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Der Weg war lang, und die Schneeflocken hörten nicht auf zu fallen. An die Japaner mußte ich denken, die die Gräben der Festung Port Arthur mit ihren Leichen füllten, damit ihre Brüder über sie hinweg könnten. Die kleinen Flocken fielen ins Straßenwasser und wurden aufgesogen . . .
Auf diesen Gedanken schoß übergangslos ein anderer: warum hatte ich soeben am Tor des Chefredakteurs auf den Knopf der Klingel gedrückt? Schon stand der Portier vor mir, und ich wußte nicht, was ich antworten sollte. Endlich raffte ich mich zu der Frage auf, ob der Chefredakteur zu Hause sei. In wichtigen Sachen aus der Redaktion, die man dem Telephon nicht anvertrauen könne. Er war am Abend abgereist.
311 Dann setzte ich, an den russisch-japanischen Krieg und an die sonderbare Art der Japaner denkend, den Weg fort.
Der Portier des Palais van der Werftens machte verwunderte Augen:
»So spät und bei diesem Wetter? Die Herrschaften schlafen schon.«
»Frau Konsul?«
»Ist verreist!« – Und er blickte mich scharf an. Da setzte ein Shimmy ein. Es riß den Portier zusammen.
»Die Herrschaften schlafen!« sagte ich halblaut zu mir. »Würden Sie die Herrschaften wecken, indem Sie mich anmelden?«
Ich ging an ihm vorbei und setzte den Fuß auf die erste Stufe der breiten Treppe. Da trat der große Mann mit dem langen Bart vor und versperrte den Weg.
»Was soll das bedeuten?« donnerte ich ihn an.
»Ich habe strengen Befehl, heute nacht keinen Menschen vorzulassen!«
Oben wurde eine Tür aufgerissen, und der Shimmy sprang die Stufen herunter. Dann schlug die Tür zu.
Ich drehte mich um und ging auf das große Tor los, das er offen gelassen hatte. Er folgte mir.
»Ist Gesellschaft oben?«
Doch die Antwort nicht abwartend, sprang ich zum Tor hinaus. Ich hatte schon viel zu viel Zeit verloren. Schnell bog ich in eine Seitengasse und eilte, die Stadt durchquerend, zum Hause des Direktors Marx. Den Rest des Weges lief ich, ohne darauf zu achten, daß der Schneebrei zu beiden Seiten hochspritzte. Ich lief, was ich konnte; denn ich hatte sehr 312 viel Zeit verloren. Und jede Minute dieser Nacht war kostbar.
Vielleicht hatte ich die entscheidenden Augenblicke verpaßt. Während ich mich wie ein Detektiv in den Straßen herumtrieb und mit fremden Portiers sprach, geschah vielleicht das Wichtigste meines Lebens, das Ausschlaggebende . . .
Alles war gleichgültig, nur das eine nicht, ob Maria zu Hause war! Als ich von van der Werften aus telephonisch angerufen hatte, hatte sich Maria nicht gemeldet. Sie konnte trotzdem zu Hause gewesen sein; denn wenn sie ungestört schlafen wollte, schaltete sie oft das Telephon aus. Ich hatte daran nicht gedacht . . . ich war der Unbekannten nachgejagt! Eine halbe Stunde hindurch, ohne an Maria zu denken! Ich hatte sie allein gelassen! War sie zu Hause geblieben? Sie war müde gewesen und wollte nicht ausgehen, obwohl ich sie gebeten hatte, mitzukommen . . . Oder erwartete sie nur, daß ich sie verließe, um dann ihren eigenen Weg zu gehen? . . .
Ich bog mit letzter Kraft in die Straße ein und sank fast in die Knie: vier Fenster des Hauses waren erleuchtet. Sie war zu Hause!
Die wenigen Sprünge über die Treppe kamen einem Leben gleich: mein Herz riß mit einer einzigen Gebärde Maria an sich, denn erst in diesen Sekunden, da ich über die Stufen raste, kam mir deutlich zum Bewußtsein, daß ich sie verloren gehabt. Das unaussprechliche Angstgefühl verschmolz mit der namenlosen Freude. Ich frohlockte, als wäre ich der größten Gefahr entronnen.
313 Den Schlüssel in der Hand, stand ich tief atmend vor der Tür eine Sekunde still. Da öffnete sie sich, und Direktor Marx blickte mich verwundert an:
»Was ist Ihnen? Sie sehen gehetzt aus! Hat man Sie verfolgt?«
Er zog mich ins Zimmer und brachte mir meinen Hausrock.
»Sie sind ja ganz verdattert! Was ist Ihnen passiert? Es wäre gut, wenn Sie sich erst umziehen würden für den Fall, daß Sie mir noch Gesellschaft leisten wollen. Sie triefen vor Nässe! Ziehen Sie sich rasch um, und trinken Sie mit mir noch einen Tee!«
Da ich mich nicht rührte, schleppte er mich in mein Zimmer und ließ nicht locker, bevor ich nicht in meinen warmen Hausanzug gekrochen war.
Er hatte, um nicht die Dienstboten zu stören, den Tee selbst zubereitet und trug, während ich vor meiner Tasse saß, kaltes Fleisch und Backwerk zusammen. Auf Zehenspitzen durch die leere Wohnung geisternd, machte er einen befremdlichen und zugleich rührend-amüsanten Eindruck.
»Da schauen Sie! Ich habe zum Glück noch passable Dinge entdeckt, und wir müssen nicht hungern! Greifen Sie zu!«
Fürsorglich stellte er die Teller auf den Tisch und setzte sich mir gegenüber nieder.
»Erzählen Sie! Mit Ihnen ist etwas los!«
Meine Gedanken hämmerten gegen die Schläfen. Maria war ausgegangen! Wohin? Ihr Mann saß da, nahm die Tatsache, daß sie sich bei Nacht irgendwo herumtrieb, gelassen zur Kenntnis und schien sich nicht weiter darüber zu wundern, daß sie nicht mit mir war.
314 »Interessiert es Sie nicht, wo Maria ist?!«
Gehässig und wild hatte ich die Frage hervorgezischt. Er sah mich belustigt an.
»Es ist nicht meine Aufgabe, mich in die Privatangelegenheiten meiner Frau einzumischen. Ich tue es äußerst ungern und immer nur dann, wenn ihre Frauenlogik zu unbequem wird. Ich wüßte nicht . . .«
»Sagen Sie mal, Herr Direktor, sind Sie aus Fleisch und Blut?«
»Gewiß!« – Er ließ sich nicht aus der Ruhe bringen, und in seine Augen trat der Ausdruck des Humors. Er amüsierte sich über mein ungestümes Wesen, und es schien ihm besonders Freude zu machen, daß ich mich aufregte. »Gewiß bin ich aus Fleisch und Blut! Darum schmeckt mir eben der Tee und das kalte Fleisch. Ich habe nach der langen Reise tüchtigen Hunger. Eine vernünftige Einrichtung eigentlich, daß das Leben den Menschen zur Arbeit zwingt, die Arbeit den Körper ermüdet, den Körper muß man dann stärken, um wieder arbeiten zu können . . .«
»Und das ist der Sinn des Lebens!« unterbrach ich ihn. »Und wo ist Maria?«
Er kreuzte die Beine und sah mich gutgelaunt an.
»Das ist das Einzige, was Sie besser wissen sollten als ich!«
»Ich weiß es nicht und bin aus irgendeinem Grunde davon überzeugt, daß Sie es wissen!«
»Aus irgend einem Grunde sind Sie heute derart nervös, daß Sie mir leid tun. Trinken Sie doch erst mal eine Tasse Tee! Glauben Sie mir, daß es Ihnen wohltun wird. Alles andere dürfte sich von selbst regeln. Das Leben erfordert Ruhe, sonst nichts.«
315 Die beruhigende Stimme und der Blick hinter der Brille, sonst stechend, aber jetzt gutmütig und besänftigend, reizte mich. Ich suchte Maria, die ich verloren hatte . . . Mein Blut schrie nach ihr, und die Gedanken konzentrierten sich auf die Gesellschaft, denen eine Laune eingegeben hatte, mir Maria zu entreißen. Ich heckte Pläne aus und widmete den morgigen Tag dem Beginn der Rache! Nie hatte ich es angestrebt, in ihre Kreise einzudringen, und jetzt stand ich in der Mitte. Von allen Seiten hörte ich das Hohngelächter . . . Sie amüsierten sich über den wohlgelungenen Scherz, ich war ihnen auf den Leim gegangen! Ein Zurück? Unmöglich, bevor die Rechnung nicht beglichen war!
Der kleine Mann mir gegenüber sollte mir dabei behilflich sein.
»Kennen Sie den Konsul Leonid van der Werften gut?«
»Zu hohe Kreise!« gab er zur Antwort und kaute an einem Sandwich. – »Schätzungsweise ein Vermögen von . . . .«
»Ist das Ihr Ernst?«
»Gewiß! Sie sind Künstler, Sie können es sicherlich nicht verstehen. Jeder Mensch der Gesellschaft muß etwas sein, wenn er mittun will. Man muß einen Titel haben, eine Würde oder Geld. Die Künstler allein machen eine Ausnahme aus sehr begreiflichen Gründen. Ich habe keinen Titel, bin kein Künstler, und mein Geld reicht nicht aus . . .«
»Aber Sie haben eine Frau!« schlug ich ihm ins Gesicht.
316 »Ja, die verkehrt bei van der Werftens! Frau Lia ist ihre beste Freundin. Frauen, das ist etwas anderes!«
»Frauen brauchen nichts zu sein, nur Frauen! Man kann sie brauchen, wie sie sind!«
Der Direktor nahm mit der Geste eines Menschen, der von der Reise und vom Leben müde ist, sich aber in seiner Müdigkeit so wohl fühlt, wie in einem lauwarmen Bad, umständlich und behaglich die Brille herunter und begann sie zu putzen. Seine Augen blinzelten kurzsichtig.
»Ist das eine neue Erfahrung? Ich wenigstens weiß nicht, daß es jemals anders gewesen wäre. Die Frau wurde immer ihretwillen und als Frau verehrt . . .«
»Verehrt? Die Romantik ist längst vorüber!«
»Die Romantik,« – er unterdrückte ein Gähnen und putzte die Brille weiter – »wie Sie betonen, hat es nie gegeben. Die Frauenverehrung war ein Begehren der Frau. Es war nie besser, es ist nicht schlechter geworden.«
»Es handelt sich um Ihre eigene Frau! Es geht um Maria!«
Da setzte er die blank geputzte Brille auf. Ich war froh, daß der rote Einschnitt, den sie auf seiner Nase verursachte, verschwand. Er richtete sie genau, und bevor er auf meine Worte antwortete, sah er mich mit einem klaren, ruhigen Blick an, der das Gegenteil des kurzsichtigen Blinzelns war.
»Maria ist meine Frau, das haben Sie erraten! Sie ist aber nicht meine Frau, sondern eine Frau, daher wird sie, die jung und hübsch ist, verehrt und begehrt. Dagegen kann ich nichts tun. Ich finde es nur natürlich.«
317 »Dagegen können Sie nichts tun? Sie müßten sich dagegen empören, müßten dagegen ankämpfen, müßten wenigstens versuchen . . .«
Sein ruhiger Blick erlangte volle Klarheit.
»Dann müßte ich vor allen Dingen Ihnen mein Haus verbieten!« Ich schlug auf den Tisch und sprang auf. Er sprach so unerbittlich ruhig, während in mir alle Nerven tobten. Ich mußte diesen Ehemann aus seiner geruhsamen Ideologie herauspeitschen und seinen Fatalismus in den Strudel der Leidenschaft hineinstoßen . . . eine Auseinandersetzung heraufbeschwören, deren Ende unabsehbar war, die aber alles niederreißen sollte, was er sich an Wehr und Barrikaden errichtet hatte.
Ich setzte ein freches Gesicht auf und begann belehrend:
»Ja! Das müssen Sie tun, verehrter Herr Direktor! Vor allen Dingen aber hätten Sie mich nie in Ihr Haus nehmen dürfen! Und wenn Sie schon einmal diesen grundlegenden Fehler begangen haben, müßte es Ihre einzige Sorge sein, ihn gutzumachen! Ich bin zwar der Jüngere und bin gezwungen, die Elastizität Ihrer vorgerückten Jahre zu bewundern, weil es nicht um meine Frau geht, muß aber sagen, daß ich nicht so modern zu denken vermag, und bin davon überzeugt, daß keiner meiner Altersgenossen imstande wäre, die Modernität aufzubringen, die Sie zur Schau tragen . . . Ein Leichtsinn, eine Gleichgültigkeit, die ich nicht verstehe! Sie lieben Maria?! Ich verstehe das Gesetz des Altersunterschieds . . . ich verstehe, daß Sie sie nicht verlieren, daß Sie sie trotz allem nicht verlieren wollen, daß Sie sie als Vater 318 lieben, aber auch ein Vater hat seiner unmündigen Tochter gegenüber Pflichten! Ein schlechter Vater, der die Tochter selbst ins Verderben stürzt! Sie? . . . Sie müßten mich hassen! Wenigstens doch im Innern! Sie müssen mich hassen! Sie können doch gar nicht anders! . . . Warum verstellen Sie sich? Wozu die Maske der vollkommenen Ruhe? Oder sind Sie ein Temperament, dem es genügt, einmal im Jahr mit der schwächeren Hälfte einen donnernden Skandal aufzuführen und das böse Blut, die Galle und den Eiter des Ehegeschwürs sich in hochtrabend dramatischen Worten verflüchtigen zu lassen? . . . Mir Ihr Haus verweisen? Wo ist Ihr Haus? Wo? Wo sind Sie? Sie sind auf Reisen! Im Sommer und im Winter, bei Tag und bei Nacht! Sie sind auf Reisen, auch wenn Sie zu Hause sind! In Ihrem Hause, wie Sie sagen . . . Sie sind nie da, nie . . . Am allerwenigsten, wenn Sie da sind . . . Sind Sie fern, dann streift Sie doch zumindest ein rasches Gedenken, ein Gefühl Marias . . . Was doch nie in Ihrer Gegenwart geschehen kann, die aufreizend sein muß für . . . für eine Frau . . . gerade für die Frau, die Sie Ihre Frau nennen und die es nicht ist! Ich mußte das alles sagen . . . Ich glaube, Sie haben es erwartet . . . Sie wollten es!«
Ich hatte ruhig begonnen, mit der überlegenen Frechheit des Menschen, in dessen Gewalt ein armes Tier gegeben ist, das er quält und das sich nicht wehren kann. Während meines langen Vortrages schrie es in mir immer wieder nach der verlorenen Maria und nach Rache, und meine Stimme steigerte sich. Der Einzige, an dem ich Rache nehmen konnte, war der stille kleine Kaufmann, der Dulder seines Geschicks, 319 das ihm Maria, die geliebte Frau, bereitete, und ich tat es nach Herzenslust.
Mein Opfer hatte nicht versucht, meinen Würgerhänden zu entkommen. Er war nicht blasser als sonst, nur ein ungewöhnlicher Ernst lag über dem klugen Gesicht, aus dem mir weder Leid noch Haß entgegenstrahlten. Er hatte mich nicht unterbrochen, er hatte nicht die Fäuste geballt und sich auf mich gestürzt, und er hatte nicht die Flucht ergriffen. Nur zu essen hatte er aufgehört.
»Warum quälen Sie sich so unendlich?« fragte er still.
»Mich?!«
»Quälen Sie sich wegen Maria? Ist Ihr Urteil so getrübt, daß Sie den einzigen gangbaren Weg nicht mehr sehen?«
»Von welchem Weg sprechen Sie?« stotterte ich.
»Von der Freiheit, die Sie der Frau geben müssen! Es gibt keinen anderen Weg. Jeder andere führt ins Gestrüpp der wildesten Leidenschaften, aus dem kein Weg herausführt. Wußten Sie das wirklich nicht?«
»Wie können Sie . . . so . . . wie bringen Sie es über sich . . .«
»Ich kann vielleicht nicht, aber das gehört in ein anderes Kapitel.«
Er legte die Hände verschränkt auf den Tisch. Sie zitterten kaum merklich.
»Sie können gehen, denn . . .«
»Denn ich . . . lebe! Das wollten Sie sagen. Jawohl, ich lebe! Ich habe es fertiggebracht, obzwar ich nicht weiß, wie. Vielleicht haben mir die von Ihnen gerügten Reisen über mein eigenes Leben hinweggeholfen, vielleicht anderes. Darüber will ich nicht 320 sprechen, denn wie ich mich eben überzeugen konnte, urteilen Sie zu oberflächlich. Ich weiß nicht, wie es mir gelang, und will Ihnen zugeben, daß ich mich selbst kaum verstehe! Zum Beispiel verstehe ich die Tatsache nicht, daß wir beide uns in meinem Hause so friedlich gegenübersitzen. Ich verstehe es eben so wenig wie Sie.«
»Warum werfen Sie mich nicht hinaus?!« schrie ich.
Ein Lächeln flog über den Ernst des Gesichtes hinweg.
»Warum werfen Sie sich nicht hinaus?«
»Sind Sie toll?« lachte ich höhnisch.
»Meine Frage ist sehr ernst gemeint!«
»Ist denn Maria meine Frau? Sie ist meine Freundin!«
»Dann müßten Sie sich erst recht und unbedingt selbst hinauswerfen!«
»Was? . . .«
»Ich bin ihr Mann. Das heißt für mich: ihr Freund, ihr Berater, Beschützer, ihr Vater. Ich sorge für sie. Sie ist eine Frau, ein Kind also. Ich muß für sie sorgen, sonst würde sie im Kampf umkommen. Das ist die Summe meiner Pflichten.«
»Und die Rechte?«
»Die finde ich in meinen Pflichten.«
»Sehr bescheiden!«
»Sie sind ja noch viel bescheidener! Sie haben bloß eine einzige Pflicht und erfüllen auch die nicht.«
Ich war fassungslos. Von Ironie war nicht die Spur in seiner Stimme zu merken.
»Welche Pflicht? . . . Was erfülle ich nicht? . . .«
»Ihre einzige Pflicht ist, Maria an sich zu fesseln, und die erfüllen Sie nicht. Sie sind schwach . . .«
321 »Woher wissen Sie? Wie können Sie das behaupten? . . .«
»Wo ist Maria?« fragte er bloß und schwieg vorwurfsvoll.
Mit dieser Frage war ich hereingestürmt gekommen. Er hatte das Gespräch so gewendet, daß es plötzlich einen Kreis bildete. Einen lückenlosen, geschlossenen Kreis. Sekundenlang starrte ich ihn an und fand die Antwort nicht. Wo ist Maria? Er zündete sich eine Zigarette an. Seine Hände waren wieder vollkommen ruhig.
»Gute Nacht!« Mit raschen Schritten ging ich auf meine Tür zu.
»Sie werden ja doch nicht schlafen können! Machen Sie keinen Unsinn und kommen Sie zurück!«
»Wollen Sie nicht lieber auch schlafen gehen?«
»Ich bleibe noch auf, weil ich übermüdet bin. Außerdem kann Maria jeden Augenblick kommen.«
»Ist das ein Grund zum Aufbleiben? Doch eher zum Schlafengehen!«
»Für mich nicht, ich bin der Ehemann!« lächelte er.
Ich kam zurück. Eine Weile war jeder mit den Gedanken des anderen beschäftigt. Mein Benehmen kam mir mit einem Mal sehr unsinnig vor. Der Direktor hielt sich wacher, und ich hatte allen Grund, sofort einzulenken. Man konnte von ihm ein Stück Leben lernen. Ein Stück Leben? Grotesk und ziellos! Ganz ohne Phantasie! Die oberen Zehntausend amüsierten sich, ohne auf einen Gedanken zu kommen. Der Einfall war das Kind der Langenweile und der Phantasielosigkeit . . . Was blieb diesem Direktor, der das öde Spiel mitmachte, von seinem Leben? Die Frau von morgen? . . . Die Frau der Freiheit . . . .
322 »Sie wissen also nicht, wo Maria ist?« fragte er, als ich mich wieder hingesetzt hatte. – »Waren Sie heut abend mit ihr?«
Mich überkam plötzlich das Bedürfnis, offen zu ihm zu sprechen. Die Wohnung war so drohend leer, die Wände so steif und feindlich . . . Die Sehnsucht nach Maria öffnete mir den Mund, und an die Stelle des Trotzes trat der Wunsch, die quälenden Gedanken loszuwerden.
»Finden Sie es nicht allzu grotesk, daß ich, der Freund Ihrer Frau, zu Ihnen, dem Ehemann, flüchten soll? Wollen Sie mir vielleicht beweisen, daß meine Eifersucht unbegründet sei?«
»Sie machen immer wieder denselben Denkfehler: jetzt kennen Sie doch mein Verhältnis zu meiner Frau zur Genüge . . . Ihr Verhältnis ist ein anderes als das meine! Polygamie und Polyandrie? Wir wollen uns darüber nicht die Köpfe zerbrechen! Die Natur tut, was wir nicht wollen, aber tun müssen!« beschloß er ermunternd.
Noch einmal wollte ich mich seiner Ehrlichkeit, die mir in diesem Falle ungeheuerlich erschien, versichern.
»Und wenn ich Ihnen Dinge verraten würde, die . . .«
»Maria begeht nichts Ehrenrühriges!« sagte er mit fester Überzeugung. »Haben Sie sie heute gesehen?«
»Kennen Sie Konsul Leonid van der Werften gut?« fragte ich mit Überwindung und entschlossen, ihm das Vorgefallene zu berichten.
»Ich kenne ihn, seine Verhältnisse und seine Frau . . .«
»Und Fred van der Werften aus Bombay? Sein Verhältnis zu Leonid und zu Frau Lia?«
323 Ich erzählte ihm die Geschichte, die ich in den letzten Tagen erlebt hatte. Es schien, daß ihn nichts überraschte; er lächelte sogar zu allem und unterbrach mich einige Male mit Bemerkungen, die seiner Bewunderung über die Geschicklichkeit der Akteure Ausdruck verliehen.
»Unklar ist mir nur, wie Sie zu der Sache kamen! Der Konsul steht Ihnen fern!«
»Ich kam durch Maria dazu!«
Da erst verschwand das Lächeln, das stereotyp zu werden begonnen hatte, von seinem Gesicht, und die Augen wurden stechend und forschend. Ich erzählte der Wahrheit getreu, und weil ich davon überzeugt war, er werde mir gewisse Auskünfte geben können, vertiefte ich mich in die Erzählung, damit mir kein Detail entgehe. Ich merkte die Veränderung seines Gesichts nicht.
»Auf diese Weise wollten sie Maria mit Fred . . .«
»So behandeln die oberen Zehntausend eine Dame, die bei ihnen verkehrt!«
»Es ist ihnen daneben gelungen . . .«
»Daneben gelungen?!«
Die Stimme . . . Seine Stimme? Ich schaute hin. Ein anderer Mensch saß plötzlich vor mir. Die festgeschlossene Faust auf der Tischplatte. Die Gesichtsmuskeln gestrafft. Blitz im Blick. Eine Energie der ganze Mensch, die Berge versetzen könnte. Etwas abgrundtief Böses und Vernichtendes griff mich an. Zwei Schweißtropfen traten auf seine Stirn und tropften zwischen den zusammengezogenen Brauen herunter. Mit vernichtender Ironie wiederholte er:
»Daneben gelungen? . . . Wo ist jetzt Maria?«
»Das weiß ich nicht . . .«
324 »Dann will ich es Ihnen sagen! Sie ist bei van der Werften! Bei Herrn Fred van der Werften aus Bombay!«
Ich fiel in den Stuhl zurück.
»Sie irren!« murmelte ich. »Der ist mit meiner . . .«
»Mit Ihrer Unbekannten? Sie haben nicht die geringste Fähigkeit zum logischen Denken! Die Komödie beginnt in der Oper bei Mascagni, wo Sie Ihrer Unbekannten begegneten. Sie hat, beauftragt vom Konsul und durch Vermittlung Renés, der solche Damen die Masse kennt, Ihnen das Bekannte-Unbekannte suggeriert! Dort also beginnt die ganze Komödie! Und gedacht war sie als Witz gegen Sie und Maria! Der Witz wäre den guten Leuten nie gelungen, wenn Sie sich nicht dazu hergegeben hätten . . .«
»Erlauben Sie?«
»Schweigen Sie!« schrie er, in einen Wüterich verwandelt. – »Schweigen Sie! Sie haben sich in schamloser und dummer Weise dazu hergegeben! Maria ist nichts anderes übrig geblieben als die Trümmer und sich selbst auf den Trümmern an das andere Ufer hinüberzuretten! Sie sind Ihrer Unbekannten nachgejagt! Haben Sie Maria etwas davon gesagt? Nein! Feig, wie Sie einmal sind! Und dumm, wie Sie sind, haben Sie vorausgesetzt, daß Lia und die anderen ihr auch nichts verraten würden. Und Sie wagen mich noch zu fragen, wo Maria jetzt sein könnte?«
»Gehen Sie so weit, daß Sie mir Ihrer Frau gegenüber Treue vorschreiben wollen?«
Direktor Marx richtete sich auf. Er schaute auf mich, der ich saß, herab, und einen Augenblick dachte ich, er habe die Absicht, sich auf mich zu stürzen, aber er blieb ruhig.
325 »Sie sind für alle Fälle erledigt! Maria will von Ihnen nichts mehr wissen!«
»Sind Sie Maria? Wie wagen Sie es, in ihrem Namen zu sprechen?!«
»Ich bin Maria! Ich allein kenne sie! Was seid ihr alle gegen mich? Keiner kennt sie! Ich allein! Ihr seid nur dazu da, um sie mir in die Arme zu treiben! Ich danke euch! Ich bin euch und eurer Dummheit von ganzem Herzen dankbar!«
»Lassen Sie die Beschimpfungen! . . .«
Ich verstummte vor seinem verzückten Gesichtsausdruck. Wenn das Gesicht des Menschen restloses Glück ausdrücken kann, hier fand ich das Gesicht.
Er sprang auf mich zu und ergriff meine Hand.
»Ich danke Ihnen! Jetzt wird es nicht mehr lange dauern . . . Jetzt nicht mehr! Ich werde bei Maria sein, und sie wird mich nie mehr verlassen! Das kam durch Sie . . .«
Wie ein Sieger stand er vor mir, und da er seine rechte Hand während des Sprechens emporschleuderte, riß er auch die meine, die er fest umklammert hielt, mit. So standen wir; denn ich konnte mich von ihm nicht losreißen. Etwas von Irrsinn schimmerte im Dunkel seiner Augen, Irrsinn oder letztes Glück, und es verlieh ihm besondere Kräfte.
»Geben Sie meine Hand frei!«
»Ruhig! Ich bin jetzt dort angelangt . . . mein ganzes Leben lang steuerte ich auf diesen Augenblick los. Sie wissen nicht, was Sie getan haben . . . Ich werde es Ihnen sagen . . . Maria hat Sie geliebt! Geliebt! Sie liebte keinen Menschen! . . . Und Sie, Sie waren der erste in ihrem Leben, der sie besiegte! Sie ist ein herrliches Raubtier und ihre Beute das 326 Leben! Für Sie nur war sie Mutter! . . . Das herrliche Frauenraubtier liebte Sie zärtlich, zahm und aufopfernd . . . Es war das erstemal in ihrem Leben! Und was taten Sie? Sie haben betrogen und waren dumm und kurzsichtig! Es fiel van der Werften und René leicht, Sie anzuführen! Sie Narr! Sie haben ein Geschenk weggeworfen, das tausendmal wertvoller war als Ihr eigenes kleines Leben! Jetzt ist Maria geheilt! Für immer! Jetzt bleibt sie bei mir . . .«
»Und ist womöglich augenblicklich mit Fred van der Werften!«
Er stieß meine Hand von sich, näherte sich meinem Ohr und flüsterte geheimnisvoll:
»Sie sind erledigt! Sie waren ein Narr und haben nicht gewußt, daß Ihnen das Leben ein großes Geschenk dargebracht hatte, als Sie Maria begegneten!«
Seine Augen glänzten verzückt. Ich trat instinktiv einen Schritt zurück; denn es mutete mich wie Irrsinn an. Eine Pause trat ein. In der furchtbaren Stille sah ich ein zerfleischtes Menschenherz, das der Mann, dem es gehörte, frohlockend wie eine heilige Amphora emporhob. Ein Mann, der sich freute, der frohlockte, da seine Frau vielleicht jetzt in den Armen eines fremden Mannes lag . . . denn nur auf diesem Weg, durch alle Höllen des Lebens hindurch konnte er sie zurückerobern und festhalten.
Ich? Ich war in seinen Augen, die nur auf Maria gerichtet waren, ein toter Mann! Mittel zu seinem Zweck, und der Zweck hatte sich erfüllt. Mit kräftigen Armen warf er mich von sich.
»Wie lange gedenken Sie noch in der Stadt zu bleiben?« fragte er übermütig.
»Sie nehmen an, daß ich . . .«
327 »Unsinn! Sie werden nicht hier bleiben! Keiner ist geblieben! Was haben Sie hier noch zu suchen?«
Zweifellos war er übergeschnappt! Er sah in Maria alle Lebenswerte und setzte als selbstverständlich mein sofortiges Verschwinden voraus, da es zwischen mir und ihr zu Ende war . . . Der längstvergessene steinerne Brückenheilige stand plötzlich vor mir, und ich glaubte das starre Antlitz lächeln zu sehen . . .
»Was bilden Sie sich ein? Zwischen mir und Maria ist nichts vorgefallen . . .«
Er reichte mir Zigaretten.
»Reizende Packung! Sehen Sie doch! Wie hübsch die Zeichnung der Dose ist! Der Türke ist so gut eingestellt! Finden Sie nicht? Es ist von großer Wichtigkeit, daß ein Artikel, mit dem man ein Geschäft machen will, hübsch ausgestattet ist. Es kommt sehr auf die Aufmachung an! Diese Zeichnung . . .«
»Reden Sie keinen Unsinn, wenn es um ernste Dinge geht!«
»Was für ernste Dinge?«
Er quälte mich. Was ich auch begann, er unterbrach mich immer wieder mit seinen Hinweisen auf Nebensächlichkeiten. Er quälte mich absichtlich; denn jetzt war der Augenblick gekommen, wo er sich an mir rächen konnte. Für ihn stand es fest, daß es nunmehr zwischen Maria und mir zu keiner Verständigung kommen konnte.
»Ihre Frau ist jetzt mit van der Werften . . .«
»Sie haben keinen Sinn für das Leben! Sie beurteilen alles nach sich! Ein unglücklicher Mensch! Lernen Sie das Glücklichsein von mir!«
328 Der Übermut war zu unnatürlich. Wie konnte er in diesem Augenblick so sprechen?! Ich legte meine Hände auf seine Schultern.
»Das nennen Sie Glück? Daß Ihre Frau bei einem anderen ist, nennen Sie Glück?«
»Ihnen muß man helfen!« sagte er mit eiserner Miene. »Lassen Sie meine Schultern los oder kommen Sie mit bis zum Telephon! Ich weiß in diesem Moment nicht, wo Maria sich aufhält, aber ich habe das vollste Vertrauen zu ihr.«
»Spielen Sie nicht mit unsichtbaren Mächten!« warnte ich und zitterte; denn der kleine Mann erschien mir in diesem Augenblick fremd und seltsam.
Er stellte die Nummer des Konsuls ein.
»– . . . Ist meine Frau dort? Hier Direktor Marx . . . ja . . . bitte einen Augenblick zum Apparat . . . Maria? . . . Ja, ich bin schon zu Hause. Ich war rascher fertig . . . Du mußt dich nicht beeilen . . . nein, nein, laß dich nicht stören . . . Fred van der Werften? . . . Alexander? . . . Wer? Ja, er ist zu Hause! Wir trinken Tee . . . Dann werde ich noch warten, bis du kommst! Auf Wiedersehn!«
Seine Augen schossen Pfeile gegen mich ab. Er hielt mit der linken Hand den Apparat, als wollte er ihn nicht loslassen, und sagte mit einer Stimme, in der die Erwartung des Bräutigams zitterte:
»Sie wird gleich da sein! Wollen Sie sie erwarten? . . .«
Langsam, sehr langsam löste sich seine Hand vom Telephon, während er seinen Blick auf mich gerichtet hielt, ohne mich zu sehen. Schon im Begriff, ins andere Zimmer hinüberzugehen, wandte er sich zurück und strich liebkosend einige Male über den Hörer. 329 Dann ging ein Lächeln wie eine ferne Sonne auf seinem Gesicht auf und verwandelte ihn zum Kind. Das große Kind dachte an seine Mutter Maria, die seine kleine Tochter war und dennoch seine Mutter, und deren Gatte er war und sie seine Gattin. Dieser Gedanke verschob die Grenzen, die Menschen ziehen, und etwas Neues entstand, das mich mit Verwunderung erfüllte.
Eine Frau und ein Mann, die ein reichverzweigtes Leben lebten, ein vielfältiges Leben, mit tausend und abertausend Schlupfwinkeln und Geheimfächern, die außer den beiden niemand kannte, niemand von denen, die das leichtsinnigste aller Worte aussprachen und sagten: ein Ehepaar . . .
Der Direktor stand vor mir und lächelte.
Dann bat er mit sehr leiser, devoter Stimme, noch aufzubleiben und Maria zu erwarten!
»Ich will Ihnen noch einiges sagen . . . Maria kommt erst in einer halben Stunde.« Etwas Eindringliches und eine besondere Wärme klang aus seiner Stimme. »Vergessen Sie meine Erregung von vorhin! Verzeihen Sie mir bitte!«
»Ich habe doch nichts zu verzeihen!«
Schon hatte er seine Worte vergessen und überhörte meine Antwort. Das Lächeln ergriff immer mehr Platz von seinem Gesicht, und während er sprach, steigerte es sich zum Ausdruck eines großen Glücksgefühls und wurde fast visionär.
»Was ich Ihnen da sage, ist heute noch absurd, verpönt und widersinnig . . . pervers, wenn Sie wollen . . . und doch . . . und doch die Liebe von morgen! Eine Steigerung der Liebe, eine Steigerung der Spannung . . . Sie haben in meinem Leben die 330 größte Rolle gespielt. Ich dachte schon, Maria durch Sie verlieren zu müssen, weil Sie der erste Mann waren, den Maria so liebte, wie . . . wie eine Mutter liebt . . . Und schon dachte ich, daß mein ganzes Leben ein Irrtum war, als Sie, den Maria so über die Maßen liebte, mir den Beweis dafür erbrachten, daß mein heimlicher Dämon mich in allen Lagen des Lebens gut beraten hat.«
Verwundert blickte ich ihn an, den Mann, der unaufgefordert eine Beichte ablegte und es verstand, ihre Spannungskraft zu steigern. Diese Beichte fesselte mich immer intensiver, so daß ich darüber Maria vergaß ..
»Die Liebe von morgen?« murmelte ich.
»Meine große Liebe!« setzte er mit einer geradezu hellenischen Freudigkeit ein. »Ich war ein Gezeichneter und doch – oder vielleicht eben darum – ein Auserwählter der Natur. Sie schenkte mir die erste große Nacht mit Maria, der wilden, leidenschaftlichen, schönen Frau, und stieß mich dann in den Abgrund . . . Die große Natur, die mir als gewalttätige Frau entgegentrat . . .«
»Sprechen Sie nicht davon!« wehrte ich ab in Erinnerung an die schreckliche Szene, deren Zeuge ich gewesen.
»Ich spreche ja nicht davon. Ich war für eine Zeit Hiob geworden, verkroch mich und schabte mit einem Scherben meinen Aussatz . . . Ich hörte den wildherrlichen Gesang des Lebens, das über meinem Haupte dahinschwang . . .«
»Warum gingen Sie nicht weg von Maria?«
Ekstatisches Leuchten kam in die kleinen schwarzen Augen.
331 »Ich liebte sie! . . . Je furchtbarer der Aussatz meiner Ohnmacht schmerzte, umso heißer, strahlender erstand meine Liebe zu ihr . . . und das ist es . . . davon wollte ich sprechen . . . Sie müssen ganz still sein . . . Ihren Atem anhalten, und Ihr Herz darf nicht schlagen, wenn Sie mich hören wollen . . .«
Er machte breite, beschwörende Gesten, die lächerlich aussahen.
»Das tiefste Geheimnis gebe ich Ihnen, der es belauschte, mit auf den Lebensweg, den Sie morgen antreten . . . Morgen schon!« – sagte er, als ich eine verwundert unwillige Bewegung machte – »Morgen! . . . Hören Sie: meine Ohnmacht wuchs, das heißt, von Stunde zu Stunde, von Monat zu Monat kam es mir immer mehr zum Bewußtsein . . . Maria konnte mir nicht angehören, und ich konnte nicht ihr angehören . . . Der Kampf zerfleischte mich jahrelang und sie mit mir! Wir bekämpften und flohen uns, aber immer wieder holte der eine den anderen zurück! Wie unendlich lange das dauerte! Ich weiß nicht mehr . . . und manchmal fährt Satan auch jetzt noch in mich und verwandelt mich in Hiob . . . Wir konnten, wir können nicht voneinander lassen, Sie haben es gesehen, es belauscht, und darum . . . verrate ich Ihnen mein großes Geheimnis . . .« In die ekstatischen Klänge mischte sich die Farbe tiefer Erotik, und die Augen blickten ins Leere, als ob sie die schönsten Formen eines nackten Frauenkörpers vor sich hätten . . . »In die Ehe muß etwas grundverschieden anderes hineinkommen! Ich meine sogar, daß das Bisherige sich in sein Gegenteil verwandeln muß, wenn wir es steigern wollen und den Fehler vieler Jahrtausende korrigieren . . . Corriger la fortune et la 332 nature!« rief er belehrend . . . »Ich liebe diese meine und dennoch unerreichbare Frau mit einer Liebe, die noch wenige ahnen . . . Das ist die wirkliche, die große Liebe! . . . Die Kurve schießt in hundert farbige Himmel empor . . .«
Ein scharfes Tuten zerriß den Satz. Der Direktor, der eben den neuen Morgen der Ehe verkünden wollte, fiel aus der unendlichen Höhe zurück, sprang auf und lief hinaus.
»Also er verläßt uns, der Herr Poet und Schriftsteller!«
Er hielt Maria umschlungen und redete auf sie ein. Sein Gesicht war eitel Triumph. Er gestikulierte heftig und schwitzte vor Aufregung. Das war sein großer Moment! Maria, etwas übernächtig, Sektlaune in den Augen, schaute von einem auf den andern und auf den Tisch mit Teetassen und Gebäck. Einige Schneeflocken, die sich in ihrem Biberpelz festgesetzt hatten, zerschmolzen. Ihr Gesicht war gerötet. Sie fand sich nicht zurecht.
»Was hast du wieder?« fragte sie mit leisem Ärger in der Stimme.
»Ich? Nichts! Ich bin bloß glücklich, glücklich . . .«
»Was ist mit euch los?« fragte sie mich.
»Nichts!« antwortete ich trocken. »Wir haben Tee getrunken, keinen Wein!«
Der Direktor hatte ihr den Pelz abgenommen und zog ihr kniend die Schneeschuhe aus. Halblaut summte er ein Lied:
»Bald wird wieder Sommer sein,
Wenn die Rosen erblühen,
Bin ich bei dir!«
333 Maria blickte mich über den Mann hinweg an, der vor ihr kniete. In ihrem Blick spiegelte sich die Frage des nächsten Tages als Antwort auf die Frage, die meine Augen an sie richteten.
Der Direktor stand mit einem Ruck auf, und die beiden winzigen Schneeschuhe der vergötterten Frau hochhaltend, stieß er mit leuchtendem und bösestem Blick hervor:
»Das Ende! Er geht, um nie mehr zurückzukommen! Bist du jetzt froh und zufrieden, Maria?«
»Sag doch endlich, was ist es?« fragte sie ungehalten.
»Das Glück! Unser Glück!« schrie er. »Er ist, das heißt, er war . . . Ihn hast du geliebt! Wer sollte noch nach ihm kommen? Wirst du noch jemand lieben können? Er hat dich verraten!«
»Du langweilst mich, wie immer!« sagte sie und wandte sich ab. Da schwang er die Schneeschuhe:
»Begreife doch! Morgen verläßt er das Haus! Wir bleiben allein! Niemand wird uns stören! Bis in alle Ewigkeit bleiben wir allein!«
Und wie einer, der seiner Sache ganz sicher ist, setzte er sich und erzählte mit wichtiger Miene von seiner Reise, ihren geschäftlichen Enttäuschungen und den neuen Aussichten. Maria wollte ihn unterbrechen, doch er ließ es nicht zu. Hundert kleine Dinge fielen ihm auf, und endlich holte er den Teddybär und ließ ihn in drolligen Bewegungen über den Tisch spazieren. Dann mußte er sich vor Maria verneigen und sie begrüßen.
»Ei, ei, Händchen! Komm her, Händchen! . . .« ließ er den Teddybär sagen, schlug sich auf die Stirn, sprang auf und verschwand im Schlafzimmer.
334 »Was soll das Geschwätz?« fragte mich Maria.
»Er glaubt felsenfest daran, daß wir morgen auseinandergehen.«
»Warum?«
»Warum?« gab ich zur Antwort.
Der Direktor kam zurück. Er hielt den Teddy auf beiden Armen, und der Bär preßte Rosen zwischen den zusammengehefteten Pfoten.
»Zur Begrüßung!« sagte der Direktor zu Maria, und zu mir sich wendend. – »Zum Abschied!«
»Das hast du erraten!« – lachte Maria – »Ich fahre morgen mit ihm nach Paris! Bitte besorge den Schlafwagen. Zwei Plätze.«
Sie nickte den Abschiedsgruß und verschwand. Keines Wortes fähig, tausend rasende Gedanken im Kopf, ging ich in mein Zimmer.
Der Direktor blieb mit dem Teddybär zurück. 335