Paul Neubauer
Maria
Paul Neubauer

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VIII.
Indische Weisheit

Seit meiner Rückkehr aus Wien – mein erster Weg hatte der Redaktion gegolten, der zweite Maria – hatte ich sie kaum sprechen können. Das erstemal war sie sehr eilig, und ich durfte sie nur aus dem Villenviertel die Serpentine hinunterbegleiten. Sie besuchte eine Freundin, mit der sie am Abend in eine große Gesellschaft gehen wollte. Mich bestellte sie für den nächsten Nachmittag. Obwohl sie ruhig erscheinen wollte und sich Zwang antat, merkte ich ihre Ungeduld und Zerfahrenheit.

»Ich bin für zwei Stunden ganz frei!« versuchte sie die Unbefangenheit zu unterstreichen.

Ich erzählte von meiner Wiener Reise und dem überwältigenden Eindruck, den der große indische 172 Dichter auf mich gemacht hatte. Ihre Blicke spiegelten Aufmerksamkeit und Interesse.

»Wir sprachen viel von Frauen,« erzählte ich.

Sie hakte sich sofort fest, und ich benützte die Gelegenheit und flocht Sätze und Wendungen ein, die geeignet waren, sie irrezuführen. Der einzige Mensch, dessen Existenz ich nicht berühren durfte, war der Chefredakteur, doch ich konnte dem großen Inder Worte in den Mund geben, die sich wie aus weiter Ferne auf das bezogen, was ich aus der Laube belauscht hatte. Ich plazierte die Stichworte so gut, daß sie sich ins Gespräch vertiefte und der Weisheit des Dichters angeregt folgte.

»Was ist sein Urteil über Frauen?« fragte sie.

Und ich wiederholte die Zusammenfassung, in der er die Frauen mit der Muttererde verglich.

»Er ist sehr weise . . .«, sagte sie mehr zu sich selbst und lächelte.

Es konnte Bewunderung ebenso gut wie Ironie sein. »Wie kamt ihr von der hohen Politik und Kunst auf uns Frauen zu sprechen?«

»Denn das Naturell der Frauen ist so nah mit Kunst verwandt,« zitierte ich und fügte hinzu: »Kein Gespräch ohne Goethe, und von ihm führt der Weg direkt zu den Frauen.«

»Die Männer haben sich eine Frauenfrage geschaffen, jetzt werden sie sie nicht los. Es steckt nichts hinter den Frauen!«

»Aber mit ihrer Wirkung auf den Mann müssen sich die Männer auseinandersetzen. Es bleibt ihnen nichts anderes übrig.«

»Und täten doch besser, es nicht zu tun! Es kommt dabei doch nichts heraus.«

173 Sie sagte das so eigenartig – ich empfand sofort, daß der Satz zur Hälfte an meine Privatadresse gerichtet war. Seit jeher, seit ich Frauen beobachtete, war ich der Überzeugung, daß alle durch irgend ein Geheimnis verbunden sind, das nur sie kennen und das sie dem Mann nie verraten. Ob Dirne oder Mutter – sie sind auf irgendeine Art verbündet. Auch in diesem Augenblick kam mir das zum Bewußtsein.

»Ich meine, Maria,« sagte ich nach der Pause, »die Frau gibt dem Mann harte Nüsse zu knacken. Der große Inder hat das in einem Satz zusammengefaßt.«

»Ich wette,« lachte sie übermütig, »daß ich den Kern eurer Gespräche errate. Es wurde wieder einmal über die Treue debattiert!«

»Woher weißt du es?« – fragte ich unbesonnen.

Sie gab mir einen leichten Streich auf die Bache.

»Wo du bist und die Frauenfrage aufgerollt wird, kommt man nicht so leicht um die Ecke der Treue! Und der indische Dichter, er ist ein Genie, aber letzten Endes ist auch das Genie nur ein Mann!«

War das Instinkt? Oder wußte sie etwas von meiner nächtlichen Spionage? Alexander konnte es ihr längst verraten haben. Ich wurde unruhig.

»Die Männer sind sonderbar und eigentlich gar nicht Verstandesmenschen, obwohl sie es sind, die alle Schlachten geschlagen und das ganze Gebäude der Kultur errichtet haben. Ich glaube, daß der Instinkt der Frauen tiefer sitzt als der Männerverstand und zielsicherer ist. Ihr schlagt Euch mit zu vielen Gespenstern herum. Eines, ein richtiges Monstrum darunter, ist die Treue. Keine Frau versteht den Sinn dieses Wortes, das sich die Männer erdacht haben. Er hat schon recht, der Inder, wenn er die Frau mit der 174 Erde vergleicht, die hervorbringt und vernichtet und beides in einem Atem tut. Würden die Männer denken, sie müßten sofort einsehen, daß Treue und Zwang zur Treue die denkbar schärfsten Gegensätze sind!«

»Von einem Zwang kann doch heute keine Rede mehr sein!« wandte ich ein.

Sie lachte herausfordernd:

»Und die Eifersucht der Männer?! Diese dümmste Form des Zwingen-Wollens?«

»Der Eifersüchtige ist bemitleidenswert!« sagte ich.

»So?! Spricht der große Weise aus dir? Ich glaube, man dürfte ihn nicht auf die Probe stellen!« sagte sie etwas gereizt und höhnisch, setzte aber mehr gedankenspielerisch fort: »Die Gesellschaft, die das Werk der Männer ist, geht so weit, daß sie den Flirt erlaubt. Sogar der Kuß ist erlaubt, ja, sogar die Tänze, die wir von den Negern geerbt haben. Als wüßten sie nicht, was während des Flirts oder des Tanzes geschieht! Sie stellen sich blind und taub, weil es bequem ist. Oder vielleicht, weil sie die Frau nicht hinter Schloß und Riegel setzen können. Die Haremswirtschaft ist sogar in der Türkei zu Ende. Und die war der richtige Ausdruck männlicher Dummheit! Ist dein Inder wirklich weise, dann weiß er, daß Treue etwas ist, was die Natur jeden Moment aufs heftigste bekämpft; denn sie hat die Frau geschaffen, und auf die Frau kommt es für alle Männer an!«

Ich fühlte ihre Leidenschaft in den Worten klingen. Wieder dachte ich an Alexander, und mein Verdacht verstärkte sich. Woher plötzlich die Wucht? Nur wenn sie von meiner Autoverfolgung schon wußte, hatten ihre Worte Sinn und Zweck. Die andere Möglichkeit, dachte ich –

175 »War der Chefredakteur mit deiner Reportage zufrieden?« fragte sie nach der Stille.

Der Chefredakteur . . . Die andere Möglichkeit! Wenn Alexander geschwiegen hatte, dann blieb diese Möglichkeit: sie hatte das Problem dieses Mannes noch nicht gelöst und quälte sich. Die heftigen Worte waren vielleicht an ihn gerichtet.

Sie schaute auf ihre Armbanduhr und stand hastig auf.

»Wie wir die Zeit verplauschten! Ich muß augenblicklich fort!« – Sie stülpte den Hut über den Kopf und warf einen Seidenmantel über den Arm.

»Er war mit meiner Reportage ganz besonders zufrieden!«

»Bist du schon definitiv Redakteur des Blattes?« fragte sie, bevor sie in das schon seit einer halben Stunde wartende Auto stieg. Sie hörte meine Antwort nicht mehr und konnte meinen verdutzten Blick nicht sehen. Das Auto setzte sich erst in Bewegung, aber sie war schon weit.

Nach dieser Begegnung sah ich Maria einige Tage lang nicht.

Umso schärfer konnte ich meinen Chefredakteur im Auge behalten.

In Adeles gelegentlichen Äußerungen verriet sich die gewöhnliche Auffassung und das Urteil derer, denen Beobachtung der Mitmenschen einzige Lebensfreude ist. Ich kehrte mich nicht daran; denn ich selbst hatte untrügliche Beweise dafür in der Hand, daß zwischen Maria und dem Chefredakteur nichts vorgefallen war. Sie wußten es nicht, wie scharf ich sie beobachtete, und Alexander –

176 Über ihn war ich mir nicht im Klaren. Die Rolle, die er bei Maria spielte, war zu wenig fest umrissen, als daß ich mir ein Urteil hätte bilden können.

Maria mußte den Chefredakteur noch immer für ein ungelöstes Problem halten; denn sie kam mit ihm hinter meinem Rücken zusammen. Sie suchte. Sein Geheimnis vielleicht, das keines war, wollte sie ergründen. Sie konnte sich mit der Erfahrung ihres Ausfluges nicht zufrieden geben und witterte hinter seiner Maske ein Erlebnis von berauschender Fülle und Neuheit. »Die Gesellschaft, die das Werk der Männer ist, geht so weit, daß sie den Flirt erlaubt. Sogar den Kuß, ja sogar die Tänze, die wir von den Negern geerbt haben.« Das hatte sie mit einem Eifer gesagt, der alles, was in ihrem Inneren vorging, verriet. Sie focht einen Kampf mit sich aus, der sie ganz in Anspruch nahm.

In diesen Tagen verdoppelte sie ihre Zärtlichkeit gegen mich.

Und in diesen Tagen verschloß sie sich mir und war kein einziges Mal mein.

Über all diesem Treiben aber lag eine Traurigkeit und Resignation.

Der Herbst war nicht mehr sommerlich, und die Strahlen seiner Sonne klirrten metallisch.

In verschwiegenen Eisgesichtern flackerte der Neid und die Schadenfreude. Der erste galt meiner Stellung, die zweite meiner Niederlage. Mein Zimmerkollege in der Redaktion, Rudolf Santeau, gab sich mit den Ereignissen nicht zufrieden. Ein Mensch, der seinen Augenblicksproduktionen und Capriolen zuliebe ganz gewissenlos den Ruf aller Menschen opferte. Beim Wein hatte er mir einmal erzählt, er habe vor 177 einigen Jahren in Berlin viele Wochen hindurch als Gast unseres dritten Zimmerkollegen gelebt, der verheiratet war. Santeau war damals ohne Posten, und der Korrekte hatte ihn bei sich aufgenommen. Es dauerte drei Tage, erzählte Santeau, und die Frau des Freundes warf sich ihm in die Arme. Er knüpfte an solche Erzählungen lange Analysen über die seelische Beschaffenheit der Frauen und überhörte meine beschuldigenden und zurechtweisenden Bemerkungen. Die Frau unseres gemeinsamen Kollegen war jung gestorben, doch das hinderte ihn nicht daran, mir diese Geschichte, die erlogen sein mußte, zu erzählen.

Eines Vormittags standen wir beide vor dem Arbeitstisch des Chefredakteurs. Santeaus Katzenaugen huschten an mir vorüber:

»Herr Chefredakteur, für heute habe ich eine sehr interessante Reportage. Die Geschichte hat sich wirklich zugetragen: ein merkwürdiger, starker Mann, von dem eine seltsame erotische Wirkung ausgeht, hat einen Mann mit seiner Freundin betrogen. Zu drollig: die Frau betrog ihren Mann mit ihrem Freund, und der starke Mann den Freund mit der Frau! Eine geradezu psychoanalytische Affaire . . .«

»Nicht aufregend!« warf der Chefredakteur ein. »Das besagt nur, daß die Frau ihren augenblicklichen Freund loswerden will!«

»Eben nicht! Sie läßt trotzdem nicht von ihrem Freund! Das ist ja das Interessante an der Sache!«

Ich stand völlig ruhig daneben, mein Wille regulierte mein Blut, das mich nicht verraten durfte. Santeau setzte wieder ein, als der korrekte Kollege 178 eintrat und dem Chefredakteur mehrere Manuskripte vorlegte.

»Ich glaube, Santeau, die Psychoanalyse käme in deiner Reportage nicht auf ihre Kosten. Der Fall ist nicht kompliziert,« begann ich in belehrendem Ton. »Aber ich habe eine Reportage, die wirklich sensationell wirken müßte. In dieser Stadt lebt ein Mann, der seinen Freund bei sich aufgenommen hatte, als es diesem schlecht ging. Der Mann hatte eine junge Frau, ein Muster der Liebenswürdigkeit und anständigen Gesinnung.«

Da machte ich eine Pause und zündete mir eine Zigarette an. Der Chefredakteur hatte die Vorgänge längst beobachtet, und obwohl er sonst für keinen seiner Untergebenen Zeit hatte und allen Privatgesprächen aus dem Wege ging, bot er uns mit einer kurzen Handbewegung Stühle an.

Die Klingen standen gekreuzt im Raum: es war ein Gespensterduell. Santeau erblaßte, blieb aber ruhig, während der Korrekte noch steifer aussah als sonst.

»Jeder, der die junge Frau kannte, mußte davon überzeugt sein, daß sie ihren Mann liebe und für kein Abenteuer zu haben sei.«

Santeau grinste:

»Die Reportage sieht einer sentimentalen Novelle aus der ›Gartenlaube‹ verdammt ähnlich!«

»Sie ist nicht einmal eine Novelle; denn die junge Frau starb unerwartet an Diphterie.«

Die Augen des korrekten Kollegen wurden naß:

»Meine Frau war zweiundzwanzig Jahre alt, als sie an Diphterie starb. Du warst damals bei uns, Santeau!«

179 Santeau nickte rasch und geistesabwesend. Er hielt die Augen niedergeschlagen und stand in furchtbarer Spannung da. Der Chefredakteur umfaßte uns drei mit ruhigen, kalten Blicken.

»Aber jetzt kommt die Psychoanalyse oder Psychopathologie!« setzte ich fort. »Als die junge Frau tot war, reizte dieser Tod als ewige Tatsache, mit der er sich abfinden mußte, den Freund, der Gast der Frau gewesen war, derartig, daß er sich einbildete, sie besessen zu haben. Ich erkläre diesen abnormen Fall damit, daß der Tod seine Erotik ins Phantastische steigerte, weil er ihm für ewige Zeiten die Möglichkeit genommen hatte, die begehrte Frau zu besitzen. Die Phantasie dieser seltsamen Erotik, die der toten Frau des Freundes galt, trieb ihn so weit, daß er in Weinlaune stundenlang von der Schönheit des genossenen Körpers erzählen konnte . . .«

»Meine Herren!« die scharfe Stimme des Chefredakteurs weckte uns. Santeau hatte während meiner Erzählung seinen Blick allmählich zu mir erhoben. Er sah aus wie aus Marmor gemeißelt, unbewegt und starr. Der Korrekte war eben so langsam vom Stuhl aufgestanden. Zwei Gespenster . . .

»Ich danke Ihnen!« entließ uns der Chefredakteur, und wir verbeugten uns.

Zu Santeaus Überfall gesellten sich täglich andere. Jede Stunde wurde mir zur Hölle. Je teuflischer es wurde, um so mehr verkrampfte ich mich.

Nicht um die Frau, die Geliebte war, ging es jetzt! An Maria hatte ich ein Wesen, dem ich vorher nie begegnet war, ein Wesen, das an der Freiheit der Leidenschaft krankte. Es ging um die Lösung des größten Problems: Freiheit oder Gesetz!

180 Die alte Ehe, war sie vernichtet?

Hatten die Gesetze vom Sinai, die Gesetze des Alten Testaments, aufgehört, Wirklichkeit und Möglichkeit zu sein? Zertrümmert von der Frau, der der Mann Freiheit und Unabhängigkeit schenkt?

Ich hatte Maria nicht gewollt, als ich Hollywood, Meer, Sonne und Freiheit im Sinne hatte. Sie schenkte sich mir. Von diesem Augenblick an hatte ich sie immer wieder zurückerobern müssen, und immer war sie von neuem ein Geschenk. Ich hatte die Kraft besessen, aus der verschwiegensten Tiefe der Weiblichkeit das Mütterliche in ihr Bewußtsein heraufzuzaubern und dem wilden Meere ihrer Leidenschaft ein Stück Festland zu entreißen, das die Wellen schon zu verschlingen drohten. Dies Stück Festland wollte ich bis zum letzten Atemzug verteidigen, um die größte Frage beantworten zu können: Freiheit oder Gesetz!?

Sie erfühlte meinen Kampf und seine Bedeutung und wehrte sich. Vom ersten Augenblick unseres Zusammentreffens hatte sie sich zur Wehr gesetzt, und was sie auch tat, es war gegen mich gerichtet. Sie verschaffte mir die Anstellung in der Redaktion, um mich zu binden und zwang mich unter die Herrschaft des Mannes, mit dem sie ein Spiel auf Leben und Tod spielte. Wäre ich ihr Gatte gewesen, sie hätte keinen Gedanken, keine Bewegung auf mich verschwendet. Aber wir waren in Freiheit zusammengetroffen: ich war der Freund, der Geliebte, von dem sie innerlich nicht loskonnte, nicht loswollte! Sie war vollkommen unabhängig und konnte ihre Freiheit plötzlich nicht mehr gebrauchen, obwohl sie der aggressive Teil gewesen, weil das Mütterliche sie bezwungen hatte.

181 Sie wußte sich beobachtet und lehnte sich dagegen auf.

Als ich nach einer unliebsamen Begegnung mit Adele zu ihr ging, fand ich Maria nicht zu Hause, obwohl sie mich für diese Stunde zu sich gerufen hatte. Am nächsten Tag um dieselbe Zeit fuhr ich zu ihr; denn sie hatte telephoniert, ich solle kommen. Ohne den leisesten Vorwurf in der Stimme sagte ich:

»Gestern warst du nicht zu Hause, Maria.«

Sie antwortete gereizt, sie wäre beschäftigt gewesen.

»Ich kann dir doch nicht jeden Schritt mitteilen!«

»Das habe ich nicht verlangt!« suchte ich zu besänftigen.

»Verlangt?« fuhr sie auf.

»Ich verlange nichts von dir, Maria; denn du bist frei. Nur eines: Aufrichtigkeit.«

Sie verlachte mich, weil ich von ihr, der Frau, Aufrichtigkeit verlangte, und machte mich mit einer plötzlichen Wendung darauf aufmerksam, daß wir keine Rechte auf einander hätten.

»Ich wäre froh, wenn du ein wenig die Gesellschaft deiner Kollegen aufsuchen würdest! Du beschäftigst dich nur mit mir!«

Zum erstenmal seit unserer Freundschaft konnte ich nicht an mich halten:

»Mich mußt du nicht allzu derb aufmerksam machen, Maria! Ich verstehe auch eine feinere Tonart!«

»Ich merke nichts davon!«

Die Nerven zuckten auf, das Blut schoß empor. Im nächsten Augenblick verbeugte ich mich und verließ wortlos das Zimmer.

182 Sie mußte es erfaßt, mußte es mir angesehen haben; denn sie rief mir nach, und da ich mich daran nicht kehrte, holte sie mich mit raschen Schritten ein, stand einen Augenblick still vor mir und sagte zu meiner großen Überraschung:

»Hole mich heute abend um neun Uhr ab, wir gehen aus.«

Meine Fragen, die ich etwas überhastet und verwirrt hervorsprudelte, beantwortete sie nur mit einem Lächeln, das irgendjemandem irgendwo galt. Nicht mir und nicht dem Abend, zu dem sie sich so plötzlich entschlossen hatte. Als ich um halb zehn den Saal des Parkhotels mit ihr betrat, saß René an einem Tisch, den er für uns reserviert hatte. Der Saal, in dessen Mitte getanzt wurde, war überfüllt.

»Sind Sie zufällig da, René?« fragte ich naiv.

»Zufällig . . . zufällig . . .« zwinkerte er und zupfte an seinem kleinen englischen Schnurrbart, während seine blauen Schalkaugen einen Blick des Einverständnisses mit Maria tauschten.

Er war in bester Stimmung und unterhielt uns mit hundert kleinen Erzählungen. Hätte ich nicht den Faden der psychologischen Beobachtung verloren gehabt, so müßte es mir aufgefallen sein, daß dieser Quecksilbermensch, der nicht zu fassen und für keinen Menschen, außer für sich selbst, da war, den Tisch seit mindestens einer Stunde hatte besetzt halten müssen; denn es war Sonnabend, und die Tanzsaison hatte begonnen. Das tat er sicher nicht aus eigenen Stücken, auch wollte er heute noch auf seine Kosten kommen.

Trotz Renés besonderer Lebhaftigkeit war Maria geistesabwesend. Zweimal versuchten sie den Tanz 183 und kamen beide Male vor dem Ende des Stückes an den Tisch zurück: René lachend, Maria verwirrt.

Da erschien der Chefredakteur.

Er tat, als bemerke er uns nicht, und ließ die Blicke erst in der Runde umherschweifen, bis sie an unserem Tisch haften blieben.

Bei seinem Eintreten färbten sich Marias Wangen rot, und die Augen standen voller Lebenslichter. Er setzte sich zu uns. René sorgte für die lebhafteste Unterhaltung, an der sich die verwandelte Maria stark beteiligte. Sie gab sich Mühe, mich auch hineinzuziehen, und wandte sich beständig mit den drolligsten Fragen an mich. Der Chefredakteur vergaß seine Würde und nahm mich als Ebenbürtigen.

Nach einer Stunde erschien Alexander, den René telephonisch verständigt hatte.

Die Stimmung steigerte sich. Mitternacht war vorbei, und wir hatten bereits einige Flaschen getrunken, als Maria und der Chefredakteur den ersten Tanz tanzten.

Maria hatte mich vergessen. Sie sprach lebhaft und übermütig und richtete ihre Worte ausschließlich an den Chefredakteur. Wenn die Musik einsetzte, sprang sie auf und wirbelte mit ihm durch den Saal.

»Das ist Rausch! Sie müssen ihn vorübergehen lassen!« sagte René zu mir und warf mir einen gutmütigen Blick zu. »Sie wird wieder zu Ihnen zurückkehren.«

Um ein Uhr leerte sich das Lokal, und die Jazzband packte die Instrumente ein.

Da fiel Marias Blick auf mich:

184 »Geh, sag ihnen, sie sollen bleiben! Wir lassen die Lampen bis auf die unsere löschen und tanzen bei gedämpfter Musik weiter! Geh, rasch!«

Ich erfüllte ihren Wunsch.

Die Lampen erloschen, und die Jazz spielte sordiniert, was zu ihrem Charakter in einem sonderbar anmutenden Widerspruch stand. Bald trank auch die Musik mit, und Maria, die mich sofort wieder vergessen hatte, tanzte bis zum Morgen.

Um sechs Uhr früh saßen wir im Kreis und tranken das letzte Glas. Ich überblickte furchtbar nüchtern die Situation. Der Chefredakteur saß neben mir. Plötzlich flüsterte er mir ins Ohr:

»Nicht wahr . . . Sie möchten . . . wenn Sie könnten, würden Sie . . . würden Sie . . . würden mich am liebsten ermorden . . .«

Heute, fern von alldem, weiß ich es mit großer Gewißheit: ich hätte mich um das größte Erlebnis gebracht, wenn mich die Leidenschaft in diesem Augenblick mit sich gerissen hätte. Nie wieder hätte ich Maria erlebt! Und vielleicht wußte ich dies alles, als ich die Antwort flüsterte und tat, als wäre ich ebenfalls betrunken:

»Ich . . . Sie? Aber um Gottes Willen, warum . . . warum? Sie sind, ich muß sagen, ein patenter Kerl, patent . . .«

Und wir beide lachten dröhnend: er und ich.

Die Rückfahrt im Auto indessen erfolgte ohne Zwischenfall.

Am Nachmittag verständigte ich sie von meinem Entschluß, sie heute unbedingt zu sprechen. Sie wollte ausweichen; da ich aber nicht nachgab, willigte sie für eine halbe Stunde ein.

185 »Du hast mir zwar eine halbe Stunde gewährt,« sagte ich, als ich ihr gegenüber saß. »Aber das ist zu viel Zeit. Ich kann dir mit einigen Worten alles sagen: Ich habe heute, ehe ich zu dir fuhr, meine Stelle gekündigt und bin da, um dir zum Abschied die Hand zu küssen und dir zu danken; denn ich verlasse die Stadt.«

»Das hast du getan?« – Sie ging ans Telephon, ließ sich mit dem Chefredakteur verbinden. Er bestätigte die Richtigkeit meiner Angaben.

»Bitte, Doktor,« sagte sie, ohne einen Augenblick zu zögern – »nehmen Sie zur Kenntnis, daß ich seine Kündigung rückgängig mache. Ich hoffe, daß Sie dagegen nichts einzuwenden haben!« – Nach erhaltener Zustimmung hängte sie ab.

»Es ist vergeblich, Maria, du kannst mich nicht mehr halten, ich gehe!« Sie blieb still, schaute vor sich hin und kümmerte sich nicht um meine Worte, die sie gar nicht gehört zu haben schien. Sie hing ihren Gedanken nach. Eine Weile verging, und ich stand ruhig und gefaßt auf, um zu gehen.

»Dein indischer Dichter hat recht behalten!« sagte sie plötzlich. »Es ist das einzige, was Sinn hat.«

Dann schwieg sie wieder und versank in ihre Gedanken. Ich zögerte und wollte sie nicht stören. Sie rang sich einen Entschluß ab, einen unabänderlichen Entschluß. Der Kampf malte sich in ihren Zügen. Und bevor ich es fassen konnte, sagte sie:

»Ich lasse dir morgen das kleine Zimmer einrichten. Am Abend kannst du als Mieter bei uns einziehen. Bist du einverstanden?«

186 Indische Weisheit . . .

Nie hatte eine Frau den großen Dichter besser erfaßt als Maria in diesem Augenblick. Sie hatte gewählt: die Weisheit hatte die Leidenschaft besiegt. Sanft leuchtete sie aus ihrem Blick, der feucht schimmerte, da er mir verkündete, daß meine Geliebte meine Gattin geworden war, und fragte:

»Bist du einverstanden?« 187

 


 


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