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Es war um die Weihnachtszeit. Der reiche Herr Wenzel saß in seinem Zimmer und rührte verdrießlich in seinem Kaffee herum. Draußen auf der Straße sangen die Knaben: »Vom Himmel hoch, da komm' ich her!« und Herr Wenzel verzog das Gesicht. Er haßte Weihnachten; erstens, weil er immer mehr Geld ausgeben mußte, als er Lust hatte, und zweitens, weil gerade am Weihnachtstage sein einziger Junge ihm davongelaufen war auf Nimmerwiederkehr. Es war solch hübscher, frischer Mensch gewesen, nur etwas leichtsinnig und gewohnt, daß ihm niemals ein Wunsch versagt blieb. Als er sich dann mit achtzehn Jahren in den Kopf setzte, zu heiraten, wunderte er sich sehr, daß sein Vater ihn verlachte, ja, mit der Enterbung drohte, wenn er das hübsche, aber blutarme Mädchen heimführte, welches er sich erkoren. Rudolf Wenzel sah gar nicht ein, daß sein Vater recht hatte, ihn vor seiner frühen Ehe zu warnen; er lief ohne weiteres davon und hatte seitdem nie etwas von sich hören lassen. Seine Mutter war kurz darauf gestorben, und so kam es, daß Herr Wenzel, der reichste Mann im Dorf, eigentlich doch ein blutarmer Mann, ohne Weib und Sohn war. Aber er bildete sich viel auf sein Geld ein, und man sagte von ihm, daß er beabsichtige, wieder zu heiraten. »Was einmal nicht zu ändern ist, muß man vergessen!« war seine Ansicht; und wenn er die Hundertmarkscheine und Geldrollen auf die Sparkasse brachte, hielt er sich selbst für einen sehr glücklichen Mann. – Nur um Weihnachten langweilte er sich. Da saßen die Leute vergnügt zusammen, nur er war allein, Und dann war da noch ein Umstand, der ihn viel mehr ärgerte, und worüber er mit keinem Menschen sprechen und sich Rats holen konnte. Das war die Geschichte mit Frau Annemarie, von der vor ein paar Jahren das ganze Dorf sprach, und die sogar in den Zeitungen gestanden hatte. Annemarie war eine Arbeitsfrau. Blutarm und fleißig, hatte sie ihr ganzes Leben gearbeitet und war von allen gern ins Haus genommen worden, auch vom Bauer Wenzel, obgleich er einen Groll auf sie hatte, denn es war Annemariens Tochter gewesen, die Wenzels Sohn hatte heiraten wollen, und um derentwillen er davongelaufen. Annemarie hatte von der ganzen Geschichte zuerst gar nichts gewußt, und später ihre Tochter, die fast noch ein Kind gewesen, zum Dienen in die Stadt geschickt, wo sie ein braves Dienstmädchen geworden. Dennoch hatte ihr Wenzel niemals verzeihen können, daß sein Sohn durch ihre Tochter verführt worden, wie er sich ausdrückte. Und als einmal in Wenzels Hause nach dem großen Frühlingsreinmachen verschiedenes Silberzeug und eine kleine Summe Geldes fehlte, beschuldigte der zornige Bauer ohne weiteres Annemarie, sie habe ihn bestohlen. Die Frau kam in Untersuchungshaft, saß mehrere Wochen, ward aber endlich wegen mangelnder Beweise entlassen. – Seit dieser Zeit konnte Herr Wenzel Annemarie gar nicht sehen. Sie durfte nie mehr in sein Haus kommen; wenn er ihr begegnete, wandte er den Kopf ab, und die Leute sagten, er könne seinen Verlust nicht verschmerzen. So hing die Sache aber nicht zusammen; Wenzel schämte sich einfach, wenn er der älteren, einfach gekleideten Frau begegnete, denn er hatte Geld und Silberzeug, das er verlegt, wiedergefunden, während sie in der Untersuchungshaft saß. Und er hatte keinen Finger aufgehoben, um seinen Irrtum einzugestehen, in der stillen Hoffnung, Annemarie käme ins Gefängnis, und da hätte sie es ebensogut, wie in ihrer armen Hütte. Aber Annemarie kam wieder; und obgleich einige Leute mit Fingern auf sie wiesen, hatte sie doch bald wieder Arbeitsstellen, weil sie so fleißig war. – Herr Wenzel ärgerte sich aber jedesmal, wenn er sie erblicke, weil er an sein schlechtes Gewissen erinnert ward, was er durchaus nicht mochte.
Die Weihnachtslieder hatten ihn diesen Morgen so verstimmt, daß er seinen Kaffee austrank und dann auf die Dorfstraße ging, um nach seinen Äckern zu sehen. Sie lagen freilich unter dem Schnee, aber es war doch ein schönes Gefühl, sich des Besitzes zu freuen. Als er auf sein Feld kam, wo im Sommer so schöner Weizen stand, sah er plötzlich Annemarie mitten auf dem Schnee stehen und einen zerlumpten Menschen mit sich führen.
»Was tust du auf meinem Acker?« rief er zornig
»Es ist ein armer Mensch,« stotterte sie. »Er lag hier auf dem Schnee, und ich dachte« –
»Du hast gar nichts zu denken,« schalt der Bauer. »Auf meinen Feldern dürfen keine Vagabonden herumlaufen, und wenn du dich nicht gleich nach Hause scherst, schicke ich dir den Gendarm auf den Hals!«
Ohne auf die beiden, sich mühsam durch den Schnee quälenden Menschen auch nur einen Blick zu werfen, ging er weiter. Er war so schlechter Laune, daß er stundenlang über die Berge und Felder lief, ohne an sein Mittagessen zu denken, und als er sich besann und um sich blickte, war es fast schon dunkel. Er aber stand vor Annemariens Hütte. Es war die schlechteste im Dorfe; ein spärlicher Garten, der an allen Seiten offen lag, umgab sie; Herr Wenzel fühlte sich schwach; er setzte sich halb im Traum auf eine Steinbank vor der Hütte und stützte den Kopf in die Hand. Drinnen hörte er Annemariens Stimme; sie las einen Gesang laut vor, und dann hörte er sie sprechen: »Weihnachten passiert immer etwas Schönes! Das ist die Zeit, wo der liebe Gott ganz besonders gnädig ist!«
»Du bist ein altes, dummes Weib!« antwortete eine andere Stimme. »Gott ist niemals gnädig, und was du mir aus den Gesangbüchern vorgelesen hast, ist alles nicht wahr. Morgen gehe ich zu meinem Vater, dem Geldprotz, und wenn er mir nicht gibt, was mir zukommt, so ... Er hat's reichlich verdient; und wenn du mich heute nicht festgehalten hättest, als er uns anfuhr, wäre ich ihm nachgelaufen, um ihm zu zeigen, wie man mit seinen Söhnen umgeht!«
»Aber Rudolf!« rief Annemarie, »wie kannst du so gotteslästerlich sprechen? Hast du das vierte Gebot vergessen? Und hast du Gott vergessen, der jeden Tag noch Wunder tut?«
»Wunder?« Rudolf schrie es höhnisch. »Ist es ein Wunder, daß ich wie ein Lump hierherkomme, nachdem mein leiblicher Vater mich verstoßen? Ich glaube nicht an Wunder!«
»Aber ich!« sagte die Alte unerschrocken. »Geradeso, wie es mal herauskommen wird, daß ich deinen Vater niemals bestohlen, so wird der liebe Gott noch ein Wunder schaffen, daß du wieder ein guter Mensch wirst, Rudolf. Denn dein Herz ist nicht böse, du bist nur leichtsinnig gewesen, und –«
Ein Geräusch vor der Tür unterbrach sie. Als sie dieselbe öffnete, fuhr sie mit einem Schrei zurück; denn vor ihr auf dem Schnee lag die leblose Gestalt des Bauern Wenzel. Ein Schlagfluß hatte ihn getroffen; und obgleich er versuchte zu sprechen, konnte er kein Wort hervorbringen. –– Draußen läuteten die Weihnachtsglocken, und die Natur hatte ein weißes Festgewand angelegt; in Annemariens Hütte aber lag der reiche Bauer, konnte kein Glied rühren und dachte, daß er sterben würde. – An seinem Lager saß sein finster blickender Sohn, und Wenzel wußte, daß der, den er noch am Morgen als Vagabond fortgejagt hatte, vielleicht in wenigen Tagen Erbe sein würde von allem, was er geliebt. Denn was hatte er mehr geliebt als Felder und Äcker, Haus und Geld? Und von allem mußte er fort! – Eine große Angst kam über ihn; hilfeflehend sah er Annemarie an – konnte sie ihm nicht helfen?
»Er wird wohl sterben!« sagte der Doktor achselzuckend. »Lassen Sie ihn nur hier! Der Transport nach seinem Hause würde das Ende nur beschleunigen!« – So kam es, daß sein Sohn, welcher noch vor wenigen Stunden ein Herumstreicher gewesen, plötzlich Herr ward über ein großes Bauerngut.
»Es kommt manchmal sonderbar im Leben!« sagten die Dorfbewohner, und Annemarie lächelte leise vor sich hin, wenn sie die Reden der Leute hörte. »Der liebe Gott tut wieder ein Weihnachtswunder!« sagte sie zu sich selbst. Und wunderbar war alles, denn nicht allein faßte Rudolf die Wirtschaft auf dem Hofe mit ganz vernünftigen Händen an, sondern auch Herr Wenzel starb nicht, obgleich alle Menschen es felsenfest prophezeit hatten.
Die Weihnachtsglocken waren längst verklungen, und ein grüner Schimmer lag auf den Bergen. Da ging Herr Wenzel langsam und schwerfällig, auf Annemarie gestützt, seinem Hause zu. Er war ein alter Mann geworden, aber er konnte, wenn auch mühsam, wieder gehen und sprechen, und er hatte die Unruhe, nach dem Rechten zu sehen.
Auf der Schwelle des Hauses kam ihm sein Sohn entgegen, der ihm ernsthaft die Hand hinstreckte. »Vater, wenn du damals, ehe du krank wurdest, böse Worte von mir hören mußtest, so verzeihe mir. Ich habe mein Unrecht eingesehen und will versuchen, dir ein gehorsamer Sohn zu sein!«
Der Alte sah den Sprecher wortlos an, dann versuchte er zu sprechen, konnte aber nicht und ging langsam in sein Zimmer. – Wenzel war früher ein redseliger Mann gewesen; jetzt saß er die ganzen Tage schweigend in seinem Stuhl. Arbeiten konnte er nicht mehr, das überließ er seinem Sohn, und so hatte er Zeit nachzudenken. An Annemarie hatte er sich so gewöhnt, daß sie ihn nicht verlassen durfte; sie mußte ihm sogar manchmal aus der Bibel und dem Gesangbuch vorlesen; aber er sagte niemals ein Wort darüber. So verging der Frühling, Sommer, Herbst, und plötzlich war Weihnachten wieder vor der Tür. Wieder sangen die Kinder auf der Straße, und Wenzel, der noch immer still in der Stube saß, mußte daran denken, wie schnell das Jahr vergangen sei, und wie alt und kümmerlich er in dem einen Jahr geworden. War das auch ein Weihnachtswunder? dachte er bitter. Aber manchmal kam es doch über ihn wie Dankbarkeit, daß er noch lebte, und wenn er in das stille Gesicht Annemariens blickte, wunderte er sich, wie freundlich die Frau mit ihm war, der er doch so geschadet.
»Weshalb sie wohl nie geklagt und sich aufgelehnt hat?« dachte er, und dann gingen seine Gedanken zu seinem Sohn, der in seinem Fleiß und Eifer gar nicht wiederzuerkennen war.
Der Weihnachtsabend war da, und Wenzel hatte die ganze Nacht vorher nicht geschlafen. Als er morgens in das Zimmer trat, rief er mit lauter Stimme nach Annemarie und nach seinem Sohne. Beide standen bald vor ihm, und er sah sie starr an. »Rudolf!« sagte er, »du hast zehn Jahre dein Herz von mir gewandt, und vorigen Weihnachten sprachst du davon, du wolltest mir ein Leid antun, wenn ich dir dein Recht nicht gäbe. Mag sein, daß ich deine harten Worte verdient habe, obgleich ich dich nicht kannte, als du wie ein Herumtreiber wiederkehrtest. – Aber ich wollte dich bitten, Annemarie ihr Recht zu geben und es bekanntzumachen, daß sie mich niemals bestohlen hat. Ich fand nachher die Sachen und mochte meinen Irrtum nicht eingestehen, weil ich mich schämte. Nun soll Annemarie ihr Leben lang frei auf meinem Hofe wohnen, und wenn du ihre Tochter heiraten willst, hast du meinen Segen!« Wenzel hatte immer leiser gesprochen, jetzt setzte er sich und stützte seinen Kopf in die Hand. Er fühlte sich alt, müde und zerschlagen. Dann aber sah er in Annemariens freudiges Gesicht.
»Sehen Sie, Herr Wenzel, habe ich es nicht gesagt? Weihnachten geschieht allemal etwas Schönes! Rudolf und Sie sind wieder gut miteinander, und Sie sagen selbst, daß ich nichts gestohlen! Aber öffentlich brauchen Sie das gar nicht zu sagen, wenn's Ihnen unangenehm ist! Der liebe Gott hat immer gewußt, daß ich unschuldig war – das ist die Hauptsache. Und Rudolf wird Ihnen ein guter Sohn sein – er hat's gelobt, als Sie besinnungslos vor meiner Tür lagen, und er hat sich redliche Mühe gegeben dieses Jahr. Meine Tochter bekommt er aber nicht. Das war alles nur Kinderei.«
Die stille Annemarie war plötzlich redselig vor Freude geworden. Kein Wort des Grolls kam über ihre Lippen, und Wenzel, der Tränen und Vorwürfe von ihr erwartet hatte, sah sie staunend an. Gab es denn wirklich Weihnachtswunder?
Jahre sind vergangen, Annemarie ist lange tot, aber der alte Wenzel lebt noch und geht jeden Weihnachtsabend auf den Kirchhof, um ihr einen Kranz zu bringen. Ist sie doch, deren Leben so still und einfach verlief, seine Lehrmeisterin geworden. Er glaubt an Weihnachtswunder, und wenn er seinen Sohn, den tüchtigen Landwirt, ansieht und hört, wie er die Achtung aller genießt, dann kann er nur die Hände falten und sprechen:
Das hat er alles uns getan – Sein groß' Lieb' zu zeigen an |