulturtaten unendliche Zersplitterung der Kräfte, solange mit sich bringen müßten, – solange nicht der Mensch selbst auf der Höhe der Art stand. Aus dem Bereiche des Zufälligen, des oftmals Schädlichen und die Entwickelung der Art Hemmenden, – sollte die Zeugung des Menschen zu einer Tat werden, aus der immer wieder nur höheres Leben entstehen konnte. Die Gesetze der Hygiene mußten zu diesem Zweck ebenso revidiert werden, wie die der sozialen Bedingungen, innerhalb welcher Menschen aufwuchsen. Die Abschaffung schädlicher Fortpflanzungssitten und die Festigung der Rechte, die eine gesunde Selektion verbürgten, standen an erster Stelle des Arbeitsprogramms.
Und die Mutter sprach auch von den Ahnen ihres Sohnes. Zwei Varianten waren es, die in dieser Familie immer wiederkehrten; die Bedenklichsten und die Waghalsigsten. Gelehrte und Revolutionäre wurden in dieser Familie immer wieder geboren. Manchmal auch schlossen sich diese Strebungen in einer Gestalt zusammen, und es entstand einer, der sich auflehnte und dennoch bedenkend seine Taten formte, den das Feuer der eigenen Seele nicht über die wahre Natur der Dinge hinwegtäuschen konnte, der sie ansah mit der nüchternen Ruhe des Forschers und sich doch nicht beruhigte darüber, daß sie so waren, wie sie waren, – sondern, – in Ahnung ihrer höheren Formen – weiter und immer weiter ging …
Olga hatte gehorcht; sie hatte alles umschlossen, alles geborgen. Die Stunde war glücklich. Nicht immer war die Seele so weit, so frei, so hingegeben, – daß sie horchen konnte, wie heute, an diesem goldenen Tag.
»Da kommt Manfred«, sagte die alte Frau. Die Gittertür zum Park war geöffnet worden, er kam über den Weg dem Hause zu.
»Ein hoher Mann«, dachte Olga. Er grüßte hinauf. Sie sah, daß sein blondes Haar schon silbern schimmerte. Sie sah, als er näher kam, daß er die blauen, tiefen Lichtaugen der Mutter hatte. Dann verschwand er im Haus und stand bald darauf bei ihnen, auf der Terrasse.
»Ein hoher Mann«, dachte sie … Seine Augen – wie liegen sie sehend auf den Dingen – auf den Bildern dieser schönen, rätselvollen Welt. – – – Und wie gläubig sind seine Augen – als ahnten sie die letzten Dinge, – die letzten, – leuchtenden Dinge, – – die diese rätselvolle Welt durchstrahlen …«
Die Stunde war glücklich, golden war der Tag. Die Seele so weit, so frei, so hingegeben, – als flöge sie, in gebändigtem Feuer, frei durch den unendlichen Raum, – als wiege sie sich, wie der sichere Vogel, im goldenen, goldenen Himmelsblau …
Sie blieben zu Dritt. Sie sprachen. Sie sah seinen Mund, von keinem Bart verborgen, sie sah diese reinen Linien um den Mund. Wie klar, wie licht war es um diesen Mund … Die Stunde war glücklich, – sie verstand, sie verstand. Sie erkannte: Das vollendete Ebenmaß; die ausgewogene Kraft; nichts schwankte, nichts taumelte. Sie verstand diesen Blick, – diesen Ruf im Auge, – der die Gedanken der anderen beschwingte … Das war ein gütiges Rufen und ein mildes Horchen im Auge … Wie hob es die arme, erdenschwere Seele, – machte sie mutig, wissend um sich selbst, mutig und frei, – frei, daß sie sich wiegte, – wie der Vogel im goldenen Äther.
Es war ein glücklicher Tag. – – –
*
Stanislaus erfuhr von ihr, wem sie begegnet war, und ihre Schilderung machte ihn hochaufhorchen. Wenige Tage später erhielt sie eine Nachricht von Frau Wallentin, die für Stanislaus von großer Bedeutung war. Frau Wallentin teilte ihr mit, daß Manfred seinem Unternehmen ein publizistisches Organ angliedern müsse und daß er ihrem Bruder den Vorschlag machen wollte, in diese Redaktion einzutreten. Nun setzte sich Stanislaus mit Dr. Wallentin in Verbindung und besuchte ihn bald darauf.
Er hatte ihr versprochen, sie gleich nach seiner Rückkehr aus dem Grunewald, noch am selben Abend, aufzusuchen. Sie saß in ihrer Wohnung und wartete. Was würde er sagen? Ob er so dachte wie sie, ob er erkannte, wie sie, – daß hier einer war, wie sie noch keinem begegnet waren? Manfreds Bild stand vor ihrer Seele – die hohe Erscheinung, – das blondsilberne Haar, – dieses Leuchten um den Mund … sie preßte die Hand auf ihr Herz. Dieses Bild wich nicht aus ihrem Erinnern; immer wieder sah sie ihn und hörte im Geist, wie er mit seiner Mutter und mit ihr gesprochen, – deutlich stand sein Wesen vor ihr, in seiner klaren Ruhe, mit seiner menschlich gütigen Verbindlichkeit, die sich mit dem edlen Stolz seiner Haltung so seltsam einte. Wie eine sanfte Glut strömte es ihr aus dieser Vision entgegen, als hätte das innere Feuer, das von ihm ausstrahlte, sie ergriffen. Und je mehr sie sich in dieses Erinnern verlor, desto mehr empfand sie eine fremde, süße Auflösung, die sie bis heute nicht gekannt, – eine junge und jubelnde Sehnsucht …
Stanislaus kam. Sie sah an seinen glänzenden Augen, daß er Gutes erlebt hatte. Er erzählte ihr freudig, daß Dr. Wallentin ihn als Redakteur für das neue Blatt, das in Form einer Monatschrift erscheinen sollte, verpflichtet habe. Es war ein Triumph für sie, daß der Bruder auf dieser für ihn so unverhofft glücklichen Tatsache nicht lange verweilte und von dem Manne sprach, – von dem er erfüllt war, wie sie.
»In ihm«, sagte er, »sehe ich zum erstenmal den vollkommenen Weltmann, – natürlich nicht im Sinne jenes Salonwortes, das heute jeder Geck für sich in Anspruch nimmt. Nein, er ist,« – vertieft ging er im Zimmer auf und ab, – »er ist der Mann der großen, weiten Welt.« – – – – Er ging, mit gesenktem Kopf, die Hände in der Tasche, mit eiligen Schritten durch das Stübchen, als rekonstruiere seine Phantasie das Bild, das sie empfangen. »Einen solchen Mann«, sagte er, »muß man vor allem an seinem Werke sehn. Er ist einer der Helden, die man bei ihrer Arbeit aufsuchen muß.« Er blieb stehen und hob den Kopf.
»Ich habe mit ihm mehr als zwei Stunden über sein Werk gesprochen. Er setzte mir auseinander, in welchem Sinne er das Blatt leiten will. Die Dinge sollen untersucht werden, – auf ihre Natur hin – verstehst du wohl.« Er sah die Schwester fragend an und fuhr eindringlich fort: »Das heißt: wir wollen in diesem Blatt nicht uns selbst und unsere Nuancen entfalten, – die Objekte sollen darin ausgebreitet werden, treulich und ihrer Natur gemäß. Und es soll untersucht werden, wohin wir auf Grund der vorhandenen Tatsachen zu steuern haben. Die Mitarbeiter gehören allen Kulturländern an; Persönlichkeiten, – aus aller Welt, – bilden den Ausschuß dieser internationalen Liga. Es sind Staatsmänner und Schriftsteller, Naturforscher, Soziologen, Philosophen; und außer den europäischen Staaten sind Indien, China, Japan, Amerika, Neuseeland vertreten.«
Olga fragte, auf welche Art diese Liga in der Öffentlichkeit auftreten wolle.
»Zuerst werden eine Reihe von Vorträgen und internationalen Kongressen veranstaltet. Die Gesellschaft tritt in Aktion mit der ausgesprochenen Absicht, alle Ziele zu verfolgen, welche zur Hervorbringung eines menschlichen Leistungsadels führen. Man geht politisch vor: wenn man durch große Kongresse die öffentliche Meinung beeinflußt hat, so tritt man an die Körperschaften solcher Staaten heran, die für kulturelle Reformen in Frage kommen. Man gründet überall Zentralstellen zur Verständigung der Kulturvölker, zum Zwecke gemeinsamen Vorgehens; anstatt der groben Partei- und Nationalpolitik, die heute zumeist getrieben wird, will man den Gedanken einer intellektuellen Weltpolitik durchzusetzen suchen. Die Staatsgewalt soll diesem Gedanken erobert werden. Darum mußte diese erlesene Schar verbündet zusammentreten … Und er nannte ihr die Namen der großen Dichter und Künstler, der großen Staatsmänner, der Forscher …
»Übrigens hat Dr. Wallentin noch einen jüngeren Bruder, der Anthropologe ist und gleichzeitig auf anderen Wegen eine Weltreise machte, aber zu demselben Zweck. Während Wallentin, der ältere, soziale Tatsachen sammelte und gruppierte, hat der jüngere Wallentin das Problem von der ethnischen Seite untersucht. Die Lebensverhältnisse auch noch unbekannter Völker soll er untersuchen, – auch das wird zu dem Werke gebraucht.« Er schwieg eine Weile, in Gedanken tief versponnen, dann fuhr er fort: »Dieses Werk zu erdenken, ist allein schon ein Wunder. Scharf umgrenzt steht das Ziel da, –« er sprach wie für sich selbst und blickte ins Weite, als sähe er eine noch ferne Gestalt, – »das Ziel, welches heißt – die Welt politisieren, in dem Sinne, daß menschlicher Adel erwachsen kann … Mehr schöne Menschen, – das ist die Forderung, an deren Nichterfüllung die Welt krankt. Von hier aus muß das Werk der Reformation einsetzen.«
Wie? In Olga drängte eine Erinnerung ans Licht, und sie sprach sie aus. War das nicht derselbe Gedanke, der einstmals Werner zum Sozialismus geführt hatte? Ersehnte nicht auch er eine Gestaltung der Dinge, die, indem sie das Terrain für alle ausglich, – scheinbar nivellierte, – gerade dadurch eine individuelle Wertung ermöglichte, indem die Besten und Tauglichsten erst auf diesem nivellierten Boden in ihren verschiedenen Höhen erkennbar wurden? Die Bedingungen, unter denen ein generativer Adel der Menschheit sich bilden konnte, systematisch schaffen zu helfen, – war das nicht auch sein Gedanke gewesen?
Und auch Stanislaus entsann sich; ja, es war ein Gedanke, der in der Zeit lag; auf verschiedenen Wegen drängte man dahin, – den Menschen zu heben, – seine Person selbst, – vom Keim an. Er erinnerte sich, wie sie sich beide, suchend, tastend um das Problem gemüht hatten, das ihnen erschienen war, wie ein verschleiertes Bildnis, und wie er, Stanislaus, zu Werner gesagt hatte: »Nicht ich und nicht Sie können die Gestalt dieser verhüllten Erscheinung erkennen … da ist … ein letztes, das fehlt … Ihnen und mir fehlt … ein letztes Ahnen, – ein Wissen um dieses Ding« … Und wie sie vom ahnend Geborenen gesprochen, – auch daran erinnerte er sich, – der allein löste, worüber sie grübelten.
Und beide, Olga und Stanislaus, sprachen es fast im gleichen Augenblick aus, – daß Werner hierher gehört hätte, – hierher als Schüler, hierher zu Manfreds Werk. Werner – wo war er? Gelandet, – gestrandet?
Aber sie wollte noch mehr hören von dem, was Stanislaus heute erfahren hatte. Und er erzählte von der imposanten Kleinarbeit, die als Mittel zum großen Zweck hier im Gange war: »Durchforschen und erfahren, sichten, gruppieren, registrieren, – die Dinge ansehen, rein auf ihr Wesen hin, mit Zurücksetzung aller subjektiven Färbung. Eine systematische Riesenuntersuchung der Tatsachen; und dann die Gruppierung dieser Tatsachen, die Schichtung, – immer höher und höher,« – er machte mit der Hand ansteigende Bewegungen, – »wie eine Pyramide sich verjüngend, – bis hinauf zur Spitze der Forderung: des positiven Programms.«
Er konnte kein Ende finden, – und sie horchte.
»Dabei ist diesem Manne alles Schwelgen im Unklaren, alles romantische Träumen zuwider.«
»Diese Abneigung soll ja auch seine Ehe geschieden haben«, sagte Olga.
»Seine Ehe?«
»Ja, er ist verheiratet, und jetzt, als er zurückkam, hat man sich beiderseits zur Scheidung entschlossen.« Sie erzählte, was sie im Bunde von der Gattin Dr. Wallentins gehört hatte. Wie hieß sie doch? – Frau Lucinda Wallentin.
Stanislaus fuhr fort: »In dieser romantischen Selbstbenebelung der Menschheit sieht Dr. Wallentin das Haupthindernis ihres Fortschreitens. Dieser dämmernde Selbstbetrug, in dem sich ganze Zeiten gefallen, die sich in verschleierter Unklarheit über das Wesen der Tatsachen hinwegtäuschen wollen, ist für ihn der Wegebahner der furchtbaren Machtherrschaft des Unsinns. Seiner Meinung nach ist dies der Grund, warum die Menschheit als großes Ganzes noch immer dumpf ist, dumpf und verschlafen, – und warum es nur wenige gibt, die die Wege erkennen, die sie gehen muß. Freilich, um diese dämmerigen Schleier entbehren zu können, bedarf es der Gehirne, die in gutem Zustand geboren sind … Durch diese Riesenuntersuchungen, die fortlaufend und systematisch über alle Tatsachen der Entwickelung geführt werden sollen, soll die intellektuelle Weltanschauung aus der Zone der grünen Theorien herausgelöst und praktisch vollstreckbar werden.« Und begeistert fuhr er fort: »Mit diesem Manne zu sprechen, – welch ein Glück! Es war einer der seltenen Fälle, daß zwei Menschen, ohne jede Unterstreichung, ja ohne jeden Nachdruck, fast ohne Kommentierung, sich aussprechen und verständigen konnten.« Er blieb vor der Schwester stehen.
»Im übrigen ist Dr. Wallentin selbst kein Agitator. Denn Agitation ist nicht zu denken, ohne daß die persönliche Ansicht die besprochenen Fragen tendenziös färbt, – und ohne daß man das vorhandene Publikum auf irgendeine Weise zu Taten drängt, deren Notwendigkeit zu begreifen es meist noch nicht Zeit gehabt hat. – Das ist nicht seine Sache. Er sammelt ruhig sein Riesenmaterial und spannt das Netz seiner Erkenntnis weiter. Diese anschauliche Ausbreitung überhebt der Agitation. – Sie wirkt von selbst, wirkt durch ihr tatsächliches Material und wirkt um so stärker, je weniger demagogisch sie auftritt. – Sie wendet sich nicht an das momentan und zufällig vorhandene Publikum, – sondern an jenes – das später – und nicht zufällig – vorhanden sein wird. – Welch eine Tat,« fuhr er fort, »welch ein Wunder des Willens, – des geschulten Willens, der« – nachdenklich suchte er im Gedächtnis, – »der die Aufträge der Intelligenz auch zu erfüllen vermag, – wie es bei Feuchtersleben heißt.« – – –
Das Erlebnis dieser letzten Tage war so groß für Olga, daß ihr die Welt darin versank. Es war ihr endlich ein Mensch begegnet, – – dem nichts mehr »fehlte«, um ein Mensch zu heißen … Hier also war die Grenze des Zwischenreichs – nach oben – überschritten … Hier waren keine Absonderlichkeiten, hier waren die urtümlichen Eigenschaften hoher Menschenart voll entwickelt, durchbildet und funktionsfähig. Hier waren Instinkte, die zur Erhaltung des Lebens strebten, und ein Heroentum, das sich über die staubige Erde schwang, vereint. Plötzlich erinnerte sie sich der Worte, die ihr Cousin, Professor Diamant, bei jenem letzten Mahle in Wien gebraucht hatte. »Zeig' mir einen modernen Gedankenheros,« so ungefähr hatte er wohl gesagt, – »der sich nicht versteigt auf irgendeiner Martinswand, – von der ihn kein Gott herunterholt! …« Gerade diese Gegenwart, in der sie lebte, war überfüllt von solchen, die tollkühn ins felsig Zerklüftete kletterten, – ohne die Führung wegeweisender Instinkte; die dann hilflos irgendeinen spitzen Grat umklammerten, – nicht weiter konnten, – stürzten, – spurlos verschwanden. Hier aber war einer, der sich ins Unwegsame gewagt hatte und sich doch nicht – verstieg.
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Nach einigen Wochen, während welcher Stanislaus, der sein Buch beendet hatte, mit Dr. Wallentin das Bureau der Redaktion organisierte und auch Olga öfters hinausgekommen war zu ihrer alten Freundin, – während das Bild ihrer erfüllten Sehnsucht sich immer stärker in ihrem Herzen festigte, kam die erste Nachricht von Werner; seltsam mutete an, wovon er berichtete.
Kurz nachdem er nach Askona gekommen war, wo er im Hause Dr. Emmerichs alles fand, um die betäubten Kräfte seiner Seele wieder zu beleben, hatte er eine Nachricht erhalten – von einem, von dem er sie am wenigsten erwartete. Herr von Bredow hatte ihm geschrieben. Auf Umwegen, da er seine direkte Adresse der Berliner Post nicht angab, erreichte ihn der Brief. Bredow schrieb ihm, – er habe, teils aus den verdeckten Reden der Baronin, teils durch direkte Nachforschungen, erfahren, was sich zwischen ihm und jener Frau begeben, in welcher Weise die Baronin über Werner einen Weg gesucht hätte, der zu einem mit Bredow vereinten Leben führen sollte. Er habe sie geliebt, aber niemals daran gedacht, sie aus ihrer Ehe an sich zu reißen. Da sie nun kam und frei war, so hätte er freilich geglaubt, am Ziel seiner Wünsche zu stehen, bis – bis er erfuhr, mit welchen Mitteln dieser Weg geebnet worden sei. Als er endlich die volle Wahrheit, nach langem Forschen, herausgefunden, da hatte die Vereinigung mit jener Frau aufgehört, für ihn ein Glück zu bedeuten. Er habe, sobald er alles gewußt, nicht anders gekonnt, als sich von ihr zu trennen, und es sei für ihn ein moralisches Müssen, Werner dies mitzuteilen. Gleichzeitig gab ihm Herr von Bredow noch eine andere bedeutsame Nachricht. »Sie haben mir seinerzeit«, so schrieb er ihm, – »von Ihrer Sehnsucht nach einem gedanklich-religiösen Ziel gesprochen, nach einer Art philosophisch vernünftiger Andachtslehre. Ihre Sehnsucht nach ›Gott‹ kann keine der europäischen Kirchen, – die mit einem persönlichen Gotte rechnen, – Ihre Sehnsucht nach einem moralischen Dogma, in dem alles beschlossen ruht und aus welchem heraus die Lösungen menschlicher Wirrnisse erwachsen, konnte auch keine der modernen, reformatorisch-sozialen Bewegungen stillen. Und waren Sie schon damals eines solchen Glaubenszieles bedürftig, so wird es heute, wo Sie schwere Verwundung erlitten haben, ein noch stärkeres Bedürfnis für Sie sein, im Schoß einer Lehre, die hohe Vernunftausblicke mit religiöser Sammlung eint, Frieden zu finden. Das philosophische Kloster ist übrigens nicht nur Ihrer Sehnsucht ein Ziel, sondern es ist eine Art Zeitbedürfnis für alle die, die mit den Riten der bestehenden Kirchen nichts mehr zu schaffen haben und dennoch nach einer Stätte suchen, wie sie bisher nur die Klöster boten. Für alle die muß ein neues Klosterleben geschaffen werden, das als Zuflucht, als Stätte der Andacht für sie bereit steht, – in welchem die leidende Seele Genesung und Frieden findet, sich aus dem Getümmel des weltlichen Kampfes zurückziehen kann und doch keinerlei Dogmen, die gegen die klare Vernunft verstoßen, sich verschreiben muß. Hoch ist der Wert der Andacht. Das Gebet ist eine Sammlung der innersten Kräfte, eine Dämpfung gefährlicher Wünsche, – denn nur der erlaubte Wunsch wagt es, Gebet zu werden. Sie fragten mich damals, als wir uns in Berlin begegneten, wie und wo Sie an die europäische Sekte des Neubuddhismus, von welcher ich Ihnen berichtete, Anschluß finden könnten? Ich wußte Ihnen damals nichts Genaues zu sagen. Heute, da wir uns wieder begegnen – – kann ich Ihnen die gewünschte Mitteilung geben. Drei Deutsche, die in Indien das gelbe Kleid der Buddhistenmönche nahmen, haben in der Nähe von Lugano das erste europäische Buddhistenkloster gegründet. Suchen Sie diese Männer auf, es wird Ihnen nicht schwer fallen, sich ihnen anzuschließen, – denn die Fäden Ihres Schicksals laufen, wenn mich nicht alles trügt, gerade dahin …« Der Luganer See war in der nächsten Nähe von Werners jetzigem Aufenthaltsort Ascona, am Lago Maggiore, und er hatte nicht gezögert, die Besiedelung bald aufzusuchen. Von den strahlenden Gestaden des Sees ein wenig entfernt, verborgen im Gebirge, standen einige Blockhütten – die erste Niederlassung des indo-europäischen Ordens. Die gewünschte Aufnahme war ihm bewilligt worden, – in wenigen Tagen wollte er ganz dahin übersiedeln.
»Wie bedeutsam ist es doch,« schrieb er, »daß gerade die Hand jenes Mannes, die unsichtbar und ohne ihren Willen beteiligt war, mich in den Abgrund zu stoßen, daß gerade jene Hand mir den Weg weisen muß zu neuem Leben!« … Dann berichtete er über die Hauptgedanken der Lehre, wie sie ihm in Novaggio bei Lugano von den deutschen Buddhisten erläutert worden war. Vor allem erkenne diese Lehre keinen persönlichen Gott an. Es wäre kaum irgendein Grund, sie überhaupt als Religion zu bezeichnen, sondern es gebührte ihr der Name einer rein philosophischen Weltanschauung, wäre nicht der Umstand, daß der Geist, der in diese Lehre hinabtaucht, geläutert und erhoben, von religiöser Andacht dem Dasein gegenüber erfüllt, sich aus ihr erhebt. Die drei deutschen Mönche sind Kolonisten eines Vereins, der seinen Sitz in London hat und sich »The followers of the Buddha« benennt. Kein geheimnisvolles Ritual sei vorgeschrieben; die Erörterung philosophischer Fragen und die moralische Selbsterziehung seien die wichtigsten Prinzipien des Vereins. Dieser modernistische Buddhismus trage einen wissenschaftlich-rationalistischen Zug, den eine starke, sozialistische Unterströmung begleite. Die Übersetzung alter, orientalischer Texte, sowie religiös-philosophischer Vorträge und gewisse Übungen der Versenkung der Seele in sich selbst gehörten mit zu der Beschäftigung der Kolonisten. Der zentrale Glaube, nach welchem die Lebensführung gerichtet werde, sei die altarische Lehre: daß das Seelenheil nur durch die höchste Entwickelung des Verstandes zu erreichen sei, daß nur die Unwissenheit von der richtigen Vorstellung der Dinge trenne und jene Disharmonien erschaffe, an denen sich die Menschheit verblute. Diese Erziehung des Geistes sei die eigentliche Tugend, die hier gepflegt werde; ein Leben in Zurückgezogenheit, in andächtiger Vertiefung in die höchsten Gedanken, – das sei der Weg zu diesem Ziel. Die wahren Strebungen dieser Lehre seien also gerade entgegengesetzt jener gewöhnlichen, europäischen Auffassung, die da behauptet, der Buddhismus erstrebe den geistigen Tod. Schon der beständige Kampf, die moralischen Grundprobleme der Welt zu vertiefen, erfordere unausgesetzte Übung der Vernunft, die von jenem Zustande seelischen Verdämmerns, den man hinter dem Buddhismus vermute, am sichersten bewahre. Der Neu-Buddhismus kenne auch kein Nirwana, wie es die Europäer verstehen; die stille Andacht, welcher die Seele sich ergibt, bringe sie allerdings einem Zustand näher, der die Bilder der Welt und ihre lauten Kämpfe zurückweichen lasse. »Geh' an der Welt vorbei – es ist nichts« … Über dieses Nichts, als endliches Ziel, schwankten die Meinungen der verschiedenen Sekten. Jedenfalls sei der Begriff ein so transzendenter, daß er das Streben der Jünger nach Vervollkommnung nicht beeinflusse.
Ursprünglich sei ein einziger, deutscher Mönch an das Ufer des Luganer Sees gekommen. Eine kleine Blockhütte war für ihn errichtet worden; dann aber hatte er zwei seiner Schüler deutscher Abstammung zu sich kommen lassen, und nun wurden noch einige Holländer und Engländer erwartet. Die Blockhütten würden denn auch vermehrt. So scheine sich diese Niederlassung in Mitteleuropa zu festigen und zu verbreitern. Er selbst sei bereit, in diese Gemeinde als Kolonist einzutreten. Kein Gelübde werde ihn binden. Wohl werde von ihm erwartet, daß er sich zum Buddhismus ausdrücklich bekenne, aber erst nach einer vorbereitenden Zeitspanne, die er als Schüler in der Gemeinde verbringe. Um die mönchischen Grade zu erringen, müßte er später nach Indien gehen und dort, in alten Klöstern, den Buddhismus an seinen Quellen studieren; aber so weit sei es noch lange nicht; immerhin – so schrieb er – fühle er sich heute freier, als er jemals war; Beruhigung habe sich über ihn gebreitet. Seit der Zeit, da er den Brief des Herrn von Bredow erhalten, habe die böse und giftige Wunde aufgehört zu schwären, – er fühle, wie sie sich schließe … Und daß ihm hier, in der Sonne des Südens, eine solche Zuflucht beschieden sei, in der sein bestes Teil sich weiter zu entwickeln vermöge und Friede und tiefste Stille, fern vom Getöse der Städte, fern vom Kampfplatz sozialen Ringens, ihn erwarte, das sei für seine Seele heute ein überaus glückliches Wissen. Ob es wohl immer so sein würde? Ob er vom Schüler zum Jünger und vom Jünger zum Mönch weiter steigen würde, – er wisse es heute noch nicht …
Als sie den Brief gelesen hatte, blieb sie lange in Gedanken versunken. Dann schüttelte sie den Kopf. Daß ihm diese Zuflucht, diese Weltflucht, jetzt erwünscht war, begriff sie wohl. Aber ihr war, als dürfte gerade er dem Kampfplatz nicht für immer entweichen. Und es war ein tröstlicher Gedanke für sie, – daß zum mönchischen Grad noch ein weiter Weg war, – und daß sie wußte, daß Werners Seele ein neues Kleid nicht allzu lange trug …
Dann beantwortete sie seinen Brief. Auch sie hatte eine Begegnung zu melden, – und wem hätte sie sie freier bekennen dürfen, als gerade ihm? Mit dem durch den erhobenen Zustand geschärften Blick ihrer Erkenntnis schilderte sie die teure Gestalt.
»… Weißt Du noch, wie ich Dir in jenem ersten Brief das Bekenntnis meines frömmsten Glaubens schrieb? Ich ahnte, daß es ein Begegnen gibt, welches das Ich, das tausendfältig gebundene, aller seiner Bande entbindet, weil es den einzigen Genossen sah … Diese Begegnung war nun in meinem Leben … Und die stillste Ahnung der Seele, – vom Bild des Einzigen, der für sie die Höhe des Geschlechtes bedeutet, – sie ist erfüllt. Ich schrieb Dir damals, daß kein Besitz, ja kein Begehren diese Begegnung begleiten müsse. Heute? Denke ich an ihn, so kommt es aus meinem Herzen wie ein unaufhaltsames, süßes Verströmen … Ich schließe die Augen, und sein Bild steht vor mir. Und sehe ich im Geist sein schimmerndes Haar, die lichte Klarheit, die um seine Lippen lagert, die tiefe Bläue seines Auges, – vernehme ich, mit geschärften Sinnen, die gütigen Rufe seiner Blicke, so scheint es mir, als wäre ich fern von allem Wünschen, und nur ein Glück, das ich bestaune, ist dann in mir: meine Wege führten mich in den Kreis seiner Bahn … Wohl frage ich mich wie Du: wird es immer so sein? Wird die Seele von dem Erlebten dauernd erhoben bleiben? Oder wird sie wieder dem Dunkel verfallen, – dem dunklen Zwange der Leidenschaft? … Wer kann darüber grübeln?« – – –
Sie schloß den Brief. Sie schauerte; eine Seligkeit, die ihr unendlich schien, ergoß sich in ihr Herz; wie Ewigkeitsahnen überkam es sie …