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Die wundersame Heckenrose

Ja, wo war denn die Puppe Liesel geblieben, als sie so in jähem Schwung durchs Fenster wirbelte? Sie war nicht unter die Räder geraten und nicht in die rauschende Mürz gefallen; ein blühender Rosenstrauch, der unten am Bahndamm wuchs, hatte sie ganz sanft in seinen Zweigen aufgefangen und festgehalten, und als Puppe Liesel sich von ihrem schreckensvollen Staunen erholt hatte, saß sie wohl geborgen auf einem schwankenden, aber dennoch sicheren Sitz mitten zwischen grünem Laub und blühenden Rosen und blickte hinaus auf eine weite, sonnenbeschienene Wiese, auf der die allerherrlichsten Blumen standen.

Ihr wißt wohl alle, daß die Puppen, obwohl sie weder reden, noch weinen, noch lachen können, trotzdem keineswegs leblose oder gefühllose Geschöpfe sind. Ihre Gefühle sind vielleicht nicht so lebhaft, wie die unseren, sie sind viel ruhiger, weil sie weder Furcht noch Bangen kennen, weil sie die Zukunft und die Gefahren, die in ihr verborgen sein mögen, nicht zu erraten verstehen. Aber sie fühlen genau, wer ihnen mit Liebe und wer ihnen mit Gleichgültigkeit begegnet, und erwidern jede Zuneigung mit unverbrüchlicher Treue und Dankbarkeit. So hing auch Puppe Liesel zärtlich an ihrer kleinen Herrin und ihr Puppenherz tat ihr weh, daß sie so plötzlich von ihrer Seite gerissen worden war. Aber weil sie sich dachte, daß ihr Mütterchen sie ja ganz bestimmt nicht im Stiche lassen, sondern sie bald wieder von hier abholen werde, so beruhigte sie sich gar bald, und grade so still und zufrieden und aufmerksam, wie sie vorhin aus dem Eilzugswagen geblickt hatte, so sah sie jetzt von ihrem luftigen Thron im blühenden Rosenbusch in die schöne Sommerwelt. Die Luft wehte lind und lau an ihr vorüber und die Düfte der Blumen umschmeichelten sie. Das Zirpen der Grillen, das helle Schrillen, das die Heuschrecken mit ihren Beinchen vollführen, der fröhliche Sang einer Lerche hoch in den Lüften drang deutlich an ihr Ohr. Und alles, was da um sie lebte und webte, hatte gar bald den seltsamen Gast bemerkt, der wie vom Himmel gefallen so plötzlich mitten unter ihnen saß. Guck das Ding! Guck das Ding! rief ein Fink, der im Holunderbusch daneben sein Nest hatte und aus seinen blanken, schwarzen Augen ängstlich auf das große, unbekannte Geschöpf blickte, das sich leise zwischen den Rosen schaukelte. Frag es flink, was es bringt! zwitscherte die Finkenfrau und duckte sich tiefer auf die Eier herab, die sie eben ausbrütete. Zögernd flog der Fink etwas näher, setzte sich auf ein Zweiglein und sah scharf auf das wunderliche Wesen. Es rührte sich nicht. Noch näher flog er. Es tut weder eine drohende Gebärde, noch öffnet es den Mund. Da wagte er es, sich dicht neben Puppe Liesel niederzulassen. Sie lächelte ihn so freundlich und lieb an – es war das einzige, was sie tun konnte –, daß auch der kleine Finkenmann die gute Meinung verstehen mußte, und er flog beruhigt zum Nest zurück und rief wohl zehn- oder zwölfmal sein »Gutes Ding! Liebes Ding!« daß auch sein Weibchen schließlich beruhigt war. Und auch die Wachtel, die ihre Kinder grade aus dem benachbarten Kornfeld heraus ins Grüne führen wollte, hatte erst ihren Mann mit einem ängstlichen »Schau genau! Schau genau!« vorangeschickt, aber auch der Wachtelhahn sah keine Gefahr! »Könnt schon gehen!« meldete er der Frau und den Kindern und bald konnte Puppe Liesel die ganze niedliche Familie unten durchs dichte Gras spazieren sehen. Nun aber hörte sie über ihrem Kopf einen ganz, ganz leichten Flügelschlag und erblickte einen wunderschönen Falter, der sich langsam senkte und auf ihrem rosa Kleidchen sich niederließ. Ach, was war das für ein wunderschöner Schmetterling! Seine Flügel waren strahlend gelb und am Rande schön ausgezackt, längs der Zacken lief ein Saum von schwarzem Samt, aus dessen Zinken ein herrliches Blau schimmerte; die Enden der Schwingen waren in lange Spitzen ausgezogen und eine schöne rote Verzierung, wie ein Auge fast, war dort zu sehen. Mit leise zitternden Flügeln saß der Falter auf Liesels rosa Kleid, bewegte die Fühler, entrollte den fadendünnen Rüssel und suchte hier und dort nach Honig. Seine großen Augen sahen zu Liesel auf und es war, als ob sie sagen wollten:

O du wundersame Rose im Rosenstrauch! Wann bist du aufgeblüht? Ich flog am Morgen hier vorbei und sah dich nicht; ich kam wieder am Mittag und sah nur deine kleinen blassen Schwestern. Und jetzt blühst und prangst du mitten unter ihnen! Wie süß muß dein Honig schmecken, du wundersame Heckenrose!

Und während Liesel noch stumm und lächelnd auf den schönen gelben Falter sah, kam von der anderen Seite ein zweiter Schmetterling geflogen, flatterte vor ihr hin und her und setzte sich dann gleichfalls auf ihr Kleid. Er war nicht licht und hell wie der erste, sondern dunkel und fast düster, aber wie er die Flügel im Sonnenschein bewegte, blitzten sie wie blauer, blank geschliffener Stahl. Auch er befühlte den feinen rosa Stoff und sah sie mit bewundernden Augen an, Puppe Liesel aber war es in der Nähe dieser beiden Flügeltierchen fast ein wenig bange. Da hörte sie ein lautes Surren und Brummen; ein dunkler Schatten flog dicht vor ihren Augen vorbei, die Schmetterlinge hoben die Schwingen und flatterten rasch hinweg, und ein großer, brauner Riesenkäfer saß plötzlich auf ihrem Schoß. Himmel, was war das für ein Untier? Der hatte ja Zangen – nein, Hörner – nein, ein richtiges Geweih wie ein Hirsch; und das zwickte er auf und zu und kroch immer näher an ihr herauf!

»Sonderbare Sache,« brummte er, »Riesenblume oder was sonst? Muß doch ansehen! Alles Volk auf meiner alten Eiche hat sie gesehen; sind alle neugierig! Lebt sie? Muß doch probieren!«

Und der streitbare Hirschkäfer, der es nicht so schlimm meinte, als sein Aussehen war, und der nun den hundert und aberhundert geflügelten und gepanzerten, kriechenden und fliegenden, singenden und pfeifenden Bewohnern der alten Eiche am Waldrand genaue Nachricht bringen wollte, zupfte mit seinen Zangen ganz leise an dem Spitzchen, das Traudels Hand um den Rand von Liesels Hemdchen gehäckelt hatte.

Aber Liesel rührte sich nicht, sie saß ruhig und lächelnd wie zuvor. Und der Hirschkäfer brummte: »Nichts Lebendiges, nein! Kann uns nichts tun! Gleich wieder heim – brumm, brumm, brumm!« Und er spreizte seine braunen Flügeldecken und die zarten glashellen Flügelchen darunter und flog zu der neugierigen Gesellschaft auf der alten Eiche zurück.

Puppe Liesel war froh, als der grimmige Geselle sie verließ; er hatte ihr lange nicht so gut gefallen, wie die beiden schönen Falter. Aber sie blieb nicht lange allein. Bald summte eine dicke Hummel vorbei, die über die große Wunderblume gleichfalls sehr erstaunt war und nicht recht wußte, wie sie sich benehmen sollte. Drei- oder viermal läutete sie um Liesels Kopf, dann entschloß sie sich aber doch, weiterzufliegen. Nun kamen drei oder vier eilige Bienen auf einmal, die ihr Honigkrüglein hier rasch zu füllen dachten, aber o weh! in der schönen rosa Blume war nirgends etwas von Honig zu spüren und, ärgerlich über den Zeitverlust, summten die fleißigen Bienen weiter. Ein paar faule Fliegen, die sich jetzt einfanden, hatten es nicht so eilig, sie krochen auf Puppe Liesels Kleid, auf ihren Armen und Haaren, ja selbst auf ihrem Gesicht recht zudringlich hin und her und wurden erst durch eine schwirrende Libelle vertrieben, die dicht vor Liesels Gesicht in der Luft innehielt und hin- und herzuckte, als wollte sie auf eine Beute stoßen, aber sie sah bald, daß nichts zu holen war, und schoß wie der Blitz wieder davon. Und dann kam ein schöner blauschillernder Käfer, und dann wieder eine Biene, und so ging es fort; Puppe Liesels Erscheinung im Rosenbusch war ein großes Wunder für die ganze Sommerwiesenwelt und jeder wollte sie begucken und bestaunen.

Mit all diesen Besuchen verging Puppe Liesel die Zeit so rasch, daß sie gar nicht merkte, wie nahe nun schon der Abend war. Sie sah wohl, wie die weißen Trichter der Winde, die den alten Grenzstein am Rain umsponnen hielt, sich einer nach dem andern schlossen, und wie das goldene Leuchten des Bocksbarts auf der Wiese plötzlich erlosch. Aber die kleine Puppe wußte nicht, was das zu bedeuten hatte. Sie dachte nicht, daß der Abend schon so nahe sein könnte. Aber als nun die Sonne langsam hinter dem zackigen, dunklen Rand des Fichtenwaldes im Westen versank und fast gleichzeitig ein kühler Hauch über die Wiesen strich und im Blattwerk des Rosenstrauchs säuselte, da wurde es Puppe Liesel doch bange ums Herz. Kam ihre Mutter Traudel denn noch immer nicht? Sollte sie auch die Nacht hier allein mit Blumen und unbekannten Tieren verbringen?

Da hörte sie plötzlich von ferne her ein Geräusch, das sie den ganzen, langen, einsamen Nachmittag hindurch noch nicht vernommen hatte: das Geräusch menschlicher Tritte. Ja, es war gar nicht zu verkennen, es waren wirkliche Tritte, die sich näherten. Von ihrem grünen Plätzchen aus konnte Liesel bald einen Mann erkennen, der gleichmäßig und ruhig oben auf dem Bahndamm längs der Geleise daher kam. Einen Augenblick lang hatte sie gehofft, daß es Traudels Vater sei, aber nein, dieser Mann sah ja ganz anders aus. Er hatte eine Mütze auf dem Kopfe und – ja, jetzt war er schon ganz nahe heran. Und jetzt blieb er stehen, sah herab, beugte sich vor, rief ein erstauntes »Ach!« und kam dann rasch den Bahndamm herunter. Und jetzt sah Puppe Liesel, wie ein gebräuntes, frisches Gesicht mit einem Schnurrbart sich dicht über sie neigte und eine lachende Stimme sagte: »Ach, was ist denn das für eine wundersame Heckenrose?«

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