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In dem Nadelbuch meiner alten Tante steckte jahraus, jahrein eine feine, halbverrostete Nähnadel. Durch ihr enges Auge war ein dicker Zwirnsfaden gezogen, so dick, daß man ihn nicht von der Stelle bewegen konnte. Es war überhaupt unbegreiflich, wie der Faden in die Nadel gelangt.
»Diese Nähnadel hat der liebe Gott eingefädelt!« pflegte meine Tante zu sagen, wenn man sie nach der Nadel fragte. »Ja, in Wahrheit, der liebe Gott hat's getan, und jedesmal, wenn ich einmal verzagt oder traurig gewesen bin, sehe ich die Nadel an. Dann weiß ich, er, ohne dessen Willen kein Sperling vom Dache fällt, hat auch mich nicht vergessen! Ich war noch ein junges Mädchen, als ich mich zum Besuch bei einer Freundin aufhielt, die einen achtjährigen Knaben besaß, welcher der Stolz und die Wonne seiner Eltern war. Damals gab's noch keine Eisenbahnen; man fuhr überall mit dem Wagen hin, und die Wege waren herzlich schlecht. Als ich endlich wieder abreiste, brachten die Eltern und Ernst, ihr Sohn, mich nach der etliche Meilen entfernten Poststation, einem kleinen Städtchen mit elendem Pflaster. Hier geschah es, daß der Wagen mitten auf der Straße niederbrach, und daß wir alle hinausgeschleudert wurden. Den Eltern und mir geschah nichts, der Junge aber war gegen einen Steinhaufen geflogen und lag bewußtlos und blutüberströmt da – ein Bild des Todes. Mit verzweiflungsvollem Schrei warf sich die Mutter neben ihn an die Erde, und mit zitternden Fingern – kaum wagte er das geliebte Haupt zu berühren – untersuchte der Vater seinen Liebling. In diesem Augenblick kam der Schäfer des Ortes, der, wie wir nachher hörten, in Behandlung von Wunden sehr geschickt war. Er beugte sich über das bewußtlose Kind und rief laut: »Schnell Nadel mit Faden, aber schnell, schnell, um Gottes willen!«
In meiner Kleidertasche befand sich dies Nadelbuch, darin eine ganz feine Nadel und etwas loser, grober Zwirn. Hastig griff ich nach beiden und versuchte, den dicken Zwirn einzufädeln. Es gelang natürlich nicht. Ich versuchte vier-, fünfmal, immer noch hoffend, die andern möchten eine andere Nadel oder andern Faden finden. Aber sie knieten fassungslos vor ihrem sterbenden Kinde, und der alte Schäfer raufte sich das Haar, weil er keine Nadel mit Faden bekam, welche die klaffende Kopfwunde des Knaben schließen sollte. Da schrie ich zu Gott: »Hilf mir, Gott, hilf mir in dieser Not! Mein Heiland, verlaß mich nicht!« Ich hatte laut geschrien, und der liebe Gott erhörte mich. – Der dicke Faden war plötzlich, ich weiß nicht wie, in das feine Nadelöhr gekommen, und mit ihm ward die Wunde geschlossen. Ohne Nadel und Faden hätte das Kind sterben müssen – so sagte nicht allein der Schäfer, sondern die Ärzte bestätigten ferner seine Ansicht. Wochenlang lag der Knabe zwischen Leben und Tod; ich aber wußte, daß er leben würde. Er genas, und jetzt ist aus dem Knaben ein tüchtiger Mann geworden. – So habe ich in jungen Jahren die Kraft des Gebetes so deutlich an mir erfahren, daß mich diese kleine Nadel nie verlassen hat. Viele Leute haben mich ausgelacht; niemand aber hat den Faden wieder aus der Nadel ziehen können, und selbst der ärgste Spötter ist still geworden, wenn ich ihm dies kleine Ding zeigte. Und wenn's die Leute nur versuchen wollten, sie würden auch an sich selbst merken, daß Gott sie erhört, wenn sie zu ihm schreien.« –
So erzählte meine Tante, und wir Kinder haben viele Male die kleine, dünne Nadel betrachtet, an der ein Menschenleben gehangen. – Jetzt ist unsere Tante bei dem, an den sie mit der ganzen Kraft ihres reichen Geistes glaubte – manche aber von denen, die diese wahre Geschichte lesen, werden auch mehr als einmal eine so wunderbare Gebetserhörung erfahren haben.