Friedrich Wilhelm Nietzsche
Fragmente Anfang 1880 bis Sommer 1882, Band 3
Friedrich Wilhelm Nietzsche

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[Frühjahr 1880 bis Frühjahr 1881]

[Dokument: Mappe mit losen Blättern]

10 [A1]

Ja wir wollen daß die Menschen mäßig und anständig und gerecht leben – aber Alle? Das wage ich nicht zu entscheiden. Die Menschheit <würde> zu rasch zu Ende sein!

10 [A2]

Unser Genie und unsere Tugend wächst mit unserem Haß.

10 [A3]

Wenn sehr liederliche M<enschen> endlich es satt haben und zu Predigern der Keuschheit werden, so ist dies ganz ehrlich – sie kennen die fürchterliche Seite der Sache (wie Sophocles dem Pericles einmal die Lehre gab:) allein oder behalten sie nur in Erinnerung, das Ekelhafte und Selbstverächtliche daran. – Dann giebt es wirklich M<enschen>, die die Wollust aus Hörensagen kennen und entsetzlich fürchten – auch diese predigen Keuschheit, nach der Bibel.

10 [A4]

die große Oper, französisch-italiänisch-jüdischer Herkunft

10 [A5]

Die Unfälle und tiefen Leiden sind durch nichts auszuschließen. Sollen wir darauf unser ganzes Leben und Sinnen einrichten? αταραξια. Möglich ist sie. Aber tapfer ist sie nicht! (Semitisch.) – Aber nein! Wir wollen nicht uns das Gute verderben, und schließlich haben wir Ein Mittel – – – –

10 [A6]

Pfui, solche wohlfeilen Tugenden! Ein paar Blätter gegen Thierquälerei schreiben!

10 [A7]

Das Pathos des dramatischen Künstlers ist Gegenstand des Spottes wenn es sich anders als auf der Bühne zeigt – er ist vor allem eben Schauspieler.

10 [A8]

Man muß die Probe machen, wer von den Freunden und denen, welchen „unser Wohl am Herzen liegt", Stand hält: behandelt sie einmal grob.

10 [A9]

Gedächtniß: wir merken, daß wir uns der Sache nähern, wir erreichen eine Empfindung, die wir, als wir die Sache dachten, gelegentlich auch hatten.

10 [A10]

Wir sehen die Dinge leichtfertig, wenn wir uns so einseitigen Betrachtungen hingeben und fanatisch thun – es ist unsere Art Leichtfertigkeit. Wir wissen wohl, daß es unergründlich ist. Ein Künstler dagegen würde, wenn er so weit käme, Wunder meinen, wie streng und ernsthaft er geworden sei.

10 [A11]

Es giebt in Bezug auf Sachen Hingebung (von der aus Deduction) und Stolz (Induction)

10 [A12]

Das merkwürdigste Buch? NB

10 [A13]

Napoleon sagte oft, er allein habe den Gang der Revolution aufgehalten, nach ihm werde sie ihn fortsetzen. – "Er kannte seine Zeit ganz genau und bekämpfte sie fortwährend." "Er hat den Sinn aller Worte umgewandelt und alle Parteien entarten gemacht." R<émusat>

10 [A14]

Oft ist es nöthig, sich mit jemand zu verbünden, um ihn zu unterdrücken. Wenn wir als die besten Kenner von jemandem gelten, so wiegt unser Abfall furchtbar schwer.

10 [A15]

Dienste bezahlen, so daß nicht mehr von ihnen gesprochen wird. – Übertriebene Belohnungen erzeugen Pretention, aber keine Erkenntlichkeit. R<émusat>

10 [A16]

Die Seelen seiner Umgebung erheben, indem man seinen Glanz mit ihnen theilt: Napoleon gab nichts ab, er war eifersüchtig, er wollte allen Glanz haben – so verkleinerte er seine Umgebung und verstimmte sie.

10 [B17]

Die unmittelbare Nachahmung eines Gefühls und nachherige Unterschiebung eines Anlasses

Musik Däm<merung>

Woher diese Übung? Die Furcht hat dazu genöthigt, alle Gebärden nachzumachen, um Rückschlüsse über die Empfindung zu haben (beim Feind)

Innervation der Gesichter furchtsamer und gefallsüchtiger Frauen

Diese Fähigkeit nimmt ab unter stolzen selbstherrlichen Menschen – sie nimmt zu in ängstlichen Zeitaltern (das Verständniß der nachahmenden Künste wächst da)

10 [B18]

Woran liegt es, daß ich immer nach Menschen dürste, welche nicht Angesichts der Natur, eines Ganges auf den befestigten Höhen über Genua, klein werden! Weiß ich sie nicht zu finden?

10 [B19]

Die Aufgeregtheit, das Nervöse – ist eine fortwährende Ängstlichkeit.

10 [B20]

Wir lernen die Dinge nicht mehr kennen, weil keine Gefahr uns zwingt, sie kennen zu müssen. Es wird eine Liebhaberei daraus: und an ihrer Stelle auch eine Faulheit.

10 [B21]

Alles zusammenzustellen, worin ich vergebe. Über den Sünden stehen, sie zugeben.

10 [B22]

Die Epicureer Melancholiker mit schwachem Magen – daher ihre "Baucheslust"

10 [B23]

Horaz und Katull übersetzten aus dem Griechischen und machten alles Fremdartige zeitgemäß und rom-gemäß, mindestens rom-bekannt. Kein Romanticismus also!

10 [B24]

die Sache ist weder Raub noch Räuber werth ego

10 [B25]

Unsere erste Freude bei einem Dichter ist, einem Gedanken, einer Empfindung zu begegnen, die wir auch haben; z. B. Horaz, wenn er von seinem Landgut redet. Dann daß er unsere Gedanken so hübsch sagt! – er ehrt uns damit!

10 [B26]

Träume: die Kröte essen. – "Alpa Alpa, wer trägt seine Asche zu Berge?" – der blutige Mond.

10 [B27]

Ich bin oft beschämt darüber, wie gut ich es jetzt habe, und es spornt mich gewaltig an, zu denken, was Einer mit dieser Mus(se) machen könnte – und ich!

10 [B28]

Der Kriegszustand der Seele beginnt erst! Mag werden draus was da wolle: vorwärts! Falschheit verachten, alles Leiden heiter ertragen, was dabei uns trifft, im Hagel mit nacktem Leibe gehen – das Unrecht, das wir uns selber thun, verachten und ertragen – er spottet über "Gesundheit" "Wohlbefinden" usw.

10 [B29]

Auch beim Geringsten, was wir absichtlich thun, z. B. kauen, ist das Allermeiste unabsichtlich. Die Absicht bezieht sich auf ein ungeheures Reich von Möglichkeiten.

10 [B30]

Instinktiv die Menschen errathen. Carnot enthüllte Jourdan, Hoche, Bonaparte.

10 [B31]

Als ich Schopenhauer gleich meinem Erzieher feierte hatte ich vergessen, daß bereits seit langem keines seiner Dogmen meinem Mißtrauen Stand gehalten hatte; es kümmerte mich aber nicht, wie oft ich "schlecht bewiesen" oder "unbeweisbar" oder "übertrieben" unter seine Sätze geschrieben hatte, weil ich des mächtigen Eindrucks dankbar genoß, den Schopenhauer selber, frei und kühn vor die Dinge, gegen die Dinge hingestellt, auf mich seit einem Jahrzehnd geübt hatte. Als ich später Richard Wagner meine Verehrung bei einem festlichen Anlaß darbrachte, hatte ich wiederum vergessen, daß seine ganze Musik für mich auf einige hundert Takte, hierher und dorther entnommen, zusammengeschrumpft war, welche mir am Herzen lagen und denen ich am Herzen lag – es wird wohl noch jetzt der Fall sein – und nicht weniger hatte ich vergessen über dem Bilde dieses Lebens – dieses mächtigen, in eigenem Strome und gleichsam den Berg hinanströmenden Lebens – zu sagen, was ich von Richard Wagner in Ansehung der Wahrheit hielt. Wer möchte nicht gern anderer Meinung als Schopenhauer sein, habe ich immer gedacht – im Ganzen und Großen: und wer könnte Einer M<einung> mit Richard Wagner sein, im Ganzen und im Kleinen!

10 [B32]

Ce qui importe, ce ne sont point les personnes: mais les choses. Carnot.

Als (nach Victor Hugo) Napoleon perça sous Bonaparte, trat Carnot mit ihm in den Kampf, er sprach gegen das Consulat auf Lebenszeit er votirte für die Erhaltung der Republik. 1814 vergaß er das Kaiserthum, um sich zu erinnern, daß das Vaterland in Gefahr ist. Napoleon sagt "Carnot ich habe Sie zu spät kennengelernt." "Niemand hat mir so sehr den Eindruck der wahren Größe gegeben als Carnot" Niebuhr

10 [B33]

Zuspruch an einen Freund. Es ist noch nicht zu spät für dich, zur Größe des Charakters zu kommen.

10 [B34]

aus gleichende Naturen, welche unter Franzosen oder Amerikanern den Haß gegen die Deutschen, unter Deutschen den Haß gegen die Juden in sich durch ein absichtliches Wohlwollen ersetzen – nicht aus Widerspruch, sondern aus einem Bedürfniß der Gerechtigkeit. So gegen ganze geschichtliche Perioden gestimmt!

10 [B35]

Zehn Jahre Lehrer und nie gestraft.

10 [B36]

Heißes Wasser, im Freien und im Gehen geistig arbeiten, reinliche und sparsame Gewohnheiten, Vormittag in freier Luft; Zeiteintheilung von soldatischer Strenge. Abendliche Abrechnung im Geiste der antiken Philosophen.

10 [B37]

Wir glauben das Fatum nicht, bei schwachen Personen und wechselnden Dingen.

Unsere Meinungen über das Fatum sind Fatum.

Die Welt der Zweckmäßigkeit ist als Ganzes ein Stück der unzweckmäßigen vernunftlosen Welt.

1. Wollten wir das wirkliche Dasein intellektuell oder 2. moralisch abschätzen: so erscheint es niedrig intellektuell und niedrig moralisch. Und es wäre ein Ekel zu leben! Thun wir also diese Prädikate heraus aus der Welt! Auch das Individuum als ganzes ist so dumm und so unmoralisch wie die übrige Welt und selbst das beste Individuum darin!

Also entweder zu Grunde gehen wollen! oder loben und tadeln verlernen. Indifferenz

Preis der todten Welt. Die Triebe und ihre Entwicklung zeigen zuletzt ihre Unvernunft, sie widersprechen sich (in der Form des Intellekts, der das Dasein nicht mag) wie der Schmerz dasselbe zeigt.

Unsere Klugheit ist dem Dasein gewachsen

10 [B38]

Menschen um sich aussuchen, unter denen man sein ideales Menschenthum bewahren und zeigen kann. Sich zuerst die Aufgabe leichter machen, und dann fremdere Menschen allmählich in den Kreis hineinnehmen. – Zuerst aber seinen Kreis bilden, andere fortjagen.

Vielleicht führen wir so Zustände herbei, die die Selektions-Zweckmäßigkeit erst in Jahrtausenden und einer viel geschwächteren Menschheit bietet! (wie ihr Maaß von Intellekt nun einmal ist! = die Lichtverschwendung der Sonne usw.)

10 [B39]

Ich bin peinlich gerecht, weil es die Distanz aufrecht erhält.

10 [B40]

ich halte die Nähe eines Menschen nicht aus, der spuckt

10 [B41]

Welche Eigenschaften des Menschen ungünstig für Selection sind, also von Weibern nicht bevorzugt werden? Bücher sind Mittel, sie doch fortzupflanzen.

10 [B42]

Auch bei den Menschen Experimente nöthig wie bei Darwinismus.

10 [B43]

Irrsinn ohne Wahnvorstellungen (Affective Insanity)

a) Impulsiver Irrsinn, wo man willenlos folgen muß.

Manie sans délire

(vielleicht als abortive oder maskirte Epilepsie?)

10 [B44]

Der Neger versteckt den Fetisch, wenn er etwas nicht sehen soll, unter seinem Kleide.

10 [B45]

Bei den Südsee-Insulanern ist der Adel unsterblich, die Bürgerlichen nicht.

10 [B46]

1) Mein Erfolg bei den Schwarmgeistern: dessen war ich bald müde und mißtrauisch

2) ich habe nie über Nicht-Beachtung geklagt und kenne das Gefühl nicht.

3) ich hoffe schrittweise den höheren Naturen näher zu kommen, weiß aber kaum, wo sie sind und ob sie da sind! Bisher habe ich immer auch meine Lobredner und Tadler überwunden, wenn ich eine Stufe weiterging (und mich überwand)

10 [B47]

die Erhabenen suchen sich nachzuheben, dorthin, wo ihre Phantasie Halt machte – sie möchten so gerne über sich hinaus.

10 [B48]

Spencer meint, die Menschheit sei unvermerkt zu allem Richtigen gelangt, was ihr noth thut – zu Urtheilen, die mit der Wahrheit stimmen!! Unsinn! Das Gegentheil!

10 [B49]

Bismarck, dessen Verdienst ist den Deutschen das Vergnügen an den europäischen Partei-Schablonen zu verleiden.

10 [B50]

welche Heiterkeit ist jetzt möglich! wir haben die Gespenster verjagt und uns zur Unvernunft das Recht erworben: wir wollen nicht mehr klüger sein als die Welt es ist!

10 [B51]

Der Einzelne kann jetzt wirklich ein Glück erreichen, das der Menschheit unmöglich ist. Ehemals Adel: jetzt gehört nur dazu, daß man die Anderen als Sklaven fühlt, als unseren Dünger

10 [B52]

Ich wünsche der Wissenschaft etwas die Feierlichkeit zu nehmen – es ist jetzt eine Lustbarkeit geworden, da keine Sorgen hinter ihr sind. Ich glaube, es ist bald ein Überschuß von Geist da, der verschwendet werden muß!

10 [B53]

Bis jetzt machen wir uns die Dinge noch schwer (z.B. bei der Übervölkerung), weil wir nicht wagen, unsere neuen Werthschätzungen durchzuführen. Man muß es bald dem Leben anmerken, daß mit einem Überschuß von Geist gelebt wird!

10 [C54]

  1. § Mensch der Erkenntniss, sein Werden, seine Aussichten.
  2. § Ur-Moral
  3. § Christenthum
  4. § Zeit-Moral (Mitleid).
  5. § Orientirung über die nächste Umgebung, Stände Völker usw.
  6. § Aphorismen über die Affecte.

10 [D55]

Zuerst hat man in seiner intellektuellen Leidenschaft den guten Glauben: als die bessere Einsicht sich regt, tritt der Trotz auf, wir wollen nicht nachgeben. Der Stolz sagt, daß wir genug Geist haben, um auch unsere Sache zu führen. Der Hochmuth verachtet die Einwendungen, wie einen niedrigen trockenherzigen Standpunkt. Die Lüsternheit zählt sich die Freuden im Genießen noch auf und bezweifelt sehr, daß die bessere Einsicht so etwas leisten kann. Das Mitleid mit dem Abgott und seinem schweren Loose kommt hinzu, es verbietet seine Unvollkommenheiten so genau anzusehen: dasselbe und noch mehr thut die Dankbarkeit. Am meisten die vertrauliche Nähe, die Treue in der Luft des Gefeierten, die Gemeinsamkeit von Glück und Gefahr. Ah, und sein Vertrauen auf uns, sein Sichgehenlassen vor uns, es scheucht den Gedanken, daß er Unrecht habe, wie einen Verrath, eine Indiskretion von uns.

10 [D56]

Wenn das Gute an sich gut wäre, so wäre es eine Beschränkung von Gottes Allmacht: er schafft alles, dies gebietet und jenes verbietet er dem Geschaffenen, die Kraft zu beiden hat er ihm gegeben. Wäre es an sich gut und böse, so hätte Gottes Gebot und Verbot keine Nothwendigkeit. Wäre das An-sich zu erkennen, so brauchte der Mensch Gott und Priester nicht. Folglich dekretiren diese: die Moral ist nur von Gottes Befehl aus, nicht aus Nutzen und Nachtheil der Handlungen zu begreifen. Sie wehren diesen Standpunkt der Kritik der Handlungen ab.

10 [D57]

"Frühstücks-Schönheit"

10 [D58]

Ist denn die Moralität eines Priesters eine größere, weil er das Interesse der Kirche fortwährend zur Richtschnur hat, und sen eigenes dagegen zurücksetzt? Ist nicht dieses Empfinden als großer Complex nur eine stolzere Art von Selbstigkeit? Und ebenso bei der Mutter in Bezug auf ihr Kind? Bürger in Bezug auf den Staat? Diese "Entselbstung" ist ganz scheinbar: man lebt für seine Passion! und opfert etwas Geringeres von sich!

10 [D59]

Den Menschen der sympathischen und uninteressirten Handlungen als den moralischen anzusehen ist eine Mode, an der das Christenthum für Europa schuld sein mag. Sonst gilt der sich stark verantwortlich fühlende, für sein Heil und sein höchstes Interesse für moralisch, der "ich" noch mehr sagt als alle Anderen: selbst wenn er die Anderen dabei sich opfert, wie die großen Eroberer. Niemandem schaden, und ihm so viel als möglich nützen, sich aber am meisten – dies hat nicht als moralisch gegolten, weil man es für unmöglich ansah. Und mit Recht! So ist die Natur der Dinge nicht, daß man zwei entgegengesetzte Passionen zum Einklang bringen könnte. Indem wir da sind und indem wir uns durchsetzen und auf das Höchste ausbilden, müssen wir unser Interesse für höher achten als anderer und daraus die Kraft nehmen: man kann keinen Schritt weit thun, ohne irgend das Interesse eines Anderen zu verletzen. Schon weil wir es nicht genug kennen können, ist eine Richtschnur nach dem Interesse jedes Einzelnen und aller Anderen unmöglich. Ja, gegen uns selber ist es ebenso: was wir zu unserem Hauptinteresse dekretiren, das lebt auf Unkosten der anderen Interessen von uns. In uns selber ist jene Unmöglichkeit schon bewiesen. Die "Rechtlichkeit" die Schonung fremder Rechte ist nur in einem sehr groben Sinn möglich. Ihre Quelle ist eine feinere Ungerechtigkeit, es ist eine Existenzbedingung für einen sehr groben Begriff von "Existenz"! Aber das Existiren-wollen ist schon ungerecht.

10 [D60]

Es ist eine solche Anpassung wie sie Spencer im Auge hat denkbar, doch so daß jedes Individuum zu einem nützlichen Werkzeuge wird und sich auch nur so fühlt: also als Mittel, als Theil – also mit Aufhebung des Individualismus, nach dem einer Zweck und eine Ganzheit sein will, und zwar in beiden eine Einzigkeit! Diese Umbildung ist möglich, ja vielleicht läuft die Geschichte dahin! Aber dann werden die Einzelnen immer schwächer – es ist die Geschichte vom Untergang der Menschheit, wo das Princip der Uninteressirtheit des vivre pour autrui und die Socialität herrschen! Sollen die Einzelnen stärker werden, so muß die Gesellschaft ein Nothzustand bleiben und große Veränderungen immer zu erwarten haben: eine vorläufige Existenz immerfort führen.

10 [D61]

Ein Schritt weiter im Sinn für Wirklichkeit und er unterdrückt den abenteuernden Sinn, den Flug in's Freie, es erscheint als unerlaubt, auf so weniges Wissen, auf so schwache Analogien hin zu behaupten und auf diese Behauptungen hin zu vermuthen. Die spontane Überkraft geht im Joch der Vorsichtsmaßregeln, Aufsammlung des Materials, Skepsis in der Beurtheilung der einzelnen Materialstücke. Also – die intellektuelle Immoralität ist nothwendig, bis zu irgend einem undefinirbaren Grade.

10 [D62]

Bei Milton und Luther, wo die Musik zum Leben gehört, ist die mangelhafte fanatische Entwicklung des Verstandes und die Unbändigkeit des Hassens und Schimpfens vielleicht mit durch die Undisciplin der Musik herbeigeführt.

10 [D63]

In wiefern der Handelnde gegen sich – gewissenlos ist? –

Der Verstand, der die dritte vierte fünfte Folge einer That voraus erwägt, muß trotzdem irgendwo Halt machen und auf Unsicherheiten hin handeln d. h. mit dem Gefühle der unvollkommenen Einsicht in die Folgen doch thun als ob er sicher wäre in Bezug auf die Folgen: riskiren mit der Miene der Entschlossenheit und unbedingten Einsicht d. h. schauspielern oder sich selber täuschen, sein intellektuelles Gewissen zum Schweigen bringen.

10 [D64]

Der ungerechte Untergrund bei den Edelsten z. B. bei Christus

10 [D65]

Die sämmtlichen moralischen Qualitäten bei jedem Menschen in verschiedenen Verhältnissen: es sind Namen für unbekannte constitutive Verhältnisse der physischen Faktoren.

10 [D66]

Nothwendigkeit, eine wachsende füllende Erregung durch eine ausleerende Erregung (Wuth auslassen, Rachegedanken usw.) auszulösen. Beispiel: der Kopfkranke, der ein lautes Fest in der Nähe hat und endlich, weil der Schmerz zu groß ist, seine Gedanken auf einen Feind richtet und ihm im Geiste wehe thut: oder auch mit Fäusten sich selber schlägt. Hier ist etwas Unmoralisches das physisch gebotene Heilmittel gegen Wahnsinn: ein Beispiel, wie die unmoralischen Handlungen den Werth von Gesundheitsfaktoren haben.

10 [D67]

Objekt und Subjekt – fehlerhafter Gegensatz. Kein Ausgangspunkt für das Denken! Wir lassen uns durch die Sprache verführen.

10 [D68]

Jean Gerson: "Gott will gewisse Handlungen nicht, weil sie gut sind, sondern sie sind gut, weil er sie will, ebenso wie andere böse sind, weil er sie verbietet." Die Jesuit<en>.

10 [D69]

Der Zweck der Handlung und der Zweck des Handelnden zu unterscheiden.

10 [D70]

Escobar: "in Wahrheit, wenn ich an die Verschiedenheit des moralischen Gefühls denke, so denke ich, es ist das eine glückliche Wirkung (effet) der Vorsehung, denn die Verschiedenheit der Meinung hilft uns, das Joch des Herrn angenehmer zu tragen."

10 [D71]

Der beste und geistigste Mensch hat den groben beleidigenden Anblick des betrügenden und absichtlich sich bejahenden Menschen (auf Unkosten der Anderen) von seinen Augen entfernt, er hat sich in so feine und schleierhafte Sphären zurückgezogen, wo jenes Element engelhaft erscheint. Er ist der feinste Ungerechte, er hat verstanden, den Augenschein gegen seine Ungerechtigkeit zuhaben.

10 [D72]

99 Theile alles "Schaffens" ist Nachmachen, in Tönen oder Gedanken. Diebstahl, mehr oder weniger bewußt.

10 [D73]

Seid zehnmal kalt und unfreundlich gegen jemand, endlich ist es euer Gesetz, euer tägliches Quantum.

10 [D74]

Der übermäßige Gebrauch von Musik und geistigen Getränken, durch welchen die Verstandeskräfte eines Volkes leiden, während seine Affekte zunehmen – so daß, nach den zuverlässigsten Aufstellungen, die Deutschen an Selbstmördern alle V<ölker> übertreffen, und zwar im Verhältniß zu dem Reinerwerden der Rasse.

10 [D75]

Wir sind in das Zeitalter der diplomatischen Kunstfertigkeit eingetreten. Niemand glaubt mehr an ein Versprechen, an eine gründliche Untersuchung von Nothständen, an dauerhafte unveränderte Lage der Machtverhältnisse, man improvisirt und arbeitet mit verstellter Begünstigung bald dieser bald jener Meinung und Partei. Der Zweck heiligt die unheiligen Mittel nicht mehr, aber man vergißt sehr schnell.

10 [D76]

Wir können unsere "geistige Thätigkeit" ganz und gar als Wirkung ansehen, welche Objekte auf uns üben. Das Erkennen ist nicht die Thätigkeit des Subjekts, sondern scheint nur so, es ist eine Veränderung der Nerven, hervorgebracht durch andere Dinge. Nur dadurch daß wir die Täuschung des Willens herbeibringen und sagen "ich erkenne" im Sinne von "ich will erkennen und folglich thue ich es" drehen wir die Sache um, und sehen im Passivum das Aktivum. Aber auch das Wort Passiv-activ ist gefährlich!

10 [D77]

Jene Formen der Erkenntniß sind Erzeugnisse aus den Wirkungen anderer Dinge auf uns. Wir statten alle Dinge mit ihnen aus, weil alle Dinge uns mit ihnen ausgestattet haben. Unsere Thätigkeit ist scheinbar produktiv.

10 [D78]

Wie klein ist der Kreis des Idealismus bei den jungen Männern! Sie denken über Umgang Ehre Beförderung Einfluß so gering. Ja, sie sind in allem banaler, weil ihre Energie und ihr Schwung für jeden kleinen Bereich verbraucht wird. Und wie täuschen sie, wenn der Blick des Anderen darauf fällt!

10 [D79]

Das Vervollständigen (z. B. wenn wir die Bewegung eines Vogels als Bewegung zu sehen meinen) das sofortige Ausdichten geht schon in den Sinneswahrnehmungen los. Wir formuliren immer ganze Menschen aus dem, was wir von ihnen sehen und wissen. Wir ertragen die Leere nicht – dies ist die Unverschämtheit unserer Phantasie: wie wenig an Wahrheit ist sie gebunden und gewöhnt! Wir begnügen uns keinen Augenblick mit dem Erkannten (oder Erkennbaren!) Das spielende Verarbeiten des Materials ist unsere fortwährende Grund-Tätigkeit, Übung also der Phantasie. Man denke als Beweis, wie mächtig diese Thätigkeit ist, an das Spielen des Sehnervs bei geschlossenem Auge. Ebenso lesen wir, hören wir. Das genaue hören und sehen ist eine sehr hohe Stufe der Cultur – wir sind noch sehr fern davon. Die Lügnerei wird doch gar nicht darin gefühlt! Dieses spontane Spiel von phantasirender Kraft ist unser geistiges Grundleben: die Gedanken erscheinen uns, das Bewußtwerden, die Spiegelung des Prozesses im Prozeß ist nur eine verhältnißmäßige Ausnahme – vielleicht ein Brechen am Contraste.

10 [D80]

Sacharj. 9,9. J<esus> soll einziehen auf der lastbaren Eselin und dem Eselsfüllen. Die erstere – das sind die Juden, die an ihn glauben, sie haben das Joch des Gesetzes getragen. Das Füllen sind die Heiden, die gesetzlos lebten: aber Christus legte ihnen den Zügel seines Worts auf, da legten sie sich willig nieder und liessen sich alles, was er wollte, aufladen.

Das Abendmahl (eucharistische Mahl). Das Opfer des Weizenmehlkuchens war angeordnet für die, welche sich vom Aussatze reinigen wollten.

10 [D81]

Der Kampf um die Deutung des alten Testaments: nach alexandrinischer Methode wurde es ganz als ein Buch christlicher Lehre gedeutet.

Im Kampf mit den Juden, welche die messianischen Stellen anders auslegten. Justin spottet über deren exegetische Kunststücke.

10 [D82]

Eine Welt ohne Subjekt – kann man sie denken? Aber man denke sich jetzt alles Leben auf einmal vernichtet, warum könnte nicht alles andere ruhig weiter sich bewegen und genau so sein, wie wir es jetzt sehen? Ich meine nicht, daß es so sein würde, aber ich sehe nicht ein, warum man es sich nicht denken könnte. Gesetzt die Farben seien subjektiv – nichts sagt uns, daß sie nicht objektiv zu denken wären. Die Möglichkeit daß die Welt der ähnlich ist, die uns erscheint, ist gar nicht damit beseitigt, daß wir die subjektiven Faktoren erkennen.

Das Subjekt wegdenken – das heißt sich die Welt ohne Subjekt vorstellen wollen: ist ein Widerspruch: ohne Vorstellung vorstellen! Vielleicht giebt es hunderttausend subjektive Vorstellungen. Unsere menschliche wegdenken – da bleibt die der Ameise übrig. Und dächte man sich alles Leben fort und nur die Ameise übrig: hienge wirklich an ihr das Dasein? Ja, der Werth des Daseins hängt an den empfindenden Wesen. Und für die Menschen ist Dasein und werthvolles Dasein oft ein und dasselbe.

10 [D83]

Der Mensch entdeckt zuletzt nicht die Welt, sondern seine Tastorgane und Fühlhörner und deren Gesetze – aber ist deren Existenz nicht schon ein genügender Beweis für die Realität? Ich denke, der Spiegel beweist die Dinge.

10 [D84]

Sie machen's sich leicht und suchen mich aus dem Übergange in's andere Extrem zu verstehen – sie merken nichts von dem fortgesetzten Kampfe und den gelegentlichen wonnevollen Ruhepausen im Kampfe, merken nicht, daß diese früheren Schriften solchen entzückten Stillen, wo der Kampf zu Ende schien, entsprungen sind und wo man über ihn schon nachzudenken und sich zu beruhigen begann. Es war eine Täuschung. Der Kampf ging weiter. Die extreme Sprache verräth die Aufregung, die kurz vorher tobte und die Gewaltsamkeit, mit der man die Täuschung festzuhalten suchte.

10 [D85]

Der höchste Werth des phantasirenden Denkens (das Einige wohl auch gleich das produktive Denken nennen) ist, Möglichkeiten auszudenken und ihre Mechanismen des Gefühls einzuüben, welche später als Werkzeuge verwandt werden können zur Ergründung des wirklichen Seins. Es muß dies durch alle möglichen Versuche gleichsam erst errathen und als Beute des Zufalls entdeckt werden. Alle Mechanismen bei der großen Arbeit der strengen Forschung sind zuerst als "die Wahrheit" selber aufgestellt und eingeübt worden. Dichter und Metaphysiker sind insofern immer noch höchst wünschenswerth, sie suchen nach der möglichen Welt und finden hier und da etwas Brauchbares.

Es sind Versuchsstationen ebenfalls. Blinde Thiere, die fortwährend um sich greifen und etwas zu essen versuchen, entdecken Nahrungsmittel (gehen aber auch leichter zu Grunde oder entarten) Andere Thiere leben von den anerkannten Nahrungsmitteln.

10 [D86]

Man hatte auf Seiten der Heidenchristen durchaus kein Verständniß für Vorrecht des Israels und für alttestamentliche Institutionen.

10 [D87]

NB Fortsetzung der freiesten Erkenntniss und Leben mit provisorischem Charakter!

10 [D88]

19. Jahrhundert, Reaktion: man suchte die Grundprincipien alles dessen, was Bestand gehabt hatte, und suchte dies als wahr zu beweisen. Bestand, Fruchtbarkeit und gutes Gewissen galt als Indicium der Wahrheit! Dies die conservative Gesinnung: sie sammelten alles, was noch nicht erschüttert war, sie hatten den Egoismus der Besitzenden als stärksten Einwand gegen die Philosophie des 18. Jahrhunderts: für die Nichtbesitzenden und Unzufriedenen hatte man noch die Kirche, auch wohl die Künste (für einzelne sehr Begabte auch die Genieverehrung als Dank, wenn sie für die conservativen Interessen arbeiteten) Mit der Geschichte (neu!!!) bewies man, man begeisterte sich für die großen fruchtbaren Complexe, Culturen (Nationen!!!) genannt. Man warf einen ungeheuren Theil des Forschungseifers und ebenso des Verehrungssinns auf die Vergangenheit: die neuere Philosophie und die Naturwissenschaft giengen dieses Theils verlustig! – - jetzt ein Rückschlag! Die Historie bewies zuletzt etwas anderes als man wollte: sie erwies sich als das sicherste Vernichtungsmittel jener Principien. Darwin. Anderseits der skeptische Historismus als Nachwirkung, das Nachempfinden. Man lernte in der Geschichte die bewegenden Kräfte besser kennen, nicht unsere "schönen" Ideen! Der Socialismus begründet sich historisch, ebenfalls die nationalen Kriege aus Historie!

10 [E89]

Handeln und denken wie Viele Alle giebt ein Gefühl von Macht. "So wie keiner" – ist ein Zeichen vom G<efühl> d<er> M<acht>. – Die moralischen Vorschriften sind Nothbehelfe für die Indiv<iduen> welche sich nicht streng individuell erkennen und eine Norm außer sich haben müssen.

10 [E90]

Pflicht ein Zwang, bei dem unser Ind<ividuum> theilweise zu kurz kommt, theilweise zustimmt.

10 [E91]

Es ist nicht nöthig, die Thiere zu lieben, um die Menschen zu hassen. Wie Schopenhauer. Man denke an Voltaire, den Ersten, der –

10 [E92]

W<agner> der Erste unserer Zeit der hohe Ziele aus der Vereinigung der Künste erstrebt. Er hat das Experimentiren auf diesem Gebiete angefangen.

10 [E93]

Unsere Sinnenwelt ist gar nicht wirklich vorhanden, sie widerspricht sich: sie ist ein Trug der Sinne. Aber was sind dann die Sinne? Die Ursachen des Betrugs müssen real sein. Aber wir wissen von den Sinnen nur durch die Sinne, und das gehört mithin in die Welt des Truges. Somit trügt etwas, was wir nicht kennen, und sein erster Trug sind die Sinne. Unsere Vielheit gehört dazu: aber wie könnten wir Trugbilder zum Wissen um den Trug kommen? Wie könnte ein Traumbild wissen, daß es zum Traume gehöre? – Wir müssen folglich auch das sein, was trügt: d. h. wir müssen auch real sein, und zwar muß dorther unser Bewußtsein stammen, daß die Welt ein Trug ist, im rein Logischen: dies sind wir selber irgendwie. Also: wie kann das Wahre Wahrhafte die Ursache der Trugwelt sein? – Es muß sie nöthig haben: vielleicht ist das Wahre gequält wie ein Künstler und sucht eine Erlösung in lustvollen Vorstellungen und Bildern, eine Abziehung – die Wahrheit ist vielleicht der Schmerz, und der Schein ist eine Milderung, der Wechsel ist das Sichherumwerfen des schwer Leidenden, der eine bessere Lage sucht. Vielleicht aber auch ist das Wahre voller Lust und strömt über in Phantasien wie ein Künstler (Geburt der Tragödie) Die Welt ein aesthetisches Phänomen, eine Reihe von Zuständen am erkennenden Subjekt: eine Phantasmagorie nach dem Gesetze der Causalität. Daß der intellektuelle Prozeß erst am Thierreich hervortritt und ohne Thier keine Welt da sein könnte, gehört mit hinein in jenes Theaterspiel, das das Subjekt sich selber spielt: es ist ein Wahn. Die Geschichte ist eine Vermeintlichkeit – nichts mehr; die Causalität das Mittel, um tief zu träumen, das Kunststück, um über die Illusion sich zu täuschen, der feinste Apparat des artistischen Betruges.

10 [E94]

Die verkehrte Welt: die Brutstätte des Fanatismus.

Für gewöhnlich im Unglauben leben und handeln, wie der Christ – aber in einzelnen Momenten sein Leben und sich selber verurtheilen – dieser fluchwürdige Zustand, in dem das Leben nichts taugen darf, damit die Phantasterei weniger fremdartiger Minuten die Bedeutung des Daseins aufzuschließen scheine! Wir wollen diese Denkweise welche in dem kleinen oder großen Irrsinn den Richter und Verurtheiler des Daseins erkennt, nicht mehr in der Philosophie dulden und uns dagegen sträuben daß sie unter dem Schleier der Kunst geborgen weiter lebe. – Sind wir hier ohne Toleranz? Von neuem fanatisch? – Man sehe erst zu, was wir thun wollen: nichts mehr und nichts weiteres als uns nicht mehr um die verkehrte Welt kümmern.

10 [E95]

Die Welt, soweit wir sie erkennen können, ist unsere eigene Nerventhätigkeit, nichts mehr.

10 [E96]

Die anderen Religionen sind gegen die wirklichen Übel, das Christenthum gegen die moralischen Übel (zum Theil eingebildete)

10 [F97]

Die Müdigkeit bringt für den Denker einen Vortheil mit sich: sie läßt auch jene Gedanken hervorlaufen, die wir uns sonst, bei mehr Haltung und folglich bei mehr Verstellung, nicht eingestehen würden. Wir werden lässig, uns selber etwas vorzumachen, und siehe! da kommt die Wahrheit über uns.

10 [F98]

Amor und Psyche. – Wenn das Auge gar zu unverschämt in das Vergnügen der Sinne blickt, so ist das Vergnügen sehr schnell etwas Widerliches. Man muß es wie die Griechen verstehen, Götter und Phantastereien einzumischen und die groben Augen einzuhüllen; man muß vergessen können oder mindestens Vieles nie geradezu mit Namen nennen; das Vergnügen muß den Intellekt beschleichen, wenn er schläft oder träumt.

10 [F99]

"Du bist glücklich! Jedesmal wenn dein Charakter auf die Höhe seiner Fluth kommt, kommt auch dein Intellekt auf die seine." B: Du vergißt etwas!

10 [F100]

Die Eigenschaften eines Dinges erregen unsere Empfindungen z. B. daß es grau ist, und die Gestalt, die Art von Bewegung, vor allem sein Vorhandensein als Körper und Substanz – alles ist mit Lust- und Unlustempfindungen und folglich mit Vertrauen, Neigung, Lust zur Annäherung oder Furcht usw. verknüpft. Dasselbe Ding kann uns vermöge seiner verschiedenen Eigenschaften anziehen und Furcht einflößen. – Daß seine Eigenschaften aber solche Empfindungen erregen, das ist Urtheil – und dies Urtheil setzt Erfahrungen voraus und Glauben an Gleichheit in den Erfahrungen. Zuletzt aber setzt auch die älteste Erfahrung wieder Urtheil voraus, also Auslegung eines Reizes, so daß er entweder lust- oder schmerzvoll ist. "Vermehrt dieser Reiz unsere Kraft oder vermindert er sie?" Kurz, ein Urtheil ist die Quelle, daß Kraftgefühl dabei entsteht oder sich vermindert. – Also die Wirkungen der Dinge sind zuletzt angenehm oder unangenehm, je nachdem wir an die Förderung unserer Kraft dabei glauben oder nicht. Dieser Glaube aber kann nicht wieder auf Erfahrung zurückgehen, sondern müßte – aus dem dabei entstehenden Kraftgefühl seinen Ursprung nehmen. Man glaubt an Kraft, wo man das Kraftgefühl hat. Kraftgefühl gilt als Beweis von Kraft. Nach diesem Beweis wandelt sich die Reizempfindung in Lust: – also: Alle Eigenschaften eines Dinges sind in Wahrheit Reize in uns, welche theils das Kraftgefühl mehren, theils es vermindern: jedes Ding ist eine Summe von Urtheilen (Befürchtungen, Hoffnungen, einiges flößt Vertrauen ein, anderes nicht) je mehr wir nun die Physik kennen, um so weniger phantastisch wird diese Summe von Urtheilen (die falschen Subsumirungen fallen weg z. B. alles was schwarz ist, ist gefährlich) – Zuletzt begreifen wir: ein Ding ist eine Summe von Erregungen in uns: weil wir aber nichts Festes sind, ist ein Ding auch keine feste Summe. Und je mehr wir Festigkeit in die Dinge zu legen wissen, – – –

10 [F101]

Zum Beweise dafür, daß ein Skeptiker mitunter sehr ausgelassener Schwärmerei bedarf, um dann wieder besänftigt ins Land des "Vielleicht-und-Vielleicht-auch-nicht" zurückzukehren: will ich erzählen, welche Sätze mir jüngst meine schwärmenden Tauben aus den Wolken heimgebracht haben. Erstens: die gewöhnlichste Form des Wissens ist die ohne Bewußtheit. Bewußtheit ist Wissen um ein Wissen. Empfindung und Bewußtheit haben alles Wesentliche gemeinsam und mögen dasselbe sein. Die erste Entstehung einer Empfindung ist die Entstehung eines Wissens um ein Wissen: ein Vorgang, der nichts Schwieriges und Geheimnißvolles enthält, da er dem Wissen nur eine Veränderung der Richtung giebt – und dazu reichen zufällige Anstöße aus, die man vielleicht errathen kann. Bevor es Empfindung gab, gab es längst – nämlich immer – Wissen: Wiedererkennen und Schließen als seine Funktionen. Das Wissen ist die Eigenschaft aller treibenden Kräfte – es kommt auf Eins hinaus zu sagen, es sei die Eigenschaft der Materie, vorausgesetzt, daß man weiß, was Materie ist: die treibende Kraft als das Vorurtheil unserer Sinne gedacht: so daß Kraft und Materie Eins sind, entweder als ein An sich bezeichnet oder, nach der Relation zu unseren Sinnen, als Grenze unseres Empfindens für die Kraft bezeichnet. Die treibenden Kräfte sind nichts Letztes und der Analyse schlechthin Widerstrebendes, wie Schopenhauer meinte, der sie als den "Willen" verstand: wir können in ihnen noch das Wissen begrifflich absondern als ihre Eigenschaft: ohne Wiedererkennen und Schließen giebt es keinen Trieb, kein Treiben und Wollen. Der Intellekt (und nicht die Empfindung) ist "dem Wesen der Dinge" eingeboren; Empfindung ist ein Zufall in der Geschichte seiner Richtungen und nichts an sich Neues. Um die ersten Sätze der Mechanik zu verstehen, muß man den treibenden Kräften ein Wiedererkennen und Schließen geben – aber keine Bewußtheit darum, keine Empfindung. Das Wiedererkennen und Schließen aber setzt Mehrheit, aber Einartigkeit von Kräften voraus, mindestens Zweiheit. Der Irrthum im Wiedererkennen und Schließen ist erst möglich, seit es Empfindung giebt. – So! Nun fliegt zurück, ihr Tauben und gebt den Wolken, was der Wolken ist!


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