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Poltern

In einer Ecke unseres Gartens war ein wüster Fleck. Dahin brachten die Mädchen alles, was ihnen »ganz von selbst« unter den Händen entzwei gegangen war: Wasch- und Kochgeschirr, Tassen, Teller, Flaschen und Gläser. Man sollte nun denken, daß diese Ecke bald übervoll gewesen wäre, denn was wird nicht im Laufe eines Jahres in einem großen Haushalt alles zerschlagen! Aber das war nie der Fall. Im Gegenteil: die Ecke war meistenteils leer, ja es konnte sogar vorkommen, daß unsere Mutter nach einem Krug, einem Steintopf suchte, den sie vor einigen Stunden noch anscheinend lebensfrisch in der Küche gesehen hatte, und der jetzt wie vom Erdboden verschwunden war.

»Er war doch noch ganz heil,« seufzte die Mama, und die Köchin zuckte die Achseln.

Heinrich sagte, er hätte einen Riß und ginge allernächstens doch kaput! Da hat er ihn lieber zum Poltern mitgenommen.

Poltern! Es gab kein schöneres Vergnügen. Irgendein Paar wollte sich morgen in den Stand der heiligen Ehe begeben, da wurde heute Abend vor dem Hause gepoltert, und zwar in des Wortes verwegenster Bedeutung. Alles, was von Ton, Porzellan und Glas war, wurde an oder vor die Haustür der glücklichen Braut geworfen, und wer die Sache als Kenner betrieb, der füllte die Flaschen und Töpfe mit Wasser, weil sie dann noch einmal soviel Spektakel machten. Dazu mußten sie aber noch wasserdicht sein, und deshalb suchte Mutter in ziemlich erregter Stimmung nach ihrem Kruge, der nach ihrer Ansicht noch zehn Jahre hätte leben können.

Der Meister im Poltern war Heinrich, einer der älteren Brüder. Er wußte von jedem Polterabend in der ganzen Stadt, und überall beteiligte er sich mit entsetzlichem Geklirr. Es gibt aber stets Menschen, die ein bißchen Spektakel nicht vertragen können, und deshalb hatte unser guter Bürgermeister nicht allein das Poltern verboten, sondern – und das war wirklich häßlich – auch den Polizeidiener Weber beauftragt, jeden Polterer einzufangen und in den Bürgergewahrsam zu stecken. Ins Loch! nannten wir's, und mit gemischten Gefühlen dachten wir darüber nach, ob es wohl angenehm sein würde, unser junges Leben im Loch zu verbringen. Wir waren nämlich nicht ganz sicher, wie lange die Strafe der Einschließung dauerte. Einige unserer Spielgefährten meinten, mehr als zehn Jahre Gefängnis bekäme man nicht fürs Poltern. Andere hatten gehört, wer einmal im Loch säße, käme auch sobald nicht wieder heraus; man könnte vergessen werden im Gefängnis, und wen man jung hineingeworfen hätte, der käme manchmal erst auf Krücken wieder ans Tageslicht. Das waren nun eigentlich keine verlockenden Aussichten; dennoch polterten wir ruhig weiter und stoben wild auseinander, wenn es hieß: Weber kommt! Aber während wir das Schelten des Polizisten Weber in der Ferne hörten und eilig eine dunkle Seitengasse hinabflogen, dachten wir doch auch wieder mit einem Gefühl der Beruhigung daran, daß wir unser Gefängnis jedenfalls schon kannten, und daß wir uns also nicht in unbekannte Schrecken begeben würden, wenn uns Weber wirklich einfinge.

An des Bürgermeisters Geburtstag spielten wir nämlich mit seinen Jungen Versteckens im Gefängnis. Die Dienstwohnung des städtischen Oberhaupts befand sich, ebenso wie die Gefangenenzellen, im Rathause, das noch bis vor einigen Jahren mitten auf dem Marktplatze der kleinen Stadt stand. Es war ein windschiefer großer Kasten aus dem Ende des siebzehnten Jahrhunderts, der zugleich zur Behausung des obersten städtischen Beamten wie zur Aufbewahrung der Feuereimer und Feuerleitern diente. In den oberen Räumen tagte der Magistrat; unten und auf einem unheimlichen Boden befand sich eine Reihe von kleinen Gefangenenzellen. Die unteren waren uns die liebsten, wenn sie sich auch nicht gerade durch kostbare Einrichtung auszeichneten. Ein mit Stroh angefüllter Kasten bildete das Lager, und ein großer Haken diente zum Aufhängen der Kleidungsstücke. Da sich kein Stuhl in der engen Zelle befand, mußte der Gefangene eigentlich immer auf dem Strohbett liegen, wenn er es nicht vorzog, zu stehen und aus dem kleinen, vergitterten, scheibenlosen Fenster auf den Marktplatz zu blicken. Wenn wir also mit des Bürgermeisters Söhnen durch diese geheimnisvollen Räume huschten, dann stellte sich wohl einer von uns an eins der kleinen Gitterfenster, schrie laut und jämmerlich und zog dadurch eine Menge Mütter mit kleinen Kindern an die Gefängnisseite des Rathauses, die, mit starren Augen zu uns hinaufblickend, sich natürlich dachten, der Bürgermeister mache sich die besondere Geburtstagsfreude, eigenhändig einen Gefangenen abzustechen. Unsere Gesichter waren durch die winzigen Zellen nicht zu erkennen, zum Überfluß hingen auch noch die Feuerleitern davor, und wir erreichten es mehr als einmal, daß etwa dreißig bis vierzig Menschen vor der einen Zelle standen, die angstvoll und doch mit dem festen Vorsatz, sich auch das schrecklichste Schauspiel nicht entgehen zu lassen, unserem Schreien lauschten, bis Lauritzen, der zweite städtische Polizeidiener, um die Ecke des Rathauses blickte. Dann wurden wir natürlich still, und da er als Däne die wehleidigen Erklärungen der versammelten Frauen und Kinder nicht verstehen konnte, so blieben unsere wilden Seufzer vielen ein ungelöstes Rätsel. Manchmal war übrigens doch eine der Zellen besetzt und mit einem großen Vorlegeschloß verschlossen. Nach langer, flüsternder Beratung fragten wir dann durch die Tür den Gefangenen nach seinem Namen, und wie viele Menschen er umgebracht hätte, doch kann ich mich keiner sehr befriedigenden Antwort entsinnen. Nur einmal – aber das ist eine Geschichte für sich. Hin und wieder sahen wir auch vom Marktplatz aus ein Gesicht gegen die Eisengitter gedrückt; zur Unterhaltung waren die Gefangenen aber selten geneigt, und weil sie so still und verdrießlich schienen, nahmen wir wohl mit Recht an, daß der Aufenthalt in der Zelle nicht besonders erfreulich sein könnte. Und doch polterten wir weiter, und die Bürgermeisterjungen waren noch viel unartiger als wir, wie alle Leute sagten, ein Urteil, das uns mit Rührung über unsere eigene Vortrefflichkeit erfüllte, uns aber, ich muß es leider bekennen, nicht auf den Pfad der Tugend leitete, sondern nur das Gefühl gab, wir hätten, wie die katholischen Heiligen, einen Überschuß guter Taten im Himmel stehen, von denen wir nach Belieben verbrauchen könnten.

Da erschien plötzlich im Wochenblatt, das jeden Sonnabend herauskam, und das seinem Titel nach versprach, für Intelligenz und Unterhaltung zu sorgen, ein Edikt des Bürgermeisters. Ob es sich an die Intelligenz der Bürger wandte, weiß ich nicht; es schädigte aber unsere Unterhaltung, da es das Poltern mit strengen Worten ein für allemal verbot. Wahrscheinlich war etwas Gesetzwidriges an irgendeinem Polterabend geschehen, etwas, woran wir nicht beteiligt waren, und wofür wir nun büßen mußten. Und wieder drohte der Bürgermeister mit dem Gefängnis allen denen, die beim Poltern vom Polizeidiener Weber ergriffen werden würden, mit dem Zusatze, daß diese Gefängnisstrafe verschärft sei. Verschärft! Es gruselte uns doch leise, und wir dachten voller Abneigung an den holsteinischen Kollegen Lauritzens, an den Polizeidiener Weber. Der war sehr viel unfreundlicher als der Däne, er war groß und stark, konnte schnell laufen und hatte so große rote Hände, daß der Gedanke, von ihnen gepackt zu werden, selbst den größeren Brüdern nicht erfreulich erschien. Wir hatten schon öfter gesehen, wie er ein paar arme Sünder vor sich hergestoßen und in seiner derben holsteinischen Sprache ausgescholten hatte; vielleicht schleppte er uns nun auch bald davon! Und dabei war die Gartenecke herrlich voll, nicht bloß von Scherben, sondern auch von unversehrtem Geschirr. Im Hinblick auf ein bevorstehendes großes Hochzeitsfest hatte Heinrich schon lange gesammelt und sich von verschiedenen Freunden und Freundinnen leere Weinflaschen, Buttertöpfe und andere Herrlichkeiten schenken lassen. Besonders stolz war er auf eine Suppenterrine. Er hatte sie auf einem gelegentlich unternommenen Raubzuge im Hause der Großeltern mitgenommen und lächelte vergnügt, als wir durchaus keinen Schaden an ihr entdecken konnten. Der Deckel hätte einen Riß, erklärte er, und Großvater mag nichts Kaputes leiden! Obgleich wir diese Abneigung unseres kurzsichtigen Großvaters noch niemals bemerkt hatten, war uns Heinrichs Grund doch sehr einleuchtend. Was aber nützten uns alle Suppenterrinen der ganzen Stadt, wenn uns Polizeidiener Weber als strafender Engel der Gerechtigkeit das Vergnügen verdarb, den Brautleuten unsere Teilnahme zu bezeugen? Denn man glaube nur nicht etwa, daß das Poltern im Publikum unbeliebt gewesen wäre: im Gegenteil, die meisten Bräute faßten es als eine Unhöflichkeit auf, wenn an ihrem Polterabend kein Lärm vor dem Hause entstand, und die Aufforderung: Nicht wahr, ihr poltert doch bei mir? war so oft an uns gerichtet worden, daß wir uns einer Nachlässigkeit schuldig zu machen glaubten, wenn wir einem Polterabend fern blieben. Besonders die wohlhabenden Leute, denen eine zerschlagene Haustür keinen Kummer bereitete, luden uns geradezu zum Poltern ein, wenn sie auch der Obrigkeit gegenüber diese Einladung nicht eingestehen wollten. Bei dieser großen Hochzeit nun, die in der Stadt bei dem wohlhabenden Landwirt Hermenstein stattfand, mußte unbedingt gepoltert werden, trotz des Verbots und trotz des Polizeidieners. Heinrich war Hausfreund bei Hermensteins. Zu jedem Schweineschlachten wurde er feierlich eingeladen; neulich hatte er sogar den Schwanz eines der Schlachtopfer halten dürfen, ein Vertrauensamt, um das er nicht wenig beneidet wurde. Und nun sollte er sich am Polterabend Fräulein Hermensteins teilnahmlos verhalten, er, der beste Polterer der Stadt? Es ging nicht, wirklich nicht, wir Jüngeren sahen das nur zu deutlich ein, und wir sahen uns auch schon in der düstersten Zelle des Rathauses, zu verschärfter, das heißt lebenslänglicher Kerkerhaft verurteilt.

Wir Kleinen konnten wohl auch wie der Wind laufen; doch gegen Bruder Heinrich waren wir ungeschickte Tölpel. Mit einem merkwürdig gewandten Körper begabt, verstand er es, mit indianerartiger Geschicklichkeit zu verschwinden. Andere Jungen machen Lärm, wenn sie laufen und klettern; er glitt unhörbar über eine Mauer oder schnellte sich, wie von Federn getragen, so außer Schußweite, daß es keinem Menschen einfiel, ihn zu verfolgen. Deshalb wußten wir auch genau, daß Polizeidiener Weber trotz seiner langen Beine Heinrich niemals einfangen würde. Wenn jemand erwischt wurde, so waren wir es, dies wußten wir sehr wohl; dennoch fiel es uns keinen Augenblick ein, diese Gelegenheit, unseren Mut zu beweisen, unbenutzt vorübergehen zu lassen. Heinrich konnte uns auch gar nicht entbehren, denn wir trugen die meisten Wurfgeschosse und mußten sie ihm nachher zulangen. Kam doch auf sicheres Zielen und einen geschickten Wurf sehr viel an. Gerade vor die Haustür, vielleicht auch an sie selbst, sollten die Scherben fliegen, niemals an die Fenster. Heinrich würde wegen solcher Ungeschicklichkeit sich selbst verachtet und vielleicht niemals wieder gepoltert haben. Deshalb begnügten wir Kleinen uns auch stets mit leeren Tintenflaschen und anderen leicht zu werfenden Sachen, die auch ihr Spektakelchen machten und doch wenig Unheil anrichten konnten.

Fräulein Hermensteins Hochzeit war Ende Oktober. Diese Jahreszeit hatte, der dunkeln Abende wegen, ihr Angenehmes. Straßenbeleuchtung kannte unser Städtchen natürlich noch nicht, und es war zu hoffen, daß uns Weber gar nicht sehen würde. In diesem Sinne äußerte ich mich gegen Jürgen, der mir achselzuckend erwiderte, daß die dunkeln Abende für den Polterabend allerdings sehr vorteilhaft wären, für das Gefängnis aber nicht.

»Wieso?« fragte ich mit einem Gefühl banger Ahnung. Jürgen versuchte ein gleichgültiges Gesicht zu machen. »Man kriegt gar kein Licht im Gefängnis!«

»Gar kein Licht! Muß man immer im Dunkeln sitzen?«

Jürgen nickte finster, und ich wurde sehr nachdenklich. »Jürgen,« fragte ich besorgt, »wir dürfen doch Weihnachtsabend nach Hause gehen? Das wird Weber gewiß erlauben!«

Jürgen schüttelte den Kopf. »Wer gefangen ist, ist gefangen!«

»Aber unser Weihnachtsbaum, Jürgen, und die Geschenke, und das Kuchenbacken?«

Jürgen putzte sich lange die Nase, dann erzählte er mir, indem er mühsam versuchte, seiner Stimme Festigkeit zu geben, eine Geschichte, die er gerade gelesen, und die unser Freund, Franz Hoffmann, geschrieben hatte. Der Held war ein edler, unbeschreiblich edler Knabe, der von seinen Feinden ins Gefängnis geworfen worden war. Er saß auf einem Strohbündel und wurde aus einem Knaben ein Mann, aus dem Mann ein Greis, und niemand kümmerte sich um ihn. Aber er blieb immer gut und freundlich, und weil er stets auf einem Flecke saß, wuchs sein Bart auf die Erde und von der Erde, wie Efeu, an der Wand des Gefängnisses entlang. Und als er über hundert Jahre so gesessen hatte, und seine holde Freundlichkeit stets dieselbe blieb, da öffnete sich endlich die Tür seines Kerkers, und die Befreier kamen: er sollte König eines reichen Landes werden. Er aber sagte – ja was der edle Greis sagte, habe ich niemals erfahren. Ich weinte schon längst Ströme von Tränen, und Jürgen, der mich zuerst verächtlich angelächelt hatte, schluchzte ebenso laut wie ich.

Am Polterabend Fräulein Hermensteins standen wir rechtzeitig auf unserem Posten. Nicht weit von dem großen hell erleuchteten Hause war ein Neubau mit einem Gerüst. Dahin hatten wir alle unsere »Pottscharben« gebracht, da war auch eine große Gießkanne mit Wasser, aus der die noch Wasser haltenden Gläser und Töpfe gefüllt wurden. Zuerst begann eine kleine Plänkelei: Tassen, Gläser und einige Flaschen wurden gewissermaßen versuchsweise geworfen, aber es war nichts Ordentliches. Wegen solcher Kleinigkeit setzte sich Polizeidiener Weber nicht in Bewegung. Einem Gerüchte nach sollte er in einer dunkeln Ecke des Festhauses stehen, aber wir sahen ihn nicht; und auch Heinrich war noch nicht erschienen, obgleich er uns gebeten hatte, rechtzeitig auf dem Platze zu sein. Wir warteten noch eine Zeitlang – endlich stand der große Bruder vor uns, und nun ging der eigentliche Spaß los. Atemlos vor Aufregung reichten wir Heinrich Töpfe, Glaser und Krüge, alle mit Wasser gefüllt: prasselnd fielen sie immer auf denselben Fleck nieder und machten einen wahrhaft höllischen Lärm. An den hell erleuchteten Fenstern des Brauthauses zeigten sich Gestalten: man war entschieden erbaut von dieser Huldigung. Aber auch die rächende Gerechtigkeit nahte sich. Es hatte sich eine größere Volksmenge angesammelt, und wahrscheinlich fielen einige spöttische Bemerkungen über Webers Leistungsfähigkeit; denn plötzlich hörte man sein lautes Schelten auf dem Platz, und die blanken Knöpfe seiner Uniform blinkten so unheimlich nahe bei uns, daß es meiner ganzen Selbstbeherrschung bedurfte, unser schönstes Polterstück, Großvaters Terrine, nicht fallen zu lassen. Heinrich hatte sie bis zuletzt verwahrt, und auch jetzt, wo die Gefahr in nächster Nähe war, schien er sich nicht von ihr trennen zu können. Er schob mich vor sich her und warf einen Wasserkrug so nahe an Webers Kopf vorbei, daß dieser zurücktaumelte und erst nach einigen Sekunden mit wilden Flüchen nach dem Neubau stürzte. Aber dort waren wir nicht mehr. Vom Dunkel begünstigt standen wir jetzt hart vor Hermensteins weit geöffneter Tür.

Wir konnten in den hell erleuchteten Hausflur sehen, wo viele Mädchen herumhantierten, und wo Berge von Butterbrot und Kuchen und lange Reihen dampfender Punschgläser standen. Ein Mädchen mit leeren Gläsern kam aus den Zimmern, um gleich wieder gefüllte fortzutragen, und aus den Fenstern tönte Musik und Lachen. Ich sah und hörte freilich von alledem nicht viel; meine beiden Arme hielten die bis zum Rande mit Wasser gefüllte Terrine umklammert, und ich hatte Mühe, mich mitten in dem Gedränge aufrecht zu halten. Und nun – das Blut stockte mir in den Adern – kam Weber wieder. Er fluchte sehr laut und ging sehr langsam. Er wird dich sehen, dachte ich! dann gibt es lebenslänglich Gefängnis, keine Weihnachten und einen langen Bart! Aber Weber sah uns nicht. Er stand in der Haustür, und seine rote Nase bog sich wohlgefällig herunter zu einem Glase mit rotem Inhalt. Wie in halber Zerstreuung streckte er die Hand aus nach der Wange eines drallen Mädchens – da fliegt ihm die Terrine klatschend vor die Füße, daß er wild in die Luft springt und sein Punschglas fallen läßt. Ich sehe und höre nichts mehr; ich laufe nur, weiter und immer weiter, bis Heinrich, der mich an der Hand gefaßt hat, mir zuruft, ich solle doch kein »Bangbüx« sein. Er war gar nicht stark gelaufen, und jetzt blieb er stehen und lachte.

»Das Wasser sprang ihm bis in seinen Punsch!« rief er. »Na, und umziehn muß er sich auch!«

»Weshalb hat er uns denn nicht gefangen?« fragte ich noch halb erschreckt.

»Er kann ja nicht laufen! Hast du's denn nicht gesehen, daß er hinkt? Kein Mensch sollte es wissen, aber sein Junge, der Krischan, sagte heute etwas in der Schule davon, daß sein Vater krank wäre; er wollte aber nicht verraten, was ihm fehlte. Heute Nachmittag kaufte ich ihm für einen Bankschilling Lakritzen, da sagte er, sein Vater hätte ein dickes Knie, und als ich ihm noch mein Butterbrot schenkte, kam die Wahrheit an den Tag. Weber hat eine Schweinsbeule am Knie und Grützverband darauf, da soll er's wohl lassen, uns einzufangen. So haben Hermensteins doch einen anständigen Polterabend bekommen!« setzte er stolz hinzu.

Am anderen Tage war die große Hochzeit, an der vierundzwanzig Stunden lang gegessen und getrunken wurde. »Zufällig« standen wir vor dem Hause und sahen in die Fenster. Da rief uns der alte Hermenstein herein. Wir bekamen so viel Gutes aufgetischt, daß wir es gar nicht bewältigen konnten, wir mußten uns auch noch die Taschen vollstecken. Vor allem aber war Heinrich der Held des Tages. Keiner sagte weshalb, aber alle klopften ihm auf die Schulter und meinten, aus ihm würde noch einmal etwas Ordentliches werden. Und der alte Herr Hermenstein konnte sich gar nicht beruhigen, so viel mußte er lachen und unserem Heinrich zunicken und zutrinken, bis es diesem ungemütlich wurde, und er uns ein Zeichen gab, daß wir fortgehen wollten.

»Habt ihr noch Kuchen?« fragte er, als wir auf der Straße standen.

Wir hatten Hände und Taschen voll, und er nahm von jedem von uns einen Teil. »Das ist für Polizeidiener Weber!« sagte er. »Sein Bein ist immer, noch nicht besser, und es soll ihm arg weh tun. Ich leg es ihm gleich ins Fenster!«

So geschah es denn auch, und ich glaube, diese süße Spende hat den guten Weber getröstet über die klägliche Rolle, die er am Polterabend gespielt hatte. Jürgen und ich waren aber auch zufrieden, denn ins Gefängnis sind wir nicht gekommen.


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