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Genau zu der Stunde, in der Ripton Thompson die Gewohnheit hatte, seine goldene Uhr praktischer Zwecke wegen zu Rate zu ziehen und Freiheit und das nahende Mittagsessen zu wittern, schlich sich der Fuß eines Einbrechers in das Schreiberzimmer, in dem er saß, und ein Mann, mit mürrischer Miene, der wie ein Schurke aussah und den er zu kennen fürchtete, ließ einen Brief in seine Hand gleiten, und bedeutete ihn, daß es weise sein würde, zu lesen und zu schweigen. Ripton gehorchte in großer Aufregung. Augenscheinlich erleichterte der Inhalt des Briefes sein Gewissen, denn er nahm seinen Hut herab und bat Mr. Beazley, seinem Vater mitzuteilen, daß er dringende Geschäfte im Westen hätte und ihn auf dem Bahnhofe treffen würde. Mr. Beazley ging sogleich dienstfertig zu Vater Thompson, und als sie aus dem Fenster hinaus zusammen ihre Betrachtungen anstellten, sahen sie eine Droschke mit sehr vielen Koffern, in die Ripton hineinsprang, indes ein Diener in Livree ihm folgte. Es war Sonnabend, der Tag, an welchem Ripton seine juristischen Studien schloß, um sich großmütig der Familie zu widmen, und Mr. Thompson sah es gern, wenn er, auf dem Wege nach der Station, seines Sohnes Arm nehmen konnte; aber jenes dritte Glas Portwein, welches ihn noch immer sehr kräftigte, und die Dienerlivree, die eine aristokratische Bekanntschaft vermuten ließ, verhinderten Mr. Thompson, sich irgend wie einzumischen. So konnte Ripton ungehindert fortfahren.
292 In dem Wagen las er noch einmal den Brief. Er glich in seiner Bestimmtheit einem kaiserlichen Befehl.
»Lieber Ripton, Du mußt sofort Zimmer für eine Dame besorgen. Kein Wort zu irgend jemand. Und dann begleite Tom.
R. D. F.«
»Zimmer für eine Dame!« Ripton überlegte laut vor sich hin. »Was für eine Art von Zimmer? Wo soll ich Zimmer herbekommen? Wer ist die Dame? – Hören Sie mal!« damit wandte er sich an den geheimnisvollen Boten. »Sie sind also Tom Bakewell? nicht wahr?«
Tom grinste zustimmend.
»Besinnen Sie sich noch auf den Heuschober, Tom? Ha! ha! Da sind wir noch gut fortgekommen. Wir hätten aber alle deportiert werden können. Ich hätte Sie überführen können, Tom, ganz sicher. Man muß sich hüten einem geübten Rechtsanwalt in die Hände zu fallen. Nun sagen Sie mir mal« – nachdem Ripton mit seiner Macht geprahlt hatte, fing er sein Verhör an, »wer ist diese Dame?«
»Sie warten besser, Herr, bis Sie Mr. Richard sehen.« Tom nahm wieder sein verschlossenes Wesen an.
»So!« Ripton ließ die Frage fallen. »Ist sie jung, Tom?«
Tom meinte, das sie nicht alt wäre.
»Hübsch, Tom?«
»Manche möchten wohl so denken, manche auch nicht,« sagte Tom.
»Und von wo kommt sie jetzt?« fragte er Tom, mit der liebenswürdigen Fröhlichkeit eines Juristen, dessen Anstrengungen ganz ohne Erfolg bleiben.
»Kommt vom Lande, Herr!«
293 »Eine Freundin der Familie, vermute ich, eine Verwandte?«
Es hätte Ripton genügt, wenn diese vielsagende Frage mit einem Blick beantwortet worden wäre. Toms Gesicht blieb unbeweglich.
»Ah!« Ripton holte tief Atem und betrachtete die ihm gegenüber sitzende Maske. »Na, Tom, du bist ja ganz gelehrt geworden! Geht es Mr. Richard gut? Zu Hause alles gesund?«
»Ist heut morgen mit seinem Onkel zur Stadt gekommen. Danke, zu Hause ist alles gesund, Herr.«
»Ha!« rief Ripton, der in immer größere Verwirrung geriet, »nun verstehe ich. Sie sind alle heute zur Stadt gekommen, und das sind die Koffer. So, so! Aber Mr. Richard schreibt mir, ich soll Zimmer für eine Dame besorgen. Das muß ein Irrtum sein – er schrieb wohl sehr eilig. Er braucht Zimmer für alle – he?«
»Ich weiß wirklich nicht, was er braucht,« sagte Tom, »Sie halten sich besser an den Brief, Herr.«
Ripton zog das Dokument noch einmal zu Rate. »Zimmer für eine Dame und dann begleite Tom. Kein Wort zu irgend jemand.« Wahrhaftig! Das sieht grade so aus – aber er hat sich doch niemals etwas aus ihnen gemacht. Sie wollen doch nicht sagen, Tom, daß er mit irgend jemand durchgegangen ist?«
Tom hielt sich wieder an seine erste Antwort: »Sie warten besser, Herr, bis Sie Mr. Richard selbst sehen,« und Ripton rief aus: »Verflucht, wenn Sie nicht der verschlossenste Zeuge sind, den ich jemals gesehen habe. Ich möchte Sie nicht im Zeugenverhör haben. Ihr Landleute übertrefft manchmal die schlimmsten Städter. Wahrhaftig!«
Tom nahm das Kompliment an, blieb aber eigensinnig auf seiner Hut, und da nichts aus ihm 294 herauszubekommen war, fing Ripton an darüber nachzudenken, wie er seines Freundes Befehle ausführen könnte. Zuerst kam er zu dem Entschluß, daß eine Dame frisch vom Lande in der Nähe der Parks wohnen müsse, und er ließ den Kutscher nach der Richtung hin fahren. So verband sich Ripton, ohne sich seiner hohen Bestimmung bewußt zu sein, dem Helden und übernahm seine Rolle in der neuen Komödie.
Es ist unzweifelhaft wahr, daß gewisse besonders bevorzugte Personen Ahnungen haben, die sie in günstiger Weise auf ihre Rollen vorbereiten, so daß sie, wenn der Held seinen stürmischen Lauf beginnt, für die Begegnung mit ihm gestärkt sind; ja, ihn auch in seinem Laufe aufhalten könnten, sollten sie diesen außerordentlichen Mut besitzen. Zum Beispiel: Mrs. Elisabeth Berry, eine ältere, freundliche Vermieterin möblierter Zimmer, in der Nähe von Kensington, bemerkte, als sie an diesem selben Märznachmittag, in nachdenklicher Stimmung, in einem Stuhl vor dem Kamin schaukelte, daß das Feuer eine unnatürliche Neigung hätte, nur von einer Seite zu brennen: was die Bedeutung hat, daß dem Hause eine Hochzeit bevorsteht. Warum – wer könnte das sagen? Vorzeichen sind ebenso schwer zugänglich wie Helden. Vielleicht, weil man annimmt, daß bei so einer Sache das Feuer sich meist nur auf einer Seite befindet. Genug, das Vorzeichen war vorhanden und erteilte der frommen Frau eine feierliche Warnung. Mrs. Berry war in ihren Kreisen als eine berechtigte Sprecherin gegen die Fallen des Ehelebens bekannt. Doch war das kein Grund, weshalb sie sich nicht über eine Hochzeit freuen sollte. Voller Erwartung beobachtete sie also die eine glühende Wange Hymens und mit freudigem Zittern sah sie, wie ein Wagen mit vielen Koffern vor ihrem kleinen Vorgarten hielt, ein Herr ausstieg und die Anzeige in ihrem Fenster las. Der Herr 295 verlangte Zimmer für eine Dame. Zimmer für eine Dame hatte Mrs. Berry bereit und auch ein sehr rosiges Lächeln für den Herrn, ein so rosiges, daß Ripton vergaß nach den Bedingungen zu fragen, was die Wirtin in Mrs. Berry aufjubeln und ihn für den glücklichen Bräutigam halten ließ. Aber ihr erfahrenes weibliches Auge gebot ihrem Enthusiasmus Einhalt. Er sah doch nicht wie ein Bräutigam aus, er schien keine Last auf seiner Brust zu tragen, hatte auch nicht das Bedürfnis, immerfort etwas zwischen den Fingern zu drehen. Jedenfalls war er kein Bräutigam, der durch Vorzeichen angekündigt werden würde. Sie versprach in einer Stunde alles für die Dame bereit zu haben, bewaffnete ihn mit ihrer Karte, bedienerte ihn bis zur Wagentür und ließ ihn auf der Flut ihres Lächelns dahinfahren.
Das merkwürdige Fahrzeug, das sein Intriguengespinst durch die Londoner Straßen gewoben hatte, setzte seinen Weg gemächlich fort und kam zum Endziel seiner Unternehmungen. Ripton landete vor einem Hotel in Westminster. Noch ehe er die Treppen halb in die Höhe gegangen war, öffnete sich eine Türe und sein alter Kamerad so vieler Abenteuer stürzte herab. Richard ließ ihm keine Zeit zur Begrüßung. »Hast du es besorgt?« war alles, was er fragte. Als Antwort reichte ihm Ripton Mrs. Berrys Karte. Richard nahm sie und ließ ihn stehen. Fünf Minuten verstrichen, dann hörte Ripton oben das anmutige Rascheln von Frauenkleidern. Richard ging ein wenig voran, und halb von ihm geführt und halb gestützt folgte eine Gestalt in einem schwarzseidenen Mantel, mit kleinem schwarzem Strohhut, jung – sicherlich, obgleich sie einen so dichten Schleier trug, daß er kaum die Umrisse ihres Gesichts erkennen konnte; mädchenhaft schlank und lieblich und einfach in der Erscheinung. Die Stille, die ihr Kommen mit sich zu bringen schien und ihre sanfte Art 296 sich zu bewegen, erregten ritterliche Gefühle in der Brust des törichten Jünglings. Er fühlte, daß er beträchtliche Summen geben würde, wenn sie nur einmal ihren Schleier heben wollte. Er konnte sehen, daß sie zitterte – vielleicht weinte sie. Der, an den sie sich klammerte, war der Herr ihres Schicksals. Sie gingen an ihm vorüber, ohne zu sprechen. Als sie widerstandslos mit gebeugtem Haupte an ihm vorbeiging, erspähte Ripton einen Schimmer ihres schönen Haares und einen bezaubernden Nacken. Ihre goldenen Locken hingen lose herab, strömten unter ihrem Hütchen hervor. Sie sah wie eine Gefangene aus, die zum Opfer geführt wurde. Was Ripton nach dem Anblick dieser Locken dafür gegeben hätte, den Schleier einen Augenblick gelüftet zu sehen, um zu erblinden vor so viel Schönheit, wurde glücklicherweise niemals von seinem Kassierer auszuzahlen verlangt. Und er hatte sich doch schon auf der Hinfahrt Reden ausgedacht, höfliche Reden für die Dame und schelmisch beglückwünschende für seinen Freund. Er wollte diese Reden halten, je nachdem sich die Gelegenheit bieten würde, damit beide ihn als Mann von Welt erkennen und sich durch seine Gegenwart nichts gestört fühlen sollten. Er vergaß all die schmutzige Unmoralität, in der er geschwelgt hatte. Dies war entschieden ernst. Man brauchte es Ripton nicht erst zu sagen, daß sein Freund liebte und den Schritt auf Leben und Tod, den man Heirat nennt, beabsichtigte, ob nun Eltern und Vormünder einwilligten oder nicht.
Gleich kehrte Richard zu ihm zurück und sagte hastig: »Du mußt jetzt zu meinem Onkel nach unserm Hotel gehen. Halte ihn ruhig, bis ich komme. Sage, daß ich mit dir zu sprechen hätte – sage, was du willst. Ich werde zum Diner da sein. Nach dem Essen muß ich dich allein sprechen, Rip!«
Ripton machte den schwachen Versuch zu erwidern, daß 297 er nach Hause müsse. Er war aber sehr neugierig, den Plan der neuen Komödie zu erfahren, und außerdem erwartete Richard, nach dem ernsthaften und vertrauungsvollen Ausdruck in seinem Gesicht, einen Gehorsam ohne Zögern, so zauderte er nicht länger und fragte nach dem Namen und der Adresse des Hotels. Richard drückte seine Hand. Es ist schon viel wert von dem Helden, wenigstens so viel Anerkennung für unsere Hingebung zu empfangen.
Tom Bakewell erhielt auch seine Vorschriften, und nach seinem Gekicher und Grinsen zu urteilen, schien ihm der ihm zugewiesene Teil ziemlich viel Vergnügen zu bereiten. Nach wenigen Minuten waren sie nach verschiedenen Richtungen fortgefahren und Ripton sah sich der ungewohnten Aufgabe gegenüber, seine Phantasie anstrengen zu müssen. So ist die Jugend beschaffen und so groß ist ihr Durst nach Romantik, daß sie schon froh ist, wenn sie auch nur eine untergeordnete Rolle spielen darf. Sobald jemand die Flagge der Auflehnung gegen Eltern und Vormünder entfaltet, darf er sicher sein, eine gesetzlose Bande jugendlicher Schurken um sich zu sammeln, geborene Rebellen, die zum Äußersten entschlossen sind.
Die bartlose Schar weiß, daß sie keine Aussicht hat auf Lohn; aber was kümmert sie das, wenn die rosige Hoffnung winkt, die Pläne der Vorgesetzten zu durchkreuzen? Wenn sie auch sehen muß, wie ein andrer die verbotenen Früchte genießt, so ist sie doch bereit alle Gefahren mit ihm zu teilen. Freudig übernahm Ripton sein Amt in dem Unternehmen, und von dem Augenblick an, in dem sein Herz Treue geschworen hatte, wurde er durch ein köstliches Gefühl vom Reiz des Daseins belohnt. Die Straßen der Stadt lächelten ihm verschmitzt zu. Er spazierte dahin, mit dem Gefühl einer neuen Würde. Der stolze Jüngling warf kühne Blicke auf die vornehmen Equipagen, blickte die Damen vertraulich an, war 298 überströmend glücklich. Die Straßenfeger segneten ihn. Er summte fröhliche Melodien, erinnerte sich wohlgefällig an alte Späße, hatte sich selbst so lieb. Am liebsten wäre er Piccadilly hinunter getanzt, und alles nur, weil sein Freund ein schönes Mädchen entführen wollte und er mit im Geheimnis war.
Erst als er die Schwelle von Richards Hotel erreicht hatte, wurde seine fröhliche Laune etwas durch das Bewußtsein herabgestimmt, daß nun die Pflichten seines Amtes anfingen, und daß er eine glaubwürdige Geschichte erfinden müßte, um das zu erklären, was er doch selbst nicht wußte, – eine Aufgabe, deren Erfüllung, wohl auch dem weisesten Manne Schwierigkeiten bereitet haben würde. Der Jugend indessen, die von den Weisen wohl beneidet werden kann, fehlt es selten an der, ihren Zwecken entsprechenden, Erfindungsgabe. Er hörte zwei Minuten lang zu, wie sich Hippias über den Freund beklagte, nach dem er sich scheinbar mit heiterster Miene erkundigen kam, und dann wußte er, was er zu tun hätte.
»Wir sind schon in der richtigen Straße – einen Steinwurf von dem Hause entfernt, und wie ein Hansnarr springt er aus meinen Wagen heraus und in den andern hinein; er muß verrückt sein – der Junge hat Anlage zum Wahnsinn! – und nimmt alle meine Koffer mit – auch meine Dinerpillen! und bleibt den ganzen Tag fort, obgleich er mir versprochen hat zum Doktor zu gehen und ein Dutzend Verabredungen mit mir hatte,« sagte Hippias und machte seinem Ärger in wütendem Brummen Luft.
Ripton antwortete ihm sofort, daß der Doktor nicht zu Hause gewesen wäre.
»Was! Sie wollen doch nicht etwa sagen, daß er beim Doktor gewesen wäre?« rief Hippias.
»Er hat zweimal vorgesprochen,« sagte Ripton mit Nachdruck, »als er mich verließ, wollte er noch ein drittesmal 299 hingehen. Ich würde mich gar nicht wundern, wenn das der Grund wäre, der ihn zurückhält – er ist so hartnäckig.«
Mit seinen Abstufungen wagte es Ripton ausführlicher zu werden, meinte, daß Richards Fall dringend wäre und sofortigen ärztlichen Rat verlangte; und daß sowohl er wie sein Vater der Meinung wären, Richard sollte mit dem Einholen desselben keine Stunde verlieren.
»Er macht sich Sorge um sich,« sagte Ripton und klopfte sich auf die Brust.
Hippias behauptete, niemals ein Wort davon gehört zu haben, daß sein Neffe irgendwie körperlich bedroht sei.
»Ich glaube, er fürchtete, daß Sie sich um ihn ängstigen könnten.«
Während er noch das ganze Alphabet durchsuchte, um den Anfangsbuchstaben von dem Namen des Doktors zu finden, traten Algernon Feverel und Richard ein. Sie hatten sich unten in der Vorhalle getroffen und lachten herzlich, als sie eintraten. Ripton sprang auf, um einen Fingerzeig für sein Benehmen zu erhalten.
»Hast du den Doktor getroffen?« fragte er, indem er Richards Hand bedeutungsvoll drückte.
Richard wußte absolut nicht, was er mit der Frage anfangen sollte.
Algernon schlug ihn auf den Rücken. »Was zum Teufel hast du mit dem Doktor zu tun? Junge!«
Der kräftige Schlag erweckte ihn so weit, daß er sah, wie die Dinge standen. »Ach, ja, der Doktor!« sagte er und lächelte seinem Gefährten freimütig zu. »Er wettet, daß ich es innerhalb einer Woche mit einem Milo würde aufnehmen können. Onkel,« er trat auf Hippias zu, »ich hoffe, du wirst mir verzeihen, daß ich so fortlief. Ich war eilig. Ich hatte etwas auf der Bahn vergessen. Der dumme Rip denkt, ich bin meinetwegen bei dem Doktor 300 gewesen. Tatsache war, ich wollte den Doktor herholen, damit er hier mit dir sprechen könnte – damit dir jede Unbequemlichkeit erspart würde. Du kannst den Anblick seiner Instrumente und Skelette nicht ertragen – hörte ich dich einmal sagen. Du meintest, das Mark in den Knochen empörte sich bei dir dagegen – es verbrenne dir das Mark in den Knochen – glaube ich, waren deine Worte, und es ließe zwanzigtausend verschiedene Wege nach den Gemächern des ›Grimmigen Königs‹ vor deiner Seele auftauchen. Erinnerst du dich nicht?«
Hippias erinnerte sich ganz entschieden nicht daran, und er glaubte auch nicht an die Geschichte. Der Ärger über den verrückten Raub seiner Pillenschachtel machte ihn ungläubig. Da er kein Mittel hatte seinen Neffen zu widerlegen, konnte er seinem Unglauben nur dadurch Ausdruck geben, daß er mürrisch erklärte, er wäre heute völlig außerstande, bei Tisch zu erscheinen: worauf – da Berry gerade das Diner ankündigte – Algernon einen Arm des Dyspeptikers ergriff und Richard den andern und beide ihn lachend in das Zimmer führten, wo der Tisch gedeckt war, während Ripton schmunzelnd nachfolgte und jedenfalls derjenige in der Gesellschaft war, der sich am glücklichsten fühlte.
Sie waren sehr vergnügt bei Tisch. Richard wollte es durchsetzen, und seine Fröhlichkeit, seine doppelsinnigen Bemerkungen, seine vornehme Erhabenheit über die Wahrheit und sein heldenhafter Entschluß, allen Gesetzen Trotz bieten zu wollen, sein hübsches Gesicht, mit dem Ausdruck, als ob alle Schönheit der Welt ihm zu eigen wäre, das Leuchten, das von seiner Stirn strahlte, durch all das wurde Ripton von neuem vollständig unterworfen. Bis dahin hatte er sich wenigstens geistig halb und halb als Richards Beschützer gefühlt, da er London und Londoner 301 Leben besser kannte und wußte, daß sein Freund jetzt beinahe vollständig von ihm abhängig war.
Nachdem die Gläser zum zweitenmal gefüllt waren, warf der Held seinem Gefolgsmann einen Blick über die Tafel zu und sagte:
»Wir müssen nachher hinausgehen und den Rechtsfall miteinander besprechen, ehe du gehst, Rip. Glaubst du, daß die alte Dame irgend welche Aussichten hat?«
»Aber gar keine!« sagte Ripton äußerst bestimmt.
»Lohnt es also noch die Sache zu verfechten – he, Rip?«
»Ja, natürlich!« war Riptons gereiftes Urteil.
Richard machte die Bemerkung, daß Riptons Vater doch zweifelhaft gewesen wäre. Ripton erinnerte daran, wie vorsichtig sein Vater gewöhnlich wäre. Richard machte eine scherzhafte Bemerkung, daß es manchmal nötig sein könnte, gegen die Ansicht der Väter zu handeln. Ripton stimmte zu – in gewissen Fällen!
»Ja, natürlich! in gewissen Fällen,« sagte Richard.
»Eine schöne juristische Moral, meine Herren,« warf Algernon ein, und Hippias fügte hinzu: »Und auch bürgerliche!«
Die beiden Onkel lauschten dem weiteren, fingierten Dialog, der von beiden Seiten gut geführt wurde, und verlangten endlich zu erfahren, was es mit dem so eifrig besprochenen Rechtsfall der alten Dame auf sich habe. Hippias wollte danach entscheiden, welche Aussichten sie vor Gericht haben würde, und Algernon wollte ein Urteil des gesunden Menschenverstandes abgeben.
»Rip wird euch den Fall erzählen,« sagte Richard und wies rücksichtsvoll auf den Rechtsgelehrten hin, »ich verstehe mich schlecht darauf. Erzähle ihnen, wie die Sache steht, Rip.«
Ripton verbarg sein großes Unbehagen unter einem 302 Versuch, sich auf seinem Stuhle zurechtzusetzen, und betete innerlich, daß die Rotweinkanne doch nur kommen und seinen Verstand stärken möchte; dann fing er mit sorgloser Miene an: »Ach, es ist nichts besonderes! Sie – sie ist ein sehr merkwürdiger Charakter! – Sie – sie trägt eine Perücke. Sie – sie ist eine sehr merkwürdige alte Person! Sie – hm – sie ist noch ganz von der alten Art. Man kann nichts mir ihr anfangen!« und Ripton schöpfte tief Atem, um sich von dieser schweren Arbeit seiner Phantasie zu erholen.
»Das scheint so,« meinte Hippias, und Algernon fragte:
»Was war nun aber mit der Perücke? Hat irgend jemand sie gestohlen?« während Richard, der, vor lauter unterdrücktem Gelächter, ganz grimmig aussah, den Erzähler bat fortzufahren.
Ripton fuhr auf die Weinkanne los. Die alte Dame lag wie ein drückendes Bündel auf seinem Gehirn und er war ebenso hilflos wie sie. In seinen erfolglosen Qualen irgend etwas zu erfinden, klammerte er sich zuerst an ihre Perücke, dann an ihr besonderes Merkmal großen Eigensinnes, dann zerrte er wieder an der Perücke, aber er konnte sie nicht zum Leben erwecken. Das eigensinnige alte Ding blieb ein unförmliches Bündel. Alle Rechtsstudien erschienen ihm leicht im Vergleich zu dieser fürchterlichen Aufgabe, eine alte Dame, aus einer Puppe, zu einem lebenden Wesen zu machen. Er stürzte ein Glas Wein herunter, schwitzte fürchterlich, und indem er im Geiste der Klugheit jener Leute, die man Romanschriftsteller nennt, seine Anerkennung zollte, fing er wieder an: »Ach, es ist nichts! Sie – Richard kennt sie besser, als ich – eine alte Dame – irgendwo da unten in Suffolk. Ich denke, wir werden ihr den Rat geben, lieber nicht zu prozessieren. Die Prozeßkosten sind enorm. 303 Sie – ich denke, wir raten ihr, nicht weiter zu gehen – und keinen Skandal zu provozieren.«
»Keinen Skandal zu provozieren!« griff Algernon begierig auf. »Hört mal, es handelt sich also doch um mehr, als um eine Perücke?«
Ripton erhielt den Befehl weiter fortzufahren, ob nun ein Skandal daraus würde oder nicht. Der unglückliche Erfinder sah seinen unbarmherzigen Führer scharf an, und brachte unsicher und stotternd heraus: »Sie – sie hat eine Tochter.«
»Mit Schmerzen zur Welt gebracht!« rief Hippias. »Danach müssen wir ihr etwas Ruhe lassen! und ich benutze die Gelegenheit, um mich auf dem Sofa auszustrecken. Ach, ja! es ist wahr, was Austin sagt: ›Wir sollten in unserm allgemeinen Gebet um einen vollen Magen bitten, und in einem besonderen um einen, der seine Arbeit gut verrichtet, denn nur auf dieser Basis sind wir den zeitlichen Dingen gewachsen und imstande, über die ewigen nachzudenken.‹ Es ist phrasenhaft, aber wahr. Die Idee hat er übrigens von mir. Paßt auf euren Magen auf, Jungens! und wenn ihr jemals hören solltet, daß man beabsichtigt, einem wissenschaftlich gebildeten Koch oder einem feinschmeckerischen Arzt ein Denkmal zu setzen, dann gebt euren Beitrag dazu. Oder sagt zu ihm, so lange er noch lebt: Tritt hervor und empfange den Ritterschlag! Ha! Sie haben einen guten Koch in diesem Hause. Er paßt besser für mich, als unser Koch in Raynham. Ich wünschte beinahe, ich hätte mein Manuskript zur Stadt gebracht – ich fühle mich so viel besser. Ah! Ich konnte nicht erwarten, daß ich verdauen würde ohne mein gewöhnliches Mittel. Ich denke, ich werde es ganz aufgeben. Was meint ihr zum Theater, heute abend, Jungens?«
»Bravo, Onkel!« rief Richard.
»Laßt Mr. Thompson zuerst seine Erzählung beenden,« 304 sagte Algernon. »Ich möchte den Schluß der Geschichte hören. Die alte Person hatte eine Perücke und eine Tochter. Ich könnte schwören, irgend jemand geht entweder mit dem einen oder andern dieser Gegenstände durch. Füllen Sie Ihr Glas, Thompson, und dann los!«
»Das geschieht auch,« sagte Ripton und benutzte den neuen Gedanken. »Man findet sie zusammen in der Stadt,« er nahm einen frischen Anlauf. »Sie – das heißt die alte Dame – fand sie zusammen.«
»Mit ihrer Perücke auf dem Kopfe findet sie ihn mit ihr zusammen!« sagte Algernon. »Ausgezeichnet! Das ist Stoff für die Rechtsgelehrten.«
»Und Sie haben ihr den Rat gegeben, unter so erschwerenden Umständen keinen Prozeß anzustrengen,« bemerkte Hippias, mit einem, durch seinen befriedigenden Verdauungszustand angeregten, behaglichen Lächeln.
»Es handelt sich um die Tochter,« seufzte Ripton und fuhr, dem Druck nachgebend, eilig fort: »Es ist eine Entführungsheirat – ein wunderschönes Mädchen! – der einzige Sohn eines Barons – nach besonderem Aufgebot – Ach, es handelt sich nun darum« – er wurde nun zuversichtlicher und befand sich mehr in seinem Element, »es handelt sich darum, ob diese Ehe für richtig erklärt werden kann, da sie katholischen Glaubens ist und er ein Protestant, und da sie bei der Heirat beide nicht mündig waren. Das ist die Sache.«
Da er nun zur Sache gekommen war, atmete er äußerst erleichtert, und sah wieder klarer, war aber nicht wenig erstaunt über seines Führers entsetztes Gesicht.
Die beiden alten Herren stellten verschiedene abgeschmackte Fragen, bis Richard mit dem Stuhl heftig auf den Boden stieß und ausrief: »Was machst du nur für eine Konfusion! Du hast wenigstens ein halbes Dutzend Geschichten durcheinander gemischt. Die alte Dame, von der 305 ich dir erzählt, war die alte Frau Bakewell und bei dem Streit handelt es sich um einen Nachbar, der sich Übergriffe in ihrem Garten erlaubte, und ich sagte, daß ich zahlen würde, damit sie zu ihrem Rechte käme!«
»Ach,« sagte Ripton bescheiden, »ich dachte an den andern Fall. Ihr Garten! Kohlköpfe interessieren mich nicht –«
»Nun komm mal mit,« Richard winkte ihm mit heftiger Gebärde. »Ich bin in fünf Minuten wieder zurück, Onkel,« er nickte beiden kühl zu.
Die jungen Männer verließen das Zimmer. In der Vorhalle trafen sie Berry, zur Rückreise nach Raynham bereit. Richard drückte ihm zur Unterstützung seines Verständnisses etwas in die Hand und hieß ihn, nicht zu viel über London zu schwatzen. Berrys Verbeugung versprach vollkommene Diskretion.
»Was in aller Welt veranlaßte dich über das Heiraten von Protestanten und Katholiken zu sprechen, Rip?« sagte Richard, so bald sie auf der Straße waren.
»Wahrhaftig,« sagte Ripton, »ich wurde so hart bedrängt, daß ich auf Ehre nicht mehr wußte, was ich sagen sollte. Du weißt doch, daß ich kein Romanschriftsteller bin, ich kann keine Geschichte ausdenken. Ich versuchte etwas zu erfinden, und mir fiel nichts anders ein, und ich dachte, das wäre grade etwas, worüber man sich schön streiten könnte. Famoses Essen in diesen feinen Hotels. Warum schobst du alles mir zu? ich fing nicht von der alten Dame an?«
Der Held sann nach. »Es ist seltsam! Es ist ganz unmöglich, daß du etwas wissen konntest! Ich werde dir sagen, warum, Rip! Ich wollte dich auf die Probe stellen. Wenn man dir Zeit läßt, flunkerst du nicht schlecht, aber wenn's drauf ankommt und im Einzelgefecht bist du nicht zu brauchen. Du bist brauchbar hinter den 306 Wällen, aber kein guter Schütze im offenen Feld. Ich sehe schon, wozu du gut bist. Du bist zuverlässig – davon bin ich überzeugt. Das warst du immer. Führe mich nach dem Park zu – dort nach jener Richtung – du weißt schon, wo sie wohnt!«
Ripton führte. Das Diner hatte diesen jungen Mann dazu bereit gemacht, dem ganzen Gewehrfeuer festgesetzter Moral Trotz zu bieten. Umgeben von dem dumpfen Geräusch der großen Stadt, allein auf dem dunklen Rasenabhang, lehnte sich der Held auf seinen Gefolgsmann, und mit halblauter, aber scharfer deutlicher Stimme sprechend, gab er ihm Aufklärung. Man wird hier zweifellos deutlich das Wesen und den Standpunkt des Heroischen erkennen, wenn es auch im alltäglichen Gewande auftritt.
»Sie haben ein Jahr lang gegen mich Pläne geschmiedet, Rip! Wenn du sie siehst, wirst du begreifen, was es heißt, wenn dir ein solches Wesen genommen wird. Es hat mich beinahe getötet. Es ist ganz gleichgültig, wer sie ist. Sie ist das vollkommenste und edelste Geschöpf, das Gott je erschaffen hat! Es ist nicht nur ihre Schönheit – die ist für mich nicht so wichtig! – aber, wenn man sie nur einmal gesehen hat, scheint es, als ob sie allen Nerven des Körpers Musik entlockt, sie ist ein solcher Engel. Ich bete sie an. Und ihr Herz gleicht ihrem Äußern. Sie ist reines Gold. Aber du wirst sie ja heute abend sehen.«
»Also,« fuhr er dann fort, nachdem er Ripton durch diese herrliche Aussicht ganz stolz gemacht hatte, »sie brachten sie also fort, und ich wurde wieder gesund. Das war Herrn Adrians Werk. Was kann mein Vater gegen sie einzuwenden haben? Ihre Geburt? Sie ist gut erzogen; ihr Benehmen ist wundervoll – sehr fein – gewandt und sanft! Können sie mir unter ihren Damen irgend eine zeigen, die ihr gleich kommt? – Sie ist die 307 Tochter eines Marineoffiziers! Daß sie katholisch ist? Was hat die Religion mit« – er sprach das Wort ›Liebe‹ schüchtern aus, als ob ein Erröten auf seiner Stimme läge.
»Nachdem ich mich also erholt hatte, bildete ich mir ein, ich mache mir nichts mehr aus ihr. Das zeigt, wie man sich selbst kennt. Und es war mir alles gleichgültig. Mir war, als wenn ich gar kein Blut mehr hätte. Ich versuchte es meinem lieben Austin nach zu tun. Bei Gott, ich wünschte, er wäre hier. Ich liebe Austin. Er würde sie verstanden haben. Er kommt noch in diesem Jahre zurück und dann – aber dann wird es zu spät sein. – Mein Vater machte also immerfort Pläne, um mich vollkommen zu machen – er hat niemals ein Wort mit mir über sie gesprochen, aber ich konnte in seinen Augen lesen, daß er an sie denkt – er sagte, er wollte für Abwechslung für mich sorgen, und fragte mich, ob ich mit Onkel Hippias nach der Stadt wollte, und ich willigte ein. Das war wieder ein Plan, um mich aus dem Wege zu schaffen. So wahr ich lebe, ich habe ebenso wenig erwartet, sie hier zu treffen, wie in den Himmel zu fliegen.«
Er blickte in die Höhe. »Sieh doch, wie die Zweige dieser alten Ulmen sich mit den Sternen zu berühren scheinen – glitzernde Winterfrüchte!«
Ripton richtete seine komische Nase nach oben und fühlte sich verpflichtet, »Ja!« zu sagen, obgleich er keinen Zusammenhang zwischen den Sternen und der Erzählung finden konnte.
»Ich kam also zur Stadt,« fuhr der Held fort. »Da hörte ich, daß sie auch kommen sollte – nach Hause kommen. Es muß Schicksal gewesen sein, Ripton! Der Himmel mag mir verzeihen! Ich war ärgerlich auf sie und dachte, ich wollte sie nur noch einmal sehen – nur noch einmal – und ihr Vorwürfe machen, daß sie falsch 308 gewesen wäre – denn sie hatte mir niemals geschrieben. Und ach, der liebe Engel! was muß sie gelitten haben! – ich entwischte meinem Onkel und ging auf den Bahnhof, auf den sie ankommen mußte. Es sollte sie jemand abholen – ein Bauernsohn – und guter Gott! Sie wollten versuchen, sie mit ihm zu verheiraten! Es fiel mir alles wieder ein. Ein Mädchen von dem Bauernhof hatte es mir erzählt. Der Bursche muß wohl auf die falsche Station gegangen sein, denn wir haben ihn nicht mehr gesehen. Da kam sie nun – kein bißchen verändert! – lieblicher als je! – Und als sie mich sah, wußte ich in derselben Minute, daß sie mich lieben mußte, bis zum Tod! – Du weißt noch nicht, wie das ist, Rip! – Wirst du es mir glauben? – Obgleich ich eben so sicher war, daß sie mich liebte und treu wie Gold gewesen war, wie daß ich sie heute abend wiedersehen werde, sprach ich doch unfreundlich mit ihr. Und sie ertrug es sanftmütig – sie sah wie eine Heilige aus. Ich sagte ihr, daß es für mich nur eine Hoffnung im Leben gäbe – sie müßte mir beweisen, daß sie treu wäre, und da ich alles aufgäbe, müßte sie es auch tun. Ich weiß nicht, was ich alles sagte. Der Gedanke, daß ich sie verlieren könnte, machte mich toll. Sie versuchte mich zu bitten, daß ich warten sollte – ich weiß, sie tat es nur meinetwillen. Ich behauptete, wie ein elender Heuchler, daß sie mich gar nicht liebe. Ich glaube, ich habe schmähliche Dinge gesagt. Ach, was für edle Geschöpfe sind die Frauen! Sie hatte kaum Kraft genug, sich zu bewegen! Ich brachte sie dorthin, wo du uns gefunden hast. –Rip! sie lag vor mir auf den Knien. Ich habe mir in meinem ganzen Leben nicht etwas so Liebliches vorstellen können. Ihre Augen waren zu mir aufgeschlagen, glänzten in einer Flut von Tränen – ihre dunklen Augenbrauen trafen sich, als ob Schmerz und Schönheit sich vereinigten, und ihr herrliches, goldenes Haar fiel über ihre 309 Schultern, als sie sich über meine Hände beugte – Konnte ich einen solchen Schatz verlieren? – Konnte mich das nicht besser überzeugen, als irgend etwas anderes? – Ich dachte an Dantes Madonna, an Guidos Magdalena. – Ist dabei Sünde? Ich sehe keine! – Und wenn es Sünde ist, dann fällt sie nur auf mich! Ich schwöre es, daß sie rein ist auch von dem Gedanken an Sünde. Ich sehe bis in ihr Herz! Ich soll aufhören, sie zu lieben? Wer wagt es, das von mir zu verlangen? Aufhören, sie zu lieben? Ich lebe doch nur durch sie! Ihr kleines Kinn sehen, wie sie den Hals zu mir aufhob, als sie vor mir kniete! – eine Locke fiel über ihren Hals . . .«
Ripton lauschte, um mehr zu hören. Richard war bei der Erinnerung an dieses Bild in tiefes Sinnen verfallen.
»Ja, wie war es denn aber nun mit dem jungen Bauernburschen?« sagte Ripton. Das Haupt des Helden hatte sich wieder zu den sternentragenden Zweigen erhoben. Er verstand die Frage seines Gefolgsmannes erst nach einiger Zeit.
»Der junge Tom? Ja, es ist der junge Tom Blaize – der Sohn unsers alten Feindes, Rip! Ich habe den alten Mann jetzt sehr gerne. Ach, von dem Burschen habe ich nichts mehr gesehen.«
»Himmel,« rief Ripton, »sollen wir wieder mit den Blaizes in Ungelegenheiten kommen! Das gefällt mir nicht!«
Sein Befehlshaber ging über das, was ihm gefiel oder nicht gefiel, gleichgültig hinweg.
»Aber, wenn er nach dem Bahnhof geht und sie nicht dort findet?« meinte Ripton.
»Dafür habe ich gesorgt. Der Narr ging nach Südosten, statt nach Südwesten. Alles Warme, alles Süße kommt von Südwest. Ich habe dafür gesorgt, Freund Rip. Mein zuverlässiger Tom wartet wie zufällig dort 310 auf ihn. Er sagt ihm, daß er sie nicht gesehen hätte, und rät ihm morgen noch einmal nach dem Bahnhof zu kommen, und auch den folgenden Tag. Tom hat Geld für seine Arbeit. Tom Blaize soll London kennen kernen, Rip! du weißt – wie du. Wir werden einige Tage Vorsprung gewinnen. Und wenn der alte Blaize davon hört – was schadet das? Ich habe sie, sie ist die Meine! – Außerdem wird er eine Woche lang nichts hören. Ich wette darauf, mein Tom übertrifft jenen Tom an Klugheit. Ha! ha!« plötzlich fiel ihm etwas ein und er lachte laut. »Was meinst du wohl, Rip? Mein Vater hat eine Art von System mit mir, wie es scheint, und als ich das letztemal mit ihm zur Stadt kam, führte er mich zu einer Familie, – zu den Grandisons – und was meinst du wohl? eine von den Töchtern ist ein kleines Mädchen, übrigens ein ganz nettes, kleines Ding – sehr komisch – und er wünscht, daß ich auf sie warte! Er hat es nicht grade gesagt, aber ich weiß es. Ich weiß, was er meint. Keiner versteht ihn, außer mir. Ich weiß, daß er mich liebt, und daß er einer der besten Menschen ist – aber stell' dir bloß vor! – ein kleines Mädchen, die mir grade bis an den Ellbogen reicht. Ist das nicht lächerlich? Hast du jemals solchen Unsinn gehört?«
Ripton sprach nachdrücklich seine Meinung aus, daß es sicherlich sehr töricht wäre.
»Nein, nein! Der Würfel ist gefallen!« sagte Richard. »Sie haben ein Jahr lang bis heute ihre Pläne geschmiedet, und das haben sie erreicht! Wenn mein Vater mich liebt, wird er sie lieben. Und wenn er mich liebt, wird er mir vergeben, daß ich gegen seinen Willen handle. Komm! geh' schneller! wie lange wir unterwegs sind!« und fort stürmte er und zwang Ripton solche Schritte zu machen, wie sie der Paukenjunge neben einer Kolonne von Grenadieren machen muß.
311 Ripton fing an zu wünschen, er wäre auch verliebt, da er sah, wie es einem Manne soviel Atem verlieh, daß er tief seufzen konnte und dabei mächtig ausschreiten und doch nicht müde werden. Der Held hielt ein Zwiegespräch mit den Elementen, seinen Vertrauten, und gestattete ihm zu lauschen, soviel er wollte. Einige kluge Kensingtoner Straßenjungen erkannten die Unzusammengehörigkeit in dem Gehvermögen dieser beiden und machten ihre Witze auf Kosten von Mr. Thompson junior. Das Tempo und nur das Tempo veranlaßte Ripton schließlich auszurufen, daß sie zu weit gegangen wären, und sie entdeckten, daß sie eine halbe Meile über das Ziel hinausgeschossen wären. In der Straße, über der der Stern der Liebe stand, tat der Held an einer Tür donnernd seine Gegenwart kund und rief ein eilendes Hausmädchen hervor, die nichts von Mrs. Berry wußte. Der Held legte der Tatsache, daß sein Instinkt ihn so täuschen konnte, große Bedeutung bei, denn er hätte darauf schwören können, daß dies das Haus wäre. Nachdem die Türe geschlossen war, stand er in tiefem Schweigen da.
»Hast du denn nicht ihre Karte?« fragte Ripton, und hörte, daß der Kutscher dieselbe behalten hätte. Sie konnten sich beide nicht auf die Nummer des Hauses besinnen.
»Du hättest die Tür mit Kreide zeichnen sollen, wie der Bursche in der Geschichte von den vierzig Räubern,« Ripton wagte einen Scherz, der aber unbeantwortet blieb.
Der Sklave der Liebe von seinem Instinkt betrogen! Mit schweren Schritten stieg der Held die Stufen hinab.
Ripton murmelte, daß sie nun verloren wären. Sein Herr aber wandte sich zu ihm und sagte: »Nimm du alle Häuser auf der andern Seite der Straße, eins nach dem andern. Ich werde diese Seite nehmen.« Mit sauerm Gesicht ging Ripton über die Straße. Richards angeborne 312 Überlegenheit widrigen Verhältnissen gegenüber machte ihn vollständig wehrlos.
Nun wurden Familien aufgestört. Nun fingen die Sterblichen an zu ahnen, daß sich etwas Wichtiges vorbereitete. Nun wurden Arbeiter im Weinberge rauh erweckt aus ihrem Abendschlummer. Hoffnung und Furcht schritten die Straße entlang, und wieder und immer wieder ertönten die lauten Doppelschläge an den Türen. Endlich rief Riptons fröhliche Stimme. Er hatte Mrs. Berry vor sich, die sich gar nicht genug tun konnte in freundlichen Verbeugungen.
Richard lief zu ihr und ergriff ihre Hand: »Sie ist wohl? – ist oben?«
»Oh, ganz wohl! nur ein wenig ermüdet von der Reise, und etwas aufgeregt,« erwiderte Mrs. Berry, hatte aber nur Ripton vor sich. Der Liebende war nach oben geeilt.
Die kluge Frau führte in ihrer Weisheit Ripton in ihr Privatzimmer, damit er dort warten sollte, bis er gebraucht würde.