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Fünf Mütter und fünf Puppen

Und nun war wieder der große Tag gekommen, an dem die Familie Schlosser in die Sommerfrische fuhr. Wieder standen sie alle sechse auf dem Südbahnhof: Vater, Mutter, Helmut, Traudel, Gerhard und die gute, lustige Nanni. Traudel hatte auch wieder ihr rosa Dirndlkleid an, das noch sehr schön war und an dem die Mutter nur den Saum ein bißchen verlängert hatte. Aber die Puppe Lotte hatte sie diesmal nicht im Arm, sie hatte so schreckliche Angst vor einem neuen Eisenbahnunglück, daß sie die Puppe lieber hübsch sicher in den Koffer verpackt hatte, dort, wo auch das Köfferchen mit Liesels Kleidern, mit dem niedlichen Mantel und dem Rosenknospenhut war, die Traudel ihrer lieben Puppe alle getreulich wieder mitbrachte.

Und so fuhren sie wieder in die herrliche Pracht der Alpenwelt hinein und jubelten und jauchzten über die Schönheiten, die sich ihren begeisterten Blicken boten. Bruder Gerhard, um ein Jahr älter und verständiger, jauchzte und lachte mit ihnen.

Aber nach Lichtenbrunn konnte man nicht auf der Hauptstrecke der Südbahn gelangen. Man mußte umsteigen, und fast eine halbe Stunde auf einem kleinen, netten Bahnhöfchen warten. Und als nun Traudel an ihres Vaters Hand auf dem Bahnsteig stand und nach dem Zuge Ausschau hielt, da hörte sie plötzlich ein hohes, feines Stimmchen hinter sich sagen:

»Schau, Vater! Das Mäderl hat dasselbe Kleiderl an, wie die Puppe Liesel!«

Wie der Blitz fuhr Traudel herum und sah sich einem ungemein netten und sauber gekleideten Mädchen ihres Alters gegenüber, dem rechts und links zwei steife, blonde Zöpflein vom Gesicht wegstanden. Es hing an der Hand eines noch jungen, wie ein Eisenbahner gekleideten Mannes.

»Was weißt denn du von der Puppe Liesel?« wollte Traudel schon fragen. Aber ihr Vater kam ihr zuvor. Er zog höflich den Hut und fragte den Eisenbahner:

»Was ist denn das für eine Puppe Liesel, von der die Kleine spricht? Wir haben voriges Jahr eine Puppe Liesel verloren.«

»Ach, das ist nit schlecht,« sagte der Mann und begann gutmütig zu lachen. »Ist sie Ihnen 'leicht aus dem Eisenbahnzug gefallen?«

»Ja, zwischen dem Semmering und Bruck ist sie aus dem Waggonfenster gestürzt. Sie hatte ein Kleid aus demselben Stoff wie Traudel an.«

»Und ich hab' sie gefunden!« rief Georg Schwebskichl ganz vergnügt. »Ich bin nämlich dort Bahnwächter. Auf einem Heckenrosenstrauch ist sie gesessen. Der Herr Stationsvorstand hat mir erlaubt, daß ich sie meiner Reserl geben darf.«

»Ist das die Reserl?« fragte Traudel schüchtern. Und dann streckte sie dem kleinen Mädchen die Hand hin, die diese zaghaft ergriff.

»War die Puppe Liesel lang bei dir?« fragte sie.

»Oh, hübsch lang – bis der Geier sie weggetragen hat.«

»Am 21. Juli, nicht wahr?« rief Traudel aufgeregt. »Oh, hör' nur, hör' nur, Vater – von der Reserl hat der Geier die Puppe weggetragen.«

»Ja, leider, leider,« sagte Herr Schwebskichl. »Die Reserl hat furchtbar um sie geweint. Es möcht' mich nur interessieren, was der Geier mit ihr gemacht hat. Fressen hat er sie doch nicht können.«

»Ich weiß, wo die Puppe Liesel ist,« lachte Traudel verschmitzt.

»Du weißt es?« stieß Resi hastig hervor und schämte sich dann gleich, daß sie so keck gewesen war.

»In Lichtenbrunn ist sie, wohin wir jetzt fahren.«

In Georg Schwebskichls Gesicht malte sich das größte Erstaunen. »Die Herrschaften haben die Puppe wiedergefunden?« sagte er fröhlich. »Und in Lichtenbrunn? Ja, wie ist sie denn dorthin gekommen?«

»Der Oberförster Pausewang in Recknitz hat den Geier geschossen und hat die Puppe der Susi gegeben, und die Susi hat sie der Marie gegeben, weil sie sie so lieb gehabt hat, und die Marie ist mit dem grünen Wagen bis Lichtenbrunn gefahren, dort hat sie sie im Wald vergessen, und die Höllgruber Annerl hat sie gefunden und bei der ist sie jetzt, und dann krieg' ich sie wieder,« sprudelte Traudel, furchtbar stolz auf ihre Wissenschaft, noch hervor.

Der Bahnwächter sah den Doktor fragend an.

»Es ist wirklich so,« sagte dieser. »Wir sind durch einen merkwürdigen Zufall oder durch eine Kette von Zufällen auf alle diese Zusammenhänge daraufgekommen. Nur wußten wir bisher nicht, bei wem die Puppe in den drei ersten Wochen nach ihrem Sturz aus dem Fenster gewesen war. Jetzt ist es abermals durch einen Zufall aufgeklärt worden.«

»Mich freut's, daß die Puppe nicht kaputt gegangen ist,« sagte Georg Schwebskichl. »Gelt, Reserl, dich freut es auch.«

»Ja, sehr,« flüsterte sie.

Aber nun erscholl ein Pfeifen und Schnauben und der Zug, auf den die Familie Schlosser wartete, kam brausend heran. Schnell prüften die Eltern mit den Augen, ob alle Kinder und alles Handgepäck hübsch beisammen sei, und dann hieß es einsteigen.

»Fahren Sie auch mit?« fragte Doktor Schlosser noch den Bahnwächter. Dieser schüttelte den Kopf.

»Wir warten auf den Gegenzug.«

»Also grüß Gott – es hat mich sehr gefreut, Herr …«

»Schwebskichl.«

»Herr Schwebskichl.«

»Ganz meinerseits, ganz meinerseits,« rief der Bahnwächter.

Und Resi knixte und piepste mit einem glücklichen Lächeln: »Küss' die Hand!« Dann fuhr der Zug von dannen.

Doktor Schlosser lehnte sich behaglich in seine Ecke und sagte: »Nun ist auch das letzte Rätsel gelöst.«

Traudel aber hörte den ganzen Rest der Fahrt nicht auf, von Resi und Susi, Marie und Annerl zu reden, und malte der geduldig zuhörenden Mutter aus, wie es der Puppe Liesel auf den verschiedenen Stationen ihres Wanderlebens wohl zumute gewesen sei, und wie sie sich jetzt bestimmt schon auf ihre erste und richtige Mutter freue. Wie ein kleines Mühlrad ging das kleine Plapperzünglein; und beinah hätte sie's überhört, daß der Schaffner bei einem neuerlichen Halten des Zuges mit lauter Stimme »Lichtenbrunn!« schrie. Aber Vater und Mutter und Nanni und die Brüder standen alle auf und da mußte sie schon folgen; und als sie auf den Bahnsteig traten, stand da die kleine Annerl mit einem großen Blumenstrauß und mit der Puppe Liesel im Arm. Traudel fiel ihr um den Hals.

Draußen vor dem Bahnhof wartete Loisl, der Knecht, mit einem Ochsengespann. »Die Pferde müssen heute Heu einführen,« sagte Annerl wie entschuldigend. Rasch war das Gepäck auf dem Wägelchen verstaut und es ging nach dem Höllgruberhofe. Annerl mußte ihre Freunde gleich überall herumführen und ihnen alles zeigen, und sie tat dies so unermüdlich und gründlich, daß Helmut und Traudel, als sie abends zu Bett gingen, mit dem Treiben auf dem Bauernhöfe schon förmlich verwachsen waren und sich wie dazugehörig fühlten.

Es waren wundervolle Tage, die die Kinder nun genossen, unzählige Freuden waren ihnen beschert und jedes kam dabei auf seine Rechnung. Helmut betätigte sich fleißig als Wasserbauer, errichtete Brücken über das kleine Bächlein, das am oberen Ende des langgestreckten Obstgartens dahinfloß, und baute Dämme und Stauwehre. Auch ein Hafen für sein Unterseeboot fehlte nicht. An einer Stufe des Bächleins aber richtete ihm sein Vater zwei Mühlen ein; eine ganz einfache, die ein viertaktiges Hammerwerk betrieb, dessen lautes, metallisch klingendes »pinke-panke-pinke-panke« täuschend an eine Schmiede gemahnte, und eine zweite mit einem richtigen Mühlrad, ganz wie es die großen Mühlen haben. Das Wasser schoß aus einer richtigen kleinen Rinne von oben auf das Rad. Die Achse des Rades aber führte in ein hölzernes Haus mit Dach und Fenstern und Türen und betätigte darinnen ein Klopfwerk, das deutlich an das Rattern einer wirklichen Mühle erinnerte. Der ganze Bauernhof bewunderte und bestaunte die beiden Kunstwerke, ja, sogar Nachbarn kamen, angelockt durch das Schmieden und Klopfen, herüber und Helmut und auch Traudel oder Annerl erklärten den Besuchern voll Stolz immer wieder die Einrichtung und ließen die Räder schneller oder langsamer laufen.

Helmut half aber auch der Annerl beim Kühhalten, er kannte bald die ganze Herde so gut und wurde auch mit der übermütigen »Gretl« und der etwas unfolgsamen »Frieda« so gut fertig, daß Annerl sich um die Kühe gar nicht zu kümmern hatte und sich mit Traudel ganz dem Spiele mit den Puppen hingeben konnte.

Puppe Liesel hatte jetzt auch eine wunderschöne Zeit. Sie freute sich ganz furchtbar darüber, daß sie ihre erste Mutter wieder hatte, sie freute sich, daß sich ihre erste und ihre fünfte Mutter so gut miteinander vertrugen und ihr einträchtig alle Liebe und Sorge zuwandten, deren sie nur fähig waren (anders wäre es ja aber auch gar zu schrecklich gewesen und sie hätte es gewiß nicht überlebt). Sie freute sich schließlich auch darüber sehr, daß sie in Puppe Lotte gar eine Puppenschwester bekommen hatte, mit der sie sich nun über alles mögliche aussprechen konnte. Denn Puppen untereinander können sich natürlich schon verständigen, besonders des Nachts, wo die Menschenkinder alle schlafen. Schade nur, daß Liesel und Lotte gerade da nie beisammen waren. Aber sie schliefen immer getrennt, die eine bei Traudel, die andere bei Annerl, und zwar jeden Tag abwechselnd. Frau Doktor Schlosser hatte dies gleich am ersten Abend, als sie Annerls trauriges Gesichtchen gesehen hatte, Traudel so vorgeschlagen, und die Mädchen waren es beide zufrieden gewesen und hielten sich seither strenge daran.

Puppe Liesel sah aber jetzt auch wieder sehr viel Neues und erfreute sich daran. Mit Annerl war sie nicht allzuviel hinausgekommen, nur auf die Weide hatte sie sie mitgenommen, selten aufs Feld. Traudel machte mit ihren Eltern und Brüdern fast jeden Tag einen Spaziergang oder Ausflug und nahm sie oft und oft mit. Umgekehrt hatte Puppe Liesel die Freude, daß Traudel und ihre Brüder das ständig wechselnde, reiche Leben auf dem Bauernhof nach und nach kennen lernten, das sie selbst größtenteils schon kannte. Alles allerdings kannte auch sie bei weitem noch nicht. Gleich die Kirschenernte, die ein paar Tage nach Traudels Ankunft begann, hatte sie noch nicht mitgemacht, da war sie noch nicht bei der Annerl gewesen. Haushohe, schwere Leitern, die manchmal drei Personen tragen mußten, wurden an die mächtigen Kirschbäume gestellt und eine ganze Woche lang fuhr zu jedem Zuge nach Wien der Milchwagen mit vielen, vielen Obstkistchen nach dem Bahnhofe. Als dies vorüber war, wurde der Weizen gemäht und die Kinder brachten den Schnittern die Jause und Trinkwasser und Most aufs Feld. Ein paar Tage später wurde der Weizen eingebracht und gedroschen. Dreschen hatte Puppe Liesel im vergangenen Herbst schon gesehen, das war ihr nichts Neues mehr, aber nicht gewußt hatte sie, daß auch Traudels Vater sich auf diese Arbeiten verstand. Anstatt Herrn Höllgrubers stand diesmal er beim Motor und wartete ihn, und Helmut führte auf einem Wägelchen in einer großen Gießkanne ununterbrochen Kühlwasser zu. Doktor Schlosser half auch sonst noch wiederholt mit, wenn es viel Arbeit gab, und Puppe Liesel hörte es mit einem gewissen Stolz mit an, als Herr Höllgruber einmal nach dem Dreschen zu seiner Frau sagte: »Ja, der Herr Doktor ist stark und versteht auch die Sach'; du hättest nur sehen sollen, wie er uns die schweren Strohbürdel auf den Boden hinaufgeschwungen hat!« –

Eines Vormittags, als Doktor Schlosser von der Post zurückkam, sagte er zu Traudel und Annerl: »Kinder, richtet eure Puppen fein sauber her, morgen gibt es eine Überraschung. Und Annerl, du bist morgen bei uns eingeladen, ich werde dich bei deiner Mutter für den ganzen Tag ausbitten!« Die Kinder waren schrecklich neugierig und fragten, Traudel erst ihren Vater und dann ihre Mutter, Annerl ihre Mutter; aber der Vater wiederholte nur: »Putzt eure Puppen fein heraus, morgen gibt's eine Überraschung!« Und die Mütter wußten überhaupt nichts oder taten wenigstens so. Traudel ging mit Helmut dann noch alle Familienfeste durch, die sie kannten, aber es war nichts damit, keines fiel auf den morgigen Tag, den 21. Juli. »Nur eines könnte es sein,« meinte Traudel zuletzt, »morgen ist es gerade ein Jahr, daß der Geier der Reserl bei Bruck die Puppe Liesel geraubt und Susis Vater den Geier geschossen und so Susi die Puppe bekommen hat!« »Aber das ist doch keine Überraschung!« wendete Helmut ein.

Am Abend kam Annerl nochmals zur Traudel gelaufen, nachdem sie sich schon längst »Gute Nacht« gesagt hatten, und flüsterte ihr zu: »Du, dein Vater hat mir jetzt noch gesagt, ich muß morgen früh zur Hand sein, wir gehen zum zweiten Zug zur Bahn!« »Oh, jetzt hab' ich's,« rief Helmut, als er das hörte, »wir fahren morgen zur Reserl!«

Am andern Morgen, Punkt Viertel neun, war Doktor Schlosser mit seiner Frau und den vier Kindern auf dem Bahnhof. Annerl trug Puppe Lotte, Traudel Puppe Liesel im Arm. Gerade als sie hinkamen, ertönte das Signal für den Zug. »Geht nur gleich voraus auf den Bahnsteig,« sagte Doktor Schlosser, »ich komme sofort nach!« Damit wandte er sich dem Fahrplan an der Wand zu, er schaute dort etwas nach und machte sich Notizen. Dann eilte auch er hinaus. »Bitte, gib mir meine Fahrkarte!« bat Helmut, als er seines Vaters ansichtig wurde. »Was für eine Fahrkarte?« tat der Vater erstaunt … Aber da fuhr auch schon der Zug ein und aus einem Fenster winkte ein Herr und rief: »Grüß Gott, Schlosser!« und aus dem Nebenfenster winkten zwei Mädchen und riefen: »Annerl, Annerl!« und »Puppe Liesel!« Und die Annerl auf dem Bahnsteig fing plötzlich an, neben dem Zug herzulaufen und auch zu winken und zu jubeln: »Marie! Marie!« Helmut und Traudel standen starr, das war wirklich eine – Überraschung. Da hielt der Zug und Doktor Krattner aus Kirchdorf mit seiner jungen Frau stieg aus, und mit ihnen die Zirkus-Marie und seine Nichte Susi. Und während die Erwachsenen sich fröhlich begrüßten, umarmte Marie die kleine Annerl und stürzte Susi auf Traudel zu und sprudelte hervor: »Bist du die Waltraut Schlosser, die erste Mutter von Puppe Liesel? Ich bin die Susi Pausewang, mein Vater hat heute vor einem Jahr den Geier geschossen und Puppe Liesel gerettet! Darf ich sie jetzt ein bißchen tragen?«

»Seien Sie mir nicht böse, gnädige Frau,« sagte auf dem Wege ins Dorf Doktor Krattner zu Frau Doktor Schlosser, »daß ich Ihnen meine Nichte und ihre Freundin auch mitgebracht habe. Aber die beiden haben mir soviel von Puppe Liesel und von Annerl und Waltraut erzählt, daß ich der Versuchung nicht widerstehen konnte, sie alle zusammenzubringen. Es ist ja auch zu merkwürdig die Geschichte!« »Ja, in der Tat,« erwiderte Frau Doktor Schlosser, »im übrigen machen Sie sich nur keine Gedanken, wir freuen uns sehr über Ihren lieben Besuch, und daß Sie die Kinder mitgebracht haben, das freut uns noch ganz besonders.« Von Doktor Schlosser erfuhr Doktor Krattner dann auch noch, daß Puppe Liesel erst noch drei Wochen bei Reserl Schwebskichl in dem Bahnwärterhäuschen zugebracht hatte, und daß auch Reserl sie bis heute noch nicht vergessen hatte. »Zu merkwürdig, zu merkwürdig!« sagte Doktor Krattner. »Schwebskichl also, Streckenwärter bei Bruck, das muß ich mir aufschreiben, damit ich es nicht vergesse!«

Daß die vier Mädchen den ganzen Tag unzertrennlich beisammensteckten, daß sie sich unendlich viel zu fragen und zu erzählen hatten, über Puppe Liesel, dann aber auch über sich selber, brauchen wir wohl nicht besonders zu berichten. Auch nicht, daß Annerl Susi und Marie den ganzen Bauernhof zeigte, und daß die beiden auch Helmuts Mühlen und Bad (es war erst kürzlich fertig geworden) gebührend bewunderten. Auch das Glück und die Freude könnt ihr euch wohl ausmalen, die Puppe Liesel empfand, als sie so ganz und gar unerwartet die stürmische, braune Susi wiedersah, und die stille, liebe Marie, die nun aber nicht mehr so blaß und müde aussah, wie im Vorjahre. Und wie lieb die beiden sie noch hatten! Und wie gut sie sich gleich auch mit Traudel und Annerl verstanden!

Die Zeit war ihnen allen, allen viel zu rasch vergangen, und als Doktor Krattner abends an die Heimfahrt denken mußte, waren sie ganz entsetzt, daß sie sich schon wieder trennen sollten, und noch dazu auf unbestimmt lange Zeit. Namentlich Susi war ganz untröstlich. »Wenn wenigstens Puppe Liesel auf einige Zeit mit uns nach Recknitz kommen könnte!« bat sie, »sie kann doch nicht immer bloß bei einer oder zwei Müttern sein, wo sie doch vier oder gar fünf Mütter hat. Wir werden Traudel und Annerl schon fleißig von ihr schreiben!« Die Erwachsenen, denen der Tag auch wie im Fluge verstrichen war, konnten es den Kindern nachfühlen, daß sie noch gerne beisammen geblieben waren, und Doktor Krattner sagte: »Ja, was machen wir nur da?« Und nach einer kleinen Pause: »Nun gut, ich verspreche euch, daß wir innerhalb der nächsten drei Wochen alle noch einmal zusammenkommen werden. Irgendwie wird es sich schon machen lassen, und ich werde auch mit deinem Vater darüber sprechen!« Und Frau Doktor Schlosser fügte hinzu: »Puppe Liesel würde euch Traudel jetzt wohl nur schwer mitgeben, sie hat sie jetzt selbst erst drei Wochen wieder, nachdem sie sie ein ganzes Jahr lang hat entbehren müssen. So lang ist es bei keiner von euch noch her! Aber nehmt vielleicht einstweilen Puppe Lotte mit, sie ist Liesels richtige Schwester und auch sehr lieb. Das wäre dann eine gerechte Verteilung und immer zwei Mütter zusammen hättet ihr eine Puppe!« Die Kinder nahmen diese Entscheidung und das Versprechen Doktor Krattners dankbar und mit Freuden an und aus einem traurigen Abschied war es auf einmal ein fröhlicher geworden. »Auf Wiedersehen! Auf Wiedersehen!« riefen alle vergnügt, als der Zug sich von Lichtenbrunn gegen Kirchdorf in Bewegung setzte. –

Am dritten Sonntag nach dem 21. Juli stand die Familie Schlosser wieder vollzählig auf dem Bahnsteig des Bahnhofes Lichtenbrunn. Auch diesmal war Annerl wieder mit und hatte Traudel ihre geliebte Puppe Liesel im Arm. Doch war es diesmal ein bißchen zeitiger am Morgen und hatte Doktor Schlosser für alle die notwendigen Fahrkarten in seiner Brieftasche. Und die Kinder wußten, heute ging es nach Kirchdorf, zu Susi und Marie; Doktor Krattner hatte sie alle dahin eingeladen und so sein Versprechen eingelöst. Der Zug kam. Als sie eben einstiegen, hörte Doktor Schlosser über sich am letzten Wagenfenster eine Mädchenstimme rufen: »Da ist das Mädchen mit der Puppe Liesel, Vater; die Puppe hat sie auch mit!« Er sah auf und erblickte am Fenster die Gesichter von Reserl und von Georg Schwebskichl, der schon grüßend die Hand an seine Kappe legte. Doktor Schlosser nickte ihm freundlich zu und stieg ein, und im Einsteigen dachte er: »Wo nur der Bahnwächter hinfahren mag? Und daß er ausgerechnet mit unserem Zug fährt, und sein Töchterchen mit hat! Der Zufall grenzt wahrhaftig schon ans Unheimliche!«

Im Wagen gab es große Begrüßung und allseitiges freudiges Staunen. Am allermeisten freute sich vielleicht die Reserl; hatte sie sich doch von allem Anfang an, und besonders seit ihrem Zusammentreffen mit Traudel, immer so sehr gewünscht, daß es ihr doch vergönnt sein möchte, die Puppe Liesel wiederzusehen! Wie glänzten und strahlten ihre Augen, als sie sie jetzt, nach mehr als einem Jahre, wieder auf ihrem Schoß halten durfte, und wie zärtlich und voll Liebe strich ihre Hand über das liebe Püppchen hin!

»Wohin fahren Sie denn?« fragte jetzt Doktor Schlosser den Bahnwächter.

»Nach Kirchdorf! Ich soll mich mit meinem Mäderl beim dortigen Bahnarzt vorstellen.«

»Sie, beim Bahnarzt in Kirchdorf?« entgegnete Doktor Schlosser ungläubig. »Sie gehören doch nach Bruck!«

»Ja, gewiß,« nickte Georg Schwebskichl, »ich hab' mich selber auch schon gewundert. Wir sind auch keines krank. Aber der Stationsvorstand hat mich extra rufen lassen und hat mir's gesagt.«

»Wie heißt denn der Arzt?«

»Doktor Krattner,« antwortete der Bahnwärter und zog einen kleinen Zettel aus seiner Westentasche, »ja, Doktor Kurt Krattner!«

»Hörst du, Emma,« machte Doktor Schlosser seine Frau aufmerksam, »er fährt auch zu Krattner! Da bin ich nun aber doch neugierig!« Und zu Schwebskichl gewendet, fuhr er fort: »Doktor Krattner ist nämlich ein guter Freund von uns und wir wollen ihn heute auch besuchen.« –

Als der Zug in Kirchdorf einfuhr, stand Doktor Krattner auf dem Bahnsteig und schwenkte seinen Hut. Die Kinder waren enttäuscht, daß Susi und Marie nicht auch gekommen waren. Aber er tröstete sie: »Sie kommen erst mit dem Wagen. Wenn wir nach Haus kommen, sind sie wohl schon da. Sie müssen sehr weit fahren!« Und dann begrüßte er den Bahnwärter. »Ich danke Ihnen, daß Sie gekommen sind, Herr Schwebskichl,« sagte er. »Sie kommen aber nicht zu einer ärztlichen Untersuchung, wie Sie vielleicht geglaubt haben. Ich bitte Sie vielmehr, heute mein Gast zu sein. Wir feiern heute ein großes Wiedersehensfest zwischen Puppe Liesel und ihren fünf Müttern und da darf ihre brave Reserl nicht fehlen. Nicht wahr!« Georg Schwebskichl war einfach paff, auf diese Lösung war er wirklich nicht gefaßt gewesen. Und dann sagte er ganz gerührt: »Das ist wirklich sehr lieb von Ihnen, daß Sie an die Reserl gedacht haben, sehr lieb; wir danken Ihnen recht schön!« »Nichts zu danken!« wehrte Doktor Krattner ab, »gar nichts zu danken!« Doktor Schlosser aber sagte: »Hab' ich mir's doch gedacht! Da wundert man sich über die Geschicklichkeit des Zufalls und dann entpuppt er sich schließlich als der Herr Gemeinde- und Bahnarzt von Kirchdorf!«

Als die Gesellschaft vor dem Doktorhause ankam, stand dort ein hübscher, sechssitziger Jagdwagen, dem gerade Oberförster Pausewang mit seiner Frau und Hubert, Susi und Marie entstiegen war. Und in der Haustüre erschien eben Frau Krattner, um ihre Verwandten zu begrüßen. »Das nenne ich pünktlich!« rief der Arzt fröhlich und machte seine Gäste, soweit es noch notwendig war, alle miteinander bekannt. Es bedurfte dazu nicht vieler Umstände, denn eigentlich waren sie ja durch Puppe Liesel alle schon längst miteinander bekannt, nur gesehen hatten sie sich noch nicht. »Aber gehen wir nun in den Garten,« lud Doktor Krattner die Besucher ein, »wir erregen schon Aufsehen!« In der Tat standen in einiger Entfernung einige Leute und blickten verwundert und neugierig nach dem Doktorhause herüber. Was die Anwesenheit der vielen Menschen und gar der vielen Kinder wohl zu bedeuten haben mochte!

»Bitte, Onkel Kurt, darf ich die Mädchen herumführen?« fragte Susi dann im Garten.

»Einen Augenblick,« erwiderte der Doktor, »ich möchte nur erst den Herrschaften die Tageseinteilung vorschlagen!« Damit zog er einen langen Zettel aus der Tasche und begann ihn mit lauter Stimme vorzulesen. Das Programm wurde von allen Seiten sehr beifällig ausgenommen. Am meisten Neugierde erregte aber sowohl bei den Kindern, wie bei den Erwachsenen das Nachmittagsvesper, das Doktor Krattner als den Hauptpunkt bezeichnet und bei dem er mit erhobener Stimme noch hinzugefügt hatte: »Zugleich Puppenfest mit Überraschung!« Was das nur sein konnte? Frau Doktor Schlosser versuchte, vorsichtig anzuklopfen. »Kann man bei der Überraschung vielleicht irgendwie mithelfen?« fragte sie. »Nein, nein, danke schön!« entgegnete Doktor Krattner lächelnd, »auch Sie, gnädige Frau, müssen sich bis Nachmittag gedulden!« Da war also nichts zu machen!

Aber die Zeit verging auch diesmal rasch, den Kindern wie den Erwachsenen, und ehe sie's eigentlich gedacht hatten, war die ersehnte Stunde herangekommen. Das Vesper sollte wieder, wie das Frühstück, im Garten unter den mächtigen Kastanien eingenommen werden. Frau Krattner versammelte indes auf ihres Mannes Geheiß ihre Gäste zunächst im Speisezimmer. Nach einiger Zeit erschien der Arzt selbst. Er sperrte die Doppeltüre, die in den Garten hinausführte, auf und sagte: »Ich denke, wir sitzen wieder wie am Morgen, die fünf Mädchen wieder beisammen an ihrem eigenen runden Tisch mit den weißen Stühlen!« Man trat hinaus. Es war schon gedeckt. Rosen dufteten in kleinen, schlanken Glasvasen, Berge von Kuchen winkten. Doch was war da noch außerdem auf dem Mädchentisch? Vor Traudels Platz saßen, eng aneinandergeschmiegt, Puppe Liesel und Puppe Lotte, auf den vier andern Plätzen aber lagen vier festverschnürte, längliche, ganz gleiche Pakete und auf jedem stand mit großen und deutlichen Buchstaben der Name eines der vier anderen Mädchen geschrieben: Annerl, Marie, Reserl, Susi! Die Mädchen waren erst ganz befangen. Doch bei Susi dauerte dies nicht lange. Nach einem fragenden Blick auf Onkel Kurt ergriff sie das Kuchenmesser und schnitt erst bei ihrem Pakete und dann auch bei den drei anderen Paketen mit raschem Schnitt die Schnur durch. Hierauf begann sie ihr Paket aufzuwickeln. Es war in mehrfache Lagen Papier gewickelt. Die anderen drei Mädchen folgten schüchtern Susis Beispiel. Plötzlich stieß Susi einen Freudenschrei aus. »Ach, seht doch, eine neue Puppe Liesel, eine neue Puppe Liesel!« jubelte sie und hielt eine wunderhübsche Puppe in die Höhe, die in der Tat der Puppe Liesel sehr, sehr ähnlich sah und ganz ihr liebes Gesicht hatte. Und im nächsten Augenblick flog sie Doktor Krattner um den Hals und gab ihm einen festen Kuß und rief: »Lieber, guter Onkel Kurt, ich danke dir tausendmal! Das ist wirklich zu nett von dir!«

Inzwischen hatten auch die anderen drei Mädchen ihre Schätze gehoben, und alle mit dem gleichen Ergebnis: in jeder der Schachteln war eine Puppe Liesel drin. Und nun traten sie eine nach der andern ebenfalls hinzu, Marie, Annerl und zuletzt Reserl, und dankten, jede in ihrer Art. Doktor Krattner aber sprach: »Habt nun nur eure neuen Puppen auch so lieb wie bisher die alte Puppe Liesel, und behaltet auch ihr Mädchen untereinander euch immer so lieb wie bisher! Dann ist der Zweck des heutigen Tages erfüllt. Traudel aber mag sich freuen, daß die alte Puppe Liesel nun wieder endgültig zu ihr zurückgekehrt ist und daß sie es ist, die den schönen Freundschaftsbund gestiftet hat. Ohne die Puppe Liesel wäret ihr wohl nie so zusammengekommen!«

»Jetzt wollen wir aber doch auch an das Essen denken,« mahnte da die Hausfrau, »die Überraschung ist ja nun vorüber.« Und auch der Arzt bat seine Gäste, sich zu setzen. »Aber was mache ich jetzt mit Puppe Lotte, wo ich Puppe Liesel wieder habe?« rief plötzlich Traudel dazwischen. »Ich kann doch nicht zwei Puppen haben!« Und zugleich streckte sie Puppe Lotte ihrer Mutter hin, gewissermaßen als wollte sie sie ihr jetzt zurückgeben. »Oh, ich weiß, ich weiß,« sprudelte da Susi ganz aufgeregt und voll Eifer hervor, »die schenken wir Onkel Kurt für seine Kinder!« Traudel erfaßte sofort den Gedanken. »Ja, ja,« jubelte sie und sprang auf und eilte mit der Puppe auf Doktor Krattner zu. »Aber ich habe doch gar keine Kinder,« wehrte sich dieser lächelnd. »Das macht nichts, du wirst schon welche bekommen,« beharrte Traudel. Aber der Arzt wollte die Puppe noch immer nicht nehmen. »Nein, nein, es geht nicht,« sagte er, »behalte du sie nur!« Da legte sich Frau Doktor Schlosser ins Mittel. »Es müssen auch Erwachsene von Kindern Geschenke annehmen,« sprach sie, »und besonders, wenn sie so sinnvoll gemeint sind, wie dieses. Oder wollen Sie am Ende Ihr Töchterchen aus unserem Freundeskreis ausschließen, wenn Sie nächstens eines haben werden?« Alle pflichteten Träubels Mutter bei und Doktor Krattner mußte sich für besiegt geben. »Nun, da muß ich sie wohl nehmen,« sagte er, »ich danke dir recht, recht schön dafür.« Und er nahm die Puppe und setzte sie auf seinen Platz und schüttelte Traudel herzlich die Hände. – – –

Als Puppe Liesel an diesem Abend mit Traudel, ihrer ersten Mutter, wieder heimwärts fuhr, schwamm ihr kleines, liebes, gutes Puppenherz in Seligkeit. Schöner als der heutige Tag alle Verhältnisse geordnet hatte, hätte sie's auch selber nicht wünschen und durchführen können.

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