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Ich hatte nie Vertrauen zu ihm fassen können, und auch in diesem Moment, da uns der D-Zug der Hauptstadt zutrug, wo ich mein Visum für Amerika erhalten sollte, um mit ihm nach Hollywood zu fahren, und also an ihn gebunden, gezwungen war, durch alle Hindernisse hindurch mit ihm mich zu befreunden, fühlte ich einen Widerwillen. Dies Gefühl war stärker als alle seine Bemühungen, meine Zweifel zu zerstreuen, und stärker als meine eigenen Anstrengungen, mich von der Unrichtigkeit und Ungerechtigkeit meiner Empfindungen zu überzeugen. Über den schmalen, scharfen Lippen lag beständig ein Lächeln, aber der Blick seiner stechenden, 12 klugen Augen verfügte über eine Modulationsfähigkeit, die das Lächeln und seine Ironie zum gehorsamsten Instrument machte. Unter dem rechten Auge breitete sich ein Kainszeichen aus: ein brennend roter Fleck, so groß wie eine Nuß. Er leuchtete und flammte auf, wenn dieser Mensch die Festung seiner beherrschten Neurasthenie verließ.
Frank, den ich seit zehn Jahren kannte, behauptete, fünfzig Jahre alt zu sein, aber einmal präsentierte er sich als Lausbub, ein andermal wieder als der Uralte, aus der Zeitlosigkeit der jüdischen Geheimlehre gestiegen. Im Verkehr mit hohen Diplomaten war er der vollendete Weltmann – er war Konsul, jedoch gleichzeitig Arzt, Philosoph, Journalist und Großkaufmann – und gab sich als Revolutionär, wenn er mit den Moskauer Genossen, die er alle kannte und mit denen ihn eine dunkle Vergangenheit verband, zusammentraf.
Während der Fahrt von sechs Stunden hatte er auf meine Braut Genia eingesprochen. Wahllos: über Medizin, Diplomatie, über das Leben. Ihre großen, grauen Augen hielten sich tapfer, doch dann wurden sie müde. Seine vielen Worte senkten sich wie ein Schleier auf sie herab, und nach einigen hilflosen Versuchen, den Körper zu zwingen, lächelte sie nett und kindlich, als bäte sie um Verzeihung. Und das Lächeln war bereits der Schlummer.
Da verfiel auch Franks Gesicht, wurde fahl und uralt. Das rote Zeichen flammte auf, als er mich aus dem Dunkel seiner Augen anblickte.
»Deine Braut . . .«
»Eine kluge Frau, aber nicht für mich! Und ein Ballast für einen, der in Hollywood seine Filmsujets 13 zu verkaufen und Geld zu machen gedenkt!« – gab ich rasch zurück. Er bemerkte und kehrte um:
»Ich wollte das Gegenteil sagen . . .«
»Meine Braut, eine Frau für dich!« – sagte ich schonungslos, fast in blinder Wut und plötzlich aufloderndem Haß.
Er lächelte wie ein Kind: naiv begehrend, fast gütig, und schwieg. Im Abteil war außer uns niemand. Wir zogen uns in Schweigen zurück, und Genia, die Schlafende, in der Mitte, suchten wir uns gegenseitig zu fassen. Die satzgewordenen Gedanken schlugen empor, erreichten einander aber nicht und fielen machtlos zurück.
Die fliehende Landschaft, in Abendröte getaucht, rannte wie toll unseren Gedanken nach, doch es war vergeblich; denn sie, die auf Amerikas Gold gerichteten, waren schneller als alle Bewegungen des Lebens und der Natur, die aussah wie ein plumper Bernhardinerhund, der dem Blitz nachjagt und ihn mit der Pfote erhaschen möchte. Ein ungleicher Wettkampf! Eine Zeitlang sahen wir dem Schauspiel zu, doch schon nach wenigen Minuten war es uns, die wir unsere Gedanken im Raum fliehen sahen, als rannte die Natur zurück. Zweifellos eine optische Täuschung, aber es war so: Häuser, Dörfer, Bäume und Telegraphenstangen sanken zurück und dann plötzlich nach vorne. Sie schwankten, und ihre Bewegungen wurden immer ausladender, bis sie zu stehen schienen. Die Abendsonne ging drüben als leuchtender Morgenstrahl auf, und sie schüttelte dort die dunklen Meereswogen, die sie hier verschlangen, von den Schultern. – –
»Eine Frau für mich, deine Braut?« – – fragte Frank . . .
14 Wir hatten gemeinsam Stücke für den Film geschrieben. Auf Einladung eines allmächtigen Managers unternahmen wir die Amerikareise. Der Filmgewaltige hatte gesagt: »Das müßt ihr drüben in Hollywood machen. Ich garantiere.« – Der Vertrag, den wir bei uns verwahrten, war der Anfang eines goldenen Zeitalters. Er berechtigte uns, die Filmmanuskripte entweder ein für allemal zu verkaufen oder uns an dem Unternehmen zu beteiligen, die Filme selber zu drehen, und wir sollten prozentuelle Einkünfte haben. Ich war also mit Frank stärker verbunden, als es sonst möglich gewesen wäre. Die Manuskripte waren aus Laune, Scherz und Langweile entstanden, da wir beide, nach der Inflationszeit postenlos, tagtäglich viele Stunden hinter unseren Zigaretten im Stammcafé saßen: er, der alte Mann, der alles hinter sich hatte und von Neuem begann, und ich, der Junge, der noch das Recht hatte, Zeit zu verprassen. Nachdem der Filmmanager sein Urteil gesprochen, wollte ich augenblicklich verkaufen. Verkaufen, um mit Genia leben zu können. Frank wollte von Verkauf nichts hören.
»Ich erwarte Sie oder Ihre Entscheidung in Hollywood!« sagte der Manager, ließ seine Adresse zurück und segelte über den großen Teich.
Frank war stärker, und bald war ich überredet. Nicht überzeugt, doch ich folgte ihm. Wir fuhren in die Hauptstadt unseres Landes, um die amerikanischen Visa zu holen; denn wir wollten in Amerika die Filme selber drehen. Er hatte mir bewiesen, daß uns ein einziger Film immens reich machen könnte. Da gab ich nach.
Jetzt hörte ich seine Stimme wie aus der Ferne.
15 »Eine Frau für mich, deine Braut?« –
Da aber Genia die Augen öffnete und, in den Schlaf hineinverirrt, der Abendsonne zulächelte, antwortete ich nicht. Ich schaute in die Richtung ihres Blickes, und aus dem Sonnenrot stiegen breit die Umrisse der Hauptstadt und schwebten uns entgegen.
Plötzlich wurde es dunkel. Die Stadt fiel kopfüber ins Abteil. Wir waren am Ziel.
Hinter der Bahnhofsperre liefen wir einer kleinen, rundlichen Frau in die Arme, die ich schon von weitem erkannte, ohne sie je gesehen zu haben. Es schien ihr ebenso zu gehen; denn sie empfing uns stürmisch.
»Frank! Und dein Freund und seine Braut . . . Seid gegrüßt . . . Kommt nur . . . es ist alles vorbereitet . . .«
Ihr Gesicht war ein einziges gutmütiges Lächeln. Dadurch wurde es blicklos, da die Augen fast verschwanden. Strähnen eines Bubikopfes kitzelten die Nase, die energisch die Luft durchschnitt.
»Sieh mal, Frank!« rief sie. »Du wirst nicht einverstanden sein und den Moralisten spielen!«
Sie riß mit einer Jungensgebärde den Hut vom Kopf. Der kleine Körper war unaufhörlich in Bewegung und vollführte Tanzrhythmen. Entweder kannte sie mich und meine Braut von Franks Beschreibung her oder sie kannte uns nicht und war einer jener Menschen, die eben jeden Mitmenschen von vorneherein kennen. Ich entschied mich für das letzte und sagte:
»Sehr erfreut, Frau Adele! Sehen wir heute noch Ihren Gemahl?«
16 »Nicht Adele! . . . Leda! Leda, bitte! . . . Aber selbstredend! Er freut sich ungeheuer, und obwohl er gerade für den heutigen Abend zu einem Pressetee ins Ministerium des Äußeren geladen war, hat er abgesagt, um den Abend mit Ihnen verbringen zu können!«
»Bitte, Leda, wir wollen gehen!« – unterbrach sie Frank näselnd. Das Näseln war bei ihm Zeichen der beginnenden Neurasthenie. Ihr Fraueninstinkt verstand, und wir setzten uns in Bewegung.
Wir brachten Genia im Hotel unter und gingen zu Fuß durch die Stadt. Meine Braut wollte von der Reise ein wenig ausruhen und sollte dann zum Abendessen zu Adele kommen. Frank sagte uns lebewohl, auch er wollte später kommen. Er hatte, so sagte er, in der Redaktion eine kleine Besprechung.
Obwohl Adele unaufhörlich auf mich einredete, dabei ihre Blicke von rechts nach links schießen ließ und sich sehr unruhig gebärdete, begann die alte Stadt eine merkwürdige Wirkung auf mich auszuüben. Ich war zum erstenmal hier. Barock rechts und links, Barock die letzte Entwicklungsetappe dieser mittelalterlichen Stadt. »Alles zu Stein geworden!« ging es mir durch den Kopf. »Alles erstarrt.«
Noch horstete letztes Gold der Sonne in den jahrhundertalten Türmen der Hussitenburg, die Brüsseler Spitzen glichen. Der alte Fluß wälzte Goldfluten zwischen schattenschwarzen Ufern. Wir überschritten die Brücke, und ich dachte an das grenzenlos blaue Meer und an das märchengoldene Hollywood. An unsere Filme und an das Tempo Amerikas. Als wir aber in der Mitte der Brücke standen, spürte ich die Gravitation dieser uralten Stadt wie ein Verhängnis. 17 Hier zog die Erde an, und die Füße wurden zu Wurzeln. Tief schlugen sie ein ins Erdreich – man mußte stehen. Zu beiden Seiten der steinernen Brüche, die, aus schweren Quadern getürmt, trotz ihrer Schwere über dem langsamen Wasser zu schweben schien, standen Figuren aus Stein: Heilige, Ritter mit drohenden Blicken und erstarrter Geste. Ich konnte an ihnen nicht vorüber. »Steh!« – sagten sie, und ich stand im Gehen. Sie waren lächerlich, diese Steine und paßten nicht zu Hollywood und dem Bluff meiner Filme. Ich hatte keine Gemeinschaft mit ihnen und lächelte über ihren Eifer, der in den steinernen Gesten zum Ausdruck kam, aber ich war doch froh, daß Adeles Lebhaftigkeit mir über die Brücke hinweghalf.
Wir hatten den letzten Heiligen erreicht. Von ihm ging es geraden Weges über hängende Gärten zunächst auf einem Serpentinenweg in den Himmel. Je höher wir kamen, umso leichter wurde die Stadt. Ich hätte sie bei einzelnen Biegungen zu meinen Füßen sehen können, aber ich wollte erst ganz oben sein. Seit einer knappen Stunde weilte ich in dieser Stadt, und ich ängstigte mich vor ihr. Erst als ich oben stand, wagte ich es, einen Blick hinabzusenden. Tief unten sprangen Lichter das Dunkel an. Die schwarzen Stadtmassen erstrahlten gespenstisch. Von einer unsichtbaren Insel drang derbfröhliche Volksmusik empor. Das Orchester spielte Volksweisen, aber in klassischer Bearbeitung und mit einer Disziplin, die begeisternd wirkte. Meine Blicke suchten die Brücke und fanden sie nicht. Zehn Brücken erstrahlten im Glanz der Bogenlampen. Die tote Stadt des Mittelalters erwachte zur modernen Nacht der Bars und 18 der eleganten Restaurants. Als ich durch das Gittertor des Hauses eintrat, hatte ich die Stadt vergessen und dachte wieder an Hollywood.
»Legen Sie ab, bitte,« sagte Adele, und ich trat in den erleuchteten kleinen Salon, in dem eine Frau wartete.
Adele stellte vor. Ich sah kaum hin. Noch wirkte die Stadt auf mich, und ich war für Eindrücke, die Menschen hervorbringen, unempfänglich. Ich hörte nur den Namen der Frau und wußte nun, sie hieß Maria.
Adele steigerte das Tempo ihrer Lebhaftigkeit und sprudelte alles hervor, was sie für interessant hielt. Ich erfuhr, daß ich in ihren Augen ein großer Dichter sei; sie hatte mein Versbuch gelesen, und ihr Mann hatte sich anerkennend darüber geäußert. Ich wollte möglichst schmerzlos auf einen anderen Gesprächsstoff übergehen, doch sie blieb so beharrlich und lobte die Gedichte derart überschwänglich, daß ich, als sie den Band aus der Bücherei hervorholte, endlich doch die Absicht, ihrer Freundin Maria etwas Neues zu bieten, bemerken mußte.
Maria hatte sich am Gespräch mit keinem Wort beteiligt. Ihr aschblondes Haar umrahmte eine offene, trotzige Stirn, die mit dem Einschnitt zwischen den beobachtend zusammengezogenen, geradlinigen Brauen, den stahlgrauen, durchdringenden Blicken und der breitangelegten Nase, die an die Nase einer Löwin erinnerte, harmonierte. Sie verhielt sich reglos, und mir blieb die Wahl zwischen zwei Gedanken: entweder wollte sie sich nicht am Gespräch beteiligen oder sie konnte nicht. Da ich mich aber mit meiner Sehnsucht bereits auf dem offenen Meer befand, gab 19 ich mir keine Mühe, mich für das eine oder das andere zu entscheiden. Die kleine Großstadt und ihre geschwätzigen Menschen waren ein kurzer Übergang. Morgen, dachte ich, ist das Visum besorgt, und ich fahre dem großen Meer entgegen!
Von Maria ging eine Schärfe und Kälte der unmerklichen Beobachtung aus. Je mehr sich Adeles Geschwätzigkeit steigerte, umso deutlicher fühlte ich Marias beobachtende Blicke. Wenn Adele, außer Atem geratend, einen Augenblick schwieg, warf Maria einen Brocken hin, der von ihr ebensowenig verriet wie ihr Schweigen.
Eine Stunde nach uns traf Frank ein. Er ließ sich umständlich vorstellen und setzte ein vornehmes, abweisendes Gesicht auf, in das er überdies sein Einglas klemmte, was immer eine kleine Prozedur darstellte, da das Glas zu groß war und er das Gesicht verzerren mußte, wie man es beim Rasieren tut. Die Nervosität, die ihm diese Prozedur verursachte, und die Angst, der Fremde könnte dadurch Einblick in sein Wesen gewinnen, versuchte er hinter einem leisen, mehrfach und rasch hervorgestoßenen Hüsteln und hinter kleinen Gesten zu verbergen, die Sicherheit markieren sollten. Ich merkte die Feindseligkeit, die zwischen ihm und Maria vom ersten Moment des Zusammentreffens bestand. Adele stürzte sich mit einem Redeschwall über ihn:
»Also du fährst nach Amerika?! Und dein Freund mit dir? Fährt auch Ihr Fräulein Braut? Und deine Frau? Und deine Tochter? Es ist doch ein großer Entschluß . . .«
Er hüstelte verlegen. Adeles lebhaftes Wesen quälte ihn.
20 »Es ist zwar unerlaubt, Damen zu unterbrechen,« sagte er und blickte dabei Maria scharf an, obwohl seine Worte nicht ihr gelten konnten.
»Aber Männer darf man unterbrechen!« antwortete Adele, über das ganze Gesicht lachend. »Ich frage dich also noch einmal, was mit deiner Frau und mit deiner Tochter . . .«
»Ich werde inzwischen in der Küche . . .«, begann Maria, aber Adele sprang entsetzt auf.
»Wo denkst du hin! Da bleibst du mit den Herren, die mich entschuldigen müssen! Ich hatte ganz vergessen! Gott, wenn man einen Dichter bei sich sieht, vergißt man die Küche! Meine Freundin ist Freidenkerin, Sie werden sich mit ihr ausnehmend gut unterhalten!« rief sie außer Atem.
Frank erklärte, er habe Hunger. Adele war im Augenblick verschwunden. Wir hörten aus der Küche ihr Singen, das gedämpft zu uns herüberklang.
Frank beging die Ungeschicklichkeit, an der von Adele angegebenen Stelle einzugreifen.
»Gnädige Frau sind Freidenkerin? Was verstehen Sie darunter?« – In Marias Gesicht konnte man nichts lesen, als sie, die grauen Augen zu mir wendend, antwortete:
»Freidenkerin? Daß ich mir über alles frei meine Gedanken machen kann. In diesem Augenblick zum Beispiel über die Absicht Ihrer Frage.«
»Das steht Ihnen frei,« gab er gespreizt und plump zurück. »Aber Sie werden doch zugeben, daß es Fragen gibt, über die man nicht frei, das heißt von der übrigen Menschheit losgelöst, denken kann!«
Marias Gesicht verhärtete sich, und ihre Stimme klang kalt und gleichgültig.
21 »Jeder kann tun, was er will! Er selbst hat es zu verantworten.« – Ihre Kälte entzündete seinen Widerwillen.
»Jeder kann tun, was er will? Die Gattin darf also den Mann betrügen!? Zum Beispiel!«
Ich konnte eine unwillige Bewegung nicht unterdrücken! Frank konnte es sich nie versagen, moralische Gespräche zu führen und sich als Strindbergscher Frauenfeind zu präsentieren.
Maria blieb unbewegt.
»Die Gattin den Mann? Das hängt vom Mann ab. Betrügt sie ihn, so ist er es, der sich betrogen hat. Die Frauen ergreifen nie die Initiative, sondern handeln immer nur reflektorisch.«
Frank ließ absichtlich eine Zeit verstreichen. Ich beobachtete Maria. In ihrem Gesicht zeigte sich keine Spur von Erregung, nicht einmal Interesse für die Auseinandersetzung. Sie schien ganz kalt und teilnahmslos, ihr Urteil war offenbar bloß theoretisch und vielleicht nur ein Produkt der Langenweile. Sie schaute kein einziges Mal in die Richtung Franks, der ihr zur Linken saß, und sprach zu sich selbst, obwohl sie mich vor sich hatte. Er maß sie feindlich mit vorsichtig raschen Blicken.
»Ich kann Sie nicht verstehen« – sagte er gemessen – »Nehmen wir an, ein Ehegatte käme seinen Pflichten in jeder Beziehung mustergültig nach . . .«
»Es handelt sich nicht um Pflichten, Herr Doktor!«
»Sondern?« fragte er beleidigt; denn sie hatte, obwohl sie genau informiert war, nicht Konsul gesagt.
22 »Pflichten sind uns Frauen gegenüber so sehr selbstverständlich, daß das Problem erst hinter der Pflicht beginnt.«
»Und das wäre?!«
»Der Mann soll sich die Frau so erhalten, daß sie ihn immer begehrt. Er ist ja die Krone der Schöpfung, also darf er nie – langweilig und abgenützt werden. Er muß immer überraschend bleiben, das heißt interessant.«
»Billiger machen Sie's nicht?« – Die Ironie war ein deutliches Zeichen seiner Niederlage.
»Nein!« sagte sie fast ohne Betonung und gleichgültig.
»Also?« zitterte er.
»Wundern Sie sich nicht über – – – das Betrügen.«
»Sie verteidigen also das Recht der Frauen auf das Betrügen?«
In Marias Augen flammte für einen Moment eine Glut auf.
»Wenn Ihnen eine Frau je erklären sollte, daß sie Sie nicht mehr liebt, dann haben Sie kein Recht, sie zu belästigen, und sei es auch Ihre eigene Frau. Oder wollen Sie Gewalt anwenden? Wenn eine Frau dies erklärt, dann haben Sie es verschuldet.«
Die kalten Worte brachten ihn ganz aus der Fassung. Er zitierte gelehrte Werke, nannte große Namen und berief sich auf Erfahrung, um zu beweisen, daß die Frauen unzurechnungsfähig und in den Dingen der Liebe Instinktgeschöpfe seien, wahllos jeder Regung folgend, ohne der Logik des Mannes zugänglich zu sein. Dabei geriet er, was unvermeidlich war, 23 tief in das Gestrüpp der landläufigen Philosophie über Frauen, und das Gespräch wurde langweilig.
»Ich kenne die Werke, die Sie nennen, nur zu gut!« – sagte Maria ruhig. »Vielleicht interessieren sie mich darum nicht sehr!«
»Weininger?! Strindberg?! Schopenhauer?!!« – Frank, der sein ganzes Leben auf Bildung gestellt hatte, sah wie ein Ertrinkender aus. – »Dann bedauere ich . . .«
»Ich auch!« – sagte sie etwas schärfer, und das Gespräch war beendet.
Die folgenden Minuten verliefen höchst unerquicklich. Ich wünschte mir die in der Küche hantierende Hausfrau mit ihrem netten Geschwätz herbei, aber als hätte sie das Fatale der Situation vorausgeahnt, hielt sie sich fern. Auch ihr Mann, der längst hätte hier sein sollen, kam nicht. Maria hatte während des Abends mich nicht beachtet, und ihr Gespräch mit Frank hatte nicht ihm gegolten, sondern irgend einem Menschen, der am Tisch saß und zu ihr sprach. Sie schien völlig abseits zu stehen. Versuchte man, ihr einen Köder hinzuwerfen, sie biß nicht an. Entweder hatte sie zu viel über diese Dinge nachgedacht oder zu wenig. Er wollte einige Male ansetzen, schwieg aber immer wieder, weil er dieser Frau gegenüber weder mit seiner Bücherweisheit aufkommen konnte, da sie Bücher scheinbar darum las, um ihren Wert nicht anzuerkennen, noch mit seinem Einglas, das diesmal so schwach eingeklemmt war, daß es fortwährend zu fallen drohte, was seine Nervosität steigerte, bis er am Rande seiner Selbstsicherheit angelangt war.
Ich verstand ihn nicht. Der sonst Überlegene mit dem geschäftstüchtigen Blick und der ruhig wertenden 24 Psychologie verausgabte sich hier. Wozu? dachte ich. Was geht ihn diese Frau an?
Ein scharfes Klingeln riß uns aus der peinlichen Lage. Adele stieß einen Freudenschrei aus, als hätte sie den eintretenden Gast wie einen Heiland erwartet, und riß die Tür auf.
Es war Genia. Ihre elegante, schmale, etwas übergroße Figur kleidete das schwarze Tüllkleid ausgezeichnet. Die Stahlaugen erschienen doppelt so groß, der wilde Mund doppelt so rot. Sie war schön und sieghaft.
»Ach Genia!« – Frank ging ihr entgegen, als wäre sie seine Braut und nicht die meine. Er machte keine Miene, die Damen gegenseitig vorzustellen. Das mußte abermals die Hausfrau besorgen, die es auch überschwänglich tat. Dabei blickte sie begeistert an Genia empor:
»Schau, Mitzi, wie schön sie ist! Und als Malerin hat sie einen großen Namen!«
Genia machte eine ruhige Wendung zu ihr, und wie sie lächelnd abwehrte, sah sie aus wie ein großer, ruhiger Hund.
»Ich, gnädige Frau? Mich haben sie bei der Prüfung an der Malerakademie in Wien eben glatt durchfallen lassen.«
Frank hackte sich sofort fest und begann über den Konservativismus der Wiener Kunstauffassung zu sprechen, der ihm in der Seele zuwider wäre. Genia antwortete in ihrer ruhigen, gemessenen Art und verteidigte wohlgelaunt ihre Lehrer. Sie beschuldigte sich selbst, nie etwas Anständiges geleistet zu haben. Alles Anfänge, bei denen es nie zur Ausführung gekommen war. »Fleiß, die bessere Hälfte des Genies,« 25 wie Goethe sagt, fehlte ihr. Sie sprach aufrichtig und unbekümmert, und man merkte ihren Begabungsreichtum, der so groß war, daß sie die eigenen Fehler nicht verheimlichen mußte.
Maria hielt sich wieder abseits vom Gespräch, als hätte sie nicht das geringste Interesse dafür. Frank sonderte sich mit Genia demonstrativ ab. Er war froh, Maria beweisen zu können, daß es Frauen gäbe, die Weininger, Strindberg und Kunst anerkannten. Sein Einglas leuchtete.
Aber er wurde wieder gestört. Er schien heute überhaupt nicht viel Glück zu haben. Genia war gutmütig und kümmerte sich wenig um die Psychologie ihrer Umgebung; denn sie war vollauf mit den eigenen Gedanken beschäftigt; auch war sie leichtsinnig und großzügig genug, die Menschen nach sich selbst zu beurteilen. Sie machte sich keine Sorge, selbst dort nicht, wo es sich um ihre Interessen handelte, und verzichtete lieber auf Erfolge, als daß sie in den Kampf gezogen wäre. Obwohl sie Frank anmerken konnte, daß Maria ihn reizte und vor ihrem Erscheinen ein heftiges Gespräch stattgefunden haben mußte, bemerkte sie eben nichts und kümmerte sich um Maria in der nettesten Form, als wäre es eine ausgemachte Sache, daß sie ihre Freundin sei. Maria ihrerseits schien nicht das geringste für Genia aufzubringen und schwieg.
Genia war eben auf Franks Gespräch eingegangen, und er steuerte wieder dem Eheproblem zu, als der Sturm, den das Erscheinen der Hausfrau entfachte, sein Konversationsschifflein hinwegfegte. Schüsseln wurden aufgetragen, Flaschen in Reih und Glied gestellt, mehrere zugleich. Das Essen half uns über alle 26 Schwierigkeiten hinweg, und der Wein wirkte zunächst wohltuend. Frank konnte sich nicht enthalten, das Gläserklingen mit Bemerkungen über den richtigen Genuß des Alkohols zu begleiten. Adele nickte fast ununterbrochen Beifall und verschlang ihn mit wohlwollend zwinkernden Blicken. Dennoch bemerkten wir, daß sie weder hinhörte noch hinsah, sondern uns beobachtete. Sie kannte ihn, daher war er ihr gleichgültig. Wir waren neu.
Frank hielt einen seiner endlosen Monologe. Ich wußte, heute würde keiner von uns zu Wort kommen, und es war mir recht; denn ich konnte meine Gedanken weit fortschicken und sie zurückrufen, ganz nach meinem Willen, ohne daß die Gesellschaft etwas davon merkte. Genia schien sich für die Auseinandersetzungen über den Alkoholgenuß zu interessieren. Frank erzählte gut und würzte den Fluß der theoretischen Rede mit Anekdoten. Adele war mit der Beobachtung der neuen Menschen – für sie eine Art von Wollust – vollauf beschäftigt. Maria schwieg und verwirrte Frank mit ihrer Reglosigkeit so sehr, daß er fast ausschließlich zu Genia sprach. Das sah so aus, als suchte er, der alte Diplomat, Arzt und Philosoph, Schutz bei meiner Braut vor dieser sonderbaren Frau.
Der Redakteur kam nicht. Ich bemerkte noch, daß seine Gattin von Viertelstunde zu Viertelstunde nervöser wurde, dann gab ich es endgültig auf, mich mit diesen Leuten, deren zufälliger Gast ich war, weiter zu beschäftigen, und überließ mich meinen Gedanken . . .
Ich schritt über die alte Brücke, zu deren beiden Seiten die steinernen Heiligen standen. Vor dem einen, um dessen Haupt der Mond einen 27 Glorienschein wob, mußte ich stehen bleiben. Er zwang mich in seinen Bannkreis, weil er mich an den ungeschlachten Steinheiligen erinnerte, der an einer verlassenen Straßenecke meiner kleinen Heimatstadt steht. Ich konnte mich eines ironischen Lächelns nicht erwehren; denn sein Stehen und Glotzen kam mir ungemein komisch vor. Hollywood, dachte ich, und dieser Heilige, der sich aus dieser Stadt nicht fortrühren kann und ewig da stehen und glotzen wird, während ich morgen schon weit fort bin, übermorgen auf offenem Meer mit Sonne, Wind und Wasser spiele und dann mit einem Sprung an der jenseitigen Meeresküste . . .
Der Heilige erriet meine Gedanken. Er antwortete nicht. Das erboste mich. Verächtlich sah ich ihn von Kopf bis zu Fuß an, spuckte aus und wollte weitergehen . . .
Da hörte ich eine verschleierte Stimme:
»Das größte Unglück der Menschen ist, daß sie sich heißlaufen, dann nicht weiter können und für den Rest ihres Lebens zwischen den vier Wänden ihres Zimmers oder ihrer Stadt bleiben, während doch das Meer lockt und sich überall Möglichkeiten bieten . . .«
Das hatte Frank gesagt. Ich blickte auf. Er hatte mehr getrunken als sonst und nach der Art schwacher Trinker zu hastig. Die Wirkung zeigte sich bereits. Ich verstand sofort den Gegensatz zwischen seinen Reden gegen den übermäßigen Alkoholgenuß und seinem angeheiterten Zustand. Mein zweiter Blick fiel auf Maria, die in diesem Moment eine Ähnlichkeit mit dem starren Heiligen von der Brücke hatte. Die Starre wirkte auf Frank, daher trank er mehr und hastiger als sonst. Seine Augen glänzten, und der Glanz nahm ihnen die stechende 28 Klugheit des Blicks. Sie wurden unberechenbar und ließen ihn aus seiner Verschanzung hervortreten. Er explizierte die Gedanken, die ich dem steinernen Heiligen gegenüber mehr empfunden als gedacht hatte. Er vibrierte und versuchte sein Gleichgewicht wiederzuerlangen. Es gelang ihm nicht. Noch war ich über die Seltsamkeit der gleichen Wirkung, die der Heilige auf mich und Maria auf Frank ausübte, sehr erstaunt, aber ich fragte dennoch:
»Sag doch, warum du dich so ereiferst! Du verteidigst etwas, was für uns beide morgen schon Wirklichkeit sein wird. Wir steuern doch eben den neuen Möglichkeiten entgegen!«
»Er ist immer so phantasievoll und erzählt so gut!« schwärmte Adele, was ihr einen wütenden Blick Franks eintrug, so daß sie verstummte.
»Ich werde das nie verstehen!« fuhr er dann fort. »Man muß bis an sein Lebensende überall nur zu Gaste sein. Man darf doch das Wandern nicht vergessen und sich nicht verfitzen! Wandern, wandern muß man; denn die Erde ist rund und hat weder einen Anfang noch ein Ende!«
Er blickte dabei Genia, meine kindliche Braut, unausgesetzt an, und in seinen unbeherrschten Blicken stand das Begehren. Er sprach nur zu ihr, aber ich wußte, er kämpfte mit seinen Worten gegen Maria, wie ich vorhin auf der Brücke gegen den Zwang des Heiligen.
»Die meisten Frauen, die doch die geschworenen Feinde des Mannes sind, machen ihn seßhaft und zwingen ihn zwischen die vier Wände des Zimmers und der Stadt . . . Es gibt Ausnahmen, das leugne 29 ich nicht, aber sie gehören zu den größten Seltenheiten!«
Maria blickte ihn in diesem Augenblick an; sie wußte alle seine Gedanken, antwortete aber nicht. Und ich dachte einen Moment, als ich sein wütendes, verächtliches Gesicht sah, er habe nur den einen Wunsch, sogleich vor ihr auszuspucken, wie ich vor dem Heiligen auf der Brücke . . .
»Es ist spät!« sagte ich rasch und mit Nachdruck. Frank aber wurde plötzlich pfiffig.
»Wir erwarten noch René! Er muß jeden Augenblick kommen.« –
Adeles Mann war nicht beim Empfang des Ministers. Das hatte sie selbst mitgeteilt. Dennoch, und obwohl er sich von dieser Feierlichkeit freigemacht hatte, war er nicht zu Hause, obgleich er zu Hause sein wollte, weil wir da waren. Ich dachte, er müsse ein reizender Mensch sein, frei von jeder Konvention, Adele aber war verärgert, und wenngleich sie bisher bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit von René geschwärmt hatte, begann nun ihre Stimmung ins Gegenteil umzuschlagen. Sie hatte von Viertelstunde zu Viertelstunde gehofft; aber drei Stunden überstiegen ihre Kraft.
»So ist er!« – sagte sie unbeherrscht zu uns, die wir neu in diesem Kreise waren.
Frank fuhr mit energischem Monokelblitzen dazwischen, und es gelang ihm, die Aufmerksamkeit wieder auf sich zu lenken. Seine Konversation mit meiner Braut erreichte nun eine vollendete Ausschließlichkeit, die für die Ausgeschlossenen umso interessanter war. Er ließ alles aufmarschieren, was in dieser Situation ablenken konnte.
30 Noch eine weitere Stunde war, wenn auch nicht ohne Anstrengung, vergangen. Da stand Maria auf und erklärte, daß sie nun nach Hause ginge. Adele wollte sie zurückhalten. Maria hörte nicht. Ihr Wille auch in kleinen Dingen schien ihr wichtiger als die Konvention der Überredung. Sie nahm ihren Mantel. Da konnten auch die anderen nichts tun, als der Hausfrau für die Gastfreundschaft danken, ihren Mann, den nicht angetroffen zu haben sie bedauerten, grüßen lassen und mit Maria sich entfernen. Adele öffnete das Gittertor.
Einige Schritte weiter lag die alte Stadt uns zu Füßen. An der Straßenecke, wo wir uns trennen sollten, sagte Maria ruhig:
»Gute Nacht! Ich habe nur einige Schritte!« – Das klang, als wollte sie jeden Versuch, sie zu begleiten, vereiteln.
Einen Moment war ich überrumpelt. Dann dachte ich daran, daß ich diese Frau, die Kälte und Verstandesschärfe ausstrahlte, heute zum ersten und zum letzten Mal gesehen haben sollte, und wollte es für eine halbe Stunde verlängern. Morgen in dieser Stunde saß ich bereits in der Hafenstadt, übermorgen war ich auf dem Meer, aber sie, Maria, stand vielleicht hier an dieser Straßenecke allein oder mit einem anderen . . . Ich empfand die Dummheit dieses Gedankens und sagte dennoch das allergewöhnlichste Wort:
»Sie können doch unmöglich allein nach Hause gehen, gnädige Frau! Wenn Sie gestatten . . . Ich komme gleich nach!« – sagte ich zu den beiden. »Frank, du hast die Güte und bringst Genia nach Hause.«
31 Er war damit sehr einverstanden. Die Luft verdoppelte die Wirkung des Weines. Genia, arglos und kindlich, reichte Maria zum Abschied die Hand. Die beiden Frauen sagten sich, es hätte sie sehr gefreut.
Eine Sekunde später schritten wir in entgegengesetzte Richtungen.
Ich wußte es aber in diesem Augenblick nicht . . . Schweigend ging ich an Marias Seite. Sie unterbrach das Schweigen:
»Sie fahren morgen nach Hollywood?«
»Ja, morgen!« – sagte ich und war plötzlich von dem Gedanken, morgen nach Hollywood zu fahren, begeistert. Morgen, dachte ich, ist diese Maria noch immer da, geht diesen selben Weg. Morgen steht der Heilige noch immer auf der Brücke, wie seit Jahrhunderten. Furchtbar, diese Unbewegtheit!
Ich blickte sie an.
»Und Sie?«
»Ich bleibe hier!« –
Wieder Schweigen. Wasser rauschte uns zu Füßen. Die Brücke? – dachte ich. Wieder die Brücke? Und schon war der Heilige da. Kannte Maria meine Gedanken, die ich im Salon gehabt hatte? Ich besah mir den Heiligen. Schwer stand er da, steinern lächelnd, ganz starr.
»Sie bleiben hier?« – fragte ich erschrocken, »wie können Sie?« – Der Fluß rauschte auf und übertönte ihre Antwort, die sie vielleicht gar nicht gegeben hatte. Im Mondschein die Konturen einer alten Burg. Häusermassen, schwarz und gespenstisch,. rechts und links. Unverrückbar. Einmalig.
»Sie bleiben hier?« – fragte ich noch einmal.
32 Maria an meiner Seite überhörte. Sie blieb stehen und betrachtete den Heiligen nach Frauenart. Sie schaute in die Ferne, aber sie besichtigte ihn. Er war ein Ritter. Schwer umhing ihn die Rüstung: Panzer, Speer und Schwert wogen Zentner. Dennoch leicht auf seinem ausladenden Körper, leicht in seiner Faust, die für den Glauben focht.
»Und Sie fahren also morgen nach Hollywood? Erzählen Sie mir etwas von sich, Ihren Plänen und Hollywood!«
Ich hörte ihre Stimme und den Fluß. Er eilte, floh. Aber über seinen Wogen stand steinern in schwerer Rüstung der heilige Ritter. Die Wogen brachten mir das Meer von morgen in Erinnerung. Und Maria? . . . Eine Frau, eine fremde Frau von den vielen. Ihr Mann ist Direktor einer Fabrik. Sie ist ohne Sorge, die kleine Existenz! Die kleine, festgewurzelte Maria . . . Sie ist neugierig! Sie wittert ein Erlebnis! Möchte vielleicht von mir hören, was sie hier versäumt . . .
Ich war leichtsinnig und gab mich mit ihr nicht ab. Sie interessierte mich nicht, die zufällige Frau zwischen Europa und Amerika. Und plötzlich wollte ich grausam sein und sie aus ihrer Ruhe, aus ihrer Starre, aus ihrem Frieden reißen. Meine Grausamkeit galt vielleicht dem steinernen Heiligen und seiner Siegermiene, vielleicht aber ihr, Maria. Ich wollte den Stachel der Unruhe und Sehnsucht zurücklassen und erzählte.
»Allerdings, Frau Maria, ich fahre morgen nach Hollywood! Es ist schon eine ganz außergewöhnliche Sache und wirkt, fast könnte man sagen, wie ein Wunder! Morgen spiele ich mit dem Meer, mit Sonne 33 und Wind . . . gestern noch saß ich in einer Stadt, in einem Zimmer, unter Menschen, die immer dieselben waren, immer dieselben bleiben werden, und wenn sie sterben, sind die neuen, die nach ihnen kommen, wieder dieselben . . . Grauenhaft! Wenn ich heute ans Gestern zurückdenke, erscheint es mir wie ein ekles Spinngewebe, und ich darin die reglose Spinne, die hockt und wartet, bis der tägliche Fraß sich darbietet . . . Das ist vorüber! Pfui Teufel! Jahre mußten vergehen, bis ich das Meer und das entdeckte, was jenseits vom Meere ist! Bis ich nicht mehr an die elektrischen Lampen, sondern an die Sonne dachte, die ihr Licht über den Wellen des Meeres ausgießt! Bis ich an den Wind dachte, der Wassergischt und Sonnenlicht emporträgt und mit beiden Fangball spielt! Bis ich daran dachte, wie groß, wie unendlich die Welt ist und daß man wandern, wandern kann . . . weil überall weiße Segel über blauen Meeren blitzen – weil überall Goldmusik ertönt – weil überall Tulpenglocken silbern läuten, überall Frauenarme zum Empfang weit sich auftun . . . Jahre sind vergangen, bis die große, weite Welt mir ins Bewußtsein schlug, und als mir dies Wunder geschehen war und mein Blick dann wieder in die Gegenwart, die Stadt und ins Zimmer zurückfand, als ich da die Leichen sah, mit denen ich seit Jahren an gemeinsamen Tischen hockte, und als ich am Abend dieses Tages auch in der Frau, die ich liebte, die versteinerte Gewohnheit erblickte, da sprang ich auf, lief in die Nacht, lief aus der Stadt, rannte flußabwärts und kam, die Sterne, die ewigen, über mir, den tollen Nachtduft der Natur in allen Poren, hoch oben in den Bergen an . . .«
»Wie kam die plötzliche Wandlung?«
34 »Ein Manager der größten amerikanischen Filmgesellschaft, der Famous Company, lud mich und Frank, als er unsere Filmmanuskripte gelesen hatte, nach Hollywood ein, wo die Filme gedreht werden sollen und wo man sie mit Gold aufwiegt . . .«
»Haben Sie einen festen Kontrakt?«
Es klang nach Ironie und Zweifel. Die kleine Frau verteidigt ihre feste Lebensposition, dachte ich halb belustigt, halb verärgert. Sie will mich unsicher machen.
»Einen festen Kontrakt wollten wir nicht; denn wir wollten die Manuskripte nicht für einige tausend Dollars hergeben. Ich weiß, hier in dieser versteinerten Stadt, wo alles stehen geblieben ist, sind die paar tausend Dollars, die wir sofort bekommen hätten, ein großes Vermögen. Aber wir wollten keine Krämer sein. Das Glück, Großes zu leisten, war da. Hätten wir den Block in Kieselsteine zertrümmern sollen? Etwa damit eine Frau, die wir dann geheiratet hätten, bequemer spazieren gehen könnte?! Man soll wagen . . .
Sie scheinen nicht zu verstehen, worum es sich handelt, gnädige Frau! Wir hätten ja die Manuskripte sofort losschlagen können. Der Manager griff mit beiden Händen zu. Aber welch ein Wahnsinn . . . Wegen der paar Dollars? Verstehen Sie doch richtig: Hollywood, das ist die blaue Meeresküste, die Riviera der neuen Welt. Eine neue Welt, wie sie sich unser Jahrhundert schuf. Mit geräumigen Marmorpalästen. Mit Palmenhainen. Wogenumbrandet. Sie kennen Abbildungen. Haben die Filmnapoleone, die Filmsonnen, ihre Trabanten, das Heer von Menschen wenigstens auf Photos gesehen! Sie müssen sich also annähernd einen Begriff machen können! Ein 35 weites Filmland, wo alle Naturregeln auf den Kopf gestellt sind. Wo die Autos nach rückwärts laufen! Die Menschen durch die Lüfte und über die Meereswellen schreiten! Eine Welt, wo das Unmögliche möglich gemacht wird und wo die Möglichkeiten kein Ende haben. Eine Wunderwelt der Technik, gepaart mit der Wunderwelt der Natur . . . Dort werde ich leben, werde befehlen, werde selbst Wunder wirken können! Und das hätte ich für Geld eintauschen sollen? Welch ein Wahnsinn wär das gewesen!«
Nach einem Schweigen sagte Maria:
»Nun ja, Sie haben recht!«
»Sie stimmen also mit mir nicht überein?!« griff ich an.
Maria lächelte. Ich sah es im Mondschein. Und da, erst da fiel mir ihr Gesicht auf. In seiner harten Geschlossenheit. Das Gesicht einer dreißigjährigen Frau: reif, einmalig, unverrückbar, unbeeinflußbar. Der Blick ungebrochene Energie.
Sie lächelte.
»Wirklich? Sie fahren also morgen? Steht das unverrückbar fest?« Ich hörte den Klang nicht.
»Diese Stadt, der Heilige auf der Brücke, die Gesellschaft, alles bestimmt mich, morgen zu reisen!« antwortete ich grob.
»Wir haben Ihnen also nicht gefallen?« fragte sie ganz ohne Betonung.
»Kann es in dieser Stadt gefallen? Feindschaft und Bösartigkeit scheinen hier so versteinert zu sein, so sehr zur Stadt gehörend wie . . . der verdammte Brückenheilige!«
»Und anderswo?«
36 »Ich weiß nicht wo, aber man muß suchen! Man muß wandern . . . Haben Sie es in Ihrem Leben nie getan? Nie gewagt? Nie unbesonnen, nie unberechnet gewesen? Nie Heimweh gehabt nach Versäumtem? Eine Frau ohne Heimweh, ohne Sehnsucht nach dem Wunderbaren, das noch nicht Erfüllung geworden ist? Wollten Sie noch nie nach irgend einem Hollywood der Erde? Täglich am steinernen Heiligen vorbei und fühlen nie sein schreckliches Schicksal?! Nie, noch nie . . .«
Ich brach ab und schwieg. Unsinn dies alles, dachte ich. Unsinn, die Menschen, die ich heute Abend zufällig traf, so ernst zu nehmen. Unsinn, die kleine Frau Maria aus ihrer Ruhe reißen zu wollen. Ich war wütend und darum taktlos.
»Ihr Mann schläft schon, wenn Sie jetzt nach Hause kommen?«
»Gewiß!« – antwortete sie vollkommen ruhig. »Tagsüber arbeitet er angestrengt in der Fabrik. Er muß schlafen. Ich bin seine Frau, ich habe es besser.«
Schon wollte ich der Taktlosigkeit die Krone der Grobheit aufsetzen, da blieb sie stehen.
»Ich bin zu Hause. Ich danke Ihnen für die Begleitung. Werden Sie ins Hotel finden?«
Ich bejahte, küßte ihr, schon weit weg von ihr, die Hand und stand mechanisch einen Augenblick lang, während sie aufsperrte, still.
Die Torklinke in der Hand, wandte sie sich zu mir:
»Bleiben Sie morgen noch da. Ich erwarte Ihren Anruf!«
Ich sah deutlich ihr Gesicht: es drückte keine Wandlung aus und war hart, wie den ganzen Abend. 37 Ein kurzes Leuchten in den Augen? Vielleicht Mondschein . . . Wahrscheinlich meine Einbildung . . .
Bis zum Morgengrauen irrte ich in den schmalen Winkelgassen dieser mittelalterlichen Stadt umher. Zehnmal im Kreis. Ich fand mich nicht zurecht. Nirgends ein Schutzmann, ein Wegweiser. Durch Gärten ging's, an Wassern vorbei! Je mehr ich mich an die Erinnerung hielt und mir den Weg ins Gedächtnis zurückrufen wollte, umso mehr verfehlte ich ihn. Endlich lief ich ganz in die Irre. Die Stadt, diese seltsame Stadt, hielt mich gefangen. Mich, der übermorgen das große Meer durchquerte . . .
Am Morgen erst fand ich Menschen, die mir den Weg wiesen. Schweißtriefend, todmüde kam ich im Hotel an. In meinem Zimmer stand grau das erste Tageslicht. Ich ließ die Vorhänge fallen und warf mich aufs Bett. Dann sprang ich auf, schrieb an Genia und Frank einige Zeilen. Er möchte ihr am Vormittag die Stadt zeigen. Die Burg, die Sehenswürdigkeiten. Ich hätte mich verirrt, wäre erst am Morgen nach Hause gekommen und nun sterbensmüde. Um ein Uhr beim amerikanischen Konsul. Ich wollte pünktlich sein. Der Portier übernahm den Brief. Dann fiel ich ins Bett.
Um zwölf Uhr wurde ich geweckt. Ich riß die Vorhänge hoch. Tolles Licht! Wie eine Schwertspitze drang es auf mich ein. Menschen wogten unaufhörlich. Plötzlich die vielen hellen Kleider der Frauen? Gestern trug man noch Pelze . . .
Ich starrte auf die Straße hinab. Dann trat ich einen Schritt vom Fenster zurück und wieder vor. Sollte das schon der Frühling sein? Der erste Tag?
38 Auf dem Nachtkästchen stand das Telephon. Ich nahm mechanisch den Hörer ab. Sollte wirklich plötzlich Frühling geworden sein? Gestern lag noch Schnee . . . So über Nacht?
»Hallo?« fragte ich.
Und ich hörte die Antwort deutlich und ganz nah:
»Hier Maria . . .« 39