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Schauplatz: die lärchene Stube in Ladiz. Personen: zwei Frauen. Zeit: Ende Februar, einige Wochen nach dem Aufbruch der neuen Liebesleute aus der phäakischen Pension.
Schon seit mehreren Tagen war's im Ragazer Hof bekannt gewesen, daß das Pürschhaus wieder bewohnt war. Das war nichts Besonderes gewesen. Es lag guter Schnee, es wäre eine Dummheit gewesen, wenn Herr Fergus oder seine Freunde die schöne Föhre nicht ausgenützt hätten. Aber als Terese entdeckt hatte, daß der Mann, der auf dem Hang unterm Kuhbrunnen herumfuhr, Philipp Glenn war, hatte sie doch einen Schrecken bekommen.
Xaver war verreist, auf einer Vortragsreise. Er hatte schließlich doch noch seinem Agenten nachgegeben und den halben Februar für eine Tournee geopfert. Der Erfolg seines Nordwandbuches mußte ausgeschlachtet werden. Hamburg, Berlin, Köln, Frankfurt, Dresden, München. An seine Frankfurter Adresse hatte sie ihm geschrieben: »Im Pürschhaus ist jemand da, die Läden sind offen, Rauch steigt auf, mehr weiß ich auch nicht.« Heute sprach er in München, morgen abend sollte er wieder einpassieren. Sie aber, in ihrer winterlichen Eingesponnenheit, war ohne ihn völlig ratlos, wie sie sich zu dem kleinen Maler vom Pürschhaus stellen sollte.
Es war Sonntag. Lois hatte zwei Jungen aus dem Dorf zu Gast, den Schorsch und den Hies vom Plonerhof. Sie waren gleich nach dem Mittagessen auf den Hang geeilt, um sich einen Abfahrtslauf abzustecken, vom Waldrand bis zum Haus herab. Terese hatte Preise gestiftet, nach der Konkurrenz sollte Preisverteilung sein, mit Kakao und Kranzkuchen. Sie selbst konnte heute nicht fahren. Sie sah vom Fenster aus zu, Barbi auf dem Schoß. Und jetzt hatte sich dieser Mann, der Xaver in die Hand gebissen hatte, den Buben angeschlossen, um ihnen beim Fahnenstecken zu helfen – was sollte sie tun?
Ignorieren konnte sie ihn nicht. Dafür sorgte schon Lois, der dauernd zum Haus herunterbrüllte, um zu kontrollieren, ob sie auf dem Posten wäre und keine von seinen Heldentaten übersähe. Sollte sie Glenn begrüßen? Sie war gewohnt, in allen diesen Dingen ganz und gar Xavers Führung zu folgen. Freund oder Feind? Ein schwieriger Fall. Was sie tat, war falsch.
Also war sie ans Telephon gelaufen und hatte versucht, Xaver in seinem Münchner Hotel zu erreichen. Meistens schlief er an den Nachmittagen vor seinen Vorträgen, vielleicht konnte sie ihn sprechen und seinen Rat einholen. Und während die Verbindung hergestellt worden war, hatte sie sich zu Barbi ans Fenster gestellt und so getan, als hätte sie Glenn nicht erkannt.
Es befand sich jetzt noch eine junge Dame auf dem Hang, ein gelenkiges Ding, in schlichtem grauem Schneiderkostüm. Sie fuhr besser als Glenn, aber lange nicht so gut wie die Jungen. Die probierten vor dem entscheidenden Rennen die abgesteckte Bahn erst noch ein paarmal gemeinsam aus und hatten offenbar auch die Fremden zu einer Probefahrt eingeladen. Lois schrie immerzu: »Slalom, das ist Slalom, es darf keine Fahne umgeschmissen werden!« Und die junge Dame steckte gehorsam die vier Fahnen, die sie umgefahren hatte, wieder auf.
Tatsächlich, nach wenigen Minuten war die Verbindung mit Xaver da. Sie war glücklich, seine Stimme zu hören, obwohl es nach der bösen Schimpfzeit dieses Herbstes und dieses Winters eine Wohltat gewesen war, daß er sie eine Weile allein gelassen hatte. »Wie geht's, wie geht's?« rief sie, »Liebster du! Wie sind die großen Städte? Ist es schrecklich?«
»Gar nicht«, kam es vom andern Ende der Welt. »Süß von dir, daß du angerufen hast, danke schön.«
»Wie sind die Vorträge?«
»Alles in Ordnung. Das heißt, am Anfang ist's jedesmal grausam, wie immer, während der Einleitung. Wenn die Leute einen zuerst so blöd anstieren, das ist, als hätte man eine ganz miese Teufelsbande vor sich. Und es ist auch eine ganz miese Teufelsbande. Aber wenn dann der Saal dunkel wird, verstehst du, wenn die Bilder kommen, wenn ich zu den Bildern spreche, verstehst du, dann ist es immer ganz wunderbar.«
»Wie schön!«
»Ja. Dann komme ich in Trance, verstehst du, dann gehn die Leute plötzlich wie lauter Engel mit, dann erleb ich tatsächlich die ganze Sache noch stärker als seinerzeit, als ich leibhaftig im Fels gesteckt war. Das ist merkwürdig, nicht? Aber es ist so. Ein wenig untreu gegen den Fels kommt's einem vor, nicht?«
»Nein, das ist schön, das ist schön.«
»Ja, ja«, kam es ganz schwach zurück. »Scheinbar ist's im Leben so eingerichtet, daß die Erinnerung an eine Sache über der Sache selbst steht. Die Erinnerung ist reiner als die Sache selbst. Ganz rein … was machen die Kinder?«
»Große Konkurrenz mit den Plonerjungen.«
»Wie ist der Schnee?«
»Pulver, Pulver.«
»Ist die Lawine hinterm Joch schon abgegangen?«
»Ich hab nichts gehört.«
»Vorsicht mit den Kindern.«
»Nein, nein, ich lasse sie nicht vom Hang weg, ich lasse sie nicht übers Joch. Ich selber kann heute nicht fahren, zu blöd ist das, es ist wunderbarer Pulver … Aber weißt du, wer mit den Kindern fährt?«
»Na?«
Sie erzählte es ihm und bat um seinen Rat. »Wenn ich mich verstecke«, schrie sie zum Schluß, »dann sieht es wie eine richtige Feindschaft aus. Er hat mich schon gesehn, er hat schon gewinkt. Und wenn ich ihn begrüße, muß ich ihn wohl auch zum Tee bitten? Ist das richtig?«
Es war still am andern Ende geworden.
»Hallo? Xaver?«
Sie glaubte schon, die Verbindung wäre abgerissen. Und da sie plötzlich Angst bekam, man könnte sie bis zum Hang hinaus hören, sprach sie jetzt Englisch. Obwohl man sie gewiß nicht außerhalb des Hauses hören konnte. Und obwohl man, hätte man sie gehört, vermutlich auch ihr Englisch verstanden hätte.
»What shall I give him«, schrie sie, »poison or tea?«
»Was ist?« kam es leis zurück. »Schrei nicht so.«
»What shall I give him, poison or tea?«
Es kam ein kleines, gutmütiges Lachen.
»Sag!«
»Give him tea.«
Mehr bekam sie nicht mehr zu hören. Entweder war die Verbindung jetzt wirklich unterbrochen worden oder Xaver hatte eingehängt.
Aber sie war selig, daß sie ihn gesprochen hatte. Die Erinnerung war reiner als die Sache selbst, hatte er gesagt. Und sie hatte ganz deutlich gehört, daß sich das nicht nur auf die Nordwand bezogen hatte, sondern auch auf ihre eigenen Beziehungen. Ja, ganz rein war die Erinnerung. Und den kleinen Maler und seine Dame konnte sie jetzt mit freiem Gewissen begrüßen und zu einer kleinen Rast ins Haus bitten, wie sich's auf einem sonntäglich verschneiten Einödshof gehörte.
Der Abfahrtslauf war glanzvoll verlaufen. Die Plonerjungen waren die ersten, fast gleichzeitig, beide sturzfrei. Lois war der dritte, mit einem kleinen Sturz, der aber von der Schiedsrichterin nicht gerechnet wurde. Dann kam Glenn, mit zwei wilden Stürzen, zu denen die Jungen ein unverschämtes Gelächter losließen. Den Schluß bildete die Dame, außer Konkurrenz, in sanften Stemmbögen, neben der Bahn her.
Aber Glenn, als sie mit Barbi vors Haus trat, tat sehr fremd und scheu. Als er hörte, daß Xaver verreist war, wollte er nicht ins Haus kommen. Er müßte noch zu einer Besorgung ins Dorf hinunterfahren, es würde zu spät werden. Hingegen schien seine Dame müde zu sein und Lust zu einer Tasse Tee zu haben.
»Du kannst ja bleiben, wenn du die gnädige Frau nicht störst«, sagte er in eigensinnigem Ton. »Ich muß ins Dorf.«
Die andere sah ihn schweigend an.
»Mir ist's recht, wenn du bleibst«, sagte er. Man konnte ganz genau hören, daß es ihm nicht recht war.
Der gleiche Bock wie Xaver, ging es Terese durch den Hopf. Gleichzeitig wurde sie von den Kindern bestürmt und zur sofortigen Preisverteilung gedrängt. Glenn machte ein böses Gesicht. Und nun gerade! Sie arrangierte es so, daß die junge Dame bei ihr blieb und der kleine Bock allein abfahren mußte.
»Jetzt ärgert er sich natürlich«, sagte die Fremde, als sie in die lärchene Stube geleitet wurde, »wütend ist er aus mich. Er wäre sehr gern dageblieben, er hat gar keine Besorgung im Dorf.«
Terese lachte. Sie freute sich über diese Offenheit.
»Wir hätten ihn nur noch etwas demütiger bitten sollen. Oder wir hätten zerplatzen sollen, alle beide. Es muß immer erst etwas zerplatzen, bevor er nachgibt.«
»Das kenne ich«, sagte Terese fröhlich. Sie mußte nur noch die Kinder an Paula abgeben und den Kuchen im Kinderzimmer verteilen, dann war sie für den Rest des Nachmittags frei.
Barbi blieb in der Stube zurück. Im Winter war hier ein städtischer Besuch eine Rarität. Man gab zwar keine Antwort auf die verschiedenen Anfragen der fremden Göttin aus dem Morgenland, aber man zeigte seine Sympathie, indem man allerlei Habseligkeiten beischleppte, die bewundert werden sollten. Die neuen buchenen Schi, das eigene Gleitwachs, die eigenen Haselnußstecken. Ferner einen riesigen Bären, ein gelbes Biest, das sich entgegen Fräulein Paulas Verbot aus dem Kinderzimmer ins Eßzimmer der Eltern verirrt hatte. Zuletzt das Prunkstück, das Paradestück, das Album. Man war zwar noch zu klein für ein Album, aber als Lois eines angelegt hatte, hatte man auch eines zugestanden bekommen. Abziehbilder und Scherenschnitte, geklebte Rosen und Vergißmeinnicht, geklebte Almen und Wasserfälle, dazu die Verse, die Widmungen, die unsterblichen Beteuerungen, vom Vater, von der Mutter, von Paula und der Magd, von Lois und seinen Freunden. Man konnte es zwar noch nicht lesen, aber man konnte es zum großen Teil auswendig.
»Soll ich auch was 'reinschreiben?« wurde man gefragt.
Statt einer Antwort strahlte man verehrerisch.
Da schritt die fremde Göttin aus dem Morgenland zu ihrem zierlichen Rucksack, der zum Trocknen am Ofengestell hing, entnahm diesem zierlichen Rucksack eine wildlederne Handtasche, entnahm dieser wildledernen Handtasche eine kleine rote Tasche, fand in dieser kleinen roten Tasche zwei fremdländische Postmarken, eine hellblaue Marke mit einem dickköpfigen Onkel, eine hellrosa Marke mit einer aufgeregten und faltenreichen Tante, die eine Fahnenstange schwang, klebte diese zwei Götterbilder auf die Albumseite, welche gerade fällig war, steckte die kleine rote Tasche wieder in die wildlederne Tasche zurück, zog aus dieser wildledernen Tasche noch einen goldenen Füllfederhalter, brachte ihn mit einem Zaubergriff in Schwung, danach schrieb sie die ganze Seite unter den zwei Marken voll, mit einer übermenschlichen rasenden Handschrift. Dies getan, vollzog sie wieder den Griff am Federhalter, verstaute den Federhalter wieder in der wildledernen Tasche, die Tasche im Rucksack, den Rucksack an seinem Ofenplatz und las die Widmung mit himmlischer Stimme vor:
»Wenn du einmal als Frau Mama
Im Lehnstuhl sitzt mit Herrn Papa,
Dann denk in deinem großen Glück
An Fanny Purgasser zurück.«
Es war die schönste Seite im ganzen Album geworden, noch schöner als »Alpenrosen-Enzian« von der Mutter. Man lief natürlich sofort aus der Stube, um den Schatz in Sicherheit zu bringen.
Als Terese ein paar Minuten später zurückkam, hatte sie's bereits gelesen. Sie war ebenso begeistert wie die Albumbesitzerin selbst. »Sind Sie verheiratet?« fragte sie, während sie den Tee richtete.
»Nein, aber bald, ich bin die Braut von diesem eigensinnigen Mann.«
»Ach?«
Die Purgasser lachte, weil es wie nach Beileid geklungen hatte.
»Wenn du einmal als Frau Mama«, zitierte Terese, »im Lehnstuhl sitzt mit Herrn Papa.«
»Sitzt man da eigentlich wirklich immer im Lehnstuhl, wenn man verheiratet ist?« fragte die Purgasser.
»Ich weiß es nicht«, sagte Terese. »Ich selbst hab den richtigen Lehnstuhl noch nicht gefunden. Leider.«
»Gott sei Dank!«
»Ach, sagen Sie das nicht.« Sie stellte den elektrischen Kocher ab, goß den Tee ein und setzte sich dem Gast gegenüber; die riesige Tischplatte war zwischen ihnen. »So eine richtige Frau Mama im Lehnstuhl neben Herrn Papa, das ist ganz bestimmt etwas sehr Schönes.«
»Ganz bestimmt nicht«, erwiderte die Purgasser in ihrer aggressiven Art.
»Doch, doch«, versicherte Terese. »Sie wissen es nur noch nicht.« Es klang ein wenig abgekämpft.
Sie tranken Tee und sprachen vom Wetter, vom Schnee, von den Schibindungen, von den Öfen im Ragazer Hof und im Pürschhaus. Glenn hatte den Ploner engagiert, den Vater von Lois' Freunden; der gab ihnen einen Schikurs und führte sie auf ihren Touren und half in der Lüche. Terese kannte ihn sehr gut, sie konnte zu dieser Wahl Glück wünschen, aber sie behauptete, er wäre im Fels besser als im Schnee, Xaver hätte oft Krach mit ihm und mit den andern Karwendelführern, weil sie sich zu schnell und ohne richtige Schulung auf den Wintersport umgestellt hätten. Jedenfalls wäre es gut, daß sie einen Führer bei sich hätten, hinterm Joch läge der Schnee noch immer zwei Meter hoch, da gäbe es Hänge, die tückisch wären, tückischer, als die Leute aus der Stadt sich träumen ließen. Die Purgasser bewunderte ihre große Sachkenntnis. Terese erwiderte, dafür traute sie sich in der Großstadt nicht mehr über die Straße zu gehn, es gliche sich alles aus auf der Welt.
Es war nicht wichtig, ob sie von dem oder von jenem schwätzten. Sie waren zwei Frauen, also berochen sie sich. Zwei Männer, wenn sie aufeinander trafen, tauschten ihre Worte aus und erkannten sich an ihren Worten; oder schauten sich in die Augen und versuchten sich an ihren Augenlichtern zu erkennen; Wortmenschen, Augentiere. Aber zwei Frauen, jenseits der Worte und des Lichts der Augen, beschnüffelten sich; immer noch, immer noch; Geruchsmenschen, Nasentiere.
Terese hatte empfangen und geboren. Sie hatte die Verbindung zwischen Vergangenheit und Zukunft hergestellt, den großen Bogen. Sie trug aus dem uralten Grund ihrer Gebärmutter die lebendige Frucht hinüber in die weite Ferne. Aber war das alles, Vergangenheit und Zukunft? Und sie büßte dabei ihre Gegenwart ein, die gebundene Mutter?
Die Purgasser war noch immer unberührt, noch immer ungebunden, noch immer zögernd unterm Tor des Lebens. Ihr gehörte die Gegenwart, sie war noch frei. Aber war dieses alles, die Keusche unterm Tor des Lebens? Und sie kam sich in ihrer Verhaltenheit selber so sinnlos vor wie ein gackerndes Huhn, das keine Eier legt.
Als die blauen Schatten der Dämmerung den Schnee vor dem Haus verfärbten, hatten sie ihre kleinen Weibersorgen bereits ausgetauscht und sich dabei berochen. Und siehe, es war nicht geknurrt worden, die Zähne waren nicht gefletscht worden, die Nackenhaare hatten sich nicht gesträubt – ein Weiberwunder in jener knurrenden, fletschenden, gesträubten Zeit. Nun brauchten sie sich nicht mehr schamvoll zu verhehlen, daß sie die gleichen Träume träumten, die Gebundene und die Freie.
Die Purgasser sagte: »Ich hab vor einigen Tagen ein schönes Buch gelesen. Über die Sitten der alten mexikanischen Indianer. Da hatten die Männer eine Männergemeinschaft, einen Stamm, von dem die Frauen nichts wissen durften und nichts wissen wollten. Wenn der Mann in sein Haus zurückkam, legte er vor dem Haus seine Waffen und seinen Schmuck in einen Keller. Dieser Keller war tabu für seine Familie. Sein Weib wußte nicht, was er trieb, wenn er mit den andern Männern zusammen war, mit seinem Stamm, zum Kampf oder zum Tanz, zum Trunk oder zu irgendeiner Andacht. War das nicht schön für die Weiber der alten mexikanischen Indianer?«
Terese sagte: »Ja, das war schön für die Weiber und schön vor allem für die Männer.«
Die Purgasser sagte: »Natürlich, für beide Teile. Die Weiber und die Männer sind gleich unglücklich, wenn keine Männergemeinschaft mehr da ist, kein Männergeheimnis außerhalb der Familie, kein Stamm.«
Terese sagte zaudernd: »Aber die Männer haben ja jetzt genug damit zu tun, um das Geld für ihre Familie beizuschaffen? Die Wirtschaft ist ihr neuer Stamm, wie es scheint?«
»Jawohl«, sagte die Purgasser schnell, »pfui Teufel! Weder die Männer noch die Weiber werden sich damit zufrieden geben. Es ist ein übler Ersatz für einen wahren Männerstamm, das wissen wir alle. Ein ganz gemeines Morphium, um die Männer darüber wegzuschwindeln, daß sie ihren männlichen Sinn verloren haben.«
»Es ist wahr«, gab Terese zu. »Das war der Reiz vom alten Militär, der Reiz von den Expeditionen, der Reiz noch von der Roten Armee. Da war noch etwas da wie bei den alten mexikanischen Indianern, wenn's auch mehr und mehr zur Karikatur geworden ist.«
»Und wie steht's denn mit den Bauern hier, mit den Holzarbeitern hier?« fragte die Purgasser. »Haben die noch so etwas wie einen Stamm, die Männer untereinander?«
»Ach die!« sagte Terese. »Die setzen sich am Samstag nach der Arbeit ins Wirtshaus und saufen. Viele saufen den ganzen Samstag und Sonntag und Montag durch. Das ist ihr Stamm.«
»Auch so ein Ersatz«, sagte die Purgasser. »Genau wie die Arbeiter in der Stadt. Sie fürchten sich, zu ihren Familien heimzugehn. Sie brauchen etwas außer ihrer Geldverdienerei. Etwas, was sich nur unter den Männern abspielt, und wenn's die blödeste Sauferei ist. Ja, die Frauenbewegung hat nur den einen Sinn, die Männer auszurotten, weil sie keine richtige Männerwelt mehr finden können.«
»Oho!« sagte Terese und lachte.
»Jawohl, ich bin eine wütende Frauenrechtlerin. Gerade jetzt, wo es wieder unmodern wird. Es hilft nichts anderes, eh die Männer wieder einen Stamm haben, jenseits ihrer idiotischen Wirtschaft.«
»Was sollen sie tun, die armen Kerle?«
Die Purgasser fuhr hoch: »Was geht das uns an? Wir wollen nichts wissen davon. Die Indianerinnen wußten es ja auch nicht. Das ist es ja! Haben Sie noch nicht bemerkt, wie tief alle Weiber ihre Männer hassen, seitdem sie alles von ihnen wissen, ihre kleinen dreckigen Geldsorgen, ihre, zweitklassigen Berufssorgen und politischen Ansichten, dieses ganze Ersatzzeug, das nichts wie Morphium ist? Ein mörderischer Weiberhaß auf die Männer ist in der Welt ausgebrochen, wohin man auch schaut. Und die Männer haben noch nicht einmal bemerkt, diese elenden Dummköpfe, von welcher Seite her man ihnen an den Kragen geht.«
Terese lachte. »Das sind ja goldene Worte für eine junge Braut.« Aber die Purgasser blieb ernst. Sie sprach mit einer barbarischen Wildheit, vor der man Angst bekommen konnte. »Nein, die Männer haben keine lebendige Beziehung mehr zueinander, keine wahre Bindung von Mann zu Mann, keinen Stamm. Entweder es sind armselige Dummköpfe, die sich mit ihren wirtschaftlichen Beziehungen zufrieden geben, oder einsame Klageweiber und zynische Nihilisten. Nein, nein, ich nicht, ich nicht, ich nicht –« Sie brach ab.
Terese schwieg. Es hatte sehr schmerzlich geklungen. Es ging für ihr Gefühl ein wenig zu weit, daß dieses gefährliche Thema gleich beim ersten Zusammensein auf persönliche Dinge überglitt. Außerdem war sie betroffen, aus dem Mund dieses jungen Mädchens Dinge zu hören, an die sie selber – eine Frau, die neun Jahre Ehe auf dem Buckel hatte – nicht zu rühren wagte, wenn sie in ihr auftauchten. Sie erkannte, obwohl sie nur wenige Jahre älter war als die Purgasser, in dieser Klarheit und Offenheit einen Generationsunterschied, der sie verblüffte. Sie begann mit Eifer Butterbrote zu schmieren und Tee nachzugießen.
Die Purgasser fühlte wohl, daß ihre eigenen Sorgen zurückgedrängt werden sollten. Aber sie war in Not, sie hatte drei Kampfwochen hinter sich, sie wollte sich aussprechen. »Nein, ich heirate nicht«, sagte sie in sprödem Ton, ohne jede Rücksicht. »Ich heirate nicht, ich heirate nicht.«
Terese wurde rot und wußte nichts zu antworten. Sie spürte ein schlechtes Gewissen vor Xaver, weil sie diese Dinge anhörte und besprach. Aber sie spürte auch ein schlechtes Gewissen vor diesem Mädchen, dem sie als Frau und Mutter nicht zu raten wußte.
»Mein Vater war Pfarrer«, sagte die andere, »vielleicht kommt's daher. Es herrschte ein guter, milder Ton bei uns daheim. Wir liebten Deutschland, wir halten einen breiten Giebel überm Haus, meine Mutter hatte einen Lehnstuhl und einen Lavendelgarten, mein Vater las Heinrich von Treitschke, es war schön. Aber schon als zehnjährige Rotznasen haben wir unsern Vater gehaßt, weil er uns Dinge gepredigt hat, an die wir nicht mehr glauben konnten. Und an die er selbst im Grunde seiner Seele nicht mehr geglaubt hat. Das fühlen die Kinder vor den Erwachsenen bekanntlich.«
»Ach«, machte Terese und steckte sich eine Zigarette an. Sie tat es ungeschickt, weil sie fast niemals rauchte.
»Später kann ich als Berichterstatterin auf allerlei Männer- und Weiberversammlungen: Kongresse, Bankette, wissenschaftliche, politische, rechte, linke, mittlere, alles mögliche Zeug. Und da hatte ich bei den Männern immer wieder das gleiche Gefühl wie bei meinem Vater. Sie reden immerzu von Dingen, an die sie nicht mehr glauben. Im selben Augenblick nämlich, wo sie vor den Weibern von ihren eigenen Dingen reden, glauben sie nicht mehr dran. Das hab ich ganz genau gesehn.«
»Mag sein«, sagte Therese zögernd.
»Also ist's unmöglich, heutzutage zu heiraten«, schloß die Purgasser.
»Wieso? Was hat das damit zu tun?«
»Weil die Ehe die gleiche Schwatzbude geworden ist wie diese öffentlichen Versammlungen. Die Männer wollen von ihren Frauen gar nichts anderes mehr, als ihnen Dinge vorschwätzen, an die sie selber nicht mehr glauben. Sehn Sie nur mal genau hin, wenn so ein Mann vor seiner Frau anfängt, über seine eigenen Dinge zu reden, ob das nun ein Arbeiter oder ein Schneidermeister ist, ein Musiker oder ein Politiker oder sonst ein Mannsbild. Sehen Sie sich dabei einmal genau seine Frau an, ohne sich etwas vorzumachen, wie sie begeistert einstimmt, wenn es eine sogenannte ideale Ehe ist. Und wie sich dabei in ihr drinnen alles umwendet, das ganze Gedärm, vor lauter Ekel, weil sie nämlich das alles schon soundso oft gehört hat. Jeden Abend, wenn er aus seinem Büro nach Haus gekommen ist, hat er's ihr schon vorgequatscht. Und sie muß immer einstimmen, muß ihn entweder bestärken oder bewundern oder beraten. In Dingen, von denen sie durchaus nichts wissen will und auch nichts wissen soll. Und dabei fühlt sie ganz genau, daß er selber nicht dran glaubt, sonst würde er's nicht vor ihr bereden, der arme Tropf. Klar, daß sich da alles in ihr umdreht. Sie aber darf es sich nicht einmal zugeben, daß sich ihr Gedärm umdreht, wenn sie ihn nur sieht. Und das Ganze nennt sich dann eheliche Gemeinsamkeit.«
»Bei richtigen Männern ist's nicht so«, sagte Terese in bestimmtem Ton.
»Bei richtigen Männern ist's noch viel ärger«, sagte die Purgasser in noch bestimmterem Ton. »Ich hab keine Angst, für frigid zu gelten, o nein, ich kann mich nicht blind machen, weil die Männer einen frigid nennen, wenn man die Augen aufmacht. Glenn ist der richtigste Mann, den ich kenne, sonst wäre ich nicht befreundet mit ihm. Er hat herrliche Bilder gemalt, und er wird nach einer kleinen Pause wieder anfangen, herrliche Bilder zu malen. Aber ich glaube, wenn ich mit ihm verheiratet wäre und er wäre dumm genug, mir seine Bilder zu zeigen, und ich müßte sie jahraus, jahrein bewundern und besprechen, mit dem bestärkenden Zuspruch, den diese eitlen Hanswurste alle miteinander von uns verlangen, seitdem sie keinen eigenen Stamm mehr haben – ich glaub, es gibt gar keinen Kitsch, es gibt gar keinen Schinken zehnter Klasse, der mir dann nicht lieber wäre als seine unsterblichen Gemälde.«
Terese lachte.
»Nein, Sie wissen auch keinen Rat«, sagte die Purgasser traurig und vorwurfsvoll.
»Ich bin alte Schule«, sagte Terese, »das seh ich hier ganz deutlich.«
»Ach was! Das glauben Sie ja selber nicht. Sie weichen nur aus. Gleich werden Sie sagen, ich könnte als alte Jungfrau diese Dinge nicht beurteilen.«
»Nein, das werde ich nicht sagen.«
»Oder ich wäre nicht sinnlich genug, um darüber reden zu können.«
»Das werde ich auch nicht sagen, bestimmt nicht.«
»Na ja, oder die Ehe wäre für die Kinder da.«
»Ist sie auch.«
»Aha.«
»Jawohl.«
»Nein.«
»Doch.«
»Nein«, rief die Purgasser trotzig.
»Doch!«
»Und ich sage nein!«
Sie sahen sich eine Sekunde lang feindselig in die Augen. Dann fingen sie gleichzeitig an zu lachen.
»Ich muß Licht machen«, sagte Terese.
»Bitte nicht«, sagte die Purgasser in ganz weichem Ton. »Oder muß ich schon gehn? Bitte schmeißen Sie mich nur rechtzeitig 'raus.«
»Im Gegenteil«, sagte Terese. »Bleiben Sie doch zum Abendessen, das wäre doch wunderschön.«
»Nein, das geht nicht, sonst wird mein Herr Bräutigam ganz und gar verrückt.«
»Wie lang sind Sie denn schon verlobt?«
»Drei Wochen ungefähr, eine Ewigkeit.«
Terese lachte herzlich. »Und wann heiraten Sie?«
»Wenn er einen Stamm hat.«
»Was?«
»Schon wieder vergessen?«
»Ach so?«
»Ich will nicht in die leere Luft hinein heiraten.«
»Ich dachte immer«, sagte Terese, »die neue Generation ist viel einfacher, selbstverständlicher. Dabei scheint ihr noch komplizierter zu sein als wir?«
»Gar nicht kompliziert. Entweder die Männer finden eine neue Beziehung zueinander, eine neue Männerwelt, einen Stamm, ob das nun ein Stamm von zwei richtigen Freunden oder ein Stamm von Millionen jungen Männern ist, aber ein Stamm jenseits der Wirtschaft muß es sein, eine richtige tiefe Bindung – dann ist's ja gut. Dann sollen sie ihren Schmuck und ihre Waffen in den Keller vor unserm Haus legen, und wir wollen nicht dran rühren, wir wollen sie freudig begrüßen, wenn sie heimkommen, und wollen sie warm und wollüstig in unsre Arme schließen und ihnen Kinder gebären, soviel sie wollen, ob arm oder reich.« Sie brach ab.
»Oder?«
»Oder sie sollten nur so weitermachen. Dann geht's aber auch mit der Frauenbewegung weiter, unaufhaltsam. Dann geht's immer weiter mit unserm Haß. Sehn Sie sich nur mal in Amerika um, wie da die Männer bereits am Boden liegen. Dann kommen die Amazonen:
›Die Betten füllten, die entweihten, sich
Mit blank geschliffnen Dolchen an.‹
So oder so muß es kommen, das ist nicht kompliziert, das ist die einfachste Rechnung von der Welt.« Sie begann zu lachen. »Ach, der Journalismus verdirbt den Charakter, werden Sie sagen, nicht wahr? Das ganze Eiapopeia und Wickelwackelweia geht dabei zum Teufel, nicht? Das kommt, wenn man immerzu Berichte aus dieser Mischmaschwelt, aus dieser halben Männer-, halben Weiberwelt verzapfen muß. Da wird man eine alte Frauenrechtlerin dabei, ob man will oder nicht.«
»Nein, Sie haben recht«, sagte Terese. »Tod oder Leben. Ich hasse nichts so sehr auf der Welt wie euch Frauenrechtlerinnen, aber wenn ihr jetzt anfangt und werdet richtige Amazonen, dann mache ich auf meine alten Tage vielleicht selbst noch mit.«
»Alte Tage, was für eine Koketterie, gnädige Frau! Sie sind hundert Jahre jünger als ich.«
»Dümmer, wollen Sie wohl sagen?«
»Werden wir Amazonen, ja! Wenn sich kein Männerstamm mehr bilden kann, ohne daß gleich ein Geschäft oder eine Schwatzbude draus wird, dann sind wir an der Reihe. Wir können uns noch jenseits dieser Tagesdinge zusammentun. Wir trennen uns von diesem armseligen Pack.«
»Mein Gott, wir brauchen dieses armselige Pack immer noch«, sagte Terese lachend. »Und wenn auch nur noch dazu, daß die Welt nicht ausstirbt. Sobald wir sie ganz verstoßen, ist alles aus.«
»Durchaus nicht«, sagte die Purgasser heiter. »Wir lassen sie am Leben und lassen sie ihr Zeug machen wie bisher, ihr zweitrangiges wirtschaftliches Dreckzeug. Und hie und da dürfen sie uns dann besuchen. Wir werden es kalendarisch festlegen, wann sie antraben dürfen. Dann können sie sich für eine kurze Frist im Jahr an ihr verlorenes Manntum erinnern. Und hinterher schicken wir sie wieder weg:
›Und schicken sie zum Fest der reifen Mütter
Auf stolzen Prachtgeschirren wieder heim.‹
Auf ihren kleinen Fordkarren dürfen sie dann wieder abziehn und wieder an ihre Drohnenarbeit gehn, an ihren sogenannten wirtschaftlichen Aufbau, zurück in ihre alten Schwatzbuden, die traurigen Hammel.«
»Abgemacht.«
»Denn vor dem Baugrund, auf dem sie ihre eigenen neuen Gebäude aufbauen könnten, machen sie vorerst doch noch einen weiten Bogen, weil sie lieber ihre geliebte Wirtschaft in die leere Luft aufbauen, diese elenden Feiglinge, statt ihr neues Stammhaus auf dem Boden der Erde zu gründen.«
»Nieder mit ihnen«, sagte Terese lachend. »Nein, heiraten Sie nicht, noch nicht. Der arme Glenn! Wie soll er sich zu alldem stellen?«
»Er soll einen Stamm gründen«, sagte die Purgasser in todernstem Eigensinn. »Mit einem Freund oder mit drei Freunden, mit tausend, mit Millionen männlichen Freunden, mit wem er will, nur nicht mit mir. Ich kann Familie und Stamm mit dem besten Willen der Welt nicht mehr durcheinander bringen. Und eine Unmasse andrer junger Weiber, wenn sie ehrlich sind, können's ebensowenig wie ich.« Sie hatte mit flamboyantem Klang gesprochen, jetzt stand sie schnell und beschämt auf. »Ich muß gehn, es ist schon dunkel, sonst bekommt er Angst um mich.«
»Die Plonerjungen sollen Sie begleiten«, sagte Terese. Sie rief ins Kinderzimmer hinauf, die Jungen sollten sich fertigmachen. »Die Straße ist gut ausgefahren. Sie können das Pürschhaus nicht verfehlen.«
»Man spricht und spricht«, sagte die Purgasser beklommen, »und zum Schluß war's nur dummes Getu.«
Terese zog sie an sich und gab ihr einen Kuß auf den Mund. »Alles halb so schlimm, Sie werden sehn.«
»Nein, nein, noch viel schlimmer, es ist noch viel Schlimmeres unterwegs –«
Sie wußte wohl selber nicht, was sie damit meinte. Es kam ganz zerstreut aus ihr heraus, blubb-blubb-blubb, während sie sich ihren kleinen Rucksack umhing. Dann ging sie Arm in Arm mit ihrer Wirtin aus der Stube.
Vor der Haustür küßten sie sich noch einmal auf die Stirn. Es war schon tiefe Dämmerung, fast Nacht. Die Straßenspur zog sich schmutzig und drohend talwärts. Die Plonerjungen fuhren voraus, im Langlaufschritt, und juchzten noch eine Zeitlang zurück. Die Purgasser, ohne zu schreiten, hart mit den Stöcken stoßend, die Beine fest aneinandergepreßt, glitt hinter ihnen her und verschwand.