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Im winzigen, winzigen Häuschen

Der Bahnwärter Georg Schwebskichl war wirklich sehr erstaunt, als er mitten im blühenden Rosenbusch eine so schöne, feine Puppe sitzen fand. Da die Gegend sehr einsam und verlassen war und in der ganzen Runde niemand wohnte, dem man den Besitz der Puppe zutrauen konnte, folgerte Herr Schwebskichl sofort ganz richtig, daß sie nur aus einem Zuge herausgefallen sein könne – und daß man versuchen müsse, sie ihrem richtigen Besitzer wieder zurückzugeben. Vorsichtig und behutsam löste er sie mit seinen braunen Händen aus den Rosenzweigen los und trug sie mit sich fort. Puppe Liesel sah genau, wie fröhlich er vor sich hinlachte. »Was wird die Resi für Augen machen!« sagte er leise vor sich hin.

Puppe Liesel war es ganz recht, daß sie nun von dem stundenlangen Harren erlöst war, obwohl sie ja noch gar nicht wußte, in wessen Hände sie geraten war und wohin sie kommen würde. Aber das freundliche Gesicht des Mannes hatte sie gleich mit Zutrauen erfüllt. »Vielleicht bringt er mich zu Traudel!« dachte sie sich. Das sollte nun freilich nicht der Fall sein.

Als sie vielleicht noch eine Viertelstunde gewandert waren, erblickte Puppe Liesel ein kleines weißes Häuschen, das ihr jedoch bekannt vorkam. Und als sie es genauer ins Auge faßte, wußte sie, daß es eins von den vielen weißen Häuschen war, die an der ganzen langen Bahnstrecke von Wien aus in regelmäßigen Abständen zu sehen gewesen waren. Und gerade bei diesem, daran erinnerte sie sich noch, hatte Traudel gerufen: »Oh, sieh doch, Helli, das entzückende Bahnwächterhäuschen!« und sie selbst hatte sich auch noch gefreut über dieses kleine Blumenparadies mitten im Grünen … Gleich hinterher war dann die böse Kurve gekommen, bei der sie so jäh das Gleichgewicht verloren hatte und in wildem Schwung durchs Fenster geflogen war.

Auf dem Wiesenweg, der zu dem Häuschen führte, kam ihnen jetzt eine kleine Gestalt entgegen, die ein Wägelchen hinter sich herzog. Es war ein kleines Mädchen – ganz genau so groß wie Traudel! mußte Puppe Liesel denken. Und blonde Haare hatte sie auch! Und blaue Augen! Nur ihre Wangen sind viel röter als Traudels Wangen! Und ihre Hände und Füße – ihre bloßen Füße – viel brauner als die von Traudel! Aber was für ein liebes Gesichtchen mit den beiden steifen Zöpfchen rechts und links! Wie sie uns entgegenlacht! Und in dem netten, grünen Wägelchen, das sie zieht, liegt auf sauberem, rot und weiß gewürfeltem Kissen – eine Puppe? Eine große Puppe? Ach nein, da sitzt ein lebendiges Kind, das mit Ärmchen und Beinchen strampelt und vor Vergnügen lacht!

»Vater! Grüß Gott!« rief das Mädchen mit den blonden Zöpfchen schon von weitem.

»Grüß dich Gott, Reserl!« rief der Bahnwächter zurück, »da schau einmal her, was ich mitgebracht habe!«

Vor lauter Neugier ließ Reserl den Wagen mit dem strampelnden Franzl stehen und flog wie eine Feder so leicht und schnell auf den Vater zu. Als sie die Puppe Liesel erblickte, die schön aufgerichtet auf seiner breiten braunen Hand saß, schrie sie fast auf vor Entzücken.

»Oh! Vater! Die schöne Puppe! Die wunderschöne Puppe! Wo hast du denn die her? Wem gehört sie denn? Darf ich sie anschaun?«

»Ja, schau sie dir nur an, aber vorsichtig,« sagte der Vater, »denk dir, ich hab' sie in dem großen Rosenstrauch dort bei der Kurve gefunden. Sie muß aus dem fahrenden Zug herausgefallen sein!«

»Und ist ihr nichts geschehen?«

»So viel ich gesehen hab', nichts, Reserl. Nicht einmal das schöne Kleid ist zerrissen. Wart', wir werden sie der Mutter auch noch zeigen.«

Inzwischen hatte Reserl schon wieder die Deichsel des Wagens ergriffen und ging neben dem Vater rasch dem Hause zu. »Mutter, Mutter!« rief sie dabei, »komm heraus! Der Vater hat eine Puppe gebracht!« Eine schlanke junge Frau mit einem weißen Tuch um den Kopf trat auf die Schwelle des Häuschens und sah fast noch erstaunter als Reserl auf das Puppenkind.

»Wo kommt denn die her? Du wirst sie doch nicht gekauft haben, Georg?« sagte sie mit einem zögernden Vorwurf in der Stimme.

»Aber nein! Die wär' mir wohl zu teuer gewesen. Und so was kriegst du ja gar nicht bei uns! Das ist sicher eine Prinzessin aus der Wienerstadt, die aus einem Ersteklass'-Wagen herausgefallen ist.«

Hätte Puppe Liesel sprechen können, so hätte sie gleich gesagt, daß es nur ein Wagen dritter Klasse gewesen war, in dem sie reiste. Aber leider konnte sie weder darüber, noch über irgend etwas anderes Auskunft geben. Sie lächelte freundlich von dem Sessel, auf den sie Reserl gesetzt hatte, zu der kleinen Familie hinüber, die sich um den Abendbrottisch gesammelt hatte.

»Was wirst du denn jetzt mit der Puppe machen?« fragte Frau Marie ihren Mann, nachdem Reserl sich ein wenig in ihrer Bewunderung beruhigt hatte. »Wir können sie doch nicht einfach behalten!«

»Freilich nicht,« sagte Georg Schwebskichl, »ich geh' gleich morgen in der Früh mit ihr zum Herrn Stationsvorstand und werd' ihn fragen, was ich tun soll. Er wird sie zu den gefundenen Gegenständen legen, mein' ich.«

»Morgen soll sie schon wieder weg?« fragte Reserl betrübt. »Darf ich nicht heute abend noch ein bisserl mit ihr spielen, Vater? Nur anschaun und gern haben, weißt du, ich tu ihr ganz bestimmt nichts, ich geb' schon acht.«

»Da kann man sich auf die Reserl verlassen,« sagte die Mutter, »wenn der Tisch abgeräumt ist, kannst du dir die Hände waschen, Kind, und dir die schöne Puppe ein wenig anschaun.«

Und so geschah es auch. Mit freudezitternden Händen nahm Reserl die Puppe in Empfang. Sie besah sich das freundliche Gesicht, die niedlichen Hände, die Füße, die in kurzen weißen Strümpfen und gehäkelten Schühchen steckten. Dann bewunderte sie das geblümte rosa Dirndlkleid, das fein gefaltete Hemdchen mit den zierlichen Spitzen herum.

»O Mutter, schau! Mutter!« rief Reserl plötzlich, ganz rot vor Freude. »Ich weiß, wie die Puppe heißt! Liesel heißt sie! Schau her! Schau her!«

»Wie kannst denn du das wissen,« fragte die Mutter ungläubig und kam mit ihrer Näherei näher.

»Da steht es ja,« sagte Reserl und deutete mit dem Finger auf das Hemdchen. Und wirklich, in ganz winzig kleinen und zarten Kreuzbuchstaben war da zu lesen: Liesel.

»Das muß aber ein gutes Kind sein, dem die Puppe gehört hat,« sagte die Mutter, »daß sie alles so in Ordnung gehalten und sogar den Namen auf das Hemdchen gestickt hat!«

»Und schau – man kann die Puppe ganz ausziehen,« rief Reserl wieder. Und wirklich, das Kleidchen hatte richtige Knöpfe, die man öffnen konnte – es ließ sich über den Kopf streifen, und darunter sah man die niedliche Wäsche, die alle wirklich zum Aus- und Anziehen war, genau wie die Strümpflein und Schühlein.

»Ach, die liebe, liebe Puppe,« sagte Reserl inbrünstig und drückte sie ans Herz, »so schad', daß sie nur eine einzige Nacht bei mir sein darf! Aber sie muß ein extra schönes Bett haben! Mutter, leihst du mir deine schöne Schachtel?«

In der schönen Schachtel, die einstmals Schokoladebonbons enthalten hatte und die Frau Schwebskichl von einer Freundin als Hochzeitsgeschenk übergeben worden war, bewahrte die Mutter allerhand Kleinigkeiten auf, die ihr lieb waren. Dazu auch ihre Granatenbrosche und ihre silberne Uhr. Sie gab diese Sachen nicht gern heraus, aber weil sie sah, wie sehr ihr Kind sich freute, wollte sie ihr die Bitte nicht abschlagen, und so wurde die »schöne Schachtel« mit einem schönen, weichen Heulager gepolstert, darüber ein Taschentuch gebreitet, dann kam ein kleines rotsamtenes Pölsterchen darauf, in welches die Mutter sonst die Nadeln zu stecken pflegte, und als Decke obendrauf Mutters seidenes Kopftuch. Ja, das war ein Bett wie für eine Königin; und nachdem Reserl die schöne Puppe wohl mindestens zehn oder zwanzigmal aus- und wieder angezogen hatte, legte sie sie schließlich in das Bettchen hinein, sagte ihr inbrünstig »Gute Nacht« und ging dann selber schlafen.

»Wenn nur der Herr Stationsvorstand die Puppe uns lassen möchte,« sagte Frau Schwebskichl zu ihrem Manne, als die Kinder schliefen. »Die Reserl ist sonst so ein stilles Kind, aber wie sie sich heut gefreut hat! Ich hab' sie noch gar nie so gesehen.«

»Ich möchte ihr die Freude auch gönnen,« sagte der Bahnwächter nachdenklich, »aber ich kann die Puppe nicht behalten, ohne zu fragen.«

So wurde denn die Puppe am nächsten Morgen von Reserl mit mancher stillen Träne in ein weißes Seidenpapier gepackt und der Vater trug sie zur nächsten Bahnstation, die ziemlich weit entfernt war. Der Herr Stationsvorsteher war sehr guter Laune, denn er hatte bei seiner Morgeninspektion im Garten entdeckt, daß seine geliebten Rosenstöcke, denen er all seine freie Zeit widmete, alle ihre Knospen erschlossen hatten und in herrlichstem Flor prangten. Als nun Schwebskichl seine »wundersame Rose« hervorzog und von ihrer Entdeckung berichtete, brach er in ein schallendes Gelächter aus.

»Leere Gläser und Flaschen sind schon öfter aus einem Zug geflogen,« sagte er, »und haben auch manchmal Schaden angerichtet; aber fliegende Puppen, nein, Schwebskichl, das ist mir noch nicht vorgekommen!« Er nahm die Puppe in die Hand, drehte sie nach allen Seiten und musterte sie durch seine Brillengläser. »Eine schöne Puppe, Schwebskichl! Die war gewiß nicht billig!«

»Und was glauben der Herr Stationsvorstand …«

»Was ich glaube, wieso? Ob ich sie hier behalten soll? Aber Schwebskichl! Ich spiele doch nicht mit Puppen!«

»Aber wenn sich die melden, die sie verloren haben …«

»Melden! Wer wird sich denn melden! Die glauben doch bestimmt, daß die Puppe kaputt ist! Und so eine Puppe hat gewiß sehr reichen Leuten gehört. Die kümmern sich nicht viel darum und kaufen ihrem Kind einfach eine neue! Nein, Schwebskichl – da brauchen Sie sich keine Gewissensbisse zu machen. Die Puppe ist herrenlos, die können Sie ruhig behalten! Sie haben ja Kinder, nicht wahr?«

Schwebskichls Gesicht begann zu strahlen. »Mein Mäderl hat sich gestern schon so gefreut …«

»Na also, da nehmen Sie ihr die Puppe nur ruhig wieder mit! Guten Morgen, Schwebskichl!«

Der Herr Stationsvorstand war ein Junggeselle und verstand nicht viel von Puppen und Puppenkleidern. Er konnte nicht wissen, daß Puppe Liesels Garderobe, die ihm so reich und glänzend vorkam, aus allerhand Abfalläppchen geduldig und geschickt zusammengeschneidert war und daß gerade die Sorgfalt, die darauf verwendet worden war, von der Liebe zeugte, mit der die kleine Herrin an ihrem Eigentum hing. Und er konnte auch nicht wissen, daß Traudels Vater gar nicht reich war – daß er durch seinen Geist und seinen Fleiß nur eben so viel verdiente, daß er seine Kinder gut erziehen und ihnen alljährlich eine ausgiebige Erholung auf dem Lande vergönnen konnte. Nein, leicht zu verschmerzen war der Verlust der Puppe weder für Traudel noch für ihre Mutter gewesen, aber der Herr Stationsvorstand hatte nach bestem Wissen und Gewissen entschieden, daß die Puppe der Resi Schwebskichl gehören sollte. Und auch eine andere Entscheidung hätte nichts genützt; denn Traudels Vater war so sehr davon überzeugt, daß die Puppe bei ihrem jähen Sturze verunglückt sein mußte, daß er gar keine Nachforschungen nach ihr anstellte.

So kam also Puppe Liesel im Triumph in das winzige, winzige Häuschen zurück. Resi konnte es zuerst gar nicht glauben, daß sie nun wirklich ihr gehören sollte. Dieses Glück erschien ihr gar zu groß. Erst saß sie eine lange Zeit still auf einem Stuhl und hielt Liesel fast ehrfürchtig auf den Knien, dann aber fielen ihr allerhand Dinge ein, die jetzt getan oder beschafft werden mußten, und da wurde sie wieder munter und lebendig. »Jetzt braucht die Liesel aber ein ordentliches Bett!« sagte sie zur Mutter. »Wir können sie doch nicht immer in der schönen Schachtel schlafen lassen!«

»Freilich nicht!«

»Da muß sie einen kleinen Strohsack haben, ein Leintuch, ein Polster, eine Decke, oder ein Federbett, o je, Mutter, wo werden wir das alles hernehmen?«

»Ja, wenn du es wirklich brauchst, so mußt du dir es halt verschaffen.«

»Ich brauch' es nicht, Mutter, aber die Liesel! Schau, das ist so eine feine Puppe, wer weiß, was für ein schönes Himmelbett sie zu Hause gehabt hat! Und wenn wir es ihr auch nicht so schön machen können wie früher, so soll sie doch hübsch warm und weich liegen, gelt? Ach, hilf mir doch, Mutter, und sag', wie ich es anfangen muß!«

Die junge Frau Schwebskichl sah ihre kleine Tochter freundlich an. »Ja, das Bett, das wird wohl der Vater machen müssen. Aber das andere mußt du selber nähen, Reserl! Du bist ganz geschickt, du wirst es schon treffen! Komm, wir suchen uns Flicken heraus!«

In ihrer Flickenkiste fand Frau Schwebskichl richtig verschiedene Reste von weißem Zeug und ein Stückchen derbes Leinen, das gut für einen Strohsack verwendet werden konnte. Ein festes Holzkistchen war auch da, das gerade die richtige Größe für Liesels Bett hatte. Als der Vater am Abend vom Dienst heimkam, wurde ihm die ganze Angelegenheit vorgetragen und er war auch gleich mit Rat und Tat bei der Hand.

»Wir werden für die Puppe ein Wägelein machen,« sagte er, »so eins, wie der Franzl hat. Da kann sie in der Nacht drin schlafen, und bei Tag kannst du sie darin spazieren fahren.«

Und damit ging er gleich hinaus zu dem kleinen Schuppen, suchte ein passendes Brett und sägte vier runde Scheiben heraus, die er als Räder an das Kistchen befestigte. Dann kam noch eine bewegliche Deichsel daran. Die Ränder wurden oben ein wenig zurechtgesägt, so daß sie nun eine zierlich geschweifte Linie bildeten, und dann kam die Krönung des ganzen – ein schöner, farbiger Anstrich. Georg Schwebskichl war ja so geschickt und hatte so viel Freude an solchen Arbeiten. Er hatte noch allerhand Farbe in ein paar Töpfchen stehen und da strich er nun das ganze Wäglein mit einem schönen, tiefen Kornblumenblau und auf den Seiten malte er ein paar schöne bunte Blumensträuße. Nun war es aber auch ein Staatswagen, dessen sich keine Prinzessin hätte zu schämen brauchen! Freilich dauerte es ein paar Tage, bis alles fertiggestellt und die Farben getrocknet waren, und bis dahin mußte sich Puppe Liesel noch mit der schönen Schachtel begnügen. Aber Reserl war inzwischen auch nicht müßig gewesen. Sie hatte einen blauen Sack genäht und ihn mit schönem gelben Stroh sorglich ausgestopft; ein Pölsterchen und ein Deckbett hatte sie mit Hühnerfedern gefüllt, die die Mutter immer aufhob, und dann mit hübschem, weißen Bettzeug überzogen; Leintücher hatte sie sogar schon drei gesäumt – oh, auch alle übrigen Sachen wollte sie gleich in ein paar Stücken herstellen, damit sie immer rechtzeitig wechseln konnte – und so war nun ein wunderweiches und wunderfeines Bettchen fertig, in das sich Puppe Liesel dann auch mit großem Behagen hineinlegen ließ.

Nun müßt ihr aber nicht denken, daß Resi Schwebskichl gar nichts anderes zu tun gehabt hätte, als immer nur mit ihrer Puppe zu spielen und hübsche Sächlein für sie zu nähen. Die Schule war allerdings auch für Resi jetzt schon aus und sie brauchte nicht mehr jeden Morgen den stundenlangen Weg ins Dorf zu machen, wo die Schule stand, aber zu Hause gab's auch Arbeit genug. Resis Mutter war eine fleißige, flinke Frau, aber sie wollte auch alles sehr genau und blitzblank haben und da mußte ihre Resi schon wacker an die Hand gehen. Jeden Morgen mußte sie das Schlafzimmer auskehren und abstauben und dabei sah ihr Puppe Liesel von der Höhe eines Schrankes aus zu und wunderte sich immer von neuem über die winzige, winzige und doch so ordentliche und vergnügte Welt, in der sie jetzt lebte. Das Häuschen enthielt eigentlich nur zwei Räume; einen Schlafraum und eine Wohnküche. Beide Räume waren nicht allzu groß und es gehörte schon eine sehr genaue Einteilung dazu, um Möbel und alles notwendige Gerät so unterzubringen, daß es niemand im Wege war. Aber Resis Mutter hatte alles wunderbar eingeteilt. Nichts stand im Wege, nichts war verräumt; nichts fehlte, aber auch nichts war überflüssig. Und alles mußte immer an seinem Platz sein. Da gab es kein Handtuch über der Stuhllehne, kein halbgeleertes Glas auf dem Fensterbrett: alles mußte sogleich weggeräumt werden, das Handtuch auf den Handtuchhalter, das Glas in die Küchenkredenz. Ja, auf Ordnung hielt Frau Schwebskichl mit großer Strenge, und nur dadurch erreichte sie es, daß in dem winzigen Häuschen nicht nur Platz war, sondern auch Gemütlichkeit und Behagen. Zu dem Häuschen gehörte aber auch noch ein kleiner Stall, in welchem die Ziege Heiderl und das bunte Hühnervolk wohnte, das von Reserl allmorgendlich aus einem flachen, runden Korbe gefüttert wurde. Die Ziege durfte an den Hängen des Bahndammes weiden und Reserl saß dann als dreifache Hüterin bei ihr; denn außer Heiderl war ihr auch noch Franz im grünen und natürlich Puppe Liesel im blauen, blumenbunten Wäglein anvertraut. Glücklicherweise waren alle drei sehr fromm und brav. Die Ziege graste im Kreise um den Pflock, an dem sie mit einer langen Schnur angebunden war, das Brüderlein schlief fast immer, wenn nicht gerade seine Essenszeit nahte, und Puppe Liesel, das könnt ihr euch wohl denken, daß sie mucksmäuschenstill in ihrer Staatskarosse saß und ihre neue kleine Mutter auf keine Weise ärgerte. So kam es, daß Reserl sich zu ihren vielen Hüterpflichten noch einer anderen Arbeit widmen konnte, nämlich ihrem Strickstrumpf, deren sie alle paar Tage einen neuen, ganz besonders schön gefärbten in ihren fleißigen Fingern hielt. Denn Reserl mußte sich alle Strümpfe für den Herbst und Winter selber stricken, jetzt im Sommer trug sie ja keine an ihren nackten braunen Beinchen. Und während die Nadeln in ihren Fingern leise klirrten und der Strumpf, dessen ungezählte Maschen sich fein und gleichmäßig aneinanderreihten, sichtlich länger wurde, erzählte sie mit zarter, hoher Stimme Geschichten, die alle ihrer geliebten Puppe Liesel zugedacht waren. Frau Schwebskichl, die, eine Feldbreite weit entfernt, auf ihrem Kartoffeläckerchen oder im Kraulfeld unter den Krautköpfen arbeitete, richtete sich von Zeit zu Zeit auf und warf einen warmen Blick auf die kleine Gruppe hinüber, die im Sonnenschein am Fuße des Bahndammes saß. Manchmal donnerte ein Zug vorüber. Die Geiß war daran so gewöhnt, daß sie nicht einmal einen Seitensprung machte; das Brüderchen schlief ruhig weiter; aber Resi sprang auf und winkte, und die Reisenden an den Wagenfenstern winkten wieder. Und Frau Schwebskichl stand in diesen Augenblicken in Vertretung ihres auf der Strecke arbeitenden Mannes mit der eingerollten roten Fahne vorne an den Bahnschranken, die sie vorschriftsmäßig geschlossen hatte und nach Vorbeifahrt des Zuges wieder öffnete.

Puppe Liesel dachte in diesen friedlichen, sonnigen Stunden oft und oft an ihre erste Mutter, an ihre liebe Traudel, zurück. Sie war ähnlich gewesen wie Resi und doch auch wieder ganz anders. An Resi war alles so zierlich und nett wie das ganze winzige, winzige Häuschen. Aus ihren beiden blonden Zöpfchen stand nicht ein Härchen weg, ihre bescheidene Kleidung war immer sauber und ohne Riß, und alles, was sie machte, paßte und stimmte ganz genau. Traudel, oh, die war auch ganz geschickt gewesen, hatte ihr manches Kleidchen genäht und hatte auch Freude daran gefunden – aber wenn's ordentlich werden sollte, hatte sie doch zehnmal ihre Mutter fragen müssen; und stricken konnte sie bestimmt nicht so schön wie Resi und tat's auch nicht so gern! Und Liesel erinnerte sich genau, daß Traudels Mutter manchmal hatte schelten müssen, wenn sie bei der Heimkehr von der Schule so wild durch die Türe gestürmt war und den Hut auf die eine Seite und die Schultasche auf die andere geworfen hatte. So etwas konnte bei Reserl gewiß nicht vorkommen. Aber glaubt ihr, daß Liesel ihre erste Mutter nun weniger lieb hatte? O nein; sie wußte, wenn Traudel auch ein kleiner Wildfang war, sie hatte doch ein so gutes, warmes, liebes Herz – und sie konnte sie nicht vergessen, so gut es ihr in dem winzigen, winzigen Häuschen und bei seinen Bewohnern gefiel – ebensowenig wie Traudel in aller Ferienseligkeit ihre geliebte Puppe Liesel vergaß.

Wenn sie nun recht lange alle vier da draußen auf der blühenden Wiese geweilt hatten, da hörten sie immer aus der Ferne das Läuten der Abendglocken von der Kirche im Dorfe. Dann sprang Resi aus dem Gras, rollte ihr Strickzeug zusammen, schob den Knäuel unten in des Bruders Wägelchen und zog dann zuerst dieses nach Hause. Wenn sie den Franzi der Mutter übergeben hatte, kehrte sie nochmals zurück und holte die Geiß und die Puppe heim. Zu Hause gab es gleich große Arbeit, bis der Franzi versorgt war und die Geiß und die Hasen und bis das Nachtmahl gekocht war, wobei die Resi ihrer Mutter immer hübsch helfen mußte; aber wenn dann der Vater heimkam, dann war der Tisch in der blühenden Bohnenlaube schon gedeckt und sie nahmen das bescheidene Mahl, umgeben von stiller Sommerseligkeit, zufrieden ein. Nachher hieß es: »Resi, räum' ab!« und sie trug das Geschirr in die Küche hinein und wusch es – oh, sie war achtsam, sie zerschlug weder Teller noch Schüsselein! – und räumte es in den Kasten. Und dann durfte sie noch ein Stündelein mit der Puppe bei den Eltern draußen sitzen. Der Vater hatte sich die Pfeife angezündet und die Mutter nähte, solange es licht war, an einem weißen Wäschestück; hin und wieder tauschten sie mit leisen Stimmen einen Satz aus, der Vater erzählte, was ihm der Tageslauf gebracht hatte, und die Mutter berichtete ein Geschehnis aus dem Dorfe, wo sie einkaufen gewesen war. Und Resi nahm dann wohl die Puppe auf den Arm und spazierte mit ihr auf den schmalen Wegen des Gärtleins herum, das mit seiner Farbenpracht und Blumenfülle den fahrenden Kindern im Zuge damals so sehr in die Augen geleuchtet hatte. Das Gärtlein war gerade wie das Haus, so klein und so ordentlich und so voller bescheidenen Reichtums. Der meiste Platz war den Gemüsen gewidmet, deren Zucht der Mutter viel Mühe, aber auch viel Freude machte. Da standen in schönen geraden Reihen die grünen Salathäuptel, dort spreitete die Petersilie ihre üppigen gezackten Blätter, weißblühende Erbsen rankten an dürrem Reisig hoch, die breiten Gurkenblätter krochen über die Erde und in einer Ecke rundeten sich die ehrenfesten Kohlköpfe für den Winterbedarf. Resi liebte diese Ecke nicht sehr, denn das Ablesen der Raupen vom Kohl, das sie öfters verrichten mußte, war ihr keine liebe Arbeit, freilich eine, deren Notwendigkeit sie einsah. Sie ging lieber zu den Blumen hinüber, denen nur ein kleiner Teil des Gärtchens eingeräumt war, die aber hier in dem schmalen Räumchen besser gediehen als in manchem großen Prunkgarten. Da waren drei Rosenstöcke, einer rot, einer gelb, einer weiß, da war der duftende, tausendblumige Phlox, da waren weiße Lilien am Gartenzaun, kletternde blaue Winden, gelbe Ringelblumen an der Wand, hier ein Grüpplein Malven, deren unterste Blüten sich schon entfaltet hatten, und brennende Liebe und Rittersporn und wer weiß, was noch alles! Resi nannte ihrer lieben Puppe die Namen aller Blumen und ließ sie an den geöffneten Kelchen riechen, um die schon die Abendfalter schwirrten. Die silberne Mondsichel war schon im Blau erschienen und ein leichter Wind ging über die Wiesen. Da sagte die Mutter: »Reserl, geh schlafen!« und gehorsam ging das Kind, wünschte den Eltern gute Nacht und ging in das Häuslein. Dort wurde die Puppe Liesel ausgezogen und in ihr schönes Wagenbettlein gelegt, ihre Kleider wurden ebenso fein gefaltet auf einen Sessel gelegt wie Rests eigene, und dann schliefen Kind und Puppe ein, einem stillen und zufriedenen Tag entgegen.

Ja, still und zufrieden schwammen diese sonnigen Tage an dem winzigen, winzigen Häuschen vorüber. Ein einziges Mal drohte ein jähes Unheil aus den Wolken herabzustoßen – nicht etwa auf die Menschen, nein, nur auf die Henne, die ihre Küchlein gerade mutterfreudig und eifrig auf der grünen Wiese spazieren führte. Sieben lichtgelbe Küchlein waren es, und wenn sie so im Kreis um die schneeweiße Gluckhenne piepsten und flatterten, mußte Resi immer daran denken, wie ihnen der Lehrer in der Schule ein Gestell gezeigt hatte, welches dartun sollte, wie sich sieben leuchtende Sternlein um eine große, helle Sonne in der Mitte drehten. Ja, und wie nun das Sönnlein mit seinen sieben weißen Planetchen durchs grüne Gras schritt, da scholl auf einmal aus der Höhe ein gellender, durchdringender Schrei – und die Henne sträubte die Federn und begann aus Leibeskräften zu glucken und zu rufen und die Hühnlein ließen die leckeren Würmer und Käfer und Hälmlein, von denen sie eben gezupft hatten, fahren und warfen die Beinchen in Eile, zu ihrer Mutter zu kommen. Da fuhr aber auch schon ein dunkler Schatten aus der Höhe herunter – und die Resi stürzte aus dem Hause und schrie mit gellender Stimme: »Ein Geier, ein Geier,« und der Franzi, aus dem Schlafe geweckt, zeterte furchtbar los und zum Glück, ja, zum Glück! ließ sich der Raubvogel schrecken und schwang sich wieder in die Luft, den fernen Wäldern zu. Resi aber stürzte über die Henne her und lobte sie und zählte die Küchlein immer und immer wieder, ob es wirklich noch sieben wären … Und als sie am selben Nachmittag wieder strickend mit ihren Pflegebefohlenen am Wiesendamm saß, erzählte sie der Puppe wohl zehnmal oder noch öfter haargenau die Geschichte von dem Geier, der die Küchlein rauben wollte – und die Puppe Liesel hörte zu und ahnte nicht, wie nahe sie die Geschichte anging.

*


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