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Vor einiger Zeit hatte ich für abwesende Freunde mehrere Geschäfte in der Sparkasse der großen Stadt, und da diese Geschäfte schwer zu erledigen waren, ich auch öfters warten mußte, so fand ich genügend Gelegenheit, mich umzusehen. Es ist gar kein schlechter Platz, Menschen zu studieren. Da kommt ein armer Postbote und legt fünf Mark zu seinen Ersparnissen; hier steht eine Lehrerin und hat sich zwanzig Mark erübrigt; ein Junge bringt zwei Mark und sieht sich stolz um, ob man ihm auch ansieht, wie reich er ist. Dies alles ist auf der einen Seite, wo die Einlagen gemacht werden; an der andern bekommt man sein Geld wieder ausbezahlt, und auch hier drängen sich die Menschen. Von dem armen, kranken Mann, dem man es ansieht, daß er mit des Lebens Not zu kämpfen hat, bis zu dem aufgeschwemmten Gesicht des Trinkenboldes, der mit weinerlicher Stimme sein letztes Geld fordert und sein Kassenbuch abgeben muß, sind die verschiedenartigsten Leute vertreten, und mancher könnte wohl eine Geschichte erzählen von dem, was er schon erlebt. – Ganz wunderbar aber war die alte Frau, welche, wie die Beamten sagten, jeden letzten Tag im Monat ihre Einlagen machte. Sie mußte gegen achtzig Jahr alt sein, hatte ein verwittertes Gesicht, schneeweiße Haare und war so zerlumpt, daß alle andern ihr scheu auswichen. Gewöhnlich saß sie in der Eingangshalle, ein rotes Taschentuch aus dem Schoße, und wartete geduldig, bis die Reihe an sie kam, dann stand sie auf, legte eine Handvoll Geld auf die Zahlbank, empfing ihr Buch und entfernte sich schnell. – Schon öfters hatte ich die Alte gesehen, auch bemerkt, daß sie zehn, zwanzig, ja dreißig Mark in die Sparkasse brachte, und unwillkürlich darüber nachgedacht, ob sie dies Geld für sich oder für jemand anders einzahle; kein Mensch aber konnte mir Auskunft geben, denn die Kassenbeamten waren schweigsam und durften auch wohl nichts sagen, sonst aber schien niemand sie zu kennen. Aber es war mir doch erstaunlich, an einem Regentage plötzlich von einer Frau angebettelt zu werden, welche derjenigen, welche ich in der Sparkasse gesehen, überraschend ähnlich war. Sie jammerte laut, daß sie kein Geld habe, um Brot zu kaufen, und daß sie neunzig Jahre alt sei. Wir alle, die wir um sie herumstanden, gaben ihr Geld, und sie murmelte einige Segenswünsche. Ich konnte mich aber nicht enthalten, sie zu fragen, ob sie nicht Geld in der Sparkasse habe, worauf sie mich starr ansah und dann in jammervolle Beteuerungen ausbrach, daß sie gar nicht wisse, was eine Sparkasse sei. – Ich hatte sie aber jetzt erkannt und ging mit dem unangenehmen Gefühl heim, wieder einmal einer Unwürdigen Geld gegeben zu haben. – Dann verging einige Zeit. In die Sparkasse kam ich schon lange nicht mehr, und als ich eines Tages doch in dem großen Raume stand, war es, um einen Bekannten abzuholen. Es war der Erste des Monats, ein Tag, wo fast keine Einlagen gemacht werden, und nur an der Auszahlungskasse standen einige Knaben, die sich wohl ihre Ersparnisse holen wollten. Da trat ein Mann in die Halle. Er war groß und sonnenverbrannt und wie ein Schiffer gekleidet. In der Hand trug er ein schmutziges Sparkassenbuch, und fragend blicke er sich um, als wisse er sich nicht recht zu benehmen. Müßig saß ich auf einer der Bänke, und auf mich kam er zu. »Ich hab was gefunden!« sagte er halblaut und unruhig, »gestern abend, als ich nach Hause wollte. Es war in Papier eingewickelt, und die Leute hatten darauf getreten.« Er reichte mir das Buch hin, und ich sah, daß es auf den Namen von Katharine Linn lautete. »Es ist viel Geld darin aufgezeichnet!« fuhr er fort, »viel Geld; und ich kann's doch eigentlich nicht begreifen, gar nicht begreifen!«
Während er sprach, hatte ich in dem Buch geblättert und gesehen, daß es auf elftausendsiebenhundertundfünfzig Mark lautete. Es war seit Jahren in kleineren und größeren Summen hingetragen und die Zinsen immer dazugeschrieben worden.
»Sie müssen das Buch hier abgeben!« bemerkte ich, und der Schiffer nickte.
»Das hat mir mein Freund, der Steuermann auf der ›Johanna‹, auch gesagt. Aber es ist doch eine sonderbare Geschichte: ich heiße nämlich auch Linn und habe eine Tante gehabt, die Katharine hieß und hier wohnte. Früher habe ich ihr Geld geschickt, weil sie mir immer sagen ließ, sie verhungerte bald; nun aber hörte ich lange nichts von ihr, und die Leute, wo sie gewohnt, sagten, sie sei umgezogen und bald darauf gestorben. Ich bin nämlich zehn Jahre in Südamerika gewesen –« setzte er erklärend hinzu, »und erst seit ein paar Monaten hier!« Einer der Jungens, die am Auszahlungsschalter gestanden und nun ihr Geld erhalten hatten, stand plötzlich neben uns.
»Ich kenne Katharine Linn ganz gut!« sagte er. »Sie bettelt und ist furchtbar arm. Sie wohnt in unserer Straße, und die Jungens necken sie, weil sie so sonderbar ist!«
»Dann führe den Mann zu ihr!« riet ich, und der Knabe nickte eifrig. Nachdem der Schiffer Linn also das Buch bei der Kasse eingeliefert hatte, ging er mit seinem Führer davon. Seine Miene war finster und unfreundlich geworden, und wie ich ihn schwerfällig davongehen sah, dachte ich unwillkürlich, er schiene auch kein besonders netter Mann zu sein. Denn so beschränkt sind wir Menschen nun einmal, daß wir ein hübsches, freundliches Gesicht lieber sehen mögen als ein düsteres, dem das Leben seinen ernsthaften Stempel aufdrückte. –
Am Abend desselbigen Tages erhielt ich in meinem eigenen Hause Besuch von dem Schiffer Linn. Er sagte mir gar nicht, wie er meine Adresse erfahren, sondern er ging geradeswegs auf mich zu und sah mich starr an. »Ich wollte Ihnen nur sagen,« begann er in seiner schwerfälligen Weise, »das war meine Tante, und sie hat sich all das Geld zusammengebettelt!«
Ich mußte an die alte Frau denken, welche ich in der Sparkasse gesehen, und die dann mit großer Übung gebettelt hatte. Er ließ mich aber nicht zu Worte kommen.
»Der Junge hatte recht,« fuhr er fort, »sie wohnte in einem alten, schmutzigen Hause in der Pelzstraße, im obersten Stock, in einem dunkeln Loch, zwischen Lumpen und Schmutz!«
»Da sorgen Sie jetzt dafür, daß sie das aufgesparte Geld für sich verwendet!« sagte ich, und der Schiffer zog die Brauen zusammen. »Als ich kam, war's zu spät. Sie hatte ja am Abend das Buch verloren, und die Leute unter ihr hörten sie eine Zeitlang jammern und stöhnen. Nachher war's still – da hatte sie sich aufgehängt – alles um das elende Buch, das ihr gar keinen Nutzen brachte; und als ich die Tür aufbrechen ließ, war sie lange tot!« – »Erhängt!« murmelte ich entsetzt, und er nickte. »Ja, mausetot hat sie sich gemacht, nur, weil sie glaubte, sie hätte kein Geld mehr. Und die Leute sagen, das Geld wäre noch nicht verloren gewesen; sie hätte nur gestehen müssen, daß sie soviel tausend Mark besessen. Ich weiß nichts davon, aber nun sagen die Menschen auch noch, daß ich das Geld jetzt erbe. Du liebe Zeit! Elftausendsiebenhundert Mark, und in einem Strumpf noch siebzig Mark! Und sattgegessen hat sie sich nie; jedes Stück Brot, das sie geschenkt bekommen, wieder verkauft, an den Mann, der Handel mit Bettelbrot treibt. Einundachtzig Jahre alt ist sie geworden, und seit vierzig Jahren hat sie gespart!«
»Sie müssen besseren Gebrauch von dem Gelde machen!« sagte ich, und er sah mich erstaunt an.
»Ich? Meinen Sie, daß ich's nehme? das Geld, wofür meine Tante gelogen und gebettelt hat? Ich hab nicht viel Geld übergespart bei der Schifferei, und elftausend Mark könnten mir schon passen – aber nein!« Er schüttelte heftig den Kopf.
»Wollen Sie das Geld der Sparkasse schenken?« rief ich, und er nickte gleichgültig. »Meinetwegen! Mein Freund, der Steuermann von der ›Johanna‹, sagt, ich soll mir ein kleines Schiff für die Erbschaft kaufen und selbständig werden! Aber ich tu's nicht, das Schiff würde auf der ersten Fahrt untergehen!«
»Der Sparkasse würde ich das Geld aber doch nicht geben,« bemerkte ich. »Sie ist reich genug; geben Sie es dann doch den Armen!« Er fuhr sich mit der Hand übers Gesicht und seufzte.
»Ja, das ist wahr – den Armen könnte man's geben! Aber welchen? Meine Tante hat auch getan, als wenn sie arm wäre, und dann hatte sie viel Geld! Wenn ich's nun den verlogenen Menschen gebe, die es gar nicht verdienen?«
»Das wird man schon herausfinden!« tröstete ich; er aber sah mich zweifelnd an.
»Nun, wir wollen sehen! Eins aber sage ich: Geld macht viele Sorgen!« – Mit diesen Worten ging er, und als ich nachher in der Zeitung einen langen Bericht über Katharine Linns Sparkassenbuch, über ihre Armut und den »glücklichen Erben«, den Schiffer Matthias Linn, las, dachte ich, er würde sich wohl besinnen und das Geld jedenfalls behalten.
Und dann machte ich einmal auf der »Johanna«, einem kleinen schmucken Dampfer, eine Wasserfahrt. Ich stand schon eine Zeitlang neben dem Steuermann, ehe mir einfiel, daß ich schon früher von ihm gehört. Dann aber fragte ich ihn nach dem Schiffer Linn. Der Angeredete warf mir einen schnellen Blick zu und antwortete erst nach längerer Zeit.
»Das ist ein verrückter Kerl!« brummte er. »Hat 'ne Mütze voll Geld geerbt und will sie nicht haben. Der Dummbart konnte nicht 'mal schlafen, als er reich geworden. Und nannte seine Erbschaft immer das Lügengeld. Und was das beste dabei ist: er selbst hat nur zweihundert Mark aufgespart, mit denen er nichts anfangen kann. Aber er fährt lieber als Bootsmann auf'm Kohlenschiff, als daß er von dem Gelde nimmt, das ihm rechtmäßig zukommt! Dummer Kerl!« – Und der Steuermann von der »Johanna« wandte sich verächtlich von mir ab, als wenn ich ebenso »verrückt« gewesen, wie sein Freund. Seit diesem Tage suchte ich nach Matthias Linn, um von ihm das nähere über seine Erbschaft zu erfahren, konnte ihn aber lange nicht finden, bis ich ihm eines Tages begegnete. Er kam von der Sparkasse, trug ein nagelneues Sparbuch in der Hand und sah zufrieden aus. Als ich ihn grüßte, blieb er stehen und nickte mir zu. »Für meine alten Tage!« sagte er wie entschuldigend und wies auf das Buch. »Ich muß doch einen Notschilling haben, damit ich nicht an die Armenkasse falle!«
»Wo ist denn Ihre Erbschaft?« fragte ich, und er lachte.
»Ja, das alte Geld hat mir ordentlich Kopfschmerzen gemacht, bis ich's glücklich wieder los wurde. Denn die Leute wollten ja nicht glauben, daß ich alles hergab und sagten, ich sei ein dummer Kerl, der dümmste auf der Welt. Es mag ja auch wahr sein, daß ich in solchen Dingen eigener bin als die meisten andern Menschen; aber ich kann nichts dabei machen. Ich hab allerhand erlebt, was mich ernsthaft gemacht, und wenn ich auch nicht gelehrt reden kann, so weiß ich doch, was in der Bibel steht. Unser Herr Jesus hat gesagt, wir sollten uns keine Schätze sammeln, die von Motten und Rost gefressen werden, und Sie müssen doch selbst sagen, daß Tante Katharinens Geld schon vom Rost angefressen war. Es fällt mir nicht ein, mir einzubilden, daß ich einen Schatz im Himmel gesammelt, weil ich das Lügengeld fortgab, aber ich konnte nicht anders handeln. Ich bin wieder vergnügt geworden und habe meine gute Gesundheit zum Arbeiten!«
»Wem haben Sie denn das Geld gegeben?« fragte, ich, und Matthias Linn wurde ganz verlegen. – »Ich hab's einem Pastor gegeben, und mit diesem bin ich nachher rundgegangen in der Stadt. Er war ein verständiger Mann, und als er merkte, daß ich das Geld in der Stille verteilen und nicht großartig in die Zeitungen kommen wollte, hat er mir geholfen. Da war ein blinder, alter Mann, der auch noch gelähmte Hände hatte – der ist in ein Stift eingekauft, und nun braucht er nicht mehr zu hungern. Und dann fiel ein Maurer vom Gerüst und war gleich tot. Da hab ich für die Frau und die sechs Kinder etwas ausgesetzt und dann –« Matthias Linn stockte und fuhr sich, seiner Gewohnheit gemäß, mit der Hand übers Gesicht.
»Lieber Gott, elftausendsiebenhundert Mark ist eigentlich gar nichts. Es lief mir durch die Finger wie Wasser, und mit einem Male war's fort. Und die alte Tante hatte jahrelang daran herumgespart, dafür gehungert, dafür gelogen, und in acht Tagen war ich damit fertig! Mein Pastor und ich mußten beide lachen, als wir die Tausende glücklich durchgebracht hatten; hier ein bißchen, dort ein bißchen, und er meinte, ich hätte ihm ein Vergnügen gemacht, wie er es noch niemals gekostet. Aber ich war auch selbst nicht wenig vergnügt, kann ich Ihnen sagen, obgleich ich mit meinem Freunde, dem Steuermann von der ›Johanna‹, etwas auseinandergekommen bin, weil er erklärt hat, ich wäre zu dumm, und er könnte nicht mehr mit mir verkehren. Na, das muß seinen Willen haben, und da ich eine gute Stelle auf dem englischen Kohlendampfer gefunden habe, entbehre ich seine Gesellschaft auch nicht sehr. – Nun leben Sie wohl, und vielen Dank, daß Sie mir so still zugehört haben!«
Langsamen Schrittes ging Matthias Linn davon. Er war schlecht gekleidet; sein Gesicht sah ebenso unfreundlich aus wie sonst, und jeder, der ihm begegnet, mußte ihn für einen sehr groben Gesellen halten. Kein Mensch achtete auf ihn, wie er schwerfällig über die Straße schritt – kein Mensch außer mir blickte ihm nach. Was wäre auch an ihm zu sehen gewesen? Wie oft sieht man nicht einen gewöhnlichen Schiffer? Und dieser war noch dazu dumm gewesen, so dumm, daß sein bester Freund sich von ihm gewandt, so dumm, daß er für diese Welt gar nicht taugte. Noch heutigen Tages fährt Matthias Linn auf dem englischen Kohlendampfer. Der liebe Gott hat ihm zur Belohnung für seine seltene Tat nicht reich, nicht klug, nicht gebildet gemacht; er ist ganz dasselbe, was er früher gewesen: ein einfacher Bootsmann, um den sich niemand kümmert, der einsam lebt, und der vielleicht auch einsam sterben wird. – Und doch glaube ich, daß es viele Leute gibt, die an dem Tage, wo Christus wiederkommen wird, an seiner Stelle sein möchten!