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Diebesrache

Daß unser Freund Mahlmann keine ganz tadellose Vergangenheit hatte, erfuhren wir allmählich mit den zunehmenden Jahren. Aber ich muß es leider gestehen, wir machten uns gar nichts daraus. Wir fanden es sogar sehr interessant, daß er im Zuchthause gewesen war, und daß er zu verschiedenen Zeiten die Begriffe von mein und dein verwechselt hatte. Er selbst sprach, wenn er gerade in der Stimmung war, mit großer Offenheit von seinen Fehlern, und er entdeckte manchmal Wahrheiten, die erwachsenen Leuten wie Gemeinplätze vorkamen, von uns aber mit großer Andacht vernommen wurden.

Ja ja, pflegte er zu sagen. Ehrlich währt am längsten! Hätt ich das man eher gewußt, dann war allens besser gewesen. Aber nun sitz ich da und habe nix und kann nix und hätt doch ein reichen Mann sein können, wenn ich man bloß ehrlich gewesen wäre. Aber dazumalen, als ich jung war, lernte man noch nix von sowas, und nu is es zu spät.

Es klang das immer, als wenn die Folge der Ehrlichkeit Reichtum sein müßte, und aus diesem Grunde das Befolgen des siebenten Gebotes zu empfehlen wäre. Daß man auch ehrlich sein könne, ohne gleich die Belohnung in klingender Münze zu erhalten, kam Mahlmann gar nicht in den Sinn. Infolgedessen gab es natürlich Leute, die ihn einen alten Spitzbuben nannten, der nicht einmal die Sünden seiner Vergangenheit bereue, sondern nur äußeren Vorteils wegen bedaure, kein ehrlicher Mann geblieben zu sein. Wir Kinder aber hatten noch nicht soviel Unterscheidungsvermögen und hätten den alten Mann ungern in unserem Freundeskreise entbehrt. Er tat auch keinem Menschen etwas, und er war so einsam und allein, wie wenige. Früher, als er noch gehen konnte, war er aufs Land gewandert, um alte Freunde zu besuchen, auch wohl um hin und wieder etwas zu betteln; jetzt aber versagten ihm die Glieder, und er sah sich auf die Mildtätigkeit seiner Mitmenschen angewiesen. Nur daß er manchmal einen Dank aussprechen mußte, wo ihm eine Gabe halb widerstrebend, halb gleichgültig gereicht worden war, das machte ihn verdrießlich und gallig, das fraß an ihm, so daß er dann böse Worte sprach, die ihm selbst am meisten schadeten. Denn das Geschlecht der Wohltäter ist von jeher ein anspruchsvolles gewesen, das mit Sammetpfötchen angefaßt werden will, wenn es nicht, über den Undank der ganzen Welt schreiend, mit stolzerhobenem Haupte sich von allem Geben zurückziehen soll. Wir Kinder aber verlangten keine gerührten Dankeshymnen, wenn wir Großvaters Köchin allerlei Gutes für unseren Freund abgeschwatzt hatten. Wir waren ja satt, wir brauchten die Lebensmittel nicht, die wir lustig davontrugen, unserer Ansicht nach war unser Großvater ein reicher Mann, dem es nicht darauf ankommen konnte, ein paar Arme satt zu machen, und mit strahlenden Gesichtern polterten wir zu Mahlmann hinein: »Hier ist etwas für dich! Stina wollte es uns nicht geben; aber wir liefen damit weg, und sie konnte uns nicht einholen!« Dann lüftete der Alte den Korbdeckel, um den Duft der Speise einzuatmen. »Gebratne Klöße!« sagte er schmunzelnd. »Mit Speck gebraten! Kinners, nun werd ich mal wieder gesund! Denn was die echten, rechten Klötze sind, mit denen muß man einen erwachsenen Kerl ein Loch in den Kopf smeißen können. Und wer die auf'n Totenbett zu essen kriegt, der lebt noch wenigstens ein Jahr länger, so gesund sind sie. Abers mit Speck müssen sie gebraten sein, mit richtigem Sweinespeck, sonst is das nix!«

Mahlmann legte sich bei diesen Worten in seine Kissen zurück – er lag nämlich im Bett – und nickte uns zufrieden zu. »Ihr seid gute Kinners,« sagte er; »ihr wißt, was ein alten Kerl haben muß, um ein büschen lustig zu werden!«

Mahlmanns Lob war uns sehr schmeichelhaft, und um ihn noch mehr aufzuheitern, erzählten wir, daß wir bald ein Schwein schlachten würden, eine Nachricht, die den Alten förmlich aufregte.

»Sweineslachten!« sagte er. »O du himmlische Dreifaltigkeit, was Sweinslachten doch fürn schönes Fest is! Da is Weihnachten gar nix gegen. Und was hab ich manchmal fürn Spaß gehabt beim Sweinslachten! Wenn ich an Jochen Friederichsen sein Swein denke, dann muß ich heute noch lachen! Setzt euch man ein büschen, Kinners; dann will ich euch den Spaß man gleich erzählen. Abersten die gebratnen Klöße muß ich dabei essen, sonst verswiemeln mich die Gedanken!«

Das ließen wir uns nicht zweimal sagen. Bald saß Mahlmann aufrecht im Bett, verzehrte sein Lieblingsgericht, und wir saßen um ihn herum. Und nun begann er mit den Worten, mit denen er jede Geschichte anfing.

»Ja, Kinners, was ich man noch sagen wollte – Jochen Friederichsen sein Sweinslachten, das war spaßig. Nu is das all lange her; denn dazumalen, da hatte man noch ein vergnügtes Leben hier, was heutigentages ganz vorbei is, weil jedermann langweilig geworden is und immer an die Gesetzens denkt. Liebe Zeit, ich wußte von all die dummen Gesetzens nix; kein Mensch hat mich die vorgelesen, und das hab ich auch die Herrens gesagt, die nachher ein großen Skandal machten und sagten, wir hätten gestohlen. Als wenn wir jemals was von die Armens genommen hätten! Bloß ein büschen von die Reichens. Aber die stellen sich ja immer so an. Und Jochen Friederichsen war auch so einer, der nich mal ein Ferkel aus'n Stall missen konnte. Da war ein Bekannter von mich, der mochte so furchtbar gern Ferkel leiden, und als er einmal bei Jochen Friederichsen sein Sweinstall vorbeikam, da nahm er halb in Gedanken zwei oder drei von die kleinen nüdlichen Dingers mit. Na, und das weiß ja ein neugebornes Kind, das so'n richtiges Mutterswein ümmer nach seinen eignen Kopp geht und keinen Menschen um seine Meinung fragt. Da läuft denn auch Jochen Friederichsens Sau mit einem Male hinter meinen Bekannten her und will partuh nich wieder in Friederichsen seinen Stall hinein; und was nun mein Freund is, der ein gutes Herz hat, und der so'n unvernünftiges Vieh nich mitten in die Nacht auf'n offnen Felde lassen will, der nimmt das alte Swein aus purer christlicher Barmherzigkeit mit in sein eigen Haus. Und weil er ein büschen swach von Gedächtnis war, so konnte er sich nich besinnen, aus was für'n Stall die alte Sau gekommen war, und weil in seinen eignen Haus nich viel Platz war, so hat er das Tier geslachtet, weil daß er doch nich wollte, daß so'n gutes und nützliches Vieh Heimweh kriegen sollte nach den andern kleinen Ferkeln. Von diese Geschichte hat Jochen Friederichsen einen unbändigen Skandal gemacht. In die Stadt is er geritten und hat es angezeigt, daß seine Sau verswunden war, und hat sich benommen wie ein unvernünftigen Menschen. Denn da kann doch keiner was für, wenn sein Swein sich mal in die Welt umsehen will, und es is hellschen ordinär, denn gleich von Dieben und Diebsbande zu sprechen. So haben denn viele von meine Freunde einen hellschen Pik auf Friederichsen gekriegt, und das war slimm, weil da wirklich gebildete Menschen mit mang gewesen sind, überhaupt so reiche Leute sind komisch. Wenn der Frühling kommt, dann läuft der Balbier zu allen hin und slägt ihnen die Ader auf, daß sie ein büschen Blut lassen und bei die Hitze kein Slag kriegen. Oders sie kriegen was ein von Apteiker, damit sie slank werden. An ihrem eignen Leibe können sie so was missen, wenn das abersten auf ihren Geldbeutel losgeht, dann werden sie fuchswild. Lieber Gott, das is doch auch gesund für viele Menschen, wenn die Reichens ein paar Taler lassen müssen!«

Mahlmann hatte so eifrig gesprochen, daß er das Essen beinahe darüber vergessen hatte. Jetzt aß er wieder kopfschüttelnd und murmelte einige halblaute Worte.

»Passierte die Geschichte mit Jochen Friederichsen, als die große Diebesbande hier war?« fragte einer von uns.

Der Alte sah den Frager verdrießlich an. »Was ne dumme Frage!« sagte er. »Hab ich nich gesagt, daß hier gar kein Diebsbande war? Da waren ein paar Leutens, die sich manchmal ein kleinen Spaß machten; das is allens, und an die Häuser von die Armens gingen sie vorbei. Gebildet waren sie, viel feiner als die dummen Bauerns hier, die niemals weiter als in die Stadt gekommen sind und sich auf ihre Geldsäcke was einbilden! Und Gemüt hatten sie, furchtbar viel Gemüt, was ihr schon an die Verse sehen könnt, die sie überall angesrieben haben. Bei einen von die Reichens, wo sie ein büschen Geld genommen hatten, stand mit Kreide an die Haustür: »Wir sind unsrer vier und nich bang vor dir.« Bei ein andern, wo sie ein paar Schinken und Würste aus'n Rauchfang geholt hatten, da hatten sie an die swarze Wand gesrieben: »Allens, was is von Swein, das smeckt fein!« O, da waren noch viel mehr Verse, ich hab sie man bloß vergessen, weil daß mein Gedächtnis nich is wie früher; das aber sag ich euch: mein Schwestertochter, die nu schon an die dreißig Jahre tot is, und die was von das echte Dichten verstand, die sagte immer, die Verse, die damals man bloß an die Wand gemalt wurden, die hätten direktemang ins Gesangbuch gedruckt werden können, so schön waren sie. Abers da sind ümmer Leute, die von sowas keinen Begriff haben. Und Jochen Friederichsen war einer von die dummen Kerls, die bloß ümmer an ihren Geldbeutel denken. Nix anders hat er getan, als von die Diebe snacken, und daß der Pollerzei und Schandarmen hierzulande gar nix taugten. Das mag ja nun kein Mensch gern hören, und auch der Pollerzei nich, und ich glaub, mein Seel, daß bloß von wegen Friederichsen sein Gesnack zwei Schandarmen mehr von Kiel kamen. Und von so'n Benehmen können die besten Menschen verdrießlich werden; denn es is nich angenehm, zu denken, daß man in einen Momang gleich ins Gefängnis kommen kann, bloß weil Friederichsen sein Mutterswein sich verlaufen hat. Da sind denn auch noch andre Geschichten passiert, die alle natürlicherweise von die Diebens gemacht worden sein sollten. Einmal brannte ein Haus ab, und ein alter Mann, der ein richtigen Tündelbüx war, der blieb in sein Lehnstuhl sitzen und konnte nich gerettet werden, weil er nich aufstehn wollte. Lieber Gott! wenn ich nich leben will, dann bleib ich tot, da is nix bei zu machen, und kein Mensch kann da was bei tun. Abersten die Leute wollten keine Räsong annehmen und stellten sich gräsig an, und sie srieben sogar was in die Zeitung, daß der Pollerzei nich im geringsten was taugte. Wenn man nu ein büschen eigensinnig is, denn kehrt man sich den Deubel an so'n Snack, und so kam es noch ümmer vor, daß bei die Reichens Besuch, kam, der ein büschen was mitnahm. Bloß bei die Reichens, und denn man bloß ein büschen. Und weil Jochen Friederichsen seine Speziestaler so lieb hatte, so wurden ihm ein paar Beutel voll abgeholt. Denn Gerechtigkeit muß sein, und wo man am meisten von hält, das muß man hergeben. Und Jochen Friederichsen hat himmelhoch gesworen, daß er sich rächen wollt, was ein sehr unchristliches Wort war. Abersten so sind die Reichen. Bei ihren Geldbeutel, da hört allens auf, selbst das Christentum, das uns' Herr Pastor doch so schön predigen kann. Und als Jochen Friederichsen in seinen Kuhstall mal ein jungen Mann steht, der die Kühe melkt, da slägt er ihn halbtot und smeißt ihn dann auf'n Wagen und junkeriert mit ihn in die Stadt zum Amtmann. Auf diese heimtückische Manier is ein furchtbar guten und netten Mann mit einmal ins Loch gekommen, der doch weiter nix getan hatte, als daß er aus Versehen in ein fremden Kuhstall geraten war. Er hat natürlicherweise gedacht, daß er in sein Vater sein Stall wär. Abersten die Kruke geht so lange zu Wasser, bis daß sie kaput is, und als Jochen Friederichsen im Herbst das erste Sweinslachten feierte, wo auch eine Kuh mit mang war, da aß er so viele Smalzapfelns und frische Leberwurst, daß er mit einemmale perdüh war und ein richtigen Slag kriegte. Zwei Stunden nachher war er mausetot, und seine Frau, die gerade all das schöne Kuh- und Sweinefleisch eingesalzen hatte, daß alle Tonnens in Keller voll waren, die mußte in denselben Momang auch noch Kuchen fürs Leichenbier backen. Friederichsen war ein großer Bauer gewesen; da mußten woll an die zwanzig verschiedenen Sorten Kuchens gemacht werden. Und die Wächters, die bei die Leiche Wache hielten, die kriegten am Tage Kalbsbraten und Rotwein und abends gebratene Klöße mit Speck und nachts Kaffee und Kuchen und Punsch. Ja, die Wächters, die lebten fein, und dazumalen wollte ich auch bei Friederichsen wachen und meldete mir dazu, was doch ein Zeichen von mein guten Gemüt war, weil daß er auch von mich was Böses gesagt hatte. Abersten als ich mir bei Frau Friederichsen anbiete, da faßt sie mir an den Hals und smeißt mir so ohne Sangfassong aus die Tür und sagt, daß ihre Knechtens bessere Wächter wären als ich, und schimpferiert so fürchterlich hinter mich her, daß ich ordentlich swiemelig in Kopf wurde. Weil ich nun aber ein gutes Gemüt hab, bin ich still weggegangen, und die Wächters, die sitzen neben die Stube, wo Herr Friederichsen liegt, und snacken und trinken und essen. Natürlicherweise sind sie vergnügt, von wegen das gute Essen und Trinken, und die Mädchens, die in die Backstube stehen und Kuchen ausrühren, die sind auch lustig. Denn ein feines Leichenbier mit Braten und Wein und Kuchen, das is ümmer ein fermoses Fest gewesen, worauf sich jedermann in Ehren freuen kann. Drei Tage und drei Nächte hatte das Leichenwachen all gedauert, und an den vierten Tag sollte das Fest und die Beerdigung sein. Vielleicht, daß nun die Knechtens und Mädchens ein büschen släfrig geworden waren: ich weiß da nix von, abers denken kann ich mich das. Da war viel Arbeit ins Haus gewesen: sie hatten auch zwei Kälber geslachtet und viele Tauben und Hühners, weil die Verwandtschaft so groß war, und beim Leichensmaus doch ordentlich gegessen wird. Da kommt der Tischler mit die Leichenkiste und geht in die Stube, wo Jochen Friederichsen liegt, und will ihn in den Sarg legen. Mit ein furchtbar dummen Gesicht kommt er wieder aus das Zimmer, denn Jochen war nich da!«

Mahlmann schwieg. Er hatte sein Leibgericht behaglich aufgegessen und reichte mir jetzt die Schüssel.

»Er war nicht da?« wiederholte ich, starr vor Erstaunen. »Wo war er denn?«

Der Alte wischte sich mit einem rotbaumwollenen Tuche den Mund ab. »Stina kann gut Klöße braten!« bemerkte er wohlwollend. »Bloß, da muß ein büschen mehr Speck ein sein, und in die Klöße ein büschen mehr Eier. Denn is es ein Essen für'n dänischen König!«

»Aber Mahlmann!« rief ich verzweiflungsvoll, »wo war denn Jochen Friederichsen? Du mußt es uns sagen!«

Der alte Mann zuckte die Achseln. »Das hat er mich ja auch nich gesagt, wo er war, da weiß ich wahrhaftig kein Wort von. Jochen Friederichsen lag nich mehr auf sein Totenbett, und all die Kuchens und all die Bratens waren umsonst gebacken und gebraten, denn da konnte kein Leichenbier sein, wo die Leiche mit einemmal einen kleinen Spaziergang machte!«

»Sie mußte aber doch wiederkommen!« bemerkte einer meiner Brüder. Aber Mahlmann antwortete nicht weiter, sondern sah starr auf die weißgetünchte Wand, an der die Tonne runde Figürchen malte. »Das war slimm für Frau Friederichsen!« sagte er dann. »Die hatte sich ümmer so viel eingebildet und meinte wunder was sie vornehm wär, nu kriegte sie nich mal ein ordentliches Leichenbier for ihren Mann, und sie konnte die Kuchens an die Sweine geben. Und dann kam noch all der Snack aus'n Dorf. Die Leute sagten natürlicherweise, Friederichsen wäre gar nich tot, er hätt man bloß so getan; und nu war er ausgekratzt nach Merika, wo all die swarzen Heidens sind. Da wollt er sich ne neue Frau nehmen oder auch zwei, gerade so, wie das da Mode war. Ja, das sagten die Leutens, und Mutter Friederichsen mußte allens mit anhören und konnte nich sagen: O ihr vermaledeiten Lügenbeutels!«

Es dauerte eine ganze Weile, bis wir merkten, daß Mahlmann unter keiner Bedingung den Schluß seiner Geschichte erzählen wollte. Wir baten, flehten, schmollten: Mahlmann blieb ungerührt und sprach mit unbefangener Miene von etwas anderem. Da gingen wir denn endlich in hellem Zorn fort und gelobten uns, den abscheulichen alten Mann fürs erste nicht wieder zu besuchen, und wir führten unseren Vorsatz auch aus. Allerdings mehr zufällig, denn es kam damals eine Seiltänzergesellschaft in unsere Stadt, deren Leistungen uns so entzückten, daß wir unseren alten Mahlmann ganz darüber vergaßen. Wenn wir auch nicht immer in das Innere des vielfach geflickten Zeltes eintreten konnten, so war es doch ein köstlicher Zeitvertreib, stundenlang vor dem Künstlertempel zu stehen und andachtsvoll die dicke Frau an der Kasse oder den klugen Pony Zampa oder die reizende Miß Kitty anzustarren. Und nach den Seiltänzern kam der General Montecucculi. Er war gerade so groß wie unser dreijähriger Bruder, trug eine wundervolle Uniform und erzählte auf einem Tische stehend mit piepsiger Stimme, daß er in Eckernförde geboren sei. So kam es, daß Wochen vergingen, ehe wir wieder an Mahlmann dachten. Erst als in unserem Städtchen ein sogenannter Pferdemarkt war, an dem sich aber nur etliche magere Kühe und eine Frau mit geräucherten Aalen beteiligten, fiel mir der Alte wieder ein; denn er hatte eine besondere Leidenschaft für geräucherte Aale. Der Rest meiner Barschaft wurde also für ein stocksteif geräuchertes Tier ausgegeben, das ich im Triumph durch die Gassen trug. Erhitzt und aufs äußerste mit mir zufrieden langte ich bei Mahlmann an, der vor seinem Fenster saß und meinen Gruß gar nicht erwiderte. Auch die Frage, wie es ihm ginge, fand keine Antwort; erst ein Blick auf den geräucherten Aal löste dem Alten die Zunge.

»Nu? lebst auch noch?« knurrte er. »Gestern da läuteten die Glockens, und ich meinte, du würdest begraben!«

Diese seine Anspielung fand ich höchst ergötzlich und lachte aus vollem Halse.

»Nein, Mahlmann, ich bin es nicht gewesen – das war ja der alte Lorenzen; du weißt, der alte, krumme, der immer so viel Branntwein trank!«

»Na, denn kommst du vielleicht das nächste Mal dran!« brummte Mahlmann.

Ich nickte gleichmütig. Viel zu oft hatte ich Tote gesehen und den Begräbnissen nachgeblickt, als daß der Gedanke ans Sterben meine Nerven erregt hätte. Aber ein anderer Gedanke durchzuckte mich blitzschnell, und anstatt dem Alten den geräucherten Aal zu überreichen, legte ich den Leckerbissen auf die entfernteste Fensterbank.

»Was tust du denn?« fragte Mahlmann, der jede meiner Bewegungen mit Argusaugen beobachtet hatte.

Ich machte ein gleichgültiges Gesicht. »O, ich wollte dich man bloß fragen, ob du nicht ein kleines Stück Papier hättest. Ich möchte den Aal einwickeln und an unsre Brotfrau schenken – du weißt, an Trina. Sie mag so gern Geräuchertes!«

»Als wenn das gesund wär!« murrte der Alte. »Alte Weibers und geräucherten Aal, das paßt nich zusammen! Da kann Trina den Tod von kriegen, und wer ihr dann den Aal geschenkt hat, der kommt ins Loch. Ja, so is das mit die neumodischen Gesetzens; da kann man slecht bei wegkommen!«

»Gestern hat Trina einen geräucherten Aal gegessen, ich hab's selbst gesehen; da kann sie diesen auch vertragen!« erwiderte ich.

Der Alte seufzte. »Ja, denn geh man zu Trina; die magst du doch lieber leiden als mir. Und ich weiß so ne feine Geschichte! So ne Gespenstergeschichte, wo siebenundvierzig Geisters mit einemmal aus die Erde kommen – reinemang aus die Erde. Soll ich dich ein büschen davon verzählen?«

Ich schüttelte den Kopf. Die Gespenstergeschichten hatten ihre zwei Seiten, eine helle Tag-, aber auch eine entsetzliche Nachtseite. Auch hatte ich mir etwas andres vorgenommen. »Weißt du wohl, Mahlmann, daß Hinrich gesagt hat, Jochen Friederichsen wäre gar nicht wieder aufgewacht, nachdem er drei Tage tot gelegen hatte? er sagt, du hättest mal wieder gelogen!« Mahlmanns Augen sprühten vor Zorn. »Als wenn Hinrich davon was wüßt!« sagte er verächtlich. »Der war dazumalen ja kaum aus die Wiege und gerade so'n Dösbaddel als nu!«

Die Abneigung Mahlmanns gegen unseren Kutscher Hinrich war uns bekannt und eine Quelle großer Belustigung. »Er sagt aber, daß Jochen Friederichsen damals gleich tot gewesen ist, rief ich, und –«

Mahlmann schlug mit der Hand auf den Tisch. »Hab ich gesagt, daß er nich tot war? Meine Zeit! tot war er, und tot blieb er; und das war ja der Spaß davon, daß die Leute sich die Zunge aus'n Mund snackten und doch nich wußten, wo Friederichsen hingekommen war. Und die Geschichte kam in die Zeitungens, und der dänische König hat sie auch gehört und über Friederichsen sein Verswinden so mit'n Kopp geschüttelt, daß ihn die Krone mit eins abgefallen is!«

Der Alte sah einen Augenblick starr vor sich hin; dann lachte er ein wenig. »Was nich allens passieren kann! Von diese Geschichte is viel gesnackt worden, abersten als Friederichsen nich wiederkam, da wurde der Sarg auf'n Boden gestellt, und die Wirtschaft ins Haus und auf'n Hof ging weiter. Zuerst hatte Frau Friederichsen woll zwanzig Spezies Belohnung versprochen für den, der ihren Mann wieder brächte; aber kein Mensch fand ihm, und so ging allens allmählich weiter. Weihnachten kam, und denn das Mistfahren, und denn Ostern, und denn die Heuernte, und denn die Weizenernte. Und zwischendurch hatte Frau Friederichsen noch zweimal Sweinslachten gehabt, und die Knechtens und Mädchens hatten ordentlich Speck und Grütze gegessen und viel von das Swein- und Kuhfleisch, das unten in Keller in große Tonnens eingesalzen stand. Und eine große Tonne war da, da hatte Frau Friederichsen die besten Stücke von die Kuh und das Swein in Salzlake gelegt, und da wollte sie in Herbst bei. Abers als ihr Bruder sich aufhängte, weil er nich wußte, ob er sein Geld in Papierens oder in Häusern anlegen sollt, da ging Frau Friederichsen doch an die beste Tonne, weil sie ihrer Swiegerin ein gutes Stück fürs Leichenbier schicken wollt. Abersten da war gar kein Kuhfleisch mehr ein; bloß Jochen Friederichsen, der stand in die Salzlake und war so gut verkonserviert, daß jedermann ihn direktemang erkannte!«

»O Mahlmann, das hatten die Diebe getan!« rief ich entsetzt.

Der Erzähler sah mich listig an. »Da weiß ich nix von, Kind! Ich bin nich beigewesen, als sie ihm fanden; abersten die Leutens sagen, daß Frau Fliederichsen beswiemelt war, als sie ihren Mann mit einmal wiedergefunden hat. Ja, so sind die Weibers! Erst schreien sie, wenn einer tot bleibt; und wenn sie ihm wieder finden, dann mögen sie das auch nich! Abers sonsten war die Frau ganz vernünftig geworden. Als ich hinging und fragte, ob ich nu nich ein büschen Leichenwach halten sollt bei Herrn Friederichsen, da is sie ganz manierlich gewesen, hat mich ein paar Spezies geschenkt und ein paar dicke Würste. Und was so gute Freunde von mich gewesen sind, die haben auch allerlei gekriegt; abers gewacht haben wir nich. Die Familie hat gemeint, wir sollten uns man nich in Ungelegenheiten setzen, und Friederichsen is flink eingegraben worden. Das is ümmer das beste, wenn man nich soviel Snackerei von ein kleinen Spaß macht; das hätten sie man früher einsehen sollen!«

Als ich Mahlmann jetzt den geräucherten Aal verehrte, war er sehr befriedigt und versprach mir noch eine schöne Geschichte zu erzählen, wenn ich ihm bald wieder etwas Gutes brächte. Dieses Versprechen hat er auch gehalten. Aber die Erzählung von dem verschwundenen Herrn Friederichsen wollte er uns niemals wiederholen; aus welchem Grunde, konnten wir nicht erfahren. Später habe ich in alten Akten dieselbe Geschichte wieder gefunden; sie war aber so umständlich und langweilig erzählt, daß ich Mahlmanns Bericht den Vorzug geben möchte. Eines aber ging aus den langweiligen Akten klar hervor, daß unser Freund Mahlmann Herrn Friederichsen in die Salzlake gesteckt, und daß er zu den Leuten gehört hatte, die so viel Gemüt hatten und so schöne Verse dichteten.


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