David Christie Murray
Der Bischof in Not
David Christie Murray

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Erstes Kapitel

Wie viele Hunderte von schönen Mädchen sind schon die Regent Street hinabgegangen? Wie viele Tausende? Wie vielmal Zehntausend? An einem sonnigen Nachmittage der Londoner Saison kann man sie schockweise sehen, dunkel und blond, groß und klein, zierlich und stattlich, ja, ich bin so kühn, zu glauben, daß es keine Straße in der Welt gibt, wo sich Herz und Auge am Anblick schöner Mädchen so erquicken können, und daß die strahlende, frische, gesunde, und ehrliche Schönheit der englischen Mädchen auf der ganzen Welt nicht ihresgleichen findet. Natürlich sind unsre reizenden Cousinen in den Kolonieen und der großen amerikanischen Republik mit eingeschlossen. Ohne Besorgnis, auf Widerspruch zu stoßen, dürfen sich die englisch sprechenden Nationen der Welt rühmen, daß ihre Töchter die schönsten unter den Töchtern der Menschen sind.

Das oder etwas Aehnliches war es, was ich meinem jungen Freunde Tom Finch sagte, als wir an einem Nachmittage Mitte Mai 1894 die Regent Street hinabgingen. Das alles oder etwas sehr Aehnliches habe ich schon vielen andern Leuten gesagt, denn es ist eine meiner Lieblingsbehauptungen, eine der wenigen Flüchte langjähriger Reisen.

»Jawohl, Verehrtester,« sagte ich, vielleicht durch meine eigene Beredsamkeit zu ungewöhnlicher Begeisterung entflammt, »dieses glückliche Pflaster ist schon von Hunderttausenden der schönsten Mädchen der Welt betreten worden.«

»Sehr richtig,« entgegnete Tom, »und dort kommt das schönste von allen.«

Weniger als eine halbe Minute später stand die in so schmeichelhafter Weise beschriebene junge Dame vor ihm, und ihre fein behandschuhte Hand ruhte in der seinen. Tom grüßte und ließ seinen kurz geschorenen und sauber gebürsteten Kopf unbedeckt. Er sowohl, wie das junge Mädchen war errötet. Vielleicht stimmte ich der übertriebenen Lobrede, die er soeben gehalten hatte, nicht ganz bei; denn möglicherweise war ich der Ansicht, daß es noch schönere Mädchen gebe. Ihre Züge waren nicht besonders regelmäßig, aber sie hatte die Hautfarbe, die man nur bei Mädchen unsrer Rasse und bei Blumen sieht, das süße Rot der Gesundheit und das Weiß der Reinheit, wie das einer weißen Rose. Sie war geschmeidig wie eine Weidenrute oder der Stengel einer Lilie, ihre Augen waren offen und unerschrocken, furchtlos und treuherzig, wie die eines Knaben. Auch an Form und Farbe waren sie schön, und was ihre Zähne anlangte, so »hieße es, die Schönheit von Fleisch und Blut und Elfenbein verleumden, wenn man von Korallen und Perlen sprechen wollte«. Diesen Satz, dessen Wahrheit ich oft empfunden habe, entleihe ich mit Dank und Gruß einem älteren Schriftsteller, Wenn demnach die junge Dame den Lobeserhebungen meines Freundes nicht ganz entsprach, so machte sie doch einen reizenden Versuch, es zu thun, und wenn ich mich nicht selbst Hals über Kopf in sie verliebte, so kann ich als Milderungsgrund geltend machen, daß ich fünfzig Jahre alt bin und mir mein ältester Junge diesen Zweig des Familiengeschäftes aus der Hand genommen hat.

Mir wurde die Ehre zu teil, diesem reizenden Mädchen vorgestellt zu werden, und dadurch erfuhr ich, daß sie die Tochter eines alten Bekannten, des Bischofs von Stockestithe, war, und als mir plötzlich einfiel, daß ich etwas zu thun hatte, und mit der nächsten Droschke nach dem Klub fuhr, um als Viertel bei einem Rubber Whist einzuspringen, hatte ich durchaus keine bösen Absichten gegen den Frieden dieses würdigen Kirchenfürsten. Ich habe Tom gern, und ich hoffe, er wird mir erlauben, ihn immer gern zu haben; auch hatte er mich schon ins Vertrauen gezogen, wogegen ich, offen gestanden, gar keine Sympathie für den Bischof fühlte. So lange nämlich Toms Onkel, Sir Alfred Finch, unverheiratet geblieben war – und er war schon über sechzig Jahre alt, als er sich verheiratete – war der Bischof sehr entgegenkommend gegen Tom gewesen. Dieser hatte die Aussicht, Baronet zu werden und ein hübsches Vermögen zu erben, und war mit Einwilligung von Lucy Durgans Vater mit ihr verlobt gewesen. Jetzt hatte aber der Baronet einen unmittelbaren Erben, während Tom nichts in der Welt besaß als seinen hellen Verstand, seine männliche Natur und dreihundert Pfund Jahreseinkommen, das zur Grundlage seines weiteren Fortkommens dienen mußte. Deshalb war seine Lordschaft verschnupft, wie die Leute sagen, und hatte Tom die Thür seines bischöflichen Palastes gewiesen und ihm zu verstehen gegeben, es sei fortan seine Christenpflicht, diese nur noch von außen zu betrachten. Allein der junge Mann dachte anders und lehnte es rundweg ab, das Versprechen zu geben, das der ältere Herr von ihm forderte. Von diesem Auftritt kam er geradeswegs nach London und zu mir.

»Ich habe ihm gesagt,« erzählte Tom, der für den Augenblick viel zorniger auf den Bischof war, als zu sein er das Recht hatte, »daß ich derselbe Mann sei, den er für würdig gehalten habe, der Gatte seiner Tochter zu werden. Ich bin's freilich nicht.« Dies sprach er in Parenthese. »Niemand ist das, allein das habe ich ihm nicht gesagt. Ich habe ihn nur darauf aufmerksam gemacht, daß ich kein andrer geworden sei und daß ich mich auch nicht zu verändern gedenke, außer zum Bessern. Lucy und ich hätten schon über die Sache geredet und wären übereingekommen, zu warten. Sie habe mir versprochen, daß nichts auf Erden uns trennen solle, und habe mir gesagt,« – hier stieg ein tiefes Rot in seine Wangen – »daß sie mich liebe und fest zu mir stehen wolle. Lucy ist ein Prachtmädel, das schneidigste Mädchen, das ich je kennen gelernt habe, und zuverlässig wie Bayards Schwert, so daß ich mir nach dieser Richtung hin gar keine Sorgen mache. Ihr Vater kann thun, was er mag, und außer daß sie viel zu leiden haben wird, die Aermste, bleibt alles beim alten. Ich versichere Ihnen, ich werde vorwärts kommen in der Welt, und es wird mir schon gelingen, von irgend einer abgelegenen Ecke dieses alten Planeten ein paar goldene Späne abzuhauen Der alte Durgan« – das war die Art, wie er vom Bischof sprach – »forderte ein Versprechen von mir, daß ich weder an sie schreiben, noch versuchen wolle, sie zu sehen, und verlangte, ich solle mit untergeschlagenen Armen der Vernichtung meiner Hoffnungen zusehen. Aber ich habe ihm geantwortet: nein, mein verehrter Herr, und habe ihm gesagt, daß ich Lucy ihre Freiheit angeboten, daß sie mich aber ausgelacht hatte, und daß ich meinen Abschied nur von ihren eigenen Lippen annehmen würde und von niemand sonst. Wenn sie mir sagte, wir müßten uns trennen, würde ich sofort gehorchen, bis dahin aber bliebe ich ihr Liebhaber, ihr gehorsamer Diener und ihr Verlobter. Mit allen Kräften wolle ich danach streben, einen eigenen Herd für sie zu gründen, und dann wolle ich sie heimführen, damit sie dessen Sonne sei, und ich wolle ihn heilig halten bis zu meinem letzten Augenblick, und das würde ich durchsetzen trotz aller Bischöfe der Welt.«

Im ganzen genommen mußte ich Tom recht geben, aber ich veranlaßte ihn doch, einen Brief zu schreiben, worin er sein Bedauern über gewisse Dinge aussprach, die er in der Hitze des Augenblicks gesagt halte.

Der Brief wurde abgeschickt, und es kam eine sehr steife und förmliche Antwort darauf.

Kurz danach hatte der hochwürdige Herr seine Tochter zu ihrer Tante geschickt, mit der sie ein Jahr in Brüssel und an der Riviera gelebt hatte. Während dieser Zeit hatte sie mehrere Ries Papier zu Briefen an Tom verbraucht, und dieser mehrere Ries zu Briefen an sie. Die erzählte Begegnung in der Regent Street war das erste wirkliche Zusammentreffen seit dem beklagenswerten Vorfalle in Stockestithe; denn Tom hatte sie nach ihrer Rückkehr zwar einmal gesehen, aber nur einen Gruß mit ihr wechseln können.

Noch an demselben Abend brachte ich die ganze Geschichte aus ihm heraus, oder es wäre wohl richtiger, zu sagen, er brachte die ganze Geschichte in mich hinein: denn ich war weiter nichts als das Gefäß, worein sich seine Erzählung ergoß. Er müsse sprechen, sonst würde er platzen, sagte Tom, worauf ich ihn ersuchte, lieber nicht zu platzen, so daß ich mich also für die andre Wahl entschied. Lucy sei das reizendste Mädchen, sie sei auch das schneidigste und hätte sich nicht um ein Haar verändert. Das würde sie auch nicht thun, denn sie wisse ja gar nicht, was es heiße, ungetreu zu sein. Ob sie nicht ein schönes Mädchen sei? Ob ich jemals ein schöneres gesehen hätte? Darauf nannte ich meine Frau, die dreiundvierzig Jahre alt war; und Tom brach in ein brüllendes Gelächter aus, wurde aber gleich darauf sehr verlegen und bat mich in schmerzlicher Zerknirschung um Entschuldigung. Es war ein peinlicher Auftritt – für Tom, und ich sagte ihm mit gebührendem Ernst, daß ich ein Vierteljahrhundert früher jeden, der sich in dieser Weise benommen hätte, durchgeprügelt haben würde.

Wie bereits erwähnt, mag ich Tom gern leiden, und das thun die meisten Leute. Allerdings prahlt er ein bißchen und hält sehr viel von sich, aber er ist ehrlich wie der Tag, ein guter, hochherziger, durch und durch ehrenwerter junger Mann von vierundzwanzig Jahren. Die Eitelkeit, die einstweilen sein einziger Fehler ist, aber nie eine verletzende Form annimmt, wird ihm das Leben schon austreiben, wie es das mehr oder weniger bei jedem thut. Thatsächlich ist sie weiter nichts als die Folge der Jugend, der Gesundheit, der überströmenden Lebensgeister und überschwenglichen Hoffnungsseligkeit. Er will in der Welt vorwärtskommen und zweifelt nicht daran, daß er sie besiegen und sich einen Platz darin erringen kann. Die Tochter des Bischofs betet er an, ist aber dabei doch ehrlich genug, von ganzem Herzen anzuerkennen, daß sie zu gut für ihn ist. Das ist ein sehr gutes Zeichen, denn ein Mann, der nicht das Zeug dazu in sich hat, wenigstens einmal in seinem Leben ein Weib aufrichtig anzubeten, ist nicht viel wert.

Sein kräftiger und entschlossener Schritt gefällt mir, ebenso sein Gesicht mit dem frischen, knabenhaften Ausdruck. Auch seine jugendliche Begeisterung und seine zuversichtliche Sprechweise, die vollkommen aufrichtig ist, gefallen mir. Sein Haß gegen alle Weltlichkeit und Heuchelei, Kälte des Herzens, Selbstsucht, Feigheit und alles Gemeine sprechen mich an, seine achtungsvolle Ehrerbietung gegen Aeltere, eine Tugend, die ihm der Bischof ohne Zweifel nur in geringem Maße zuerkennt, und seine ritterliche Aufmerksamkeit gegen alte und häßliche Frauen ziehen mich zu ihm hin. Wenn ich ihn auffahren sehe und gegen tausend Dinge losdonnern höre, die seinen Zorn erregen, so macht nur das Freude. Ich sehe es gern, wenn er mitten in einer solchen Rede abbricht, um mit den kleinen Eindringlingen aus der Kinderstube unterm Tische Bär zu spielen, denn in einem seinen jungen Herrn von vierundzwanzig Jahren, der kleine Kinder wahrhaft und ungeheuchelt gern hat, steckt nichts Böses, und das kann man auch von Tom sagen.

Deshalb nehme ich in gewissem Maße Toms Partei gegen den Bischof, und diesem Umstande verdanke ich es, daß ich jetzt in der Lage bin, diese seltsame und höchst merkwürdige Geschichte so zu erzählen, als ob sie sich von Anfang bis zu Ende vor meinen Augen zugetragen hätte. –

*

»Tom,« sprach Lucy, nachdem ich die beiden verlassen hatte, »ich möchte gern frühstücken. Führe mich irgend wohin, wo wir ungestört sind und ruhig sprechen können, denn ich habe dir hunderterlei zu sagen.«

Tom führte sie in ein feines Restaurant, wo zu dieser Tageszeit wenig Verkehr herrschte. Dort bestellte er ein ausgesuchtes kleines Frühstück für die Dame seines Herzens, die sich überreden ließ, ein einziges Glas Champagner anzunehmen, während Tom den Rest der kleinen Flasche als seinen Anteil am Mahle trank. Ihre Plätze hatten sie am Ende eines Tisches in einer Art Nische gewählt, die mit Palmen und Blumen geschmückt war. Ich kenne die Ecke sehr gut und bin überzeugt, daß sie ihren Zwecken vollkommen entsprach. Außer ihnen war niemand als eine Kellnerin im Saale anwesend, und die kam nur, wenn sie gerufen wurde. Als die junge Dame den Handschuh von ihrer einem Rosenblatte gleichenden Hand abgestreift hatte, hielt sie errötend, aber stolz und mit einem Blicke hübscher Zuversicht in den Augen einen Finger in die Höhe. Toms Verlobungsring glänzte an der Stelle, wohin er ihn vor achtzehn Monaten gesteckt hatte. Wir dürfen wohl annehmen, daß Tom den Ring und die Hand, die ihn trug, küßte, wenn sich die Kellnerin in diesem Augenblick am andern Ende des Saales aufhielt. Die Leutchen bildeten einen sehr anziehenden Gegenstand der Beobachtung in ihrer geschützten Ecke: zwei getreue, warmherzige junge Liebende, die ein Jahr getrennt gewesen sind, mit den höheren Gewalten auf Kriegsfuß stehen und viel gelitten haben, wie junge Leute eben leiden können.

Obgleich ich weder Mordbrenner, noch Anarchist, noch ein Aufwiegler bin, hat doch diese Art von Widerstand meinen Beifall. Der gute Junge und sein liebes kleines Mädchen haben die Erlaubnis gehabt, einander zu lieben, der väterliche Segen war ihnen zu teil geworden, und ihre aufrichtige Liebe war von allen Seiten begünstigt und gebilligt worden. Und nun kommt die weltliche Klugheit und predigt dem Herzen des Mädchens Verrat. »Er war früher eine gute Partie, aber er ist das nicht mehr. Die schönen Hoffnungen, die zu hegen er fast von der Wiege an gelehrt worden war, sind zu Wasser geworden; also gib ihn auf. Benutze diesen Augenblick seiner Entmutigung, um ihm zu sagen, daß das einzige Geschöpf, das er liebt und schätzt, eine kalte und herzlose kleine Person ist, die eine reiche Verbindung höher schätzt als alles andre in der Welt.«

Kann man sich wundern, wenn sie dies für niedrig und grausam hält, daß ihr Herz sich in leidenschaftlich zärtlichem Widerspruch gegen diese weltliche Selbstsucht auflehnt? Kann man sich wundern, wenn er sie für ein Muster von Beständigkeit hält und sie nur noch inniger liebt?

Eine himmlische, glückliche Stunde saßen sie beisammen, erneuerten ihr Gelübde, besprachen Toms Pläne und wandelten dann wie auf Luft aus diesem märchenhaften Restaurant nach der Regent Street zurück. Als sie diese erreicht hatten, standen sie plötzlich Angesicht zu Angesicht dem Bischof gegenüber. Tom und das junge Mädchen wurden kreideweiß, der Bischof purpurrot und Lucys Tante, die neben dem Bischof im Wagen saß, wurde gelbgrau. Tom nahm den Hut ab, und der Bischof sah ihn wütend an.

»Ich habe mit Mr. Finch gefrühstückt, Papa,« sprach Lucy ruhig, indem sie an den Wagen trat, »Du entsinnst dich doch Mr. Finchs noch?« fragte sie, denn der Bischof ließ Toms Gruß in seinem entrüsteten Erstaunen unerwidert.

»Steig ein, Lucy,« sagte Mrs. Raimond, »ich fahre nach Hause.«

»Mr. Finch wird so freundlich sein, mich nach Hause zu begleiten, liebe Tante,« entgegnete Lucy.

»Heute nicht,« fiel ihr Vater ein. »Es ist schon lange her, seit ich Gelegenheit hatte, mit Mr. Finch zu sprechen, und ich habe ihm etwas Wichtiges mitzuteilen.«

Lucy, in deren Wangen die Farbe zurückgekehrt war, reichte Tom die Hand.

»Dann adieu für heute, liebster Tom,« sprach sie dabei.

»Adieu, mein Liebling,« antwortete Tom auf dieses Stichwort.

Mrs. Raimond fuhr mit einem Ruck in die Höhe, wie man auffährt, wenn man eine zu große Gabe einer starken Medizin genommen hat, und Lucys Vater sah seine Tochter an, konnte aber vor Aerger kein Wort hervorbringen.

Der Wagen hatte nur wegen einer augenblicklichen Stockung des Verkehrs gehalten und setzte sich jetzt wieder in Bewegung, wobei er Miß Durgan entführte und ihren Vater am Randstein des Bürgersteigs stehen ließ

Obgleich von schlanker Gestalt und nur mittlerer Größe, war der Bischof doch ein Mann von sehr würdevoller Haltung, einer von den Leuten, die die Fähigkeit haben, unausstehlich höflich und in ihrer Höflichkeit so kalt und schneidend zu sein wie ein Ostwind. Nach wenigen Schritten war seine Kälte unter den Gefrierpunkt gesunken.

»Wir sind nicht weit von Portland Place,« begann er, »und dort ist es gewöhnlich sehr ruhig, so daß wir ohne Störung werden sprechen können, Mr. Finch.«

Mr. Finch neigte das Haupt in achtungsvoller Zustimmung, worauf die beiden schweigend nebeneinander weiter schritten, bis sie aus der drängenden und schlendernden Menschenmenge heraus waren und die Sahara von Sandsteinen und Macadam erreicht hatten, die so still in der Nähe lag.

»Bei unserm letzten Meinungsaustausch, Mr. Finch,« sprach der Bischof, »glaube ich Ihnen mit hinreichender Deutlichkeit zu verstehen gegeben zu haben, daß ich Ihren Verkehr mit meiner Tochter nicht dulden könne.«

Als ob er eine Antwort erwartete, hielt er inne, aber Mr. Finch gab keine, außer einer kaum merklichen Neigung des Kopfes.

»Ich habe diesen Wunsch so deutlich und klar ausgesprochen,« fuhr er demnach fort, »als es mit Worten nur möglich ist.«

Mr. Finch neigte wieder das Haupt, und der Bischof stieg innerlich auf einen weit über dem Gefrierpunkt liegenden Hitzegrad, während er äußerlich immer eisiger wurde.

»Wollen Sie die Güte haben, Mr. Finch, mir zu sagen, ob es mir damals nicht gelungen ist, meine Wünsche verständlich zu machen?«

»Sie haben Ihr Verlangen vollkommen verständlich gemacht,« entgegnete Tom, der durch diese direkte Frage gezwungen war, sein Schweigen zu brechen.

»Dann, Mr. Finch,« fuhr der Bischof fort, »werden Sie so gütig sein, mir zu sagen, warum ich von neuem die Wahrnehmung machen muß, daß Sie sich meiner Tochter aufdrängen.«

»Euer Lordschaft bedienen sich eines falschen Ausdrucks,« erwiderte Tom. »Aufdringlich zu sein, ist gar nicht meine Art.«

»Auf Wortklaubereien werde ich mich nicht mit Ihnen einlassen, Herr,« versetzte der Bischof. »Ich habe von Ihnen verlangt, daß Sie die Verfolgung meiner Tochter einstellen. Ein Mann von Ehre, Mr. Finch, pflegt ein solches Verlangen zu berücksichtigen.«

»In der Regel wird ein Herr nicht beschuldigt, die Dame, mit der er verlobt ist, zu verfolgen,« antwortete Tom, der das Gefühl hatte, daß der Bischof im Begriffe sei, seine Ruhe zu verlieren, und daß es für ihn um so notwendiger sei, die seine zu bewahren.

»Ich hatte mich der Hoffnung hingegeben, daß dieser Unsinn abgethan sei,« fuhr Miß Durgans Vater fort.

»Wenn Sie mir gestatten, Mylord,« erwiderte Tom, »so muß ich Ihnen mit aller Hochachtung und von dem Wunsche beseelt, Sie nicht zu verletzen, sagen, daß es kein Unsinn, sondern eine sehr ernste Thatsache und weit davon entfernt ist, abgethan zu sein, wie Sie sich ausdrücken.«

Diese Antwort reizte den Vater so, daß es ihn große Mühe kostete, ruhig zu bleiben, aber es gelang ihm, wieder unter den Gefrierpunkt zu sinken, ehe er antwortete: »Mit der ganzen Gewalt und dem Ansehen, die mir als Vater zustehen, verbiete ich Ihnen, Mr. Finch, meine Tochter in ihrer Auflehnung gegen meinen Willen zu bestärken.«

Des jungen Mannes Herz war von den besten Gesinnungen gegen den Bischof erfüllt gewesen, aber es wurde bitter wie Wermut, bitterer, als es zu sein das Recht oder einen Grund hatte, denn Tom war seiner Lucy sicher, und er hätte, als auf der siegenden Seite stehend, großmütig sein können.

»Miß Durgan hat sich mit Euer Lordschaft Zustimmung mit mir verlobt,« sagte er. »Ich habe nichts gethan, was mich Lucys oder Ihrer, oder irgend eines Menschen Achtung weniger würdig gemacht hätte. Allein es scheint so, als ob es zwei Arten von Ehrenmännern in der Welt gäbe, die verschiedene Gesetze für ihr Handeln aufstellen. Ich bin offenbar deshalb kein Mann von Ehre, weil ich ein gegebenes Versprechen, dessen Erfüllung von mir erwartet wird, nicht brechen will, und ich werde mich auch ferner so lange für dazu verpflichtet halten, bis ich davon entbunden werde.«

»Sie sind davon entbunden, Mr. Finch,« entgegnete der Bischof kurz. »Ich entbinde Sie hiermit davon.«

»Dazu haben Sie gar nicht das Recht,« antwortete Tom, worauf die beiden Herren etwa hundert Schritte schweigend weiter gingen.

»Mr. Finch,« hob der Bischof nach dieser Pause wieder an, und er sprach mit einem unheilverkündenden Ernst, »ich will Sie mit einer Thatsache bekannt machen, die Ihnen doch Veranlassung geben dürfte, nachzudenken. Meine Tochter hat mir bestimmt versprochen, nie ohne meine Zustimmung zu heiraten.«

»Das hat sie mir heute nachmittag ebenfalls mitgeteilt,« erwiderte Tom.

»Und trotzdem, daß Sie das wissen, beharren Sie in Ihrem Betragen?« fuhr der Bischof fort.

»Miß Durgan hat mir noch mehr gesagt,« erwiderte Tom.

»Und das wäre?« fragte der ältere Herr.

»Sie hat mir gesagt, daß sie niemals einen andern Mann heiraten werde.«

Beim Gedanken an ihre Treue, die ihm diese Worte so lebhaft vor die Seele stellten, erfüllte ihn eine solche Glut, daß er selbst gegen ihren Vater wärmer wurde und in etwas freundlicherem Tone sprach.

»Ich sehe nicht ein, was dieser Streit nützen kann,« sagte er, »Lucy ist bereit, zu warten, und ich werde warten und arbeiten. Sie sind besser, als Sie sich anstellen, glaube ich, und wenn ich mir erst eine Stellung errungen habe, werden Sie diese Mißhelligkeiten vergessen.«

Das war ohne Zweifel der Augenblick, wo der Bischof unerbittlich wurde. Daß man ihm ins Gesicht sagte, er sei besser, als er sich anstelle, war eine Beleidigung, die er selbst als Hilfsgeistlicher nicht ruhig hingenommen hätte, denn, so unglaublich es auch erscheinen mag, auch Bischöfe sind einmal Hilfsgeistliche gewesen. Als Pfarrer würde er den Menschen, der so zu ihm zu sprechen gewagt hätte, durch Kälte vernichtet haben, als ländlicher Dekan wäre ihm ein solches Vorkommnis unmöglich erschienen, und jetzt, wo er Bischof war, sagte es dieser junge Mann ganz unverfroren, lächelte dazu und versank vor seinem entrüsteten Blick nicht in den Erdboden

»Ihr Benehmen, mein Herr,« sagte er, »ist unverschämt. Ich muß es ablehnen, eine Unterredung fortzusetzen, die einen solchen Ton angenommen hat, aber ich wiederhole, ich verbiete Ihnen jeden weiteren Verkehr mit meiner Tochter.«

Damit wandte er sich ab und ging einige Schritte weiter, kam aber sogleich wieder zurück.

»Ich verbiete ihn, mein Herr; ich verbiete ihn!« schrie er.

Nun entfernte er sich und kam nicht wieder, während Tom unbeweglich stehen blieb und ihm mit einer Mischung von Aerger, Bekümmernis und Verwirrung nachsah. Was den Bischof zu der Beschuldigung der Unverschämtheit veranlaßt hatte, war ihm ganz unerfindlich. Nie habe ich einen jungen Mann gekannt, der von Natur ehrerbietiger gewesen wäre, aber – wie es kam, weiß ich nicht – der Bischof von Stockestithe war ihm nie ehrfurchtgebietend vorgekommen.

Noch ehe er sich wieder vollkommen gesammelt hatte, sah er, wie der Vater seiner Geliebten am andern Ende von Portland Place stehen blieb und mit einem vorübergehenden Herrn einen Händedruck wechselte. Als dieser dann näherkam, erwies er sich als ein sehr militärisch aussehender Herr, der, wie Tom meinte, etwas stutzerhaft gekleidet war und etwas gemein aussah. Er trug einen prachtvollen Schnurrbart, den er beim Gehen unablässig liebkoste. Als er an Tom vorüberkam, sah er den jungen Mann an und wandte sich sogar noch einmal nach ihm um. Auch Tom blickte dem Fremden nach und ertappte ihn so beim Umdrehen, worüber ihm einfiel, daß er schon fünf oder sechs Minuten an derselben Stelle stand.

Langsam schlenderte er in derselben Richtung weiter, die der windbeutelhafte militärische Herr, der einen Händedruck mit dem Bischof gewechselt, eingeschlagen hatte; aber er ahnte nicht – niemand thut das – daß er an einem wichtigen Wendepunkte seines Lebens angekommen sei. Hätte sich der militärisch aussehende Herr nicht nach ihm umgesehen, so würde Tom keinen weiteren Gedanken an ihn verschwendet und ihn später nicht wiedererkannt haben. Allein es war sehr wesentlich für sein Glück, wie sich herausstellte, daß er ihn wiedererkannte; und deshalb drückten die Schicksalsgöttinnen dem militärisch aussehenden Herrn ein Zeichen auf, ein so seltsames und in seiner Art so eigentümliches Zeichen, daß es nicht leicht zu vergessen war.

Gesenkten Hauptes und die Spitze seines Regenschirmes auf den Steinplatten nachschleifend, schlenderte Tom weiter und dachte, wie wenig er bis jetzt eigentlich gethan hatte, was ihn Lucy hätte näherbringen können. Allerdings war er als Rechtsanwalt zugelassen, aber er hatte bisher in seinem ganzen Leben noch nicht einen Pfennig Geld verdient, und mit einem Einkommen von sechs Pfund wöchentlich konnte er doch nicht wohl eine Bischofstochter bitten, sein Los zu teilen. In immer düsterer werdenden Gedanken wanderte er weiter, bis das liebe Antlitz vor seinem geistigen Auge stand und das tapfre »Adieu für heute, liebster Tom,« vor seinem geistigen Ohre ertönte. Das kleine Wort »liebster« war gleichsam ein allen Hindernissen Trotz bietender Trompetenstoß, denn es war offenbar absichtlich vor den Ohren ihres Vaters ausgesprochen worden. Damit hatte sie die Flagge der Liebe an den Mast genagelt. Beim Himmel, er wollte für sie kämpfen und würde schon vorwärts kommen.

Bei diesem Gedanken warf er den Kopf in den Nacken, reckte sich in den Schultern und marschierte mit ganz andern, entschlossenen Schritten weiter. Nach fünf Minuten oder noch weniger war er bereits Justizminister und beantwortete vom Regierungstische aus die im Parlament an ihn gerichteten Fragen, um gleich darauf, vollkommen erwacht, in Regents Park einen Stromer anzustarren, der ihn angesprochen hatte. Anfangs konnte er kaum glauben, daß das der Mann sei, der ihn angeredet hatte; denn dessen Stimme hatte ihm wie die eines Menschen von Erziehung geklungen, während der Strolch das trostloseste und am tiefsten heruntergekommene Geschöpf war, das Tom seit Jahren gesehen hatte. Der junge Mann gab ihm fünfzig Pfennig, und der Bettler torkelte weiter.

Die Stiefel, die er trug, waren um mehrere Nummern zu groß für ihn. Bei jedem Schritte, den er that, klappte eine der Sohlen herab und ließ des Trägers schmutzige, nackte Ferse sehen, und jedesmal, wenn er die Füße auf die Erde setzte, drangen aus zahlreichen Rissen der Stiefel kleine weiße Staubwölkchen hervor. Der fürchterliche alte Rock des Strolches war trotz der herrschenden Hitze bis oben hinauf zugeknöpft. Auch schien er geölt zu sein, aber nicht mit Sorgfalt und Aufmerksamkeit, sondern nachlässig, so daß sich ein unregelmäßiges Muster von Fettflecken gebildet hatte. Seine schäbigen, ebenfalls fettigen Beinkleider beutelten sich an den Knieen und waren unten zu flatternden Lumpen ausgefasert. Sein Hut sah aus, als ob er ihn auf einem Düngerhaufen aufgelesen hätte, sein Bart war offenbar in den letzten vierzehn Tagen nicht rasiert worden, und nicht eine Spur von Wäsche war sichtbar.

So watschelte er weiter, während sich Tom auf eine nahe Bank setzte und wieder in seine Träume versank. Diese hatten ihn fast bis zum WollsackDer Sitz des Lordkanzlers im Oberhause. Anmerk. d. Uebers. geführt, als er durch eine Stimme in der Nähe aufgeschreckt wurde, die »Donnerwetter« rief. Er sah auf und erblickte den Strolch wieder, und vor diesem stand der stutzerhafte militärische Herr, der dem Bischof von Stockestithe die Hand geschüttelt hatte, und starrte den Strolch an, als ob er am hellen Tage einen Geist sähe.

»Wie geht's, alter Junge?« fragte der Strolch.

»Wer, zum Teufel, sind Sie denn?« entgegnete der militärisch aussehende Herr.

»Ausgezeichnet!« rief der Stromer, »ausgezeichnet gespielt! Hättest du mir das im ersten Augenblick an den Kopf geworfen, ich glaube, ich wäre verblüfft gewesen, aber ich las Erkennen in deinen Fenstern, ehe du die Vorhänge herabließest.«

Der militärische Herr hatte Tom gesehen, der Strolch aber nicht. Jener drehte sich auf dem Absatz um und ging weiter, während der andre eine Frage stellte, die eine geheimnisvolle Macht zu haben schien, denn sie hatte eine seltsame Wirkung auf den Hörer.

»Wie bist du denn aus Portland entkommen?« lautete sie.

Der militärische Herr blieb stehen, als ob ihn ein Schuß getroffen hätte, und all seine Herrlichkeit und all seine Windbeutelei ließen ihn im Stiche. Sein Kinn sank ihm auf die Brust, sein Rücken krümmte sich, seine Beine schienen ihm den Dienst versagen zu wollen, und seine Kniee schlotterten. Wenigstens drei Zoll war er kleiner geworden; sein Mund stand offen und sein Gesicht war leichenblaß.

Tom sah das alles mit grenzenlosem Erstaunen. Und dieser Herr, der durch den geschilderten Vorgang so erschreckt war, hatte mit dem Bischof von Stockestithe einen Händedruck gewechselt!


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