Friedrich Wilhelm Nietzsche
Fragmente Anfang 1880 bis Sommer 1882, Band 3
Friedrich Wilhelm Nietzsche

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[Sommer 1882]

[Dokument: Manuskript]

Studien aller Art

zu

"die fröhliche Wissenschaft."

(la gaya scienza)

21 [1]

Die Einleitung aus dem Gesichtspunkte des Troubadours.

21 [2]

Man hat mich gelehrt, die Herkunft meines Blutes und Namens auf polnische Edelleute zurückzuführen, welche Niëtzky hießen und etwa vor hundert Jahren ihre Heimat und ihren Adel aufgaben, unerträglichen religiösen Bedrückungen endlich weichend: es waren nämlich Protestanten. Ich will nicht leugnen, daß ich als Knabe keinen geringen Stolz auf diese meine polnische Abkunft hatte: was von deutschem Blute in mir ist, rührt einzig von meiner Mutter, aus der Familie Oehler, und von der Mutter meines Vaters, aus der Familie Krause, her, und es wollte mir scheinen, als sei ich in allem Wesentlichen trotzdem Pole geblieben. Daß mein Äußeres bis jetzt den polnischen Typus trägt, ist mir oft genug bestätigt worden; im Auslande, wie in der Schweiz und in Italien, hat man mich oft als Polen angeredet; in Sorrent, wo ich einen Winter verweilte, hieß ich bei der Bevölkerung il Polacco; und namentlich bei einem Sommeraufenthalt in Marienbad wurde ich mehrmals in auffallender Weise an meine polnische Natur erinnert: Polen kamen auf mich zu, mich polnisch begrüßend und mit einem ihrer Bekannten verwechselnd, und Einer, vor dem ich alles Polenthum ableugnete und welchem ich mich als Schweizer vorstellte, sah mich traurig längere Zeit an und sagte endlich "es ist noch die alte Rasse, aber das Herz hat sich Gott weiß wohin gewendet." Ein kleines Heft Mazurken, welches ich als Knabe componirte, trug die Aufschrift "Unsrer Altvordern eingedenk!" – und ich war ihrer eingedenk, in mancherlei Urtheilen und Vorurtheilen. Die Polen galten mir als die begabtesten und ritterlichsten unter den slavischen Völkern; und die Begabung der Slaven schien mir höher als die der Deutschen, ja ich meinte wohl, die Deutschen seien erst durch eine starke Mischung mit slavischem Blute in die Reihe der begabten Nationen eingerückt. Es that mir wohl, an das Recht des polnischen Edelmanns zu denken, mit seinem einfachen Veto den Beschluß einer Versammlung umzuwerfen; und der Pole Copernikus schien mir von diesem Rechte gegen den Beschluß und den Augenschein aller andern Menschen eben nur den größten und würdigsten Gebrauch gemacht zu haben. Die politische Unbändigkeit und Schwäche der Polen, ebenso wie ihre Ausschweifung waren mir eher Zeugnisse für ihre Begabung als gegen dieselbe. An Chopin verehrte ich namentlich, daß er die Musik von den deutschen Einflüssen, von dem Hange zum Häßlichen, Dumpfen, Kleinbürgerlichen, Täppischen, Wichtigthuerischen freigemacht habe: Schönheit und Adel des Geistes und namentlich vornehme Heiterkeit, Ausgelassenheit und Pracht der Seele, insgleichen die südländische Gluth und Schwere der Empfindung hatten vor ihm in der Musik noch keinen Ausdruck. Mit ihm verglichen, war mir selbst Beethoven ein halbbarbarisches Wesen, dessen große Seele schlecht erzogen wurde, so daß sie das Erhabene vom Abenteuerlichen, das Schlichte vom Geringen und Abgeschmackten nie recht zu unterscheiden gelernt hat. (Unglücklicherweise, wie ich jetzt hinzufügen will, hat Chopin einer gefährlichen Strömung des französischen Geistes zu nahe gewohnt, und es giebt nicht wenige Musik von ihm, welche bleich, sonnenarm, gedrückt und dabei reich gekleidet und elegant daherkommt – der kräftigere Slave hat die Narkotica einer überfeinerten Cultur nicht von sich abweisen können.)

21 [3]

  1. Das Überflüssige abgeben. Die Aufopferung auf die Dauer der Gesammtheit schädlich.
  2. Gewissensbisse bei der Anrufung des Staates (statt der Rache)
    Arbeit
    Ehe
    Lehrer Scham
    Kaufmann Handwerker Zins
    Schauspieler
    große Männer
  3. Züchtung der Rasse bei den Griechen. Veredelung der Prostitution. 34. 38b. 39b. 72
  4. Der freiwillige Tod als Fest. 27. 73b
  5. Die Menschen zur letzten Consequenz treiben und die mit der Verneinung des Werthes zwingen, auf Fortpflanzung zu verzichten, p. 70 (vgl. Nr. II Note)
  6. Homer: das versteckte Individuum
  7. Die Kriege der Zukunft. 45.
  8. Neue Rangordnung der Geister: nicht mehr die tragischen Naturen voran.
  9. Kein Erkenntnißtrieb, die Intell<igenz> im Dienst der verschiedenen Triebe 41. 45.
  10. Die Vorbereitung des Gedankens p. 79.
  11. Art seiner Ausbreitung, 79. 57. 58b 62, 67, 72
    Das "Wissen um die Zukunft hat immer züchtend gewirkt – so daß die Hoffen-Dürfenden übrig bleiben.
  12. Als Richtschwert der Religionen. Antichrist.
  13. Werthtafel der Güter woher? II b.
  14. Der letzte Werth des Daseins ist nicht Folge der Einsicht, sondern Zustand, Voraussetzung der Erkenntniß.
  15. Neue Werthschätzungen – meine Aufgabe
    Leib und Geist
    Leidenschaft Ehe 66
    Das Böse Gemeinde – Moral.
    Leben und Tod
    Gewissen Strafe Sünde
    Lob und Tadel
    Zwecke Willen
    Gleichgültigkeit 53
  16. Unrecht gutmachen – positiv sein
  17. Vom Schaden der Tugenden.
  18. Voraussetzung der absoluten Moral: meine Werthschätzung die endgültige! Machtgefühl! 52b.
  19. Der Weise und der Goldmarkt. 56.
  20. Hexerei – Benutzung jeder Macht. Bekehrung. 74.
  21. Machtgefühl und Funktion. 33b, 66,
  22. Macht, Funktion – und Gewissen.
  23. Ursache und Wirkung. Beschreibung. 34b.
  24. Wollust im Dienst der Religion. Ebenso Genuß der Mahlzeit. Weihung p. 40
  25. Wissenschaftlicher Sinn – Verlangen nach einer absoluten Moral. Toleranz? p. 35 38.
  26. Böse – Atavism des Guten von ehemals. 36. 37b.
  27. Elemente der Kraft p. 32.
  28. Geschmack, nicht Nutzen giebt den Werth p. 39. 40.
  29. Der Mensch unter den Thieren p. 43b
  30. Alle Triebe zur Erhaltung der Gattung da 57. 43. 44.
  31. Wir schätzen die Menschen ab nach ihren Wirkungen p. 44.
    Resultat kein Beweis für Kraft 50.
  32. Protoplasma und Moral. 45. 48. 58.
    Der Kampf als das Wesen des Friedens.
    Unsere Triebe Heerdentriebe 46.
  33. Freiheit des Willens p. 47.
  34. die einzelnen Kräfte der Erkenntniß als Gifte p. 48.
  35. Kur des Einzelnen p. 49b
  36. Was die niedrigere Cultur von der höheren nimmt (Schopenhauer's Benutzung)
  37. die geringeren Grade und die Unzufriedenheit, p. 55b
  38. Hütet euch! p. 55. 61. 71b
  39. Jetzt Zeit, an die Unschuld zu glauben! 56.
  40. Geschichte des Widerwillens gegen das Leben p. 56.
  41. Erheben wir uns – statt zu strafen!
  42. Einverleibung des Irrthums. 64. 62.
  43. wie gering ist der Egoismus! p. 63b, 71,
  44. Ein Gegenmittel gegen das Glücksstreben des flüchtigen Individuums thut noth p. 63. 65. 72.
  45. Gegen die Apologeten des Luxus 66.
  46. Wagner's Kunst durch Schopenhauer falsch. 66.
  47. Erst meine Philosophie ist recht dafür. Siegfried.
    Der freie Mensch als Vollendung des Organischen p. 67. 73.
  48. das All kein Organismus p. 73.
  49. Unegoistisch 74b
  50. die große Form im Wesen als Bedingung der großen Form im Kunstwerk. 76.
  51. 51. Die idealisirende Macht der Gewissensbisse. Auf die geglaubten Motive, nicht auf die wirklichen, kommt es an bei der Veredelung.
    Meine Art von "Idealismus" darzustellen – und dazu die absolute Nothwendigkeit auch des gröbsten Irrthums.
  52. Alle Empfindung enthält Werthschätzung; alle Werthschätzung phantasirt und erfindet. Wir, leben als Erben dieser Phantastereien: wir können sie nicht abstreifen. Ihre "Wirklichkeit" ist eine ganz andere als die Wirklichkeit des Fallgesetzes.
  53. In der "Kraft" muß der Widerspruch sein, logisch zu reden. Der Kampf usw. Als Einheit und als Seiendes gäbe es keine Veränderung.
  54. Es giebt keinen Stoff, keinen Raum (keine actio in distans), keine Form, keinen Leib und keine Seele. Kein "Schaffen", kein "Allwissen" – keinen Gott: ja keinen Mensch.
  55. Chaos sive Natura. 71b 73b 70b 63b 55 43b 23a.

21 [4]

Verantwortlichkeit lange getrennt vom "Gewissen".

21 [5]

verschiedene Triebe werden so befriedigt, daß wir uns als unterlegen fühlen. Unser ganzer Stolz und Muth wird matt im Bewußtsein der kleinsten Niederlagen an jedem Tage

21 [6]

Steh ich erst auf Einem Beine
Steh ich balde auch auf zweien

21 [7]

Will<s>t jung du bleiben, werde balde alt

21 [8]

Erfahrung fährlich

Jähling<s> geht die Zeit

21 [9]

um das Gehör ist es gar ein zärtlich Ding

21 [10]

ein Wachslicht herniederwerfen, daß es ausgelöscht wird [–] mit einem kleinen Glöcklein läuten

21 [11]

Im Zustande der Schwangerschaft verbergen wir uns und sind furchtsam: denn wir fühlen, daß es uns schwer fällt, uns jetzt zu vertheidigen, noch mehr daß es dem, was wir mehr lieben als uns selber schädlich sein würde, wenn wir uns vertheidigen müßten.

21 [12]

Seltsames Loos des Menschen! Er lebt 70 Jahr und meint, etwas Neues und Niedagewesenes während dieser Zeit zu sein – und doch ist er nur eine Welle, in der die Vergangenheit der Menschen sich fortbewegt, und er arbeitet immer an einem Werke von ungeheurer Zeitdauer, so sehr er sich auch als Tagesfliege fühlen mag. Denn: er hält sich für frei, und ist doch nur ein aufgezogenes Uhrwerk, ohne Kraft, dieses Werk auch nur deutlich zu sehen, geschweige denn, es zu ändern, wie und worin er wollte.

21 [13]

Wenn die Scham die Ursache der Liebe ist: überall wo eine Befriedigung des Triebes verwehrt wird, entsteht ein neuer Zustand, und eine gewisse züchtigere Qual und Befriedigung, es wird so ein Ideal zum Keimen gebracht – etwas sinnlich-Übersinnliches.


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