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263. Das Volk oder richtiger die wenigen Leute, welche sich an den Theaterbesuch gewöhnt haben, nehmen es als Mährchen, und geben die feierlichste Versicherung, es sei nichts Geringeres als Mythus, und alles Ernst, und nicht ohne philosophische Geheimnisse
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264. Man verlangt von der Musik, sie solle mährchenhaft seltsam unverständlich sein: wovon frühere Zeiten gar keine Vorstellung hatten. Ja festlich lustig gesellig innig feierlich! aber – – –
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265. Jede Zeit hat ihren Erzähler von Tausend und Einer Nacht. Unserer ist jetzt Wagner; es sind Dinge, die man nicht glaubt, nicht für möglich hält – aber sehr gern einmal im Theater sieht, als wären sie wahr.
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Die moralischen Vorurtheile.
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WAS ZU VERLERNEN IST.
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2. Alle Fortschritte der Individuen werden durch den Zufall der Ehen wieder unnütz gemacht, deshalb ist es mit der Menschheit nichts. Und Gott soll die Ehen schließen!
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7. Die Illusionen haben, den Menschen auch Bedürfnisse angezüchtet, welche die Wahrheit nicht befriedigen kann.
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Byron sagt "hätte Coleridge sein schönes Talent nicht mit transcendentaler Philosophie und deutscher Metaphysik verdorben, so würde er der größte Dichter seiner Zeit geworden sein"
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10. Die moralischen Vorschriften werden in gebildeten Zeiten immer unbestimmter, wie auch die Gottesvorstellung immer blasser wird. Es wird der Moral immer mehr Gebiet entrissen (überall wo der Erfolg controlirbar wird und die Erkenntniß eintritt, hört der moralische Maaßstab auf) Da flüchtet die Moral in's "Ideale" usw.
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11. Wie viel Illusion der Mensch zum Wohlleben nöthig hat!
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12. Wo man nicht mehr versteht, wird man feierlich. Dies kam der Moral zu Gute.
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Wie soll man handeln? Wozu soll man handeln? Aber je höher hinauf, um so willkürlicher wird die Entscheidung: um so mehr muß sie künstlich autoritativ gemacht werden. Zwecke und Mittel pathetisch machen, je weniger sie an sich klar sind.
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21. Der Beweis für die Sitten liegt nicht in ihren Folgen, sondern in den Zufällen, welche eine Gemeinde treffen. Wenn Unglück sie trifft, glauben sie entweder Verstöße gemacht zu haben, oder neue Sitten sich angewöhnen zu müssen.
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23. Gegen den, der außerhalb der Gemeinde ist, giebt es keine Sitte. Hier tritt Furcht vor dem Individuum, Mitleid mit dem Individuum auf. Innerhalb der Gemeinde ist der Leidende nicht Gegenstand des Mitleids, sondern des Argwohns, er hat sich wohl versündigt. Krankheit ist dämonisch. – Gegen den Feind entsteht das Mitleid auf der Basis der Verachtung, ein nicht-zu-Fürchtender.
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24. Die Tugend des Buddh<ismus> ist: zu deinem Leid noch fremdes Leid hinzunehmen (während alles voll Leid ist) Die Tugend Christi: die Sündenstrafe auf sich zu nehmen, und die Tugend des Christen, freiwillig zu leiden nach seinem Vorbild (nicht Mitleiden -) Dies sind Anfänge der Moral mit dem Zwecke individueller Folgen. Dies der Fortschritt. Der Aberglaube daß sich mit Leiden eine Schuld tilgen lasse – ein mysteriöser Vorgang, nicht Abschreckung, nicht Rache, sondern Purgation von der Befleckung.
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25. Jene neue Moral hebt an, wenn die Gemeinde und der Staat nicht mehr in der Furcht vor Feinden leben und die Sitten sich lockern, d. h. das Individuum hervortritt, das Unsittliche. Jetzt werden die individuellen Folgen in den Vordergrund gerückt, die abergläubischen voran.
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28. Zwei Moralen der Individuen a) man lebt, um völlig dem vorschwebenden Typus in der Gemeinde gleich zu werden ("wie sein Vater", Spruch der Spartaner) oder b) man lebt, um sich unter seines Gleichen auszuzeichnen. Im ersten Falle ist das Verschiedensein vom Typus etwas, was als Mangel empfunden wird, und das Ziel ist schwer. Im zweiten Falle ist die Gleichheit als leicht erreichbar gedacht, sie giebt noch keine Ehre.
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29. In Deutschland hat man unbändigen Respekt vor ungereiften oder verwilderten Talenten, man nennt sie „Genies", man ist gegen den malerischen Effekt des Geistes sehr empfänglich, es ist der Geschmack für das Wildromantische. Vollendung Anmuth und Freiheit des Geistes werden nicht "genossen" – man spricht da von esprit usw.
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30. Der Verrückte der Lahme als Lustigmacher. Don Quixotes schauderhaftes Beispiel. Hephäst im Olymp.
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32. Der Werth einer Sache wird gesteigert, wenn die Verehrung sich anhäuft d. h. wenn man den Nutzen einer Sache für das Individuum aus dem Auge verliert und ins Auge faßt, wie vielen Individuen sie schon genützt hat (oder zu haben scheint) Man traut ihr jetzt mehr Kräfte zu –
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33. Die Naivetät bei den Deutschen! während alle diese verwilderten Talente damit Theater gespielt haben! In Frankreich gieng sie durch den Hof zu Grunde, in Deutschland durch die Genies (selbst Beethoven)
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Das Problem in der Zeit der griechischen Tragödie war: wie konnten diese gräßlichen Dinge eigentlich geschehen, während die Thäter Heroen und keine Verbrecher waren? Dies war die große Übung in der Psychologie Athens.
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Die Neigung zu scheußlichen Thematen. Nothzucht, Blutschande usw. – woraufhin?
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Ungeschickte Gebärden und Worte der Abweisung werden als Beleidigung empfunden, wenn jemand aus dem tiefsten Gefühle reden möchte z. B. "sagen Sie mir keine Complimente"
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Die Kindesmörderin handelt aus Furcht vor Schande und bringt ihr das größte Opfer. Wenn die Gesellschaft nicht verachtete und schändete, würde das Kind leben bleiben. Adam Bede.
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Das Verhehlen der That als moralisch ursprünglich – der Gesellschaft soll sie aus der Welt geschafft werden: ebenso Verhehlung des Übelthäters.
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Man kann den Werth der Moralität nur bestimmen indem man sie an etwas mißt z. B. am Nutzen (oder Glück); aber auch den Nutzen muß man wieder an etwas messen – immer Relationen – absoluter Werth ist Unsinn.
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Die Vernunft als Ursache der moralischen Gefühle – und der Einfluß der moralischen Gefühle auf die Entwicklung der Vernunft!
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Die Anrede "mein Herr" zeigt, wie sehr allen Menschen die Unterwerfung schmeichelt und wie jeder vor allem stolz und herrschend gedacht werden will.
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Schopenhauer, so fern der Verneinung, war doch so anständig, sie nie zu heucheln und keinen Putz daraus zu machen; was ehrgeizige Künstler sofort thun, weil sie dadurch einen Vorrang zu gewinnen hoffen. Die Schauspielerei mit asketischen und mirakulösen Stoffen ist schon ein Stück persönlicher Heuchelei.
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Die Rhetorik eine Kunst wie die Architektur – der Nutzen ist die erste Norm (und sobald sie als Kunst bewußt wirkt, hebt sie die Wirkung ihres Nutzens auf oder stellt ihn in Frage. Oder umgekehrt?) Wir sollen dabei nicht an den Nutzen denken, aber unvermerkt dazu geführt werden, daß uns genützt werde.
Nein! Der Rhetoriker und der Schauspieler sind zu vergleichen: 1) geht auf eine Wirkung aus 2) stellt eine Wirkung dar.
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Shakespeare und Aeschylus, die vielartigen Dramatiker, beugen sich vor den einartigen höheren Menschen, den Dichtern ihrer Zeit. Goethe beugt sich vor Shakespeare – nicht vor dem Theater-Dichter, sondern, als Anhänger Rousseaus, vor der Natur-Unendlichkeit in ihm. Es ist ein Zeitgeschmack.
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Ach der menschliche Intellekt! Ach "Genie"! Es ist nicht so gar viel, einen "Faust", eine Schopenhauerische Philosophie, eine Eroica gemacht zu haben!
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Gerecht sein – nichts! Alles flüssig! um nur zu sehen brauchen wir Flächen, Beschränktheiten!
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Die Thatsache ist der ewige Fluß. Der Staat bemüht sich, aus seinen Bürgern etwas von bleibendem Charakter zu machen, die Moral aus jedem Individuum etwas Festes – Das Gedächtniß ist die Grundlage für diese anscheinende Festigkeit (von Tag zu Tag, von Generation zu Generation), Verachtung gegen den Wechsel gelehrt.
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Der blinde Maulwurf stammt vom gut sehenden ab – Wirkung der Dunkelheit auf die Sehnerven.
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In der Moral ist selbst die Periode der Hypothesen noch nicht dagewesen: sie ist jetzt gut zu heißen; der Umfang der Möglichkeiten, aus denen die Moralität ihre Entstehung haben könnte, ist jetzt durch Phantasie zu erschöpfen. Ich mache den Anfang; sehr skeptisch!
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Irgendwann einmal wird " Vererbung" eben auch als Schlupfwinkel der Unklarheit und der Mythologie gelten: einstweilen ist es noch etwas.
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Die Art, wie der M<ensch> von seinen Mitm<enschen> im Geiste abhängt, ist sehr paradox und gar nicht so von selber einleuchtend.
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Goethe that sich etwas darauf zu Gute, was für Mühe nöthig gewesen sei, um gegen Voltaires Naturauffassung Stand zu halten. – Es war ein Irrthum, und es bezeichnet die Reaktion.
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Die Huldigung des Genies vor der Güte bei Schopenhauer war eine schöne Attitüde.
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Der Mensch, erstaunlich furchtsam, versucht nur nothgedrungen etwas Neues. Gelingt es, so wiederholt er es, bis es eine Sitte wird und spricht es heilig.
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Werden die Contemplation die Thätigen nicht nothwendig mißverstehen? Ist viel Erkenntniß also von ihnen in Betreff der Geschichte zu erwarten? Aber es giebt zurückgekommene Thätige : deren Sache ist dies.
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Das höchste Glück, wie es Plato und Aristoteles erkannten, ist nicht in der intuitiven Erkenntniß (Genialität Schopenhauer's), sondern der thätige dialektische Verstand ist die Quelle dieses Glücks – übrigens sind es subjektive Urtheile, daß hierin das größte Glück liege – aber für solche Subjekte danke ich.
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Menschen, die in der Einsamkeit leben, quälen sich oft erstaunlich über ihren Charakter: aber nicht der Charakter, sondern die Einsamkeit ist <es>, woran sie leiden. Wer dies nicht hinnehmen will, der gehe in den Strom der Welt zurück, wo man "seinen Charakter bildet": während die Einsamkeit ihn verzehrt. – Man gewöhne sich an den Verkehr mit den Todten: dies erhält den Charakter. Nein, man soll sich mit gebildetem Charakter erst in die Einsamkeit begeben – nicht zu früh!
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Auf die Welt verzichten, ohne sie zu kennen, wie eine Nonne dies giebt eine unfruchtbare Einsamkeit, vielleicht eine schwermüthige, entsagende – aber vita contemplativa soll nichts von Entsagung haben, sondern von solchen Naturen gewählt werden, denen die vita practica eine Entsagung wäre, Entsagung von sich selber.
Zuletzt braucht die vita contemplativa nicht einsam zu sein: selbst als Ehe denkbar.
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Jemand der starken Kafee getrunken hat, sieht nicht nur im Spiegel gesehen lebhafter aus, sondern er sieht auch sein Bild lebhafter an (sieht mehr als sonst davon)
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Sich vor einem Gotte hinwerfen, sich ganz in seine Gnade begeben, noch über sein Almosen überselig zu sein, einem Hunde gleich ihn umwedeln – das hat als höchste Aufgabe des Menschen gegolten! Dadurch ist die Liebe als Moralprincip für alle Zeiten etwas verdächtig geworden. Was ehemals einem Gotte gegeben wurde, das jetzt einem Genie, einem Fürsten; einem Weibe – –
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Richard Wagner trägt für mich – zu viel falsche Diamanten.
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Nicht das unegoistische Handeln ist (durch Vergessen) aus Vererbung entstanden, sondern das fortwährende Denken an Andere als Maaß unserer Handlungen.
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Wir thun so vieles um der Andern Willen, fast Alles, daß die Handlungen, bei welchen wir einzig an uns denken, Ausnahme sind: die Egoisten sind die größte Ausnahme.
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Auch die (chinesische) Tugend der Höflichkeit ist eine Folge des Gedankens: ich thue den Anderen wohl, weil es mir so zu Gute kommt – doch so daß dies Weil vergessen worden ist. Nicht aber entsteht Wohlwollen auf dem angegebenen Wege durch Vergessen. – Aber Höflichkeit ist doch sehr benachbart. Die Chinesen haben die Familienempfindung durchgeführt (Kinder zu den Eltern), die Römer mehr die der Väter zu der Familie (Pflicht
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χρειτον τ' αγαθον, sagen die Neuplatoniker, d. h. nützlicher ist das Nützliche als die Wahrheit – natürlich. Wenn die Erhaltung und Förderung des Glückes die letzte Aufgabe ist, da mag die Wahrheit zusehn, wie sie dem Irrthum im Wettstreit Stand hält. Zuletzt aber wird sich die Menschheit auf die Wahrheit einrichten müssen, wie sie sich auf die Natur einrichtet, obwohl eine Allgegenwart liebevoller Mächte ein angenehmerer Glaube gewesen sein mag. Dann wird viel trügliche Hoffnung und also viel Enttäuschung weniger sein, und der Anlaß zum Trösten seltener als jetzt.
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Die Philosophen jetzt als Dekorationskünstler der Wissenschaft, sie arrangiren effektvoller <die> Natur.
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Grundsätze: es giebt in der Natur keine Zwecke, es giebt keinen Geist außer bei Menschen und menschenartigen Wesen, es giebt keine Wunder und keine Vorsehung, es giebt keinen Schöpfer, keinen Gesetzgeber, keine Schuld, keine Strafe.
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Luther läugnet daß Gott Gefallen haben könne an den "gerühmten geistlichen Werken der Heiligen" – etwas boshaft. Nur an den 10 Geboten.
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(Baum<ann> 243) Luther: etwas haben, dem das menschliche Herz in Allem trauen könne d. h. einen Gott haben. Nach Thomas Aquinas braucht der Mensch wegen der Mängel, die er fühlt, einen Höheren, dem er sich unterordnet, und der ihm helfen und leiten kann: Gott. – Beide meinen es müsse einen Gott geben, weil die Menschen ihn nöthighaben. So auch Fräulein v<on> M<eysenbug>, es wäre das Leben nicht auszuhalten, wenn alles nur eine letzte physische Bedeutung hätte. In Wahrheit ist es umgekehrt: weil man an Gott oder an die ethische Bedeutung des Daseins gewöhnt ist zu glauben, vermeint man, "der Mensch" habe sie nöthig, es sei sonst nicht zu leben möglich. – Übrigens ergäben sich daraus höchstens " nothwendige Vorstellungen" – erst wäre ein Gott oder die ethische Bedeutung des Daseins damit nöthig.
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Unter den contemplativen Naturen haben 1) die religiösen am stärksten gewirkt, den praktischen Menschen das Leben schwer zu machen 2) die Künstler sind gewöhnlich unerträglich als Personen, und dies ist vom Gewinn ihrer Werke abzuziehen 3) die Philosophen waren etwas von beider Art und noch dazu gemischt das Dialektische, wodurch sie langweilig wurden für die Praktiker 4) die Denker – – –
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Luther ließ seine Wuth gegen die vita contemplativa aus, nachdem ihm das Mönchsleben mißrathen war und er sich zum Heiligen unfähig fühlte, rachsüchtig und rechthaberisch, wie er war, trat er auf die Seite der vita practica, der Ackerbauer und Schmiede.
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Ich glaube daß viele von uns, wenn sie mit ihren enthaltsamen mäßigen Sitten ihrer Sanftmuth ihrem Sinn fürs Rechte in die Halbbarbarei des 6.-10. Jahrhunderts versetzt würden, als Heilige verehrt würden.
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Ach die tiefe Erniedrigung, die mich ergreift, wenn ich die Badegesellschaft sprechen höre, oder in einen Speisesaal junger Männer trete, oder eine Zeitung in die Hand nehme.
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Nehmen wir an, daß ein guter Arzt unter Wilde käme, und ließe sich das Zauberer-Wesen gefallen, um wie viel wäre er allen Zauberern überlegen! Ebenso jeder gute Historiker jetzt jedem Propheten!
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Zwecke sind meistens ungewollte, aber sehr erwünschte Ergebnisse, mit denen wir nachträglich unsere Handlungsweise vor der Vernunft rechtfertigen.
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Etwas, das seit langem besteht, nicht zu Grunde gehen lassen – eine vorsichtige Praxis, weil alles Wachsthum so langsam ist und selbst der Boden so selten günstig zum Pflanzen. Die bestehenden Kräfte umbiegen zu anderen Wirkungen!
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Theatralische Musik (- nicht "dramatische Musik") richtet den Geschmack an der Musik zu Grunde, wie das Theater selber die Freude an der Poesie beeinträchtigt (es fehlt Einsamkeit Natur, wirkliches Leben um uns, es ist ein Luxus und eine Versammlung der Müssiggänger, stimmungslos.
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Der gemischte unreine Charakter der Künstler: ehrgeizig und rücksichtslos, in wüthender Rivalität gegen alles, was Ansehen hat, ja selber gegen alles, was tüchtig und achtungswerth ist, und in den Mitteln ohne Bedenken, verleumderisch tückisch – ganz Napoleon, aber man fühlt sich bei ihm in ehrlicher Luft, weil er weiß, was er will und sich nichts über sich vormacht. Die Spekulation auf die Massen, auf die Enthusiasten jeder Art, diese Furcht vor dem Geiste und der moralist<ischen> Wissenschaft (Napoleon litt nicht daß von de Tracy und Cabanis in irgendeinem Sinne geredet wurde) – alles, was die Instinkte der besten Anhänger, der Fanatiker verletzen würde, wird herausgewittert und verunglimpft, als Gegenstand des Hasses selbst im Motiv der Kunst noch gebrandmarkt, und umgekehrt: der Fanatismus die todwüthende Liebe durch die Kunst gepredigt. Im eignen Leben völlig bequem, bekennt man sich zu den extremsten fanatischen Tugenden (wie Keuschheit Heiligkeit unbedingte Treue) – so wird alles eine Schule des Fanatismus, Kunst, Ansichten, Anhänger.
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Alle Moralen und Gesetze gehen darauf aus, Gewohnheiten anzupflanzen d. h. für sehr viele Handlungen die Frage nach dem Warum? aufzuheben, so daß sie instinktiv gethan werden. Dies ist auf die Dauer eine große Beeinträchtigung der Vernunft. Sodann ist "Handeln aus Gewohnheit" ein Handeln aus Bequemlichkeit, auf den nächsten Impuls hin, zugleich eine Furcht vor dem Ungewöhnlichen, vor dem, was die Andern thun, eine Beeinträchtigung des Individuums. Eine Rasse mit starken Instinkten züchten – das will eine Moral.
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"Moralische Gefühle" sagen die Deutschen, "moralische Urtheile" die Engländer. "Mitleid" gehört z. B. für St. Mill nicht unter die moralischen Phänomene, sondern unter die der "Liebenswürdigkeit", es ist Sache der "Sympathie"; und die großen Stoiker haben sie sogar als unmoralisch bezeichnet. Für die Gefühle giebt es kein "du sollst", sondern nur "ich muß": aber was wird aus der Pflicht, wenn der Mensch sich sagt "dies muß ich thun, ob ich es soll oder nicht" „ich kann nicht anders". Dies bewundert der Deutsche z. B. an Luther: nicht, wie einer sich unter ein Gesetz zwingt, beugt, sondern wie einer trotz allem Gebot und Verbot sich selber treu ist, d. h. man bewundert in Deutschland das individuelle Handeln, wohl weil es dem furchtsamen und gehorsamen Deutschen so selten ist.
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Wenn ich sage: "diesen Menschen mag ich, mit ihm sympathisire ich", so soll das nach Schopenhauer moralisch sein! Und wieder die Antipathie das Unmoralische – als ob nicht aus demselben Grunde einer für diesen sympathisch, für den anderen antipathisch empfände! So wäre der Moralische nothwendigerweise unmoralisch! – Vielmehr hat man Sympathie und Antipathie-haben nie ins Moralische gerechnet, es ist eine Art Geschmack – und Schopenhauer will, daß wir den Geschmack für alles was lebt hätten? Das müßte ein sehr grober und roher gefräßiger Geschmack sein, der mit allem zufrieden ist!
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Wenn ein Idealist der Praxis nicht Skeptiker aus Instinkt ist, so wird er zum Narren der Eitelkeit und hält sich zuletzt für Gottessohn.
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Es ist ein Interesse des Menschen, das was er seinem Eigennutze abgerungen hat und dem allgemeinen Besten opfert, mit so hohen Worten wie möglich zu benennen; die, welche wenig opfern, bestehen am strengsten auf der moralischen Prachtrede. Wem es natürlich ist, der will, daß einfach davon gesprochen werde, womöglich etwas zu gering: so fällt es nicht in die Augen und kann still geübt werden. Die Besten haben ein Interesse an der Verkleinerung der moralischen Wortwerthe.
Andere haben die moralischen erhabenen Attitüden nöthig, jene Halbschauspieler, deren Werth in dem liegt, was sie bedeuten, nicht in dem, was sie sind.
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Wenn ein Mensch, dessen Leben voll von Ehebruch und Unzucht ist, die Keuschheit verherrlicht, so hat er allen Grund dazu: denn mit derselben wäre sein Leben viel würdiger gewesen; er kennt den Eros nicht anders als einen wilden unersättlichen wüsten Dämon. Aber für wen er etwas anderes ist (für einen Anacreon), für den wird auch die Keuschheit nichts so Verehrungswürdiges an sich sein.
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Wie die Natur nicht nach Zwecken verfährt, so sollte der Denker auch nicht nach Zwecken denken d. h. nichts suchen, nichts beweisen oder widerlegen wollen, aber so wie bei einem Musikstück zuhören: er trägt einen Eindruck davon, je wieviel oder wie wenig er gehört hat. Dieser Eindruck entsteht aus einer Vergleichung dessen, was man früher an Eindrücken von Musik gehabt hat, man muß diese Art Sprache verstehen; je feiner man sie versteht, desto größer ist Lust und Unlust dabei. Der grobe Mensch genießt das Leben wie die Musik jeder Art, wesentlich als Genuß und Lust. – Die feineren Kunstfreuden sowie die feineren Erkenntnisse muß man theuer erkaufen d. h. zu oft durch Enttäuschung Unbehagen leiden. – Die Masse und die Häufigkeit des musikalischen Genusses nimmt mit der Verfeinerung des Geschmacks ab – ist dies ein Gegengrund gegen die Entwicklung der Musik und die Pflege derselben? Und ist es nicht in allem so, auch in der Erkenntniß? An was für Dingen hat ein Kind Erkenntnißfreuden! Und wie groß!
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Wir dürften nicht erstaunt sein, wenn einer lehrte, kein Mensch habe bis jetzt das Motiv seines Handelns gekannt, denn zwischen das wirkliche Motiv habe sich das angelernte Scheinmotiv gelegt, seit Menschenanbeginn. Wir sehen und hören so schlecht und sind so eingebildet dazu!
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Die vielen Kümmernisse und Ärger der gebildeten Stände, ja der sublimsten Geister –
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Als die höheren Triebe werden die bezeichnet, die im Gegensatz zu den verachteten stehen. Man verachtet aber, was keine Furcht einflößt, bei niedrigen Leuten zu haben ist usw. – Es sind ganz verschiedene Dinge zur höheren Menschlichkeit gerechnet worden, entgegengesetzte.
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Die Moral die zunächst gar nicht an's Glück der Individuen denkt, vielmehr dasselbe fürchtet und zu dämpfen sucht („Maaß" der Griechen) will etwas, das über die Zeit der Individuen hinausreicht, den Verband mehrerer Generationen und zwar vom Standpunkt der Gemeinde: das Individuum ist der Sündenbock für die Collektiva "Staat" Menschheit usw. "Nur als Ganzes können wir uns erhalten" das ist die Grundüberzeugung. So denken die alten Männer und die Fürsten, welche ihren Nachkommen die Gemeinde gesichert übergeben wollen. "Tugend" ist hier nicht etwas Auszeichnendes, sondern die verlangte Regel, welche kein Lob erntet (wie in militärischen Organisationen) Individuelle Auszeichnung ist überhaupt erst in Griechenland erfunden worden, in Asien gab es nur Fürsten und Gesetzgeber. Die Moral für Individuen trotz der Gemeinde und deren Satzung beginnt mit Sokrates.
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Wenn die Moral Tapferkeit Treue Enthaltsamkeit außer der Ehe vorschreibt, so denkt sie nicht an das Glück des Einzelnen als Zweck, an seine geistige und leibliche Gesundheit: vielmehr bringt sie diese dem allgemeinen Wohle zum Opfer. Für die Moral besitzt die geringere Menschlichkeit einer Masse einen Werth, den sie mit der höheren Menschlichkeit Einzelner zu bezahlen kein Bedenken trägt: ebenso in Betreff der Gesundheit, des Glücks. Dabei geht sie von sehr unwissenschaftlichen Voraussetzungen über die Mittel aus, wodurch eine Masse Glück Gesundheit Fortbestand erlangt: sie irrt sich oft genug. Die Änderungen der Moral sind Beweise, daß man sich geirrt hat und es fühlt.
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Alle bisherigen Moralen gehen von dern Vorurtheil aus, daß man wüßte, wo zu der Mensch da sei: also sein Ideal kenne. Jetzt weiß man, daß es viele Ideale giebt: die Consequenz ist der Individualismus des Ideals, die Leugnung einer allgemeinen Moral.
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Viele Menschen sind nur eines sehr geringen Glücks fähig: es ist kein Einwand gegen eine Moral, daß sie diesen nicht mehr Glück geben könne, so wenig es Einwand gegen die Heilkunst ist, daß manche Menschen nicht zu kuriren und ewig kränklich sind. – Es ist die Lebensauffassung zu wählen, bei der wir unser höchstes Maaß an Glück erreichen: das immer noch sehr klein sein kann.
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Wodurch haben sich die adligen Geschlechter so gut erhalten, zu allen Zeiten? Dadurch daß der junge Mann in der Ehe nicht vor allem Geschlechtsbefriedigung suchte, und in Folge dessen sich hierin berathen ließ und nicht von der amour passion oder amour physique sich fortreißen ließ, unpassende Ehen zu schließen. Erstens waren es in Sachen der Liebe erfahrene junge Männer, welche sich verheirateten – und dann hatten sie an Repräsentation usw. zu denken, kurz mehr an ihr Geschlecht als an sich zu denken. Ich bin dafür, moralische Aristokratien wieder zu züchten und außerhalb der Ehe etwas Freiheit zu geben.
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Es giebt keine Handlung noch Denkweise, die an sich sittlich wären, ohne Rücksicht auf das, was in einem Land und Volk als Sitte gilt. Wohl wäre es möglich daß ein Philosoph die Menschen eines Landes überredet, es anders zu empfinden: also an das "An sich Sittliche" zu glauben. Damit ist dann diese Denkweise (der Glaube an das Sittliche) zur Sitte geworden: d. h. ein Irrthum gilt hier als sittliches Gebot.
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List Betrug Wortbruch Mord Grausamkeit, in Hinsicht auf die Feinde der Gemeinde – gilt als tugendhaft: ein Behandeln der Feinde als auszeichnend und ruhmgebend.
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Bei der Annahme einer ewigen Existenz des Individuums ist der Individualismus extrem, er kennt keine Rücksicht auf bestehende Gemeinwesen, es ist jede Rücksicht unsinnig im Verhältniß zu einer Ewigkeit: kein Compromiß, keine Milde, nicht eine Linie breit ist nachzugeben, wenn es sich darum handelt. Hier ist der Fanatismus des Individuums auf seiner Höhe: dagegen wir mit unseren 70 Jahren dürfen milder sein. Was liegt zuletzt daran ob einer 70 Jahre leidet!
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Ein Ideal aufstellen, voranstellen, als Einleitung? Ungestört in ewiger Ruhe, durch sein Vorbild, nicht durch aktives Eingreifen wirken, sich sichtbar werden lassen, nicht lang leben wollen, sondern individuell, durch keine Tugend sich auszeichnen, in keiner Sitte heimisch, ohne Vaterland, leicht angeknüpft an die Bedürfnisse, nicht nörgelnd und verunglimpfend, aber tapfer allerwegen, im Erkennen Anerkennen, und daher versöhnend in der That, ohne Absicht, den großen Worten und dem sittlichen Richten abgeneigt, nicht böse sein über die, welchen manche dieser Einsichten zu häßlich sind und deshalb nicht mit uns weitergehen wollen – vielleicht sind sie feinere Naturen, und Tapferkeit ist keine Tugend, sondern Sache des Temperaments –
4 [86]
Die Historie ist als reaktionäre Macht nach der Revolution aufgetreten (s. St. Mill über Coleridge). Und jetzt? –
4 [87]
Die Naturen welche sich am kräftigsten gegen die Moral gesträubt haben (wohl die Individuen!) müssen noch ihre Ehre haben. Bis jetzt sieht man den Fortschritt nur auf der anderen Seite.
4 [88]
Diese Betrachtung ist nicht für – geschrieben. Herzliches und feines Theilnehmen an den menschlichen Dingen, ohne aufdringlich durch Rathgeben zu werden.
4 [89]
Jene Wirkung der "Erlösung" übte eine Einbildung: genug daß eine Vorstellung im Stande ist, dem Menschen den Sieg über sein anhängendes unvermeidliches Wesen zu geben und ihn triumphiren zu lassen.
4 [90]
Man könnte die Menschen darnach abschätzen, wie hoch das Glück eines jeden ist, das ihm überhaupt möglich ist: wiederum, wie viel Glück er mitzutheilen vermag, wie viel Unbehagen und Unglück usw.
4 [91]
Beschäftigt wollen die Menschen noch mehr als glücklich sein. Also ist jeder, der sie beschäftigt, ein Wohlthäter. Die Flucht vor der Langeweile! Im Orient findet sich die Weisheit mit der Langeweile ab, das Kunststück, das den Europäern so schwer ist, daß sie die Weisheit als unmöglich verdächtigen.
4 [92]
Die Wirkung der Musik auf hysterische Personen männlichen und weiblichen Geschlechts kann ungeheuer sein und ganz unabhängig vom Verdienst des Componisten. Elementarische Wirkungen treten häufig bei Wagn<erischer> Musik auf. Die Grenzen der reinen Elemente der M<usik> sind noch nicht erkannt (Bergluft Schönheit
4 [93]
Das Gewissen, insofern es wesentlich unlustvolle Empfindungen erzeugt hat, gehört unter die Krankheiten der Menschheit.
4 [94]
Man beachte wie z. B. ein plötzlicher Regenguß auf verschiedene Personen wirkt: jeder legt das Ereigniß nach Stimmung und Temperament aus. Unsere Schmerz empfindungen scheinen nur Schwächen des Organism zu sein: dieselben Reize führen zur Lust. Es giebt nichts an sich Unglückliches.
4 [95]
"Das Auge kann nie durch das Sehen hervorgerufen worden sein" Semper. NB. "Nie wird eine Farbe durch Zuchtwahl oder Anpassung hervorgebracht, sondern immer nur eine Färbung, Anordnung der Farben" Semper
4 [96]
Es herrscht immer noch die Neigung alle hochgeschätzten Dinge und Zustände auf eine noch höhere Ursache zurückzuführen: so daß diese Welt hoher Dinge gleichsam ein Abglanz einer noch höheren sei. Es scheint also die Verminderung einer Eigenschaft den Menschen natürlicher als eine Steigerung: "das Vollkommene kann nicht werden, sondern nur vergehen" ist eine uralte Hypothese. Erinnerung an eine frühere bessere Welt (Präexistenz) oder Paradies im Anfange oder Gott als Ursache der Dinge – alles setzt die gleiche Hypothese voraus. "Der werdende Gott" ist der mythologische Ausdruck für die wahren Vorgänge.
4 [97]
"Gehirn im Fuße", Mollusken theilweise: Ohr im Schwanze, Crustaceen
4 [98]
Die Entsinnlichung in der Moral und das Lob der Heiligkeit ist ein niedrigerer Grad als die hellenische Forderung der Mäßigkeit. Orientalische Wüstheit weiß sich nicht anders zu helfen. Die Verneinung der Welt ist die Consequenz des Dünkels solcher Naturen. – Statt zu herrschen, lieber verzichten, so daß es nichts mehr zu beherrschen giebt: Mittel der äußersten Gefahr.
4 [99]
Es ist vollkommen falsch, daß die großen Geister wesentlich gleich über das Dasein und den Menschen geurtheilt hätten: diese Gleichheit nachzuweisen geht <man> vom Glauben aus, daß die Genie's dem Wesen der Welt näher ständen und insofern auch richtiger d. h. gleichmäßiger sagen müßten, was sie sei. Aber die Genie's haben individuelle Ansichten gehabt – und sich in die Dinge hineingetragen: weshalb sie sich tief widersprechen und immer alle andern vernichten zu müssen glauben.
4 [100]
Es giebt so viele Moralen jetzt: der Einzelne wählt unwillkürlich die, welche ihm am nützlichsten ist (er hat nämlich Furcht vor sich selber) d. h. er muß den Irrthum umarmen, im Grade darnach, daß er ein gefährliches Thier ist. – Ehemals wo die Leute Einer Rasse gleich waren, genügte auch Eine Moral.
Jetzt sind die Menschen sich sehr ungleich! Es giebt mehr Individuen als je, man lasse sich nicht täuschen! Nur so malerisch und grob sichtbar sind sie nicht, wie früher.
4 [101]
Da es mehr als je individuelle Maßstäbe giebt, so ist wohl auch die Ungerechtigkeit größer als je. – Der historische Sinn eine moral<ische> Gegenkraft. Das Wehethun durch Urtheile ist jetzt die größte Bestialität, die noch existirt. Es giebt keine allgemeine Moral mehr; wenigstens wird sie immer schwächer, ebenso der Glaube daran unter den Denkern.
Es giebt genug Menschen, welche ohne Moral leben, weil sie dieselbe nicht mehr nöthig haben (wie solche die ohne Arzt Medizin peinliche Prozeduren leben, weil sie gesund sind und entsprechende Gewohnheiten haben) Moralisch bewußt leben – setzt Fehlerhaftigkeit voraus und deren Druck und Folgen d. h. wir haben unsere Existenzbedingungen noch nicht gefunden und suchen sie noch.
Für das Individuum, so weit es kein Denker ist, hat Moral ein begrenztes Interesse: so lange es ihm nicht wohl, nicht regelmäßig zu Muthe ist, denkt er nach den Ursachen und sucht moralische, da andere ihm als Schlechtgelehrten unbekannt sind. Die Fehler seiner Constitution seines Charakters in die Moralität sich schieben, an seiner Krankheit schuld sein wollen – ist moralisch!
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Wenn einer seine Sitten festgestellt hat, mit denen er seine Umgebung erträgt und die Umgebung ihn erträgt, so ist er sittlich. So lange er schwankt und niemand sich auf ihn verlassen kann, ist er es noch nicht. Der "Sittliche" wird "berechenbar" z. B. als Parteimann: daher viel Haß gegen den Unsittlichen.
4 [103]
Der Trost Luthers als die Sache nicht vorwärts gieng, "Untergang der Welt". Die Nihilisten hatten Schopenhauer als Philosophen. Alle die extrem Aktiven wollen die Welt in Stücke gehen lassen, wenn sie ihren Willen als unmöglich erkennen (Wotan)
4 [104]
Wir haben nur gegen uns selber wahr zu sein: gegen Andere es zu sein ist Aufopferung, und nur in dem Falle, daß dazu der natürliche Hang in uns ist, ist auch die Wahrheit gegen Andere ein Gebot der Natur, das befriedigt werden will. – Gegen uns selber ist es Selbsterhaltung z. B. unsere physischen Kräfte müssen wir uns richtig vorstellen. Uns im Geistigen einen Sprung zumuthen, zu dem unsere Beine nicht reichen, ebenso im Moralischen ist Anlaß zu Beinbrüchen und den schwersten Schmerzen; unsere Moralität hat das Maaß ihrer Idealität an dem Maaße der uns möglichen Kraft, vorausgesetzt daß wir diese steigern können. Alles Wachsthum muß allmählich, nicht sprungweise geschehen. – Wie viel Elend ist in der Welt, dadurch daß man an sich den Maaßstab einer unmöglichen Moralität legt! Man schämt sich doch nicht, wenn man nicht wie ein Läufer zu laufen vermag: aber in moralischen Dingen sind wir so kindisch, das Fehlen der natürlichen Bedingungen sich zur Schuld und Schande anzurechnen! Als ob wir unser Werk wären! Dies ist auch wirklich die Hypothese, auf der jenes Schamgefühl wuchs.
4 [105]
Die höheren Menschen unterscheiden sich von den niederen wie die höheren Thiere von den niederen, durch die Complicirtheit ihrer Organe und Menge derselben. Sich nach Einfachheit sehnen – d. h. es leichter haben wollen!
Jetzt wird immer noch, namentlich von Künstlern, der Halbbarbar verherrlicht: Kraft Gefühl Unwissenheit natürliche Gebärde und Instinkte – dies ist der malerische Standpunkt "diese Gattung nimmt sich gut aus" – jetzt ist die Gefahr der Erkrankung und partiellen Verkümmerung so vieler Organe groß.
4 [106]
Jetzt gefällt es, sich hetzen zu lassen und zu hetzen: selbst Künstler wählen den Geist der Unzufriedenheit als die Muse, welche sie begeistert. Sieht man sie dann in ihren Erholungen, so sind sie ganz leer, sie haben keine Kraft daran zu verschwenden und ziehen das Fadeste vor (selbst bedeutende Gelehrte). Es wäre sehr unbillig, darnach die Zeit zu beurtheilen: sie giebt im Vergnügen und der Erholung nicht sich ganz, geschweige denn ihren besten Theil zu erkennen. So sei man tolerant gegen ihre Kunst, und bedaure die höheren Künstler, denen die Zeit nicht entspricht, wahrlich nicht, weil sie ihrer unwürdig wäre! Das beurtheilt man als Jüngling falsch.
4 [107]
Die Moralisten nahmen die vom Volke verehrte Moral als heilig und wahr und suchten sie nur zu systematisiren, d.h. sie hiengen ihr das Kleid der Wissenschaft um. Den Ursprung zu untersuchen hat kein Moralist gewagt: der rührte an Gott und dessen Boten! Man nahm an, daß die Moral im Munde des Volks entstellt lebe, daß es ihrer "Reinigung" bedürfe. –
4 [108]
Man ehrt die welche im Denken den Bann der Sitte durchbrachen. Aber die welche es durch die That thaten, verunglimpft man und schiebt ihnen schlimme Motive unter. Dies ist unbillig, mindestens sollte man den Freidenkern dieselben schlimmen Motive unterschieben. – Daß im Verbrecher sehr viel Muth und Originalität des Geistes, Unabhängigkeit bewiesen werden könne, wird verhehlt. Der "Tyrann" ist vielfach ein freierer tapferer Geist, sein Wesen nicht schlechter als das der Furchtsamen, oft besser, weil ehrlicher. Man beantwortet jetzt allgemein die Frage ob die russischen Nihilisten unmoralischer seien als die russischen Beamten zu Gunsten der Nihilisten. – Es sind zahllose Sitten den Angriffen der Freidenker und Freithäter zum Opfer gefallen: unsere jetzige individuelle Denkweise ist das Resultat von lauter Verbrechen gegen die Sittlichkeit. Jeder der das Bestehende angriff, galt als „schlechter Mensch"; die Geschichte handelt nur von diesen schlechten Menschen!
4 [109]
Die Freithäter sind im Nachtheil gegen die Freidenker, weil ihre egoistischen Motive sichtbarer werden als die jener. Aber jene fanden die Befriedigung ihrer egoistischen Motive oft schon im Aussprechen des Verbotenen: so ist das Unmoralische harmloser und deshalb beschimpft man es nicht. In Hinsicht auf die Quelle ist alles Eins: Napoleon und Christus.
4 [110]
Die Griechien litten nach Aristoteles öfter an einem Übermaaß von Mitleid: daher die nothwendige Entladung durch die Tragödie. Wir sehen, wie verdächtig diese Neigung ihnen vorkam. Sie ist staatsgefährlich, nimmt die nöthige Härte und Straffheit, macht, daß Heroen sich gebärden wie heulende Weiber usw. – In jetziger Zeit will man das Mitleid durch die Tragödie stärken – wohl bekomm's! Aber man merkt nichts davon, daß es da ist, vorher und nachher.
4 [111]
Entweder man gehorcht als Sklave und Schwacher, oder man befiehlt mit: letzteres der Ausweg aller stolzen Naturen, welche jede Pflicht sich auslegen als Gesetz, das sie sich und den Anderen auferlegen: ob es gleich von außen her ihnen auferlegt wird. Dies ist die große Vornehmthuerei in der Moralität – "ich soll, was ich will" ist die Formel.
4 [112]
Seit Rousseau hat man die Unmittelbarkeit des Gefühls verherrlicht, sich jemandem an die Brust werfen, seinen Zorn wie seinen Speichel auswerfen usw. Sonderbar, daß alle großen Weisen der Moral das gerade Gegentheil verlangt haben! Zurückhaltung des Gefühls – und daher die Würde im Benehmen des sittlichen Menschen. Es giebt reizende vollkommene Seelen, denen es wohl ansteht, weil sie kein Übermaaß in sich haben: aber das Gesetz nach einem Mozart machen, heißt doch – – – ; wir sind keine Singvögelchen. Auch gute und respektable Gefühle, maaßlos und unmittelbar geäußert, erregen Widerwillen gegen sich: so hat wohl jeder einmal das Mitleiden, das sich nicht in Schranken hält, zu allen Teufeln gewünscht.
4 [113]
Ist es nöthig die sittlichen Worte beizubehalten? Was haben die Ausdrücke der Alchymie in der Chemie zu suchen?
4 [114]
1) Vorurtheil: die Folgen die man einer geheiligten moralischen Vorschrift nachrühmt, würden auch die Folgen anderer Vorschriften sein: aber man meint, diese Eine allein, habe das Privilegium 2) die Folgen sind that<sächlich> gar nicht die Folgen sondern ein häufiges post hoc 3) die Folgen sind in Wahrheit die Folgen einer Begleiterscheinung die man übersieht usw.
4 [115]
Da jedes Ding bei längerem Bestehen etwas Würde haben will, so sehen wir auch die Wagnerische Kunst nach allem greifen, was im Stande ist, Würde zu verleihen, Christenthum, Fürsten- und Adelsgunst usw., gar zu gern möchte sie einen Heiligenschein, aber wo sind die Mächte, welche solche zu vergeben hätten!
4 [116]
Dinge, die man dauernd lieb haben will, muß man ein wenig unter ihrem wahren Werthe ansetzen: man darf nie ganz wissen, was sie sind. Wehe dem, der übertreibt! Er verliert jedes Kleinod: falls er nämlich aus der Stimmung der Übertreibung in ihren Gegensatz geräth.
4 [117]
Im Sittlichen muß man nicht an seine äußersten Grenzen gehen: sonst geräth man in den Ekel am Sittlichen.
4 [118]
Kenntniß seiner Kräfte, Gesetz ihrer Ordnung und Auslösung, die Vertheilung derselben, ohne die einen zu sehr, die andern zu wenig zu gebrauchen, das Zeichen der Unlust als unfehlbarer Wink daß ein Fehler, ein Exceß usw. begangen ist – alles in Hinsicht auf ein Ziel: wie schwer ist diese individuelle Wissenschaft! Und in Ermangelung derselben greift man nach dem Volksaberglauben der Moral: weil hier die Recepte schon präparirt sind. Aber man sehe auf den Erfolg – wir sind das Opfer dieser abergläubischen Medizin; das Individuum nicht, sondern die Gemeinde sollte durch ihre Recepte erhalten bleiben!
4 [119]
Was die Werthschätzungen ursprünglicher Völker ausmacht, läßt sich durch keine Phantasie errathen, man muß es erfahren. Bestimmte Gebräuche und der damit verbundene Gedankenkreis sind nicht zu construiren; wenn man von den "natürlichen" Bedürfnissen und Begehrungen der Menschen redet, so denkt man sich die Sache zu einfach: die intellektuellen Bedürfnisse z. B. sind höchst absonderlich befriedigt worden.
4 [120]
Oft kommen 2 Menschen zusammen, deren Sittlichkeit so schlecht zusammen paßt, daß der eine da ein vacuum hat, wo der andere seine Kraft und Tugend fühlt; sie nennen sich gegenseitig " unsittlich".
4 [121]
Das, was über die Nothdurft hinausgeht, höher zu achten, das Entbehrliche, den Putz usw. ein uralter Trieb: eine gewisse Verachtung gegen das, was den Organismus und das Leben constituirt. Καλον Griechen, honestum Römer – sehr sonderbar! das Außerordentliche? Die Moral wollte den menschlichen Handlungen eine Bedeutung geben, einen Putz, einen fremden Reiz, ebenso alle Beziehungen zur Gottheit – ein intellektueller Trieb äußert sich so, das Leben soll interessant aufgefaßt werden, und ehe man die Wissenschaft hatte, welche gerade alles was zur Nothdurft gehört, im höchsten Maaße interessant machte, glaubte man sich über die Nothdurft erheben zu müssen, um den Menschen interessant zu finden. Deshalb die Annahme geheimnißvoller dämonischer Gewalten in ihm usw. (Namentlich wo die Befriedigung der natürlichen Triebe leicht ist, bei großer Fruchtbarkeit des Bodens usw. trat schnell Geringschätzung gegen das "Natürliche" ein)
4 [122]
Das Regelmäßige in der Natur, das ist das Berechenbare, dem kann man sich fügen, so daß es unschädlich oder gar nützlich verläuft: so hat man überall wo Regel waltet, an gute wohlthätige Mächte geglaubt (durch eine Verwechslung). Das Böse, das ist das Unberechenbare z. B., der Blitz. Der Mensch ist berechenbar auf Grund der Moral, insofern gut, das fremde Volk unberechenbar, also böse, fremde Sitten werden als böse betrachtet. Die Übertragung dessen, was uns gut ist, auf das Objekt, das nun gut genannt wird –
4 [123]
Das Gefühl der Sympathie könnte aus dem Gegensatz entstanden sein: die Furcht und die Antipathie gegen das Fremde Andere ist das Natürliche. Nun tritt der Fall ein, wo dies Gefühl schweigt, keine Furcht: wir beginnen dies Ding zu behandeln, wie uns selber.
4 [124]
Der Mensch ist nicht der Erbe aller sympathischen Empfindungen der Thierwelt.
4 [125]
Wenn die Geschlechter sich suchen und locken, entsteht ein Gegensatz von Antipathie: hier ist die Heimat der Moral als sympathischer Regungen. "Mit einander ein Vergnügen haben" – nach einander verlangen, nicht um sich zu fressen. – Die Moralität als sympathisches Verhalten der Thiere steht im Verhältniß zum Grade ihrer Sinnlichkeit. – Unter Menschen auch? Die Religionen welche Mitleid und Liebe am höchsten geachtet haben, sind unter sehr sinnlichen Völkern entstanden, was sich schon dadurch beweist, daß sie in Bezug auf Sinnlichkeit das asketische Ideal aufstellten: ein Beweis, daß sie sich in dieser Hinsicht maaßlos und ungebändigt fühlten (Inder und Juden)
4 [126]
Die Novelle wirkt stärker als das aufgeführte Schauspiel, weil sie sich der Historie gleichstellt; während das Schauspiel die Illusion fortwährend zerstört; gesetzt ein Schauspieler bringt sie hervor, dann zerstört sie ein anderer, und jedenfalls das Theater und die Menschen um uns. Wie matt, wie wenig überzeugend ist Mozarts Don Juan gegen Merimées Don Juan! Dann sind wir beim Erzählenhören viel thätiger als beim Anschauen, letzteres erzeugt den Hang zu kritisiren viel öfter. Die Musik wirkt, als fortwährende Begleitung, unter allen Umständen abziehend und störend, auch die beste Musik langweilt zu oft.
4 [127]
Sympathie für jemand, d. h. <ihn> nicht fürchten und Freude von ihm erwarten. Und das soll unegoistisch sein!
4 [128]
Zu verstehen, wie es einem Anderen (oder einem Thiere) zu Muthe ist, ist etwas anderes als mitempfinden, das Wissen des Arztes z. B. und das der Mutter des kranken Kindes – aber die Voraussetzung? Es ist durchaus nicht ein Nachbilden dieses bestimmten Leidensgefühls, sondern ein Leiden darüber, daß jemand leidet. Dagegen bezieht sich das Wissen auf die bestimmte Art des Schmerzes. "Seinen Schmerz ihm nachfühlen" weil man ähnliches erlebt hat ist von der Art des ärztlichen Wissens um den Schmerz – ist nicht das eigentliche Mitleid, das generell mit dem Leide einer Person leidet, nicht mit dem bestimmten Leide. Das Gefühl, jemand leidet, den wir lieben der in unserer Pflege oder Macht steht, ist ganz persönlich, gewöhnlich mit dem Ärger über unsere Ohnmacht verknüpft (beim Mitleid kann die Fähigkeit, sich die Art des Leidens vorzustellen, sehr gering sein).
4 [129]
Aus Mitleid die Freunde schonen gilt als Schwäche und ist der Gegensatz der Tugend, welche Strenge gegen sich gebietet, wo es gemeinnützige Maaßregeln gilt.
4 [130]
In Indien ist das Höchste Contemplation, das Zweite Leben nach den Vorschriften der Kaste –
4 [131]
Die Leidenschaften sind "falsche Urtheile" nach den Stoikern.
4 [132]
Das erste Christenthum schätzte am höchsten die Eigenschaften, die zur Mission befähigten, um vor dem nahen Ende die Lehre bis an die Grenzen der Erde zu tragen (Ehelosigkeit und Verlassen der Güter) – Weltflucht hieß das griechisch-römische Leben nicht mitmachen, da dies durch und durch auf heidnischer Cultur ruhte. Neuplatonische Grundannahme, daß wir für ein höheres Leben zu leben hätten, die Erde erschien zu niedrig, insgleichen die Cultur. Dieser naive Stolz! "Entrückt- und Erhobensein von der Erde, Berühren des höchsten Weltgrundes im Gefühle" – eine Art platonischer Erkenntniß – alles Täuschung. Die neuplatonische Ansicht verschmolz mit dem Christenthum, es sind die religiosi, die höheren Menschen. Die Reformation verwarf diese Höheren und leugnete die Erfüllung des sittlichen religiösen Ideals, sie hatte gegen die vita contemplativa viel Bosheit und Widerspruch.
4 [133]
In der Moral fordert man die strengste Theorie von Jedermann.
4 [134]
Dem theoretischen Leben ist die Oberflächlichkeit zu eigen: das praktische ist gründlich und führt immer durch alle nöthigen Mittel zum Ziele oder anders wird das Ziel verfehlt. Dagegen erreicht der Denker oft vermeintlich sein Ziel, und bemerkt die fehlerhaften Wege und Sprünge nicht als solche: er hat zu oft und zu leicht das Gefühl des Gelingens.
4 [135]
Die Keuschheit ist nur für das Alter der Halbjünglinge und Mädchen eine Tugend: an sich eine Perversität, weil es die Gattung vernichten würde. Als individuelle Maßregel im Interesse der Anderen eine Ausnahme: wo nämlich nur die völlige Entsagung den M<enschen> retten kann.
4 [136]
Die Menschheit wird sich im neuen Jahrhundert vielleicht schon viel mehr Kraft durch Beherrschung der Natur erworben haben als sie verbrauchen kann und dann wird etwas vom Luxushaften unter die Menschen kommen, von dem wir uns jetzt keine Vorstellung machen können. Gesetzt, der Idealismus der Menschen in ihren Zielen bliebe nicht stehen, so könnten dann großartige Unternehmungen gemacht werden, wie wir sie jetzt noch nicht träumen. Allein die Luftschifffahrt wirft alle unsere Culturbegriffe über den Haufen. Statt Kunstwerke zu schaffen wird man die Natur in großem Maaße verschönern in ein paar Jahrhunderte Arbeit, um z. B. die Alpen aus ihren Ansätzen und Motiven der Schönheit zur Vollkommenheit zu erheben. Dann wird alle frühere Litteratur etwas nach der Enge kleiner Städte riechen. Ein Zeitalter der Architektur kommt, wo man wieder für Ewigkeiten wie die Römer baut. Man wird die zurückgebliebenen Völkerschaften Asiens Afrikas usw. als Arbeiter verwenden, die Bevölkerungen des Erdbodens werden anfangen sich zu mischen. Wenn man an die Vergangenheit denkt, wird man an den düsteren Trübsinn und die träge Beschaulichkeit derselben denken: Feuer und Überschuß an Kraft Folge der gesunden Art zu leben. Um eine solche Zukunft vorzubereiten, müssen wir die Trübsinnigen Griesgrämigen Nörgler Pessimisten separiren und zum Aussterben bringen. Die Politik so geordnet, daß mäßige Intellekte ihr genügen und nicht jedermann jeden Tag drum zu wissen braucht. Ebenso die wirthschaftlichen Verhältnisse ohne die Gier ob leben und sterben. Zeitalter der Feste.
4 [137]
Ich halte es für möglich, daß ein mit Thatsachen reichlich angefüllter und logisch meisterlicher Geist in einer ungeheuren Aufregung des Intellekts eine unerhörte Masse von Schlüssen hintereinander macht und so zu Resultaten kommt welche ganze Generationen von Forschern erst einholen: ein Phantasiren ist es auch – er wird es büßen müssen.
4 [138]
Bei unsern jetzigen induktiven Forschern ist der Scharfsinn und die Vorsicht geist- und erfindungsreicher (auch phantasievoller) als bei den eigentlichen Philosophen.
4 [139]
Vorurtheil, daß man, um selbständig zu urtheilen einen hohen Rang, eine Macht repräsentiren müsse, daß die Niederen auch nicht frei im Gedanken sein dürfen. "Das will räsonniren, Ansichten haben usw. usw.", – – – als man, nach seiner Meinung, zu lange über die Ansichten – – –
4 [140]
Es haben doch zu viel Jammerseelen und Kopfhänger sich fortgepflanzt!
4 [141]
Das Glück der Menschen welche sich befehlen lassen (zumal Militärs Beamte): keine völlige Verantwortung in Betreff der Richtung ihrer Thätigkeit, ein Leichtsinn und Harmlosigkeit, Forderung der strengen Pflichterfüllung (welches der schönere Name für Gehorsam ist, dessen Würde). Auch kluge Christen haben diesen Leichtsinn. Die Wissenschaft entlastet ebenso (Unverantwortlichkeit)
4 [142]
Nichts mit der Wirklichkeit zu thun haben wollen, die wahre Wirklichkeit in entrückten Gefühlen zu tasten suchen, abweichend zu sein und ohne Verständniß für das Leben: dafür hatte die frühere "Wissenschaft" ihre Formeln, es war ihr eine vernünftige Tendenz, weil sie an die Hinterwelt glaubte. Dem Dichter concedirt man es, wenn er schöne Narrheiten aus einer "möglichen" Welt erzählt: sei es daß er selber unsere Welt verachtet, er zahlt für diese Geringschätzung mit seinen Werken. Aber wehe ihm, wenn er uns verführen wollte, uns "über die Welt zu erheben" d. h. im Handeln zu schwärmen und die angenehme Lügnerei einer müssigen Stunde zur Richterin des Lebens zu machen! Darin sind wir jetzt streng.
4 [143]
Sind nicht alle "erhabenen Gefühle" jetzt verdächtig geworden, weil die falsche Schwärmerphilosophie sich so nah seit langer Zeit an sie gelegt hat, daß neben einem erhabenen Gefühl fast regelmäßig ein verdrehter Gedanke, ein überspannter Gesichtspunkt aufsteigt! Traurig. Die ästhetische Rücksicht findet noch dazu die phantastischen Gedanken reizvoller als die strengen und angepaßten, und alle Künste bestehen wie auf einem Dogma, daß die intellektuelle Verstiegenheit und die erhabenen Gefühle zusammen leben und sterben. Daß es Erhebung ohne Phantasterei giebt, bitte beweist es täglich und stündlich! Freunde!
4 [144]
Geht man einem moralischen Gefühle nach, so entdeckt man, nach dem Gange desselben durch Nachahmung, endlich eine sehr starke Werthschätzung einer Sache oder Handlung, welche ihren Grund in einer Theorie hat. Also wenn Begriffe die Menschen überreden unterjochen und sie nach ihnen etwas messen, so entsteht als praktisches Resultat ein Begehren oder ein Verabscheuen. Dies wird dann direkt weiter gepflanzt, ohne die dazu gehörige Motivation und oft hinterher mit einer untergeschobenen neuen. Wo es moralische Gefühle giebt, da ist entweder ein Begriff ins Blut übergegangen oder ein Gefühl nachgeahmt.
4 [145]
Alle halten das für moralisch, was ihren Stand aufrechterhält, die Mutter, was ihr Ansehen mehrt, der Politiker, was seiner Partei nützt, der Künstler, was seinem Kunstwerke zur Verewigung verhilft: und der Grad von Geist und Kenntnissen entscheidet, wie weit einer dies Interesse treibt, ob er die Reform der ganzen Welt, ja selbst den Untergang derselben für das sittliche Ziel erklärt, damit er so dem Interesse seines Standes usw. am höchsten nütze. Der Fürst, der Adlige haben Eine Moral mit dem Volksmann, aber ihre Mittel nennen sie gegenseitig unsittlich. "Die Sittlichkeit ist immer bei uns zu Hause"; es fragt sich, wie weit wir dies "bei uns" ausdehnen.
4 [146]
Blutschande Ehebruch Nothzucht erotische Besessenheit, nach denen nicht nur die französischen Dramatiker des romantischen Geschmacks, sondern auch die deutschen Operncomponisten griffen – Zeichen wovon? Diese Neigung zu mythischen Gräueln, woran auch die Griechen litten, ist jedenfalls ein schlechter Geschmack: schlimm genug, wenn die Philosophie dessen bedarf, um ihre Sätze glaubhaft zu machen.
4 [147]
Wir begreifen nicht, was der andere will, ärgern uns und ihn: entsetzliches Elend in der Familie ist der Grund, und dabei sind es die guten Menschen, welche am meisten sich ärgern, weil sie, was sie nicht verstehen, sich fremd, also böse fühlen.
4 [148]
Da die moralischen Urtheile und Gefühle sehr viel Elend gebracht haben, namentlich die Gewissensbisse, so ist zu fragen: ist dies durch ein größeres Gut aufgewogen? "Die Menschheit exstirt durch sie" zweifelhaft: die thierischen Gattungen existiren ohne sie. Viele Stämme haben gegen ihre Nachbarn wegen der moralischen Unterschiede solche Vernichtungswuth.
4 [149]
In den Wissenschaften der speziellsten Art redet man am bestimmtesten: jeder Begriff ist genau umgrenzt. Am unsichersten wohl in der Moral, jeder empfindet bei jedem Worte etwas Anderes und je nach Stimmung, hier ist die Erziehung vernachlässigt, alle Worte haben einen Dunstkreis bald groß bald eng werdend.
4 [150]
Ein Überdruß am Menschlichen, als ob es immer die alte Komödie sei, ist möglich, für ein erkennendes Wesen ist es eine furchtbare Beschränkung, immer als Mensch erkennen zu müssen, es kann einen intellektuellen Ekel vor dem Menschen geben.
4 [151]
Sehr ehrgeizige Menschen, denen der Zugang zu einem Gebiete der Auszeichnung verschlossen ist z. B. der Feldherrnkunst der Astronomie der Medizin, rächen sich entweder, indem sie diese Dinge und ihre Vertreter geringschätzen und bespötteln oder – sie wähnen, es gäbe für sie einen besonderen „königlichen Weg" um gleich zur Quintessenz zu kommen. Da bildet man sich hellseherische Kräfte eben ein.
4 [152]
Jenes heiße brennende Gefühl der Verzückten "dies ist die Wahrheit" dies mit Händen Greifen und mit Augen Sehen bei denen, über welche die Phantasie Herr geworden ist, das Tasten an der neuen anderen Welt – ist eine Krankheit des Intellekts, kein Weg der Erkenntniß.
4 [153]
Erster Grundsatz: erfüllbare und nahe Ideale: also individuelle!
4 [154]
"Ihr braucht nur Märtyrer zu sein, dann seid ihr eurer Sache gewiß!" – so klang die Stimme der Verführung, mit der man über die Moralforderungen triumphirte. Ein Entschluß wie zum Zahnausziehen!
4 [155]
Ohne leibliche Vollkommenheit – ist denn eine geistige oder sittliche möglich? – Welches Aufpassen beim kränklichen Zustand, wie nöthig das Durchsieben. Übrigens hat das Wieder-gesund-werden vielleicht zu viel vom Rausch der Gesundheit, als daß nicht auch seine Erkenntnisse etwas verdächtig sein sollten.
4 [156]
Der Schiffbrüchige der das Land sieht und am Land zu sein sehr schätzen würde aber nicht schlieren kann – was nützt es ihm, an's Land zu wollen? An unserem Willen liegt es nicht, wenn wir wenig erreichen, sondern an den Kräften oder dem Mangel an Übung: vor allem an Kenntniß unserer Kräfte: sonst würden wir vieles gar nicht wollen.
4 [157]
Der Geist "der Mensch im Menschen" Philo (bei dem alles wahre Sein der Wirklichkeit entrückt ist und nur die mit pneumatischer Offenbarung Begnadeten daran Antheil haben)
4 [158]
Die Juden haben das Irdische als das Schwache Vergängliche gegenüber dem Erhabenen im Himmel Thronenden empfunden – in "demüthigster Unterordnung"
Das rein geistige Sein ist eine griechische, nicht jüdische Erfindung. Aber die himmlische und die irdische Welt ist jüdisch.
Die Juden glauben nicht an unerfüllbare Ideale, die "himmlischen Tafeln" (verwandt mit den platonischen Ideen) verwirklichen sich vollständig, die himmlische Weisheit erscheint adäquat im Gesetz. Anders Plato.
4 [159]
Hellenistisch: für Offenbarung zugänglich durch Enthaltung von Fleisch und Wein. Solcher Bedingungen braucht es beim Jüdischen nicht.
4 [160]
Durch die Essener dringt Hellenistisches ein.
4 [161]
Die leibliche Auferstehung ist jüdisches Dogma. Dem Todten bleibt Fleisch und Blut. Beides nimmt am seligen Leben Theil. Ein Märtyrer hofft seine herausgerissenen Eingeweide bei der Auferstehung wieder zu erhalten (2 Macc.)
4 [162]
"Das Fleisch gelüstet wider den Geist <πνευμα> – und der Geist wider das Fleisch" Paulus. "In meinem Fleisch wohnt die Sünde" und das Fleisch wirkt dann auf Geist und Herz, den inneren Menschen.
Die Verbindung von Tod und Sünde! Weil alle sterben, müssen alle gesündigt haben.
4 [163]
Nach Philo ist der erste Mensch in höchster Vollkommenheit, ganz weise: er fällt, indem er der geschlechtlichen Begierde nachgiebt, ganz freiwillig.
4 [164]
Jüdisch und auch paulinisch: es giebt eine religiös anhaftende Schuld ohne Wissen und Wollen
ein Zuwiderhandeln gegen das Gesetz begründet Schuld, die zu büßen ist (die Bestimmungen über levitisch Reines und Unreines)
Nach Philo ist Sünde: die bewußte Hingebung des νους an die böse Qualität des Körperlichen – das ist griechisch.
"Das Fleisch muß entfernt werden" Paulus. Der Widerstand des inneren Menschen bloß mit Kenntniß des Gesetzes und Freude an demselben reicht nicht aus, völlig ohnmächtig. (Er hat also nicht gemeint, daß Wissen und Werthschätzung ausreichen zum effektiven Willen.)
Beweis für Paulus war die Erscheinung bei Damascus: der Lichtglanz Gottes auf dem Angesichte Jesu.
Er hat den sinnlichen sündigen Leib des Menschen angenommen; das menschliche Sündenfleisch. Es ist αμαρτια: es beherrscht vor dem Erscheinen des Gesetzes das πνευμα αν<θρωπον>, ohne dessen Wissen, nach dem Erscheinen des Gesetzes mit Wissen desselben. und erzeugt die παράβασις. In Christo aber ein πνευμα Θεον, der die αμαρτια in einem gefesselten Zustande hielt. Indem Gott die σαρξ Christi tödtete, vernichtete, hat er die αμαρτιαzum Tode verurtheilt, vernichtet. Die Besiegung der σαρξ nicht durch das Erdenleben Christi sondern durch seinen Leibestod. – Durch die Taufe ist, was an Chrito geschehen, am Getauften mitgeschehen. Die Wirkung sofort. Wenn seine σαρξ gestorben ist, so ist er frei von Sünde. Die radikale Extirpation der Sünde! Man ist eins geworden mit Christo, mit dem "lebenerzeugenden Geiste" – ergo unsterblich, und das Auferstehen wie Christus auferstanden ist.
Der Mensch, der von πνευμα erfüllt ist, ist gerecht und heilig. Und Luther? Der Fleischesleib ist nicht fort – aber todt.
Der Umstand daß Paulus ermahnt, beweist, daß die σαρξ dem Untergang Preis gegeben ist. Das Absterben der σαρξ nicht zu unterbrechen.
Therapeuten, Essener, später die Ebioniten überlassen die Abtödtung der Sinnlichkeit dem Einzelnen.
Für die Spannezeit bis zur Parusie wird der Christ die σαρξ an sich haben.
Paulus kennt 1) keine Auferstehung des Fleisches 2) keine Auferstehung der Unerlösten.
4 [165]
Da das Sünden- und Verworfenheitsgefühl eine Einbildung ist, so giebt es auch Gegenmittel, mit denen es aufgehoben werden kann. Das beständige Leben in einer Idee des Gegentheils, mit Gott eins geworden zu sein. Überhaupt jede starke missionirende todbereite märtyrerhafte Existenz ist ein Mittel gegen moralische Desperation: d. h. Wiederherstellung eines ungeheuren Hochmuthes, der Sprung von der Tiefe in die Höhe. "Gerecht und heilig" gar nicht oder mit Einem Schlage! An Stelle des Besserwerders das Wunder der Vollkommenheit.
4 [166]
Alle religiös produktiven Naturen haben Gesichte und Entzückungen gehabt. Das beweist gegen die Gesundheit des Religiösen.
4 [167]
Die kosmische Stellung Jesu, der Erlöser der Natur. Sehnsucht nach Vollendung, oft ohne Ausdruck zu finden, Seufzer. Der Rest der Sarx wird ganz entfernt, wir werden "Söhne Gottes" – bei der Auferstehung.
4 [168]
Da die Moral eine Summe von Vorurtheilen ist, so kann sie durch ein Vorurtheil aufgehoben werden.
4 [169]
Das Gefühl gänzlich gut geworden zu sein ist ebensosehr herstellbar als das, gänzlich verworfen zu sein. Es handelt sich um eine Ausdeutung, eine Anpassung.
4 [170]
Der Fanatismus ein Mittel gegen den Ekel an sich. Was hat Paulus auf dem Gewissen? Die σαρξ hat ihn verleitet zu Unreinheit Bilderdienst und Zauberei (θαομαχεια) Feindschaft und Mord, Trunkenheit und Gelage (κωμοι) Alles Mittel zum Gefühl der Macht.
4 [171]
Wenn dem Gesetze durch Christi Tod genug gethan, kann man sich von ihm emancipirt fühlen. Das gottfeindliche Princip ist vernichtet, indem der Fleischesleib Christi untergeht: nicht nur ist eine Schuld abgetragen – sondern "die Schuld" an sich aus der Welt verdrängt.
4 [172]
In den vier Hauptbriefen Gedankenarbeit im Kampfe mit dem Judaismus.
4 [173]
Wir würden jetzt die Neigung zu religiösen Verzückungen mit Abführmitteln behandeln.
4 [174]
Wodurch wird im Menschen das Gefühl unbändiger Machterhöhung hervorgebracht? Bramanen: sich mächtige Götter vorstellen und sich Mittel ausdenken, sie in seine Gewalt zu bekommen und als Werkzeuge zu behandeln.
(oder: sich große Menschen in's Gigantische vergrößern und dieselben als Vorstufen für sich selber hinstellen.
4 [175]
Das Gefühl der Macht? Die Askese als Mittel dazu (Vereinigung mit Gott, Verkehr mit Todten usw.) Das der-Welt-absterben ist schon Hochmuth.
4 [176]
Das Gefühl der Macht, insofern man zu einem starken Häuptling Familie Gemeinde Staat gehört – fundamental für Stiftung moralischer Verbindlichkeit; wir ordnen uns unter, damit wir das Gefühl der Macht haben. – Wer dem Vaterland abgeneigt ist, hat doch in Augenblicken der Gefahr desselben sofort seinen Opfermuth wieder: er will das Gefühl der Ohnmacht nicht.
4 [177]
Übergang aus dem Gefühl der Ohnmacht in das der Macht sehr lustvoll: daher oft die tiefste Demüthigung gesucht. David, um nachher -. Vielleicht jüdisch?
Der geheime Hochmuth des Sklaven: religiös z. B. – – –
Die Abgrenzung gegen die Thiere; der Erde gegen die Sterne.
4 [178]
In Betreff eines Dramas wollen die Deutschen, daß man begreife, was geschieht, die Franzosen, daß man begreife, warum es geschieht; sie sind vernünftiger, erstere bleiben bei der Anschauung und der Freude stehen.
4 [179]
Die erste Wirkung des Glückes ist das Gefühl der Macht: diese will sich äußern 1) gegen uns selber 2) gegen Menschen 3) gegen Vorstellungen 4) gegen eingebildete Wesen und Dinge. Vernichten, verspotten, beschenken.
4 [180]
Die Herrschaft über die Natur, die fixe Idee des 20. Jahrhunderts ist Bramanismus, indogermanisch.
4 [181]
Schauspieler-Genie. Ist es denkbar, daß jemand solchen Unsinn aufstellen kann? – Ich selber habe ihn einstmals aufgestellt. Dulce est desipere in loco. – Sed non hic locus.
4 [182]
Man soll doch die Behauptung, daß Moral Aberglaube ist, nicht damit zu widerlegen glauben, daß man sagt, Moral sei unsäglich nützlich und namentlich gewesen: also ein sehr nützlicher, vielleicht unentbehrlicher Aberglaube.
4 [183]
Das Gefühl der Macht heute auf Seiten der Wissenschaft: nicht der Einzelne für sich ("Philosoph") sondern als Glied. Die Fürsten und Völker dienen ihr. – Bramanenthum ist vielleicht zu übertreffen. Was sind die Mittel, die Unabhängigkeit des Einzelnen zu steigern? Das Gefühl der höheren Wesen?
4 [184]
Zu allen Zeiten haben die Menschen darnach gestrebt, zum Gefühl der Macht zu kommen: die Mittel dazu, welche sie erfanden, sind fast die Geschichte der Cultur. Jetzt sind viele dieser Mittel nicht mehr möglich oder nicht mehr räthlich.
4 [185]
Er fühlt sich, sie fühlt sich, es fühlt sich – Mann Frau und Kind.
4 [186]
"Nicht die indischen Götter sind die Geber der Gaben: aus den heiligen Handlungen, aus den Liedern, ja aus deren Metren geht aller Reichthum und alles irdische Glück hervor." W<ackernagel>
4 [187]
Die Gegengabe gegen die moralische Einschränkung des Individuums ist die Steigerung seines Gefühls von Macht (als Mitglied einer Gemeinde, später einer höheren geistigen Menschheit, eines Ordens) Vermöge der moralischen Handlung kann man zaubern. Untergehen mit dem Gefühl der Macht – ein besonderer Kunstgriff, im Sterben siegen ("die Materie abschütteln" usw.)
4 [188]
Die unpersönliche Geistigkeit Gottes ist griechisch, die Juden hatten den Gott ihres Volkes, den Bundesgott, eine Persönlichkeit. Die Christen schwanken, doch mehr jüdisch.
4 [189]
Cyprian "alle außerhalb der Kirche geübte Tugend, selbst das Martyrium ist werthlos".
"felsenfeste Überzeugungen und todesmuthige Gewißheit" soll das Christenthum der alten Welt gebracht haben.
4 [190]
Plato im Grunde Pantheist, doch in der Verkleidung des Dualisten.
4 [191]
Die Spirituosen und Narcotica als Mittel zum Gefühl der Macht. Die Berauschungen der Künste, der Feste der Schönheit der Pflicht
4 [192]
Zu wissen daß so und soviel Personen mit uns sterben als unser nöthiges Gefolge, oder als Gattinnen usw. – giebt ein Gefühl und einen Ausdruck von Macht, der wieder die zukünftigen Opfer stolz macht, als einem so Mächtigen unterthan.
4 [193]
Die Kunst der Schmeichelei vor Gott Fürsten Frauen hat im Werthe eingebüßt; man wünscht jetzt die freie Gefolgschaft oder die widerwillige wird verachtet die Knechtsgebärde: es ist so ästhetischer.
4 [194]
Je nachdem das Gefühl der Schwäche (Furcht) oder das der Macht überwiegen, entstehen pessimistische oder optimistische Systeme.
4 [195]
Es ist das klügste, sich auf die Dinge zu beschränken, wo wir ein Gefühl der Macht erwerben können, das auch von Anderen anerkannt wird. Aber die Unkenntniß ihrer selber ist so groß : sie werden durch Furcht und Ehrfurcht auf Gebiete fortgerissen, wo sie nur durch Illusion ein Gefühl der Macht haben können. Reißt der Schleier, so giebt es Neid.
4 [196]
Von außen her sich seine Macht beweisen lassen, an die man selbst nicht glaubt – also durch Furcht in der Unterordnung unter das Urtheil der Anderen – ein Umweg eitler Menschen.
4 [197]
Die große Leidenschaft der M<acht> (Napoleon Cäsar) man muß dabei eitler erscheinen als man ist, es wollen, um das Gefühl der Macht bei den Werkzeugen (Nationen) zu befriedigen. Für mich und mein Volk Macht und nicht nur das Gefühl in uns, sondern die Macht sichtbar außer uns. Weil eine solche Macht das stärkste und erhebendste Gefühl befriedigt, geht die Geschichte hier ihren großen Gang: die Eroberer sind wirklich die Hauptsache, die inneren Vorgänge der Völker, ihre Nothdurftfragen sind Nebensache d. h. werden immer so empfunden: die Völker wollen lieber Wein als Brod.
4 [198]
Die Macht der Wissenschaft baut jetzt ein Gefühl der Macht auf, wie es Menschen noch nicht gehabt haben. Alles durch sich selber. – Was ist dann die Gefahr? Welches wäre die größte Vermessenheit, vorausgesetzt daß die Wissenschaft eben Wissenschaft bleibt?
4 [199]
Die Blase der eingebildeten Macht platzt: dies ist das Cardinalereigniß im Leben. Da zieht sich der Mench böse zurück oder zerschmettert oder verdummt. Tod der Geliebtesten, Sturz einer Dynastie, Untreue des Freundes, Unhaltbarkeit einer Philosophie, einer Partei. – Dann will man Trost d. h. eine neue Blase.
4 [200]
Gegen Jedermann ein spitzes zweischneidiges aufreizendes Wörtchen haben: das sind die, welche es gern haben, wenn die Ochsen schneller laufen und etwas nachhelfen. Aber es giebt Tollkühne, welche jedermann rasend machen wollen, um sich so der Wirkung ihrer Kraft zu freuen.
4 [201]
Die sogenannten Commensalisten fressen ihre Wohnthiere nicht, benutzen sie aber häufig als Mittel, sich die ihnen zuträgliche Nahrung zu schaffen. Hier haben wir eine Schonung zum Zweck der Ernährung.
Etwas Belebtes um sich zu haben, das nicht Furcht einflößt – könnte den Thieren ihre Jungen anempfehlen. Daß sie ernährt werden wollen, wird errathen. Das Gefühl des Eigenthums, der Herrschaft läßt die Eltern dann sehr gereizt erscheinen, wenn man sie ihnen nehmen will. Vergesellschaftung von Thieren ist wohl eine ebenso alte Sache als Pflege der Jungen.
Wie sich auf vielen Thieren Parasiten ansiedeln, welche das Thier nicht los werden kann, so auch auf Menschen – sie unterscheiden sich von den Dienern, daß sie vom Wirthe leben, wider oder mit seinem Willen, ohne ihn zu Grunde giengen: viele Frauen. Ehemals freies Leben und dazu eine Menge Organe, die dann für das Parasitenleben nicht mehr nöthig sind: sie degeneriren und werden rudimentäre Organe. Giebt es so etwas bei Menschen?
4 [202]
Diese Kriege, diese Religionen, die extremen Moralen, diese fanatischen Künste, dieser Parteihaß – das ist die große Schauspielerei der Ohnmacht, die sich selber Machtgefühl anlügt und einmal Kraft bedeuten will – immer mit dem Rückfall in den Pessimismus und den Jammer! Es fehlt euch an Macht über euch!
4 [203]
Ich empfehle Euch die Mäßigkeitsvereine, nicht als ob Ihr eine Kraft hättet, die zu mäßigen wäre, sondern damit ihr nicht zuviel geistige Getränke trinkt, die Euch das Gefühl der Macht auf Stunden und den Ekel an euch auf die Dauer geben.
4 [204]
Die Asketen erlangen ein ungeheures Gefühl von Macht; die Stoiker ebenfalls, weil sie sich immer siegreich, unerschüttert zeigen müssen. Die Epikureer nicht ; sie finden das Glück nicht im Gefühl der Macht über sich, sondern der Furchtlosigkeit in Hinsicht auf Götter und Natur; ihr Glück ist negativ (wie nach E<pikur> die Lust sein soll) Gegen die Gefühle der Macht ist das Nachgeben gegen angenehme Empfindungen fast neutral und schwach. Ihnen fehlte die Herrschaft über die Natur und das daraus strömende Gefühl der Macht. Die Erkenntniß war damals noch nicht aufbauend, sondern sie lehrte sich einordnen und still genießen.
4 [205]
Selbst aus der Geschichte der Moral soll das Gefühl der Macht strömen: unwillkürlich wird sie gefälscht, der Mensch wird herrlich gedacht, als höheres Wesen mit Eigenschaften, welche die Thiere nicht haben. Fast alle Schriften sind der Schmeichelei gegen den Menschen verdächtig.
4 [206]
Wollen wir durch die Wissenschaft den Menschen ihren Stolz wiedergeben, wie sie ihn aus Kriegen davon trugen, so muß die Wissenschaft gefährlicher werden, mehr Aufopferung bedingen: sich selber preisgeben
4 [207]
Man schuf die Götter, nicht nur aus Furcht: sondern wenn das Gefühl der Macht phantastisch wurde und sich selber in Personen entlud.
4 [208]
Der Luxus ist erniedrigend für den Mann der Erkenntniß. Er ist nicht etwa bloß entbehrlich für ihn, sondern er repräsentirt ein anderes Leben als das schlichte und heroische – und wirkt insofem auf die Phantasie lähmend und widersprechend. Wir sind nicht "zu Hause". Hang zum Luxus geht in die Tiefe eines Menschen: das überflüssige und Unmäßige für das Auge und Ohr als Wasser, worin ein solcher sich wohl fühlt.
4 [209]
Der Taschenspieler scheint neue Causalität darzustellen, die man noch nicht kennt, das erhebt! Ebenso der Dichter durch seine Bilder und Gleichnisse.
4 [210]
Von der Liebe haben nur solche Menschen so emphatisch und sehnsüchtig gesprochen, die wenig davon hatten. Allgemeine Menschenliebe wäre gar nicht auszuhalten: wenn nach uns nicht einer, nein Hunderte sich so sehnten und bemühten, wie es jetzt die Liebenden thun, da würde jeder nach den Zeiten ohne Liebe zurückverlangen. Gefühl der Macht als Basis des Helfenwollens ist schon gefährlich, weil der vorausgesetzt wird, der sich helfen läßt.
4 [211]
Wo man sich auch nur hinstellt in der Geschichte, es war immer der Augenblick einer tiefen Gährung, wo neue Begriffe überall siegten: so ist es nicht erst heute.
4 [212]
Ein Zeitalter des Überganges: so heißt unsere Zeit bei jedermann und jedermann hat damit Recht. Indessen nicht in dem Sinne als ob unserem Zeitalter dies Wort mehr zukomme als irgend einem anderen. Wo wir auch in der Geschichte Fuß fassen, überall finden wir die Gährung, die alten Begriffe im Kampf mit den Neuen; und die Menschen der feinen Witterung, die man ehemals Propheten nannte, die aber nur empfanden und sahen, was an ihnen geschah – wußten es und fürchteten sich gewöhnlich sehr. Geht es so fort, fällt alles in Stücke, nun so muß die Welt untergehen. Aber sie ist nicht untergegangen, die alten Stämme des Waldes zerbrachen, aber immer wuchs ein neuer Wald wieder und zu jeder Zeit gab es eine verwesende und eine werdende Welt.
4 [213]
Wenn doch die Künstler wüßten, was für Phantasie jede größere Erkenntniß zur Voraussetzung hat, wie viel erdacht <werden> und erblühen muß, um unbarmherzig abgeschnitten zu werden! Wir sind ein Fruchtgarten: meint ihr denn, es sei so leicht, die anmuthigsten Erfindungen und Hypothesen einfach zu annulliren? Wir sind gegen uns fast grausam, aber um der Früchte willen, die ihr und Alle haben sollt! – Goethe wußte es, was zum wissenschaftlichen Menschen gehört: er ist ein Ideal, in dem alle menschlichen Tüchtigkeiten sich vereinigen wie alle Ströme im Meer. Warum beurtheilt ihr ihn nach den Arbeitern des Geistes? Wir beurtheilen euch ja auch nicht nach euren Farbenreibern und Statisten.
4 [214]
Die Deutschen haben den betrunkenen Scharfsinn der Hegelianer erlebt, welche Goethe zu erklären vermeinten, indem sie ihn in Schemen zerschlugen, und die widerliche Beschränktheit der Anhänger Wagners, welche aus jeder Schwäche ihres Meisters ein Dogma und eine Aufforderung machten, daß hier jeder schwach sein solle.
4 [215]
Trostmittel: mehr zu ertragen haben als alle anderen, das giebt ein Gefühl von Vorrecht, von Macht.
4 [216]
Wie kann das Gefühl von Macht 1) immer mehr substantiell und nicht illusionär gemacht werden? 2) seiner Wirkungen, welche schädigen, unterdrücken, geringschätzen usw. entkleidet werden?
4 [217]
Wer „in Zungen redet", hat von dem, was er sagt, kein klares Bewußtsein.
4 [218]
Das Herz als jüdischer Begriff, unverständig verfinstert erblindet verhärtet, durch Schmeicheleien zu berücken oder das Gegentheil: seine Funktionen sind die Affekte: das Alte Testament theilt das Vermögen des νους dem Herzen zu: nur Gott vermag in das Herz zu blicken. Das fleischerne Herz: in den Affekten sind die Eingeweide thätig. Ungefähr entspricht es dem Schopenhauerschen "Willen"
4 [219]
Paulus glaubt an einen himmlischen Leibesstoff, den der Auferstehungleib bekommt.
Paulus fühlt, daß er bei den Korinthern äußerlich sehr schüchtern erschienen ist.
"Das paradoxe Todesschicksal ist der Knoten des Räthsels, hier muß man hinter den Rathschluß Gottes kommen können.-
Zunächst stritt der Tod Christi gegen die Messianität: aber das Wunder bei Damascus bewies sie.
Befreit von der σαρξ, erfüllt von dem πνευμα, sind wir nicht mehr unter dem Gesetz. Das Gesetz stellt die αμαρτια der σαρξ in ihrer größten Kraft vor Augen, wodurch sie dem Menschen unerträglich wird. "Im Fleische sein" heißt "im Gesetze sein". Dem Bösen absterben ist auch dem Gesetze absterben. – Welchen tiefen Haß trägt hier Paulus ihm nach!
Paulus hat durch mehrere Acte das Gesetz als abgethan erklärt, es war ihm der wichtigste Punkt. Was jetzt ein Christ that, er hatte es nicht mehr am Gesetz zu messen, das war todt, wie die σαρξ. Einer dieser Acte: Christus hatte es erfüllt
Im Gefühle göttlicher Verzeihung und Gnade die eine Argumentation, die andere im Gefühle der innersten Einvergeistung in Christum durch die Taufe. "Aus dem Glauben und durch Gnade" – das Gesetz sollte die Übertretungen erst provociren.
Der Tod Christi wäre im göttlichen Rathschluß unmöglich, wenn es überhaupt eine Gesetzerfüllung geben könnte: "Käme die Gerechtigkeit durch's Gesetz, so wäre er unnütz gestorben". Sich vom Geiste treiben zu lassen, sich ihm ganz hingeben, ohne den eignen Willen zu befragen –
Das Gesetz ist die Ursache daß ich gestorben bin. Damit bin ich aber dem Gesetz abgestorben. Wenn ein Christ auch sündigt, so doch nicht mehr gegen das Gesetz, er ist außerhalb desselben "Ich lebe nicht mehr ich, sondern Christus lebt in mir. Was ich noch im Fleische lebe, das lebe ich im Glauben an ihn. Wenn ich jetzt das Gesetz wieder aufnehmen wollte (so daß ich mich ihm unterordne), so mache ich Christum zum Mithelfer der Sünde."
Die αμαρτια ist noch da, aber sie ist überwindlich: während unter dem Gesetz die αμαρτια unüberwindlich ist: das sündenwirkende Gesetz ist vernichtet (und zwar die Natur nothwendigkeit der Sünde ist vernichtet)
Die Sünde bald als Schwäche und Unvollkommenheit gegen den heiligen Gott – bald als selbstthätiges diabolisches Princip.
p. 204-5 steht die Schärfe der Sache.
4 [220]
Sobald etwas als wahr gilt, hört alles feinere Verstehen auf, z. B. hat die ganze Christenheit ihren Paulus wort- und satzweise zur Erbauung gelesen, aber die eigentliche Dialektik, seine widerstrebenden Gedankengänge, seine eigentliche Noth und crux: also den leidenden und kämpfenden Paulus gar nicht gefaßt: er war todt d. h. er redete inspirirt, als Mundstück Gottes.
4 [221]
Wer ausschließlich einer einzigen Gattung Musik Gehör schenkt, weiß endlich nicht mehr, wie abscheulich sie klingt: mehr noch, er weiß die feineren und guten Sachen nicht mehr von den schwachen und übertriebenen zu unterscheiden und genießt im Einzelnen weniger als man glaubt, im Ganzen freilich hat er das Gefühl der Macht – seine Musik sei die beste Musik und sei durchweg gute Musik: obschon von beiden das Gegentheil wahr ist. Wer nur sich liebt, kann aus dem schlechtesten Geschmack eine Seligkeit empfinden und daraus ein Gesetz, eine Tyrannei machen: le mauvais goût mène au crime.
4 [222]
Wenn die Don Quixoterie unseres Gefühls von Macht einmal uns zum Bewußtsein kommt und wir aufwachen – dann kriechen wir zu Kreuze wie Don Quixote, – entsetzliches Ende! Die Menschheit ist immer bedroht von dieser schmählichen Sich-selbst-Verleugnung am Ende ihres Strebens.
4 [223]
Ich will der fanatischen Selbstüberhebung der Kunst Einhalt thun, sie soll sich nicht als Heilmittel gebärden, sie ist ein Labsal für Augenblicke, von geringem Lebenswerthe: sehr gefährlich, wenn sie mehr sein will.
4 [224]
Die Griechen in alter Zeit hielten Milch und Honig für die Kost der Götter – das waren keine Weintrinkerzeiten. Den Germanengöttern war Meth der Trank, der Unsterblichkeit gab: da haben wir die Trinker. Soma der Eranier ein berauschendes Getränk, das nur im Opfer vorkommt. Also: man bringt im Gedanken die berauschenden Getränke und die Empfindungen der Unsterblichkeit und Leidlosigkeit in Verbindung. Durch den Genuß des Soma hören für den Sterblichen am Ende der Tage alle Leiden der Sterblichkeit auf, sie gehen zur Seligkeit der Götter über. – Die Entrückung bei Milch und Honig: zu denken an Ninon d'Enchos, welche eine Suppe schon berauschte.
4 [225]
Dionysisch – für uns ist der Wein etwas sehr Nüchternes. Und so suchen wir die Ursache des Dionysischen neben dem Wein und nehmen dessen Wirkung höchstens als Symbol. Umgekehrt! Die Wirkung des Weins war das Neue, was man nur wie ein neues Leben und eine neue Gottheit zu fassen wußte – man verstand andere Erscheinungen darnach symbolisch.
4 [226]
Die epileptische Drehwuth, welche die hysterischen Weiber Griechenlands befiel, wurde mit dem Weintaumel verglichen.
4 [227]
Flössen alle Thränen, die jeden Augenblick auf Erden geweint werden, zusammen, es flösse beständig ein starker Strom durch die "Wiese des Unheils"
4 [228]
Alles ist eitel und vergänglich, nichts dauernder Anstrengung werth; also genieße den Augenblick, das Unheil kommt doch – Salomo
4 [229]
Sich ein Unglück aus dem Sinn schlagen, durch heftige Arbeit, heftiges Vergnügen. Epicureer.
4 [230]
ein schlimmes Ding nicht sehen wollen, seine Existenz nicht zugestehen, es ableugnen, umdeuten, seine intellektuelle Ehre in die Leugnung setzen – ein Trostmittel.
4 [231]
Paulus ist ein Fanatiker und Ehrenwächter des Gesetzes gewesen und hat ihm genug thun wollen: aber es gieng nicht! Die σαρξ! Und dann das Gesetz selbst, das reizte zur Übertretung! – Er hat einen tiefen Haß ihm nachgetragen: es vernichtet zu sehen durch Chr<isti> Tod war sein Triumph, der unbesiegbare Feind dieses herrschsüchtigen Menschen war besiegt.
4 [232]
Der Wein hat anders auf die Griechen gewirkt als auf unsere alkoholisirten Gehirne. "Unvermischter Wein macht wahnsinnig" sagten sie.
4 [233]
Falsche Schlüsse: "ich schätze die Menschen gering, folglich schätzen sie mich hoch" "ich fürchte die Menschen nicht, folglich fürchten sie mich" – aber die umgekehrten Schlüsse sind ebenso falsch. Das Schließen ist hier eben das Falsche: es ist als ob ein Kind schließt: ich mache die Augen zu, folglich sehen mich die Anderen nicht.
4 [234]
Die Genies, die ihren Anhängern ein Stück Gehirn ausschneiden, gleich Hühnern, so daß diese dann halbtrunken und schwankend die Reflexbewegungen der Anbetung ausführen.
4 [235]
Die Christen verlernten das Lesen, und wie hatte sich das Alterthum, in seinen Philologen, bemüht, es zu lernen! Aber die Bibel!
4 [236]
Ehemals meinte man, wo Wein sei, da sei Gott. Wo Erhebung ist, meint man noch, sei Gott. Ach, Erhebung ist wie Wein: Alcohol und Narcose.
4 [237]
Unglück der Menschheit und Grund ihres langsamen Fortschrittes ist, daß man die erhebenden und erregenden Dinge höher geschätzt hat als die nährenden.
4 [238]
Wenn die Menschheit uns im Werthe sinkt (z. B. bei Krankheit), sinkt auch unsre Achtung vor ihren Institutionen, "der Kranke ist ein Schuft" und der Heilige auch!
4 [239]
Sagt nicht, daß die Langeweile sie plagt: sie wollen an nichts anbeißen, weil ihr Wille zur Macht nicht weiß, wie er zu sättigen ist – alles andre ist nichts dagegen.
4 [240]
Bei einem Verbrechen: die furchtbare Erniedrigung im Gefühle der Macht, aus einer unbescholtenen eine bescholtene Familie zu werden. Der Gedanke an Feinde quält nie mehr. Nicht Gewissensbisse!
4 [241]
Wesen der Kunst: eine schädliche Funktion wird ausgeübt, ohne daß sie Schaden bringt. Angenehmste Paradoxie.
4 [242]
Racoczi-Marsch der schönste der Welt.
4 [243]
Man verträgt jetzt die Wahrheit schon über jüngste Vergangenheit, weil die Generationen nicht ihre Ansichten auf die vergangenen gründen und so ihre Ehre haben – sondern sie der früheren Ansicht entgegensetzen und so ihr Gefühl von Macht von Unabhängigkeit haben.
4 [244]
Die großen Staatsmänner haben die Phantasie ihres Volkes – dadurch sind sie groß d. h. wirksam: man empfindet im Volk, daß sie das Gefühl von Macht hervorbringen, nach dem man dürstet. Das eine Volk will die Macht mit Prunk und milit<ärischem> Erfolg, ein anderes will sie mit List und diplomatischer Überlegenheit.
4 [245]
Die großen Fürsten und Eroberer sprechen die pathetische Sprache der Tugend, zum Zeichen, daß diese vermöge des Gefühls von Macht, welches sie giebt, unter den Menschen anerkannt ist. Die Unehrlichkeit jeder Politik liegt darin, daß die großen Worte, welche jeder im Munde führen muß, um sich als im Besitz der M<acht> zu kennzeichnen, nicht sich mit den wahren Zuständen und Motiven decken können.
4 [246]
Ach es ist unmöglich, mit der Sprache der Wahrheit zu wirken: Rhetorik ist nöthig, d. h. die alte Gewohnheit, nur bei gewissen Worten und Motiven bewegt zu werden, regiert und verlangt die Verkleidung der Wahrheit.
4 [247]
Ich sehe vom Interesse und von der Eitelkeit des Einzelnen und der Völker ab: aber das Bedürfniß, Macht in sich zu fühlen, verschwenderische aufopfernde hoffende trauende phantastische Empfindungen daraus quellen zu lassen – das treibt die große Politik als gewaltigstes Wasser. Man handelt da gegen sein Interesse, gegen seine Eitelkeit (denn man hat vielleicht Sklavendienste zu thun, damit die Nation das Gefühl der Macht haben kann, oder sein Leben, sein Vermögen seine Ehre in Gefahr zu bringen) (Tugend)
4 [248]
Man darf den Völkern selbst die Ruhe und das Vergnügen nicht anbieten, ohne den Lorbeerkranz darum: als ob es im Gefühle der Macht erlaubt sei, ruhig und vergnügt zu sein, sonst aber nicht: ja als ob es eine Pflicht sei, sich so zu zeigen, weil man so sich mächtig zeige.
4 [249]
Die Falschmünzerei des Machtgefühls und das Bezahlen mit falschen Münzen ist das größte Leiden der Menschheit. Die Völker werden so betrogen, weil sie einen Betrüger suchen: einen aufregenden Wein für ihre Sinne, nicht eine gute Nahrung. Die Regierungen sind das Mittel, dem Volke jenes Gefühl zu geben: Männer aus dem Volke gewählt, geben es viel weniger als glänzende Eroberer, kühne Verschwörer, alte legitime Häuser: sie müssen etwas haben, an dem man sich berauschen kann.
4 [250]
Die Kriege sind einstweilen die größten Phantasieaufregungen, nachdem alle christlichen Entzückungen und Schrecknisse matt geworden sind. Die sociale Revolution ist vielleicht etwas noch Größeres, deshalb kommt sie. Aber ihr Erfolg wird geringer sein als man denkt: die Menschheit kann so sehr viel weniger als sie will, wie es sich bei der französischen Revolution zeigte. Wenn der große Effekt und die Trunkenheit des Gewitters vorbei ist, ergiebt sich, daß man, um mehr zu können, mehr Kräfte, mehr Übung haben müßte.
4 [251]
Das Christenthum siegte, wie ein starker Wein siegt; das Alterthum betrank sich, weil es sich nicht mehr stark und froh fühlte und sich an große Aufregungen gewöhnt hatte. Die Vorstellung vom Ende der Welt nahm sich angesichts des römischen imperium höchst phantastisch und berauschend aus.
4 [252]
Eigentlich war es für Paulus consequent zu sagen, durch den Tod Chr<isti> und die Vereinigung mit ihm durch die Taufe sei die σαρξ todt und unser Leib somit ein anderer Leib, der himmlische Leib. Aber das war nicht möglich zu sagen, obwohl in einzelnen Moment<en> er es vielleicht glaubte: aber niemand glaubte es ihm! Wenn die Vereinigung also nicht völlig war – wodurch wird sie das? Glaube und Taufe nicht genug. Warum erst bei der Auferstehung? In Nachahmung Chr<isti>! Drei Tage Verwesung?
4 [253]
An der Herrlichkeit Glorie (Ruhm) Gottes theilhaben, Söhne Gottes werden – das ist freilich ein Ziel! Da ist keine Bescheidenheit mehr! Es darf nur ihrer nicht zu Viele geben, sonst ist die Ehre zu gering! Dafür wird gesorgt!
4 [254]
Solche Naturen wie Paulus legen sich alle Erlebnisse nach der Logik ihrer Leidenschaft zurecht. Der Erscheinung von Damasc<us> war der Gedanke vorangegangen: "gesetzt die Christen hätten Recht" – und er hatte die Vortheile geahnt für seine persönliche Pein – vor allem war es ein neuer Versuch, und der Widerwille gegen seinen bisherigen Zustand wurde zu groß. So sah er "Christus" – woher wußte er es! warum glaubte er es, wenn die Erscheinung es sagte? " Warum verfolgst du mich" – es ist nicht vernünftig, sagte sich der kluge Jude.
4 [255]
Paulus als Bekehrer der Heiden: dazu war nöthig "vom Gesetz erlöst zu sein" – stolzeste Aufgabe – - ach der Heilige Paulus! Man sieht bei ihm durch und durch.
4 [256]
Gehorchen, mehr thun als seine Pflicht ist, Lob ablehnen, stolz sein auf Integrität: deutsch. Jetzt haben wir die wüthend gewordene Eitelkeit, und leider sind einige unsrer hervorragenden Denker und Künstler vorangegangen: jeder will mehr bedeuten als sein und macht für sich "Reclame".
4 [257]
Warum macht die Cultur schwach? Carthago unterlag dem weniger cultivirten Rom, die hohe arabische Cultur unterlag usw. Weil in der Cultur die Phantasie-Befriedigung der Macht zu hoch geschätzt und zu leicht gemacht wird: so daß die wahre Macht schwach wird (Macht über sich selbst usw.)
4 [258]
Wie erhob sich das Christenthum über den Begriff eines "erfüllten Judenthums", einer jüdischen Spezialität, während die Nation dabei blieb, ihr Ideal sei noch nicht erfüllt? – Das ist eigentlich die persönliche Geschichte des Paulus, den es vor Juden und Judenchristen davon trieb – er wollte nichts mehr mit dem Gesetz zu thun haben. Daß man Christ werden könne, ohne vorher Jude zu werden – war seine Erfindung. – übrigens war es ein Irrthum: die Christen sind doch Juden geworden.
4 [259]
Soll man denn in der Welt leben, als habe man die Gebote einer höheren Geisterwelt hier durchzuführen und nichts anderes zu thun? Dies könnte geschehen aus Interesse oder aus Eitelkeit oder aus einem Gefühl der Macht (aus der Überzeugung, man gehöre zu dieser Geisterwelt und führe seine eigenen Bedürfnisse durch) Wenn man aber nicht mehr glaubt? Dann leitet uns unser Interesse, unsere Eitelkeit, unser Gefühl der Macht direkt im Handeln, nicht mehr indirekt. Denn alle alten Moralen, so heilig sie empfunden werden mögen, sind aus niederer Erkenntniß entsprungen, sie dürfen nicht mehr herrschen.
4 [260]
Unser Leben soll ein Steigen sein von Hochebene zu Hochebene, aber kein Fliegen und Fallen – letzteres ist aber das Ideal der Phantasiemenschen: höhere Augenblicke und Zeiten der Erniedrigung. Diese schlimme Verwöhnung degradirt den allergrößten Theil des eignen Lebens, zugleich lernen wir die anderen Menschen, weil wir sie nicht in der Ekstase sehen, geringschätzen: es ist ungesund, denn wir müssen die moral<isch>en ästhetischen Ausschweifungen bezahlen. Bei tiefer eingewurzeltem Übelbefinden und innerem Mißmuthe muß die Dosis Erhebung immer stärker werden, wir werden zuletzt gleichgültig gegen den Werth und nehmen mit der stärksten Erregung für lieb. Verfall. – Dieser Prozeß ist in der Geschichte jeder Kunst sichtbar: das klassische Zeitalter ist das, wo Ebbe und Fluth einen sehr zarten Unterschied machen und ein wohliges Gefühl von Kraft die Norm ist: es fehlt immer das, was die tiefsten Erschütterungen hervorbringt: deren Erzeugung gehört in die Periode des Verfalls.
4 [261]
Man glaubte an Napoleon, weil man einen Helfer und Beruhiger nöthig hatte; Paulus glaubte an Christus, weil er ein Objekt nöthig hatte, das ihn concentrirte und dadurch befriedigte. Luther bekämpfte die Geistlichkeit, weil sein ernsthafter Versuch, ihr idealer Ausdruck zu werden, ihm nicht gelungen war, ihm nun überhaupt unmöglich und bei jedermann unmöglich erschien. Er verdächtigte die ganze vita contemplativa mit seinen Erfahrungen; er glaubte an die Bibel, weil er nicht mehr an den Papst glauben wollte, er gab sie in jedermanns Hände und lehrte das allgemeine Priesterthum – er haßte eben die Priesterschaft.
4 [262]
Im tiefsten Kummer, klagend und schreiend in seiner Kammer liegen – und da kommen die Menschen herein, wie das grelle Tageslicht: Aufschreiend und sich das Gesicht verhüllend: ach die Menschen! ach die Menschen!
4 [263]
Herumgehen wie verwandelt, mit einer anderen Schwere in den Füßen, beladen mit einer Last, daß man immer niederfallen möchte, die Töne der Andern kommen wie aus einem dicken Nebel, ihre Gründe klingen wie fließende dumpfrauschende Wasser, es ist hell, und dabei die Empfindung der Nacht.
4 [264]
Einem Regiment treu und gewissenhaft gedient zu haben, welches sich zuletzt als ein böses und verhängnißvolles herausstellt – und nicht mehr zurück, nicht mehr rechts und links können – welche Bitterkeit! In der Schlinge seiner arglosen Tugend sich gefangen sehen! Gewissenhaft sein und als sicheren Lohn die Verachtung derer die das Regiment verachten d. h. der Besten ernten! Da auszuharren kann heroischer sein als die Flucht aus dem Kampf und das Preisgeben der Sicherheit und der Güter.
4 [265]
Es giebt Vorstellungen, welche die Aufgabe des Weins haben: sie erheben vergnügen ermuthigen, aber viel genossen erzeugen sie den Rausch und oft genossen ein Bedürfniß, ohne dessen Befriedigung das Leben oede und unausstehlich wird.
4 [266]
Die moralischen Vorurtheile sind immer noch unentbehrlich: es ist zu bedauern, daß man sie noch nicht entbehren kann, denn die Kräftigung, die sie geben, unterhält die Schwäche und Unkraft, gegen welche sie als Medizin eingenommen werden, am sichersten.
4 [267]
Die Ehre einer Geliebten schonen, indem man sich in einem Kreise, wo man über sie spricht, ihr fast fremd stellt, und jetzt eine Beleidigung ihrer zu hören, welche man nicht rächen darf, um ihren Ruf nicht zu vernichten – gräßlich!
4 [268]
Wer die Krallen jener schönen Katzen erfahren hat, die um die großen Künstler schwärmen, ist nicht mehr der Meinung, daß das Genie den Charakter seiner Umgebung verbessere.
4 [269]
Woran liegt es daß die gemeinen Leute, namentlich im Orient glücklich und ruhig sind? Es fehlen ihnen die falschen Phantasie-Befriedigungen, die geistigen Räusche und Ernüchterungen, sie leben geistig gleichmäßig. Nicht der Geist, sondern die Geistigkeit ist die Gefahr.
4 [270]
Was auf jetzige Deutsche wie berauschend wirkt, das sehe man aus den Themata W<agner>s; was auf frühere, aus Schlillers Themata. Man gedenke Corneilles.
4 [271]
Darf ich doch mitreden! Alle die Wahrheiten sind für mich blutige Wahrheiten – man sehe meine früheren Schriften an.
4 [272]
Der Selbstmord ausgeübt an einer ganzen Epoche unseres Lebens, unserer Erfahrungen – alles soll todt sein – und alles soll vergessen sein – alles soll anders gewesen sein als es war! Paulus.
4 [273]
Die Sprache ist undeutlich geworden, weil so große Unklarheit inder Umgrenzung der Begriffe gewüthet hat und das Bedürfniß nach fester Bestimmung nicht gepflegt ist. Also ist die Aufgabe klar.
4 [274]
Ach die Entwerthung der einfachen Freuden! Die Griechen haben damit angefangen; es sei sclavenhaft, sich mit den αναγκαια genügen lassen. Fröhlich soll es zugehen! Das niedere Volk hat recht! – Luxus herrscht im Geistigen, daran kranken wir. Die Wahrheit ist: ihr lebt sklavenhaft in eurer Überarbeitung, in eurem Zwange der Gesellschaft, ihr braucht die Geistigkeit als Rausch: und sie bekommt euch schlecht.
4 [275]
Die Menschen jeder Zeit, welche Kunstbedürfnisse haben, vor allem aber eine tiefe schwere Gemüthsart, fallen dem Künstler zu, welcher tief und ernst ist, und sanktioniren ihn, indem sie ihm ihre Tugenden unterschieben: er kommt dem gern entgegen. Aber bewiesen für den Künstler ist damit nichts.
4 [276]
Die Seele erfüllt von häßlichen Erfahrungen, häß<lichen> Befürchtung<en>, da muß man freilich anderes von der Kunst verlangen, Reinigung, Durchschüttelung, Vergessen.
4 [277]
Das Nachdenken und die Erfindsamkeit in Bezug auf die elementaren Reize (in Musik und Farben usw.) gehört zum philosophischen Charakter in unserer Zeit: ebenso wie die Naturtreue der Maler. Man geht so weit man kann und ist radikal.
4 [278]
sie verachten die Form: als ob diese Musik das geringste Interesse hätte, wenn sie nicht sich auf dem Hintergrund, der gegensätzlichen Forderung der Form, aufschriebe, gegen ihn abhöbe!
4 [279]
Was ein Künstler an Meinungen Sympathien Antipathien Gewohnheiten Excessen alles nöthig hat, um die Luft sich zu schaffen, in der er seine Produktivität wachsen fühlt, das geht uns alles nichts an: so wenig uns der Boden kümmert, wenn wir Brod essen. Verlangt er freilich, daß wir alles jenes mit ihm theilen, um ganz den Genuß seiner Kunst zu haben, so ist zu antworten, daß der Genuß des größten Kunstwerkes ein einziges verschrobenes Urtheil, eine Verrückung unserer Stellung nicht aufwiegt. Das Kunstwerk gehört nicht zur Nothdurft, die reine Luft in Kopf und Charakter gehört zur Nothdurft des Lebens. Wir sollen uns von einer Kunst losmachen, die ihre Früchte zu theuer verkauft. Hält es ein Künstler nicht in der hellen guten Luft aus, muß er, um seine Phantasie zu schwängern, in die Nebelhöhlen und Vorhöllen hinein, gut: wir folgen nicht. Ebenso wenn er Haß und Neid braucht, um seinem künstlerischen Charakter strenge Treue zu wahren. Ein Künstler ist nicht Führer des Lebens – wie ich früher sagte.
4 [280]
Sich vorstellen, was ein Anderer empfindet, wenn wir dies oder jenes thun – also den Nutzen oder Nachtheil von uns zu berechnen aus dem erschlossenen Nutzen oder Nachtheil eines Anderen, zu welchem ihn unsere Handlung führt – das ist eingeübt im Thierreich in den Mitteln des Schutzes und des Angriffs. Sich die Wirkung auf einen Anderen vorstellen und um des Anderen willen etwas thun – die größte Schule! der Erkenntniß! Dazu hat am wenigsten das instinktive Mitleid geführt, sondern die Angst und deren Phantasie: und ihr Resultat ist vom Hunger (als, Ausgang des Angriffs auf ein anderes Wesen) acceptirt worden. Zu errathen, wie es einem zu Muthe ist, aus seinen Gebärden, ob er fliehen oder angreifen will usw. – ohne die höchste Anspannung des Intellekts durch die Noth hätte man das nicht gelernt. Das Mitleid kommt spät, nach dem alles gelernt ist, es spannt den Intellekt nicht an; es ist für die Kenntniß des Menschen ziemlich unproduktiv.
4 [281]
Die Liebe phantasirt über den Anderen: ihr geheimer Impuls ist, im Anderen so viel Schönes als möglich zu entdecken, oder ihn sich so schön als möglich zu denken. Die Illusion ist hier also eher ein Vortheil. Die Furcht will errathen, was der Andere ist, was er kann und will: die Illusion wäre der größte Nachtheil. Also die Erkenntniß des wahren Menschen ist viel mehr durch Furcht als durch Liebe (Mitleid) gefördert worden.
4 [282]
Ich kenne jene schwellende Brust, jenes Herablächeln auf die irdischen Dinge, jenen heißen Strom, den stolzen Tritt des Fußes, jenes glühende verachtende und hoffende Auge –
4 [283]
Wenn man bedenkt, wie viel Schmerz man übernehmen, wie viele man sich anthun muß, wie fehlerhaft es wäre, die sofortige Befriedigung zu wählen; so ergiebt sich, daß auch im Verhältniß zu anderen Menschen wir Leid machen müssen und nicht gleich befriedigen dürfen d. h. daß das Mitleid uns nicht beherrschen, sondern unsere Einsicht über den Nutzen über das Mitl<eid> herrschen müsse.
4 [284]
Die Männer gründen die Ehe, um das Gefühl der M<acht> zu haben: die Frauen auch (unabhängig sein) Aber sie irren sich beide. Die Liebe ist kein Grund zur Ehe, eher ein Gegengrund: ein tiefes Gefühl verbirgt sich.
4 [285]
Ich habe meine Schriften jederzeit mit meinem ganzen Leib und Leben geschrieben: ich weiß nicht, was "rein geistige" Probleme sind.
4 [286]
Plato wurde ungeduldig, er wollte am Ende sein. Und warum? Sein Gefühl der Macht wollte Befriedigung, jener starke politische Trieb. Die Kürze unseres Lebens verlangt, daß an einem Punkte die Höhe eintritt und das Ziel erreicht ist.- sonst blieben wir ewig in der Schwebe und das hält ma<n> nicht vor Ungeduld aus. Individuell nothwendig der Anschein der Wahrheit.
4 [287]
Plato hielt sich nicht in der Bahn des Socrates, die ersten Eindrücke des Heraclit schlugen vor, Pythagoras war das geheim neidisch angeschaute Ideal.
4 [288]
Wenn die Alten von Nothwendigkeit: αναγκη reden, so meinen sie das Reich, wo es beliebig zugeht (zufällig), wo nicht auf jede Ursache ihre Wirkung folgen muß. Nur der teleologische Bereich, wo die Gottheit ihre Spuren sichtbar werden läßt, macht eine Ausnahme: der Geist bringt Ordnung und Regelmäßigkeit hinein. – Umgekehrt die neueren, welche im Geist das Princip der Freiheit sehen, in der Natur den Zwang.
4 [289]
Man glaubte, wenn man die Eigenschaften eines Dinges verallgemeinerte, auf seine Ursache zu kommen: und die allgemeinste Verallgemeinerung müßte die Ursache aller Dinge sein. So sollte die Vollkommenheit an sich existiren als Wesen, aus dem dann die Tugenden und die tugendhaften Menschen zu erklären seien.
4 [290]
Ich weiß so wenig von den Ergebnissen der Wissenschaft. Und doch scheint mir bereits dies Wenige unerschöpfbar reich zu sein zur Erhellung des Dunklen und zur Beseitigung der früheren Arten zu denken und zu handeln.
4 [291]
Im hingebenden und trotzigen Gefühle der Jugend hängt man sich gerade an jene Lehrer und Männer, die unseren Kräften fremd sind und sich auf den Gebieten erheben, wo wir unsere Mängel fühlen. So triumphiren wir durch unsere Parteinahme über den Zufall, gerade in dem und jenem arm und niedrig geboren zu sein. Später halten wir uns an unsere starken Seiten, weil wir hier allein tüchtig arbeiten bauen können und Meister werden wollen.
4 [292]
Je mehr wir begreifen, wie unsere Werthschätzungen entstanden sind, um so mehr verringert sich ihr Werth und das Bedürfniß nach neuen Abschätzungen stellt sich heraus. Das Studium der ersten und letzten Fragen z. B. verliert jene centnerschwere Bedeutung, wenn wir sehen, durch welche Irrthümer wir unser gegenwärtiges Befinden und ewiges Heil daran gehängt haben.
4 [293]
Daß sich Schopenhauer's Lehre vom "Willen" so leicht einschmeichelt, liegt darin, daß wir auf das Wesentliche derselben schon eingeübt worden sind – durch den jüdischen Begriff "Herz", wie er uns durch Luther's Bibel geläufig geworden ist. Die Empfindung, daß uns etwas leicht fällt und an lauter schon vorhandene Empfindungen anknüpft, gilt uns als Zeugniß der Wahrheit.
4 [294]
Hat einer einen jener großen Aufschwünge ins höhere Reich der Geister gemacht und ihn darstellen können, da macht die Menschheit den Versuch, ihn in sich aufzusaugen: d. h. Viele versuchen in der gleichen Richtung zu fliegen und erst spät beruhigt sich die Begierde. Es sind die Moden im großen Stile, namentlich für die Ehrgeizigsten. Es war die Art, wie man ehemals reiste und Abenteuer suchte.
4 [295]
Die Wissenschaften repräsentiren die höhere Sittlichkeit im Vergleich zu den Welträthsellösern und Systembauern: die Mäßigung Gerechtigkeit Enthaltsamkeit Friedfertigkeit Geduld Tapferkeit Schlichtheit Schweigsamkeit usw.
4 [296]
Die Kunst hat auch die Phantasie-Befriedigung: und es ist diese unschuldiger und harmloser als sonst, weil die Schönheit den Maaßstab des Maaßes mitbringt: sodann weil die Musen sagen: "Wir lügen".
4 [297]
Was bestimmt uns zu so rascher Verallgemeinerung, daß wir nach Einem Zuge uns den Menschen denken und schlechterdings niemand sein Bild eines Andern unausgeführt lassen will? Die Furcht und die Gewohnheit der Furcht: "er zeigt diesen Zug – wie, wenn er immer so wäre? Nehmen wir es der Vorsichthalber an, nämlich wenn es ein gefährlicher Zug ist!"
4 [298]
Die Thiere welche durch eine entsetzliche Buntheit aller Augen auf sich ziehen, werden trotzdem sehr in Ruhe gelassen: sie haben alle eine böse Waffe, ein Gift und dergleichen – Gleichniß.
4 [299]
Wenn wir eine Handlung im Gefühle der Macht thun, so nennen wir sie moralisch und empfinden Freiheit des Willens. Handlungen im Gefühle der Ohnmacht gelten als unzurechnungsfähig. Also die begleitende Stimmung entscheidet, ob etwas in die moralische Sphäre gehört "gut oder böse" ist. Darum dieses unaufhörliche Bemühen um Mittel, diesen Zustand herbeizuführen: es ist der menschliche!
"In Macht Böses thun ist mehr werth als in Ohnmacht Gutes thun" d. h. das Gefühl der Macht wird höher geschätzt als irgend ein Nutzen und Ruf.
4 [300]
sie begeistern sich in der Jugend einmal und sind dauernd dafür dankbar, während sie den Gegenständen dieser Begeisterung ferner werden: aber an einer Kritik hindert sie die Pietät. Die Heiligsprechung nimmt zu im Verhältniß, daß die Begeisterungszeit ferner wird und wir den Objekten uns entrückt fühlen. "Was uns einmal so erhoben hat, muß die Wahrheit gewesen sein" "Jetzt stehen wir fern und können es nicht mehr prüfen: aber damals waren wir ganz darin zu Hause." Der Wahn, daß was erhebt, wahr ist und daß alles Wahre erheben muß, ist die Folge von der Verachtung des Irdischen Materiellen als des Unwirklichen und <der Verehrung> des Geistigen und des jenseits als der wahren Welt, von wo aus alle Regungen kommen, die erheben.
Wenn die Geschichte von Christus in diesem Jahrhundert sich ereignet hätte, so würde der für verrückt gelten, der das glaubte, was jetzt noch viele davon glauben.
4 [301]
Alle Griechen (v. Gorgias Plato's) glaubten, der Besitz der Macht als Tyrann sei das beneidenswertheste Glück: die Ruchlosigkeit desselben vorausgesetzt. Alle waren bemüht, das Entstehen dieses Allerglücklichsten zu verhindern und, wenn er existirte, ihn zu hindern oder zu vernichten. Das höchste Glück, an das jeder glaubte, wurde ganz in das Gefühl der Macht gelegt: dieser Zustand aber als das absolut Unsittliche (Sittenfeindliche d. h. Individuelle Egoistische) behandelt. Man verabscheute und fürchtete den Glücklichen: in seinem Übermuth schont er niemanden. Allmacht wäre in ihren Augen vollendete Rücksichtslosigkeit und Teufelei, nicht zwar Lust zu schaden, sondern Opferung Aller für die Lust des Tyrannen. Ganz so verfährt nun auch der Tyrann des Geistes, er ist der Glücklichste und Gewissenloseste. Gerecht sein ein fortwährendes Opfer, nur zu ertragen in Hinsicht auf den Ruhm bei der Gesellschaft (d. h. auf ein Gefühl der Macht): ohne diesen Erfolg gerecht sein wäre das entsetzlichste Loos. Das ist griechisch gedacht. Aber ohne gerecht zu sein (ohne diese Mühen und Aufopferungen) den Lohn der Gerechtigkeit, den Ruhm haben erschien als das größte Glück. Der praktische Ausweg (da der zum Tyrannen gewöhnlich verschlossen war) war: der Schein der Gerechtigkeit: so wie Napoleon in Worten und Handlungen den edleren Trieben seinen Beifall, ja Lohn zollte und so ihren Glanz für sich gewann. Die Gleichheit der Bürger ist das Mittel zur Verhinderung der Tyrannei, ihre gegenseitige Bewachung und Niederhaltung. Hätte man den Ring des Gyges, so wäre ein jeder ungerecht. – Offenbar haben diese Gleichen über das Glück des Tyrannen wild phantasirt, es war die Begehrlichkeit ihrer Phantasie; noch in der Tragödie ist es des großen Paradoxons, "König sein und unglücklich", "nicht einmal den Perserkönig beneiden" Ausdruck. Das Gefühl der Macht reiche aus, alle Mühsal des Regierens, alle Furcht usw. weit aufzuwiegen (Xenophon's Hiero ist die sokratische Paradoxie, daß nicht viel am Glück des Tyrannen ist!) Der Tugendhafte sei der glückliche – das klang wie verrückt : die Enthaltung war ja so lästig! Zuletzt blieb aber der Tugend stolz des Stoikers übrig, der König und Weise ist: das neue Gefühl der Macht: man kann ihn mit nichts unterwerfen, er regiert. – Jede Philosophie hatte ihre herrische Seite: die Epicureer triumphirten, den Acheron besiegt zu haben und die Todesfurcht, die Furcht vor der Natur: also Herren der Natur zu sein.
4 [302]
Der Hauptvorwurf Plato's geht nicht gegen die Sophisten sondern gegen die Dichter : sie lenken die Jünglinge, welche für Höheres angelegt sind, auf die Bahn des politischen Ehrgeizes – während er sie auf die des philosophischen Ehrgeizes bringen möchte. Die gewöhnliche Art der Befriedigung des Machtgefühls ist der tiefe Schatten, welchen Plato sieht: er will eine andere zeigen. Jetzt könnte man den Vorwurf wiederholen, aber umgekehrt. Die Philosophen befriedigen den Stolz der Jünglinge, wie die Dichter – sie bringen sie ab von der Wissenschaft.
4 [303]
Für mich erdacht und für jene aufgeschrieben, welche einer herzlichen und feinen Antheilnahme an menschlichen Dingen ebenso fähig sind, als sie sich vom zudringlichen Gelüst des Reformators und Sittenpredigers frei wissen – so mögen diese Gedanken – – –
4 [304]
Mill über den platon<ischen> Philos<ophen> der, gleich den Göttern, über die Erde erhaben ist und im Anschauen der wahren Dinge lebt, p. 67.
4 [305]
Die Rangordnung der denkenden Geister ist erst noch zu machen. Bisher hat man die Philosophen zu sehr als Künstler behandelt, ihre Gabe der Darstellung, ihre Phantasie, ihr Colorit-gebenkönnen als Argumente ihrer Genialität behandelt: aber den Grad ihrer Gerechtigkeit, Selbstbändigung außer Acht gelassen: eigentlich sie außerhalb der Moral beurtheilt. Ihre Wirkung entschied, und wer auf die empfänglichsten Menschen, solche welchen ihr Dank rhytmisch über die Lippen quoll, wirkte, galt als der größte: also der Begeisterer der Jugend!
4 [306]
Ach diese Erbärmlichen, welche glauben, die Menschheit möchte in Kürze zu klug werden, und es möchte um ihren Einfluß, ihren Ruhm geschehen sein!
4 [307]
Alle jene Wesen, die ihre Leidenschaft verschlingt Werther Tasso Tristan Isolde rufen uns zu: sei ein Mann und folge mir nicht nach! – und das rufen auch die Menschen der philosophischen Leidenschaft, welche individuell höchste Macht durch Erkennen begehren, Alchymisten sowohl wie Platoniker usw.
4 [308]
Der Impuls, sich zu opfern, gilt für gut. Er ist es an sich nicht : wie sollte Schaden thun irgend jemand anderem (in diesem Falle sich selber) an sich gut sein? Und noch dazu ist dieser Schaden ein so überflüssiger! nichts als ein Gelüst der Herrschsucht und des Trotzes gegen sich, welches sich nicht vernünftig zu befriedigen weiß.
4 [309]
"Wille zum Uriniren" d. h. es giebt einmal einen Druck und Zwang, zweitens ein Mittel, sich davon zu befreien, drittens eine Gewöhnung, es anzuwenden, nachdem es von dem Verstande an die Hand gegeben ist. An sich hat jener Zwang und Druck nichts zu thun mit jener Entladung der Harnblase: er sagt nicht "ich will" sondern nur "ich leide".
4 [310]
Schopenhauer's Lehre ist eine verkappte Teleologie, aber die eines bösen und blinden Wesens, welches Zwecke erstrebt, die nicht zu bewundern und nicht zu lieben sind. Schien es bei der früheren Teleologie, als ob der Kopf des Universums und die hellste gerechteste Einsicht in ihm die Welt und die Menschen gemacht habe – wo man nicht begreifen konnte, warum beide nicht um etwas vernünftiger und gerechter ausgefallen sind -, so scheint bei Schopenhauer der Unterleib des Universums die Wurzel der Dinge zu sein: und die Begierden desselben erfinden sich erst einen Intellekt, um sich mit seiner Hülfe bessere Nester zu bauen. Eins ist so falsch wie das Andere: aber das Letztere ist unklarer, weil es vom Wollen redet ohne von vornherein einen Intellekt anzunehmen, der sich vorstellen konnte was er will: einen solchen Willen in's Blaue (oder in's Dasein!) giebt es nicht, es ist ein leeres Wort.
4 [311]
Vita contemplativa.
Fingerzeige und Wegweiser dahin
4 [312]
Vom Leben der Denker.
Moralische Fragen.
4 [313]
Vademecum Vadetecum
Gedanken über die individuelle Sittlichkeit.
4 [314]
Die moralischen Vorurtheile.
Das Gefühl der Macht.
4 [315]
Die Erlösung.
Was zu verlernen ist.
4 [316]
Wie sich Räuber und große Fausthelden zu Soldaten verhalten, so Philosophen zu wissenschaftlichen Menschen. Freilich: die ersteren machte man zu Heroen, diese zu Genies!
4 [317]
In den wissenschaftlichen Menschen leben die Tugenden der Soldaten und ihre Art Heiterkeit – es fehlt ihnen die letzte Verantwortlichkeit. Sie sind streng gegen sich, gegen einander und erwarten für das Gute nicht, gelobt zu werden. Sie sind männlicher und haben eine Vorliebe für Gefahr, sie müssen sich tüchtig machen, das Leben für die Erkenntniß aufs Spiel zu setzen: sie hassen die großen Worte und sind harmlos, und etwas geckenhaft.
4 [318]
Ich werde von der größten Krankheit der M<enschen> sprechen und will zeigen, daß sie aus der Bekämpfung anderer Krankheiten entstanden ist: daß das anscheinende Heilmittel auf die Dauer Schlimmeres erzeugt hat, als das ist, was durch dasselbe beseitigt werden sollte.
Werden sich meine Leser einen einzigen Gedanken und diesen in hundert und aberhundert Wendungen und Beleuchtungen gefallen lassen? Aber es ist ein Erforderniß der allgemeinen Gesundheit, und man hat Härteres in ihrem Dienste gethan als ein Buch zu lesen, das nicht zu den unterhaltenden gehört.
4 [319]
schwärmerische mädchenhafte Empfindungen von sogenannter Seligkeit, Träume von bekehrten und geretteten Wüstlingen, Treue bis zum Sprung ins Wasser, und der Geliebte selber etwas Furchtbares Unheimliches, ein Mann unbekannter Unthaten, aber ein Übelthäter ohne Schuld, der zugleich ein verkappter Gott und Prinz ist, und alles in sehr reizvoller Natur – das sind jetzt die Erholungen des eisernen Deutschlands. – Böse Harmonien, wüthende Rhythmen und unsägliches chromatisches jammern, der Wechsel aller Tonarten als Sinnbild der Unbeständigkeit aller Dinge unter dem Monde – so wird die Wirklichkeit beschrieben.
4 [320]
Ungarische Rhapsodie II – eine so gute und zugleich so ausgelassene Musik, als ob Gott des Teufels geworden sei.
4 [321]
Die "Erkenntnisse mit Einem Schlage", die "Intuitionen" sind keine Erkenntnisse, sondern Vorstellungen von hoher Lebhaftigkeit: so wenig eine Hallucination Wahr<heit> is<t.>
4 [322]
Der Dünkel, das Gefühl der Macht ist oft ganz unschuldig und gebärdet sich wie ein Kind, ohne von gut und böse zu wissen.
4 [323]
Ehemals meinte einer Wunder wie weiter von sich aus gekommen sei, heute unterschätzt mancher umgekehrt sein eigenes Zuthun und sieht nur auf sich Gewirktes.