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Eine Wallfahrt

Die alte Gruberin lag schon zwei Jahre. Wenn es gegen die Achtzig geht und der Tod nur eine Erlösung sein kann, dann wollen nicht einmal die Kinder, dass die Mutter noch am Leben bleibe. Der Gruberin ihr Sohn, der selbst schon am Ausgeding lebte, sagte oft: »Der Hergott soll's erlösen, dös oarme Weib.« Aber die alte Gruberin konnte und konnte nicht sterben.

Sie sah keinen Vorwurf in den Gesichtern ihrer Kinder, sie hoben und betteten sie geduldig und keines erinnerte sie mit einem Wörtchen ans Sterben; sie selbst wusste, dass es besser wäre, hinüberzuschlafen – aber sie konnte noch nicht.

»I muss no amol auf«, sagte sie immer wieder, »i hob no an Weg – früher kann i net sterben.« Mehr sagte sie nicht.

Als es dem Auswärts zuging und die Schartraufen draußen zu rinnen anfingen, wollte die Ahnl nimmer stilliegen. Immer wieder setzte sie sich mühsam auf und tat einen Blick durchs Fenster. Jeden befragte sie: »Gelt's, wird scho apper?« Damit meinte sie: schneefrei – und war voller Unruhe.

Und als sich dann ein paar Märztage warm an die Sonnseiten legten, da mussten sie der Gruberin die Stübelfenster aufmachen. So saß sie lange und schaute hinaus auf die Lehne hinterm Haus, wo der Rasen grüner und grüner wurde. Ani Ostermontag kam der Gruber vom Segen heim. Stand da die Ahnl beim Fenster und lehnte sich in den sonnenwarmen Nachmittag hinaus.

»Muada, Muada«, greinte der Gruber, »wos tuat's denn?«

»Laß mi no, lass mi no«, sagte die Gruberin und setzte sich aufs Fensterbankl, »woaßt es o, dass i hob no amol aufmässen. Hob jo no an Weg.«

»Allweil mit enkern Weg. Wenn's net folgt's, wird's der Weg zum Friedhof sein«, grollte der Gruber und wollte sie zur Bettstatt zurückführen.

»A na. Dösmal net«, sagte die Gruberin. Der Gruber zog die Achseln hoch und ging hinaus zu den Bienen im Wurzgarten. Die Gruber-Ahnl aber saß diesen Ostermontag noch eine ganze Weile am Fenster und war von da an jeden Tag auf, jedesmal ein bissel länger, und gegen Johanni zu kramte sie wieder im Haus herum, wie ehvor.

»Hätt's net mehr erhofft mit ihr«, wunderte sich der Gruber. »A reins Wunder in dem Alter, a reins Wunder«, wiederholte er immer wieder und sah ihr kopfschüttelnd nach.

Und am Tag vor St. Anna nahm die alte Gruberin ihren alten Zöger aus dem Kasten, packte einen Keil Brot, ein Stückl Rauchfleisch und ein paar Eier ein, das tat sie alles ganz heimlich; niemand im Hause wusste davon. Schon um acht ging sie ins Bett.

Am anderen Tag, in der Früh, war die Ahnl fort. Sie suchten das Haus durch und das ganze Dorf; die alte Gruberin war nirgends zu finden. Sie schickten Boten in die Nachbardörfer. Nirgends war sie gesehen worden.

Hoch oben in den Bergen, wo der Wald schon aufhört und der Schnee in den Gruben oft bis in den Sommer hinein liegt, steht die Kapelle Sankt Anna. Das war vor vielen Jahren ein berühmter Gnadenort. Heute aber sind die Sünder bequemer geworden und beten im Tal ein Bußvaterunser mehr, als dass sie so weit heraufkämen. Kein Dutzend Beter hatte sich diesmal am Festtag der Mutter Anna in der Kapelle eingefunden. Und auch diese wenigen stiegen schon am frühen Nachmittag wieder zum Tal.

Der Sägmühler-Sepp lehnte ungeduldig unter der Tür, es ging schon gegen vier Nachmittag. In aller früh hatte er die Schlüssel heraufgebracht, nun möcht er halt auch gern wieder heimzu. In einer Bank kniete allweil noch die eine steinalte Betschwester. Der Herr Pfarrer hatte ihm wohl aufgetragen, dass er keinen säumigen Beter stören und lieber warten sollte. Aber das dauerte ihm doch zu lang. Er hüstelte ein paarmal, dann trat er endlich an den Betstuhl heran, aber das Weib darin rührte sich nicht. »Wird eingeschlafen sein«, dachte er bei sich und wollte sie wachrütteln: »Hö, zuasperrn müaß ma« – – Der Sepp erschrak. Dann nahm er die Tote in den Arm und streckte sie auf der Bank gerade aus. Sie allein ins Tal hinunterzutragen, konnte er nicht, auch wusste er nicht, wer sie war – wen hätte er da verständigen können? Da wollte er den Todesfall lieber gleich der Gendarmerie melden.

Am andern Tag brachten sie die Tote auf einer Trage nach Kirchdorf hinunter und stellten sie ins Beinhaus. Und als der Gendarm und der Pfarrer die Sachen der Fremden aufnahm, fand der Geistliche in ihrem Gebetbüchl auf der ersten Seite eine vergilbte Eintragung:

»Marie Gruber, Bäuerin in Langendorf. Im März 1876 eine Wallfahrt auf St. Anna versprochen, wen mein Man wider gesunt wird.«

Als sie dem Gruber die alte Mutter tot heimbrachten, musste er lange nachdenken. Und dann fiel ihm ein, dass in den siebziger Jahren einmal der selige Vater wirklich recht krank gewesen war. Aber dass die Mutter damals eine Wallfahrt auf St. Anna versprochen hatte – davon hatte er nicht gewusst. Soweit er zurückdenken konnte, hatte sie auch sonst nie eine gemacht. Vor lauter Arbeit und Sorgen war ihr dazu ja auch keine Zeit geblieben. In jungen Jahren eine Stube voll Kindern, im Alter einen Schüppel Enkel an den Kittelfalten, da bleibt's mit dem Wallfahrten leicht beim Versprechen.

Sie ist aber den Weg doch nicht schuldig geblieben, die alte Gruberin. Es ist ein seltsam Ding um ein Bauernherz in seinem festen Glauben und seiner gottnahen Einfalt.


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