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5

Um sieben Uhr schlief Annixter noch fest in seinem eisernen weißlackierten Bett mit den blaugrauen Armeewolldecken und der roten Steppdecke; sein Mund war geöffnet, rot sein Gesicht und wirr das strohgelbe starre Haar. Auf dem Holzstuhl neben dem Bett stand die Petroleumlampe, bei deren Licht er noch bis spät in die Nacht hinein gelesen hatte; daneben lag eine Düte mit getrockneten Pflaumen und der zerlesene Band von Dickens' »David Copperfield«; ein von der Düte abgerissener Streifen diente als Lesezeichen. Annixter schlief tief und fest, wobei er sich tüchtig abzurackern schien; selbst der Ruhe vermochte er nicht mit guter Manier zu pflegen. Die Augen hatte er so fest geschlossen, daß die Haut in den Winkeln in viele kleine Falten zusammengezogen war. Seine zu Fäusten geballten Hände steckten unter dem Kopfkissen. Von Zeit zu Zeit knirschte er grimmig mit den Zähnen; sein Schnarchen wurde bisweilen so laut, daß es das Ticken der nur sechs Zoll von seinem Ohr an dem Messingknopfe des Bettpfostens hängenden Weckeruhr übertönte.

Unmittelbar nach sieben Uhr rasselte die Weckeruhr mit der Plötzlichkeit einer Explosion los; sofort schleuderte Annixter die Decken von sich und schwang sich mit einem Ruck auf die Bettkante, wo er gähnend und stöhnend und mit vom Tageslicht geblendeten Augen zwinkernd sitzen blieb; er war noch ganz betäubt von der jähen Grausamkeit, mit der er aus dem Schlafe gerissen worden war.

Zu allererst nahm Annixter die Weckeruhr herab und stopfte sie, um ihr schreckliches Rasseln zu ersticken, zwischen Kissen und Decken. Er selbst blieb stumpfsinnig auf dem Bettrande sitzen und krümmte seine Zehen von dem kalten Fußboden nach oben; aus blinzelnden, vom Schlafe schweren Augen, deren Lider sich abwechselnd schlossen und öffneten, starrte er blöde vor sich hin. Wohl drei Minuten brachte Annixter in diesem Zustande zwischen Schlaf und Wachen zu; alle Augenblicke fielen Kopf und Oberkörper bald nach dieser, bald nach jener Seite. Endlich aber kam der aus süßem Schlafe Gerissene zu hellerem Bewußtsein; er dehnte sich, fuhr mit den Fingern durch das Haar und stöhnte unter lautem Gähnen:

»O Gott! O–o–o Gott!«

Noch drei- oder viermal dehnte und wand er sich auf seinem Sitz, wobei er die Zehen abwechselnd krümmte und zusammenzog, mit weitaufgerissenem Munde gähnte und immer wieder sein klägliches: »O Gott, o Gott!« hervorstöhnte.

Darauf begann er im Zimmer umherzublicken und seine Gedanken für die Arbeit des Tages zu sammeln.

Der Raum war recht unwohnlich. Seine Wände, die denen eines Stalles ähnelten, bestanden aus abwechselnd weißen und gelben, wie Schindeln an den Rändern ineinandergeschobenen Brettern. Mit großen Drahtnägeln waren ein paar uneingerahmte Steindrucke – »Weihnachtssouvenirs« aus Zeitschriften – an ihnen befestigt; ein Strauß jämmerlich verdorrter und verstaubter Blumen oder Kräuter war hinter den Spiegel geklemmt, der über dem Nußbaumwaschtisch hing. Einen weiteren Wandschmuck bildete die vergilbte Photographie von Annixters »kombiniertem Mäher und Binder« mit ihm selbst und seinen Arbeitern in einer Gruppe. Vor Bett und Kommode lagen zwei aus kleinen Tuchflecken zusammengenähte Teppiche. In den Ecken lagen und standen schmutzige Stiefel, ein Mac Clellan-Sattel, ein Nivellierinstrument, ein leerer Kohlenkasten und eine Kiste mit eisernen Bolzen und Schraubenmuttern umher. An der Wand über dem Bett hing in einem Goldrahmen Annixters Universitätsdiplom; auf der Kommode stand zwischen Haarbürsten, schmutzigen Halskragen, Zigarren, Fahrhandschuhen und allerhand Kram eine zerbrochene Maschine zum Laden von Patronen.

Das Zimmer, in dem es stark nach Tabak, Leder und rostigem Eisen roch, war unverkennbar das eines Junggesellen und zeigte keine Spur von Ordnung und Wohnlichkeit. Der kahle Fußboden war zerkratzt und ausgetreten von schwergenagelten Stiefelsohlen; an den Wänden sah man Spuren, die Stoß oder Reibung metallener Gegenstände zurückgelassen hatten. Sonderbarerweise waren Annixters Kleider mit altjüngferlicher Peinlichkeit auf dem zweiten Holzstuhl geordnet. So hatte er sie beim Zubettgehen abgelegt; die Stiefel standen dicht nebeneinander, die Beinkleider mit den darübergezogenen Overalls lagen glattgestrichen auf dem Stuhlsitze, während der Rock über die Lehne gebreitet war. Das Wohnhaus von Quien Sabe hatte sechs auf dem gleichen Geschoß liegende Zimmer. Ein Heim konnte man dieses Haus beim besten Willen nicht nennen. Annixter, der ein reicher Mann war, hätte sich ebenso behaglich und gediegen einrichten können wie Magnus Derrick. So aber betrachtete er seine Behausung nur als eine Schlafstelle, einen Raum, in dem er essen, die Kleider wechseln und seine Geschäfte erledigen konnte, und der ihn vor Wind und Wetter schützte, – mehr brauchte er nicht.

Als Annixter genügend wach geworden war, trat er in ein Paar Bastpantoffeln und schlurfte durch die an den Schlafraum stoßende Office in das Badezimmer. Flüche und Verwünschungen über die Kälte des Wassers ausstoßend stand er mit klappernden Zähnen einige Minuten unter dem eisigen Schauer der Regendusche. Noch fröstelnd schlüpfte er in seine Kleider, läutete nach dem Frühstück und ging sofort an sein Tagewerk. Er hatte eben damit begonnen, als der Fleischerwagen aus Bonneville vorfuhr und das für heut bestellte Fleisch sowie die Zeitungen und Postsachen brachte. In dem Briefbündel, das ihm der Fleischer zureichte, steckte ein Telegramm von Osterman, der jetzt bereits zum zweitenmal nach Los Angèles gereist war. Es lautete:

»Gründung der Gesellschaft in diesem Distrikt vollzogen. Dienste geeigneter Persönlichkeit gesichert. Bin bereit, Ihnen Anteilscheine laut Originalprospekt zu verkaufen.«

»Schön,« brummte er, das Telegramm in kleine Stücke zerreißend, »diese Sache wäre also erledigt.«

Die Papierstückchen wurden von Annixter in dem leeren Ofen zu einem Häufchen aufgeschichtet und sorgfältig verbrannt, wobei er mit düster zusammengezogenen Brauen nachdenklich in die Flammen blickte. Er wußte genau, was Osterman mit »Gründung der Gesellschaft« meinte und wer die »geeignete Persönlichkeit« war.

Unter Protest, wie er ausdrücklich betonte, und nach unendlichen Einwendungen hatte sich Annixter mit Osterman versöhnen und sich zugleich bereden lassen, von neuem seine Beteiligung an dem geplanten politischen »Schachzuge« zuzusagen. Ein Ausschuß, der das Geld dazu hergab, war gebildet worden; er bestand aus Osterman, dem alten Broderson, Annixter selbst und Harran Derrick, der aber unter Vorbehalt und eigentlich nur als Zuschauer beigetreten war. Osterman galt als Vorsitzender. Magnus Derrick hatte in aller Form und ein für allemal jede Beteiligung abgelehnt. Er wollte eine mittlere Linie innehalten. Seine Stellung war schwierig und unklar. Wenn die Frachten durch die Bemühungen des Ausschusses herabgesetzt wurden, so kam der erniedrigte Tarif ihm natürlich auch zugute. Er hatte dann den Gewinn, ohne etwas gewagt oder zu den Kosten beigetragen zu haben. Inzwischen verging die Zeit; die Urwahlen rückten näher. Der Ausschuß konnte nicht länger warten; um einen Anfang zu machen, war Osterman, mit einer beträchtlichen Geldsumme ausgerüstet, die er selbst, Annixter und Broderson zusammengesteuert hatten, nach Los Angeles gegangen. Er hatte mit Disbrow, dem politischen Macher der Denver=, Pueblo= und Mojave=Bahn, angebändelt und bereits zwei Unterredungen mit ihm gehabt. Das an Annixter gerichtete Telegramm besagte, daß Disbrow gekauft und willens war, Darrell als Kandidaten der Denver=, Pueblo= und Mojave=Bahn für das Amt des Eisenbahnkommissars im dritten Distrikt aufzustellen.

An diesem Morgen brachte einer der Köche Annixters Frühstück herauf. Dieser verzehrte hastig sein Mahl, durchflog dabei die eingelaufenen Briefe und blätterte im »Merkur«, dem Blatte Genslingers. Annixter war überzeugt, daß der »Merkur« eine Beihilfe von der Pacific= und Südwesteisenbahn erhielt; das Blatt war in der Tat nichts andres als das Sprachrohr, durch das Shelgrim und die Generaldirektion zu den Ranchbesitzern in der Bonneviller Gegend redeten. Eine redaktionelle Notiz in der Heutigen Morgenausgabe brachte folgendes: »Die Wohlinformierten unter uns dürften kaum überrascht sein, wenn die neue Preisbemessung der in den Ranchos Los Muertos, Quien Sabe, Osterman und Broderson enthaltenen Bahnlandsektionen noch vor Neujahr erfolgte. Die zeitweiligen Nutznießer dieser Ländereien haben natürlich ein großes Interesse an der von seiten der Bahn erfolgenden Preisbemessung; ein Gerücht will wissen, daß ihnen das Land zum Preise von zwei Dollars und fünfzig Cents per Acker angeboten werden wird. Man braucht nicht die siebente Tochter einer siebenten Tochter zu sein, um vorauszusagen, daß diesen Herren eine Enttäuschung bevorsteht.«

»Blech!« rief Annixter ärgerlich, als er zu Ende gelesen hatte. Er knitterte die Zeitung in einen Knäuel zusammen und schleuderte sie in eine Ecke. »Blech! Blech! Was versteht Genslinger davon? Ich halte mich an das Abkommen der P. und S. W. – zweieinhalb bis fünf Dollar den Acker –, ich hab's schwarz auf weiß. Und meine Meliorationen! Ich hab' das Land erst wertvoll gemacht durch Drainage, Bewässerung und rationellen Ackerbau. Mir soll man mit so was kommen! Ich weiß besser Bescheid!«

Die Notiz machte jetzt auf Annixter den Eindruck, als ob der »Merkur« doch vielleicht keine Beihilfe von der Bahn erhielte. Wurde das Blatt unterstützt, so hätte Genslinger sich nicht derartig über den Wert des Landes irren können. Er würde gewußt haben, daß die Bahn kontraktlich gebunden war, den Acker zu zwei und einem halben Dollar zu verkaufen, und daß sie außerdem, ehe ihr der freihändige Verkauf gestattet war, erst den gegenwärtigen Nutznießern das Land zu diesem Preise anbieten mußte. Annixter vergegenwärtigte sich noch einmal die Einzelheiten des Abkommens; damit war die Angelegenheit für ihn erledigt. Er zündete sich eine Zigarre an, nahm seinen Hut und ging ins Freie.

Der Morgen war schön und die Luft von angenehmer, erfrischender Kühle. Hoch oben auf dem turmartigen Eisengerüst des artesischen Brunnens drehte sich die Windmühle in der Südwestbrise. Das Wasser im Bewässerungsgraben stand hinreichend hoch. Der Himmel war wolkenlos. Weit im Westen und Osten ragend, hoben sich die Bollwerke des Tales, das Küstengebirge und die Sierra, von dem in lichtem Weiß und zartem Rosa schimmernden Horizont ab. Das Sonnenlicht floß in einer wahren Flut kristallener, glänzender Helle nieder und erfüllte die Luft mit strahlender Heiterkeit; wohlig wärmte die Sonne das Blut und ließ die Pulse in überquellendem Kraftgefühl rascher schlagen.

Auf seinem Wege zu den Wirtschaftsgebäuden mußte Annixter an der offenen Tür der Molkerei vorbeigehen. Drinnen sang Hilma Tree bei der Arbeit; ihre samtweiche, mehr aus der Brust als dem Halse kommende Stimme mischte sich in das Geräusch der in Bütten und Butterfässer sprudelnden Milch und das dröhnende Klappern metallener Kannen und Schüsseln. Annixter trat ein, blieb aber an der Schwelle stehen und blickte sich um. Hilmas ganze Gestalt war in eine Flut von Sonnenlicht gebadet, das zu den drei weitgeöffneten Fenstern hineinströmte. Sie war zum Entzücken schön, in Jugendfrische, Gesundheit und Frohsinn strahlend. Die Sonne ließ ihre weitgeöffneten braunen, von den seinen Linien tiefschwarzer Wimpern eingerahmten Augen wie Diamanten blitzen; goldenes Licht umfloß das volle seidene, in fast metallischem Glanze schimmernde Haar und leuchtete auf den feuchten roten Lippen, wie sie die Worte ihres Liedes formten. Vom hellen, warmen Lichte der Morgensonne geliebkost, glänzte ihre Haut in einem blendenden Weiß von unbeschreiblicher Zartheit und Feinheit. Unter der wundervollen Rundung des Kinns schimmerte wie bleiches Gold der Widerschein des blanken Kupfergefäßes, das sie trug. Ihre rosigen Wangen zeigten, wenn sie der Sonne zugekehrt waren, einen feinen, seidenen Flaum, so zart wie Blütenstaub oder der unter leisester Berührung sich auflösende Schmelz eines Mottenflügels. Freudig, frisch und kraftvoll schaffte sie bei ihrer Arbeit. Die wundervolle Rundung ihrer Gestalt, der kräftige weiße, in schöngeschwungener Linie zu den Schultern verlaufende Nacken, ihr voller Busen, ihre breiten, die Reife des Weibes kündenden Hüften zeugten von der herzerfreuenden, überströmenden Kraft eines gesunden, jugendfrischen Körpers. Sie trug einen Rock von blauem Kaliko und eine rosa Leinenbluse, gutsitzend und von tadelloser Frische. Die Aermel hatte sie aufgestreift; ihre vollen weißen, von Milch feuchten und nach Milch duftenden Arme glänzten in der Morgensonne.

»Guten Morgen, Fräulein Hilma,« grüßte Annixter von der Schwelle aus und nahm seinen Hut ab.

Hilma, die das Kupfergefäß auf eine umgestülpte Bütte gesetzt hatte, wandte sich rasch um.

»O, guten Morgen, Herr Annixter!« Unwillkürlich nach Männerart grüßend, hob sie die Hand mit einem leichten Nicken bis zur halben Kopfhöhe.

»Nun,« begann Annixter unsicher, »wie geht es denn hier?«

»O, sehr gut. Heute ist nicht so viel zu tun. Die Molken haben wir schon vor ein paar Stunden abgelassen und jetzt haben wir den Weichkäse unter die Presse getan. Ich habe reingemacht. Sehen Sie nur meine Schüsseln! Kann man sich nicht drin spiegeln? Ich habe gescheuert und gescheuert! O, Sie können in jedes Eckchen gucken und Sie werden nicht den kleinsten Schmutz- oder Fettfleck finden. Ich Hab' es so gern, wenn alles hübsch rein ist, und hier ist mein Bereich; da kann ich tun, was ich will. Ich habe meine Freude dran, den Zementfußboden reinzuhalten und die Bütten und Butterfässer und die Rahmseparatoren und ganz besonders die Kannen und das Kupfer – so rein und sauber – und achtzugeben, daß die Milch rein ist, so daß sie das kleinste Kind trinken kann. Und dann muß die Luft immer frisch sein, und ich lasse die Sonne herein – o, viel, viel Sonne, morgens, mittags und abends, daß alles nur so funkelt. Und wissen Sie auch, wenn ich die Sonne untergehen sehe, so macht mich das immer etwas traurig – ja, nur gerade ein bißchen. Ist das nicht komisch? Ich möchte, daß es immer Tag wäre. Aber an einem trüben Tag, da bin ich immer so traurig, als ob ein guter Freund von mir Abschied genommen Hätte. Und möchten Sie das wohl glauben, – noch vor ein paar Jahren – ich war schon ein großes Mädchen, über sechzehn –, da mußte Mama jeden Abend an meinem Bett sitzen, bis ich einschlief. Ich fürchtete mich im Dunkeln. Und auch manchmal noch jetzt. Denken Sie nur – und ich bin doch neunzehn und kein Kind mehr.«

»Gefürchtet haben Sie sich?« fragte Annixter, um etwas zu sagen. »Im Dunkeln? Wovor? Vor Gespenstern?«

»N–ein – ich weiß es nicht. Ich verlangte nach dem Licht, ich wollte – –« Sie atmete, sich dem Fenster zuwendend, tief auf und hielt ihre rosigen Fingerspitzen gegen das Sonnenlicht. »O, die Sonne! Ich liebe die Sonne. Legen Sie mal Ihre Hand hier auf die Bütte! Ist das nicht warm? Ist das nicht köstlich? Lieben Sie das nicht auch, wenn die Sonne so zum Fenster hereinströmt, so in Fluten, und wenn man die kleinen Sonnenstäubchen sieht? Wo es viel, viel Sonne gibt, da müssen die Menschen gut sein, denk' ich immer. Und das Böse wird immer im Finstern ausgesonnen und getan, stell' ich mir vor. Vielleicht hasse ich nur deshalb alles Geheimnisvolle – alles, was ich nicht sehen kann, alles, was im Dunkeln vorgeht.« Sie rümpfte ein wenig die Nase, wie wenn sie ihrem Abscheu Ausdruck geben wollte. »Ich hasse alles Geheimnisvolle, und deshalb bin ich vielleicht ängstlich im Dunkeln, oder vielmehr ich war's. Ich mag nicht daran denken, daß irgend etwas um mich herum vorgeht, was ich nicht sehen oder verstehen oder erklären kann.«

Tatsächlich geschwätzig werdend, fuhr sie fort, mit ihrer samtweichen Altstimme von allem möglichen zu reden. Es machte ihr Vergnügen, ihre Gedanken auszusprechen, die, wie sie unschuldigerweise glaubte, auf andre ebenso wie auf sie selbst wirken mußten. Sie war noch ein großes Kind, das sich der Tatsache, erwachsen zu sein, noch gar nicht bewußt wurde, und dessen kindliches, unverdorbenes Denken vor allem auf die eigne Umgebung gerichtet war. Sie schaffte beim Reden rührig weiter, indem sie die Milchkannen mit einer Mischung von heißem Wasser und Soda ausspülte, sie scheuerte und dann in die Sonne auf den Deckel einer Bütte stellte.

Aus halbgeschlossenen Lidern schielte Annixter von Zeit zu Zeit prüfend nach Hilma hin; ihre wundervolle Frische und Jugendreinheit zogen ihn immer mehr an. Die ihn in Gegenwart von Frauen überkommende Blödigkeit begann zu weichen. Hilmas ehrliches, einfaches Wesen machte ihn unbefangen. Er begann zu überlegen, ob er es wagen könnte, Hilma zu küssen, und wie sie, wenn er es wagte, dieses Unterfangen wohl aufnehmen würde. Dabei regte sich ein leiser Verdacht in ihm. Lag nicht so etwas wie eine Aufmunterung in ihrem ganzen Benehmen? Man war seiner Sache bei diesen Femininis nie sicher. Zweifellos redete sie deshalb so viel, um ihn zu halten und ihm eine Gelegenheit zu geben. Aha! Sie sollte sich nur in acht nehmen – er würde die Gelegenheit schon ausnutzen.

»O, ich hab's ja ganz vergessen,« rief Hilma plötzlich aus, »ganz zuerst wollt' ich's Ihnen zeigen – die neue Presse! Um die ich im vorigen Monat bat, wissen Sie noch? Hier steht sie. Sehen Sie nur, wie sie arbeitet! Hier kommt der Weichkäse hinein – haben Sie gesehen? Dann wird der Deckel fest aufgeschraubt, und dann muß man den Hebel herunterdrücken – so!« Sie faßte den Hebel mit beiden Händen und ließ ihr ganzes Körpergewicht darauf wirken; straff spannten sich die bloßen runden Arme an, während sie einen schmalen Fuß in dem ausgeschnittenen Schuh mit der Stahlschnalle gegen die Wand stemmte. »O, dazu gehört Kraft!« stieß sie schweratmend hervor und blickte ihn lächelnd an. »Aber ist's nicht 'ne schöne Presse? Gerade was wir brauchten!«

»Und,« fragte Annixter, sich räuspernd, »wo haben Sie denn den Käse und die Butter?« Er nahm an, daß beides im Keller aufbewahrt wurde.

»Im Keller,« antwortete Hilma. »Hier unten!« Sie hob die am andern Ende des Raumes angebrachte Falltür. »Wollen Sie sehen? Kommen Sie herunter; ich zeig' Ihnen alles.«

Sie stieg vor ihm in das kühle, nach neuem Käse und frischer Butter duftende Dunkel. Annixter folgte ihr; eine gewisse Erregung begann sich seiner zu bemächtigen. Er war jetzt beinahe überzeugt, daß Hilma von ihm geküßt sein wollte. Auf alle Fälle konnte er es wohl versuchen. So ganz sicher war er seiner Sache noch nicht. Angenommen, er hätte sich geirrt; angenommen, sie würde sich schwerbeleidigt fühlen und ihn unter einem eisigen Blicke erstarren lassen? Annixter wand sich förmlich bei der bloßen Vorstellung. Wär's nicht besser, die Sache fahren zu lassen und an die Arbeit zu gehen? Er vertrödelte schon den halben Vormittag. Wenn sie ihm jedoch die Gelegenheit gab, sie zu küssen, und er diese Gelegenheit nicht wahrnahm, würde sie ihn dann nicht für einen Dummkopf halten und ihn wegen seiner blöden Furchtsamkeit verachten? Er furchtsam! Er, Annixter, sollte sich vor einem dummen, femininen Frauenzimmer fürchten! Wahrhaftig, er war es sich als Mann schuldig, so weit als möglich zu gehen! Er sagte sich, daß dieser Ziegenbock von Osterman Hilma Tree schon vor Wochen geküßt haben würde. Um die Festigkeit seines Willens zu prüfen, stellte er sich vor, daß er sich endgültig entschlossen hätte, Hilma zu küssen. Sofort erfaßte ihn zu seiner unangenehmen Ueberraschung eine tiefgehende, peinliche Erregung; er bekam Herzklopfen, und gepreßt ging sein Atem. Aber trotzdem verlor er den Mut nicht. Er scheute den Versuch nicht und fühlte deshalb eine gesteigerte Hochachtung vor sich selbst. Seine Zuversicht wuchs, und als Hilma sich nach ihm umwandte, um ihn ein Scheibchen von dem reifen Käse kosten zu lassen, trat er plötzlich dicht an sie heran, schlang einen Arm um ihre Schultern und näherte seinen Kopf ihrem Gesicht.

Aber er verpaßte den günstigen Augenblick durch zaghaftes Zögern. Geschmeidig wie ein junges Schilfrohr wich Hilma ihm aus. Er packte sie täppisch am Arm und trat ihr dabei mit aller Wucht auf den zarten Fuß. Annixters Kinn und Wangen berührten kaum ihr rosiges Ohrläppchen, und seine Lippen streiften nur eine Blusenfalte zwischen Hals und Schulter. Der Versuch war gründlich mißglückt, und Annixter begriff sofort, daß Hilma nichts ferner gelegen haben konnte als die Absicht, sich von ihm küssen zu lassen.

Wie sie so vor ihm zurückschreckte, faltete sie angstvoll die Hände über der Brust; rasch ging ihr Atem, um dann einen Augenblick zu stocken, wobei ein leises Zittern ihren weißen Hals überlief. Die weitgeöffneten Kinderaugen drückten mehr Staunen als Zorn aus. Sie war von dem Unerwarteten über alle Maßen überrascht und ganz fassungslos. Als sie erst wieder zu Atem kam, entrang sich ein langgedehntes, Verwirrung und Furcht ausdrückendes »O!« ihren Lippen.

Annixter blieb – ein lächerlicher Tölpel – einen Augenblick wie gebannt stehen und murmelte immer wieder:

»Nun – nun – 's ist ja gut – wer will Ihnen denn was tun? Sie brauchen keine Angst zu haben – wer will Ihnen denn was tun – 's ist ja gut!«

Und dann rief er mit einer hastigen, unbestimmten Bewegung des einen Armes: »Adieu! Es – es tut mir leid.« Er machte kehrt, eilte die Kellertreppe hinauf und durch den oberen Raum ins Freie nach den Wirtschaftsgebäuden. Außer sich vor Wut, stülpte Annixter den Hut auf den Kopf und murmelte zähneknirschend vor sich hin: »O, ich Ziegenbock! Ich Vieh von einem dummen Pipps! Guter Gott, was für einen Esel habe ich jetzt eben aus mir gemacht!«

Und in demselben Augenblick nahm er sich fest vor, Hilma Tree aus seinen Gedanken zu verbannen. Solche Dummheiten hielten ihn ja von der Arbeit ab. Damit war wahrhaftig kein Geld zu verdienen. Er schüttelte sich, als ob er seine Schultern von einer drückenden Last befreien wollte, und richtete alle Aufmerksamkeit auf die Vorgänge in seiner Nähe. Das anhaltende Hämmern der Arbeiter, die die Schindeln auf das Dach des großen Barns nagelten, zog ihn zunächst an. Zwischen Wohnhaus und artesischem Brunnen ging er hinüber nach dem Neubau und blieb eine Weile in die Betrachtung des mächtigen Gebäudes versunken; eifrig waren die Zimmerleute damit beschäftigt, die letzte Hand an das Dach und die Viehställe zu legen. Die mannigfachen Arbeitsgeräusche – das Klopfen der Hämmer, das im Tonfall wechselnde Kreischen der Sägen, das Pfeifen der im Takt hin und her gleitenden Hobel – fesselten und ergötzten ihn. Zwei Männer und ein junger Bursche waren damit beschäftigt, das große Schiebetor an der Südseite einzuhängen, während die Anstreicher, die in aller Frühe von Bonneville gekommen waren, den Farbenzerstäuber, eine durch Druck betriebene Maschine, in Gang setzten, mittels deren die Farbe auf den Außenwänden des Gebäudes verteilt werden sollte. Annixter hatte darauf bestanden, den Anstrich auf diese Weise zu bewerkstelligen; Pinsel und Farbentöpfe verwarf er als für eine derartige große Arbeit ungeeignet und veraltet.

Er rief einen der Vorarbeiter an und fragte ihn, wenn endlich der Barn fertig sein würde. Der Mann erwiderte, daß Ende der Woche das Heu hineingebracht und das Vieh eingestellt werden könnte.

»Verdammt viel Zeit habt ihr gebraucht,« erklärte Annixter.

»Aber denken Sie doch, der Regen – –«

»Ach, Blech, der Regen! Ich arbeite doch, wenn's auch regnet. Mir wird noch übel, wenn ich an euch und eure Fachvereine denke!«

»Aber, Herr Annixter, wir hätten bei dem Regen doch nicht anfangen können zu streichen. Die Farbe wäre doch verdorben worden.«

»O, jawohl, verdorben! Das mag alles sehr richtig sein. Vielleicht wär' sie verdorben, vielleicht aber auch nicht.«

Als aber der Vormann wieder an seine Arbeit gegangen war, konnte Annixter sich eines zufriedenen Brummens nicht enthalten. Der Barn war unbestreitbar großartig, ja monumental. Fast jeder andre Barn im County hätte wie ein Vogelbauer hineingeschoben werden können, und es wäre noch viel Platz übriggeblieben. Das Gebäude entsprach in jeder Weise Annixters Erwartungen. In der Freude über die so wohlgelungene Ausführung seines Planes vergaß er für den Augenblick sogar Hilma. »Und jetzt,« murmelte er, »werd' ich den Ball drin geben. Die Leute sollen Augen machen.«

Es fiel ihm ein, daß es Zeit wäre, die Einladungen ergehen zu lassen. In welcher Weise das geschehen sollte, war ihm nicht ganz klar, und er beschloß daher, Magnus und Frau Derrick um Rat zu fragen.

»Ich will wegen des Telegramms von dem Ziegenbock sowieso mit Magnus reden,« sagte er sich, »und dann habe ich auch vor dem Ersten eine Masse Sachen in Bonneville zu erledigen.«

Mit einem letzten Blick nach dem Barn wandte er sich um und ging nach dem Stalle. Er hatte beschlossen, sein Pferd satteln zu lassen und über Los Muertos nach Bonneville zu reiten. Der Tag würde wohl darüber hingehen, da er Magnus, Harran, den alten Broderson und verschiedene Bonneviller Geschäftsleute aufsuchen wollte.

Einige Minuten später ritt Annixter aus dem Gehöft, eine frische Zigarre zwischen den Zähnen und den Schlapphut ins Gesicht gedrückt gegen die Strahlen der noch ziemlich tief im Osten stehenden Sonne. Er kreuzte den Bewässerungsgraben und schlug den kürzesten Weg nach Los Muertos über Hoovens Pachtland ein. Es war dies der südwestlich in die mit graugrünen Weiden bestandene Niederung des Broderson-Baches führende Pfad. Jetzt zur Regenzeit war der Bach zu einem kleinen Strome angeschwollen, der weiterhin mit starkem Gefälle unter der Trestlebrücke hindurchfloß. Jenseits des Wegerechts der Eisenbahn mußte Annixter das Tor in Derricks Grenzzaun öffnen. Er brachte das, ohne abzusteigen, fertig, wobei er fortwährend über sein Pferd fluchte und das Tier unablässig spornte. Als er das Tor glücklich hinter sich hatte, ritt er in flottem Galopp weiter. Dieser Teil von Los Muertos war die Hoovensche Pachtfarm; ihre fünfhundert Acker wurden von dem Bewässerungsgraben und dem Broderson-Bach eingeschlossen. Als Annixter sie halb durchritten hatte, traf er Hooven selbst, der gerade die schadhafte Stoßscheibe an der Achse seiner Drillmaschine gegen eine neue auswechselte. Auf einem der vorgespannten Pferde saß Hilda, Hoovens kleine Tochter, in ihren mit Nägeln beschlagenen Stiefeln und Knaben-Ueberhosen. Die Hände an das Kummet geklammert, hockte sie ganz starr und außer sich vor Entzücken mit weitgeöffneten Augen und wirrem Haar auf dem geduldigen Tier.

»Hallo, Bismarck!« rief Annixter und blieb halten. »Was machen Sie denn noch hier? Ich dachte, der Governor wollte dies Jahr ohne Pächter wirtschaften.«

»Ach, Miest'r Annixter,« rief Hooven, sich aus seiner gebückten Stellung aufrichtend. »Ach, Sie sein's, häh? Ach, you bet, ohne mich kann er's nicht mänädschen. Ich muß eegal bleiben. Ich hab' frischweg mit'm Governor geredt, ich hab'n gefixt. Ach, you bet! Sieben Jahr bin ich bei der Rentsch gestobbd, jähs, Serr! Jeher andre son of a gun mußte wegmachen von der Rentsch, bloß ich nich. Häh? Was meenen Se daderzu?«

»Ich meine, Sie haben da einen ganz verrückten Schraubenschlüssel,« bemerkte Annixter, auf das Werkzeug in Hoovens Hand deutend.

»Ach, där Schraubenschlissel!« erwiderte Hooven. »Schuhr! Well, härnse nur, wo ich'n härhab. Sähn Se, das is Sie gar kee amärigahnscher Schraubenschlissel. Dän hab'ch nämlich noch von Gravelotte, wissen Se, wo mer de Franzosen verhaun hab'n. Mei Redschiment war doch dabei zur Deckung von där Badderie von Brinz Hohenlohe. Uff'm Bauch Hammer gelägen ä ganzen Dahg hinter där Badderie, und de franzeeschen Schrabnells sein eegal egsblodiehrt – ach, Donnerwetter! – ich meente schon, jed's Schrabnell egsblodiehrte in meim Genicke. Und a ganzen Dahg is das so fortgegangen, immerfort kamen die franzeeschen Schrabnells, b–r–r, b–r–r, b–r–r, buhm, krach, und bloß där Rooch, und unsre Badderie, die hat doch wie 'ne Uhr gearbeet, eins, zwei, buhm! eins, zwei, buhm! wie 'ne Uhr, so ruhig und im Dembo, eegal ä ganzen Dahg fort. Und wie's finster wärd, da heeßt's doch, mer hab'n ä golossalen Sieg. Ich wußte nischt. Gesähn hammer doch nischt von d'r Schlacht. Und dann schtehn mer uff und marschieren und marschieren de ganze Nacht. Und wie's Morgen wärd, da härn mer'sch wieder krachen, 's war aber weit weg, weeß Gott wo! But, never mind! Und uff eemal, ach Gott« – sein Gesicht wurde dunkelrot – »ach, du lieber Gott, da kommt doch der Kaiser ganz dichte bei uns ran, und Fritz, unser Fritz. Bei Gott! Da wärd'ch ganz närrsch und ich brille, ach, you bet, und 's ganze Redschiment brillt: Hoch där Kaiser! Hoch das Vaterland! Und 's Wasser schießt mer in de Oogen, ich weeß nich wie, und unsre Leite schrein und schwenken de Helme, und 's ganze Redschiment marschiert weiter, schtramm und schtolz, bei Gott, de Keppe hoch, und alle sing mer die ›Wacht am Rhein‹. Ja, das war Gravelotte.«

»Und der Schraubenschlüssel?«

»Ach, ich hab'n uffgeklaubt, wie de Badderie weggemacht is. De Gannoniere hamm'n vergess'n. Im Dornister hab ich'n getragen. ›In meim Geschäft derheeme kennt ich'n brauchen‹, hab ich mer gedacht. Ich hab doch in Leipzig in der Waggonfabrik gearbeet. Ich bin aber nich lange derheeme geblieben. Wie der Krieg alle war, hab' ich's bald satt gekriegt beim Milidähr. Dann sein mer entlassen worn, und ich hab geheirat. Und dann bin ich bald rieber gemacht – you bet – nach Amäriga. Zuerscht Nei York, dann Milwaukieh, dann Schbringfielt-Illinoi und dann Galifornien, und hier bleib'ch!«

»Und das Vaterland? Möchten Sie nicht wieder zurück?«

» Well, I tell you, Miest'r Annixter. Uff Schärmenie und ä Kaiser, da laß'ch nischt kommen, und Gravelotte wär'ch nie vergessen. Aber 's is ne eegene Sache! Wo die Frau is und de Kinder – de kleene Hilde – da is nu das Vaterland. Häh? Amäriga is jetzt mei Vaterland und dorten« – er deutete über seine Schulter nach dem Hause unter der riesigen Lebenseiche – »bin ich derheeme. Das is fer mich genug Vaterland.«

Annixter faßte die Zügel, um weiterzureiten.

»Sie lieben also Amerika, nicht wahr, Bismarck?« fragte er. »Und wen wählen Sie denn?«

»Amäriga? Nu, ich weeß nich,« erwiderte Hooven. »In dem Haus dort bin'ch derheeme. Das is mei Vaterland. Mir Schärmens sein alle so. Schärmenie is ä verdammt scheenes Land, schuhr. Aber 's Vaterland is, wo mer derheeme is und wo de Frau und de Kinder sein. Häh? Und wählen? Ach, nee! Ich wähle nie nich. Ich zerbrech m'r ä Kopp nich mit solche Sachen. Ich laß ä Weizen wachsen und seh, daß de Frau und de Kinder ihr Brot hamm, sonst kimmere ich mich um nischt. So bin'ch – ich – Bismarck.«

Annixter verabschiedete sich und ritt weiter. Hooven, der die Stoßscheibe eingesetzt hatte, nahm seine Arbeit wieder auf und trieb die Pferde an. Rasselnd setzte sich die Drillmaschine in Bewegung.

»Heh, Hilda, Kleene,« rief der zärtliche Vater, »halt dich hibsch feste! Jüh! Hopp, Mjul! Vorwärts!«

Annixter galoppierte weiter und hatte bald den Broderson-Bach gekreuzt. Er war jetzt auf der Heimfarm von Los Muertos. Vor ihm, am fernen Horizont, tauchte das Dach des Derrickschen Wohnhauses inmitten des dunkeln Grüns der Zypressen und Eukalyptusbäume auf. Nichts andres unterbrach die Einförmigkeit der weiten Fläche. Das braune ebene Ackerland glich einem unbewegten und schmutzfarbenen grenzenlosen Ozean. Tiefe Stille herrschte.

Annixters scharfes Auge suchte den Horizont ab und entdeckte im Norden einen verschwimmenden Punkt, der sich allmählich zu einem undeutlichen Fleck vergrößerte; der Fleck bewegte sich langsam vorwärts und nahm, wenngleich er noch schwer von dem dunkeln Erdreich zu unterscheiden war, an Deutlichkeit zu. Jetzt erreichte er eine kleine Bodenerhebung und zeichnete sich einen Augenblick tiefschwarz und in scharfen Umrissen von dem Blaßblau des Horizontes ab. Annixter bog von der Straße ab und ritt über die Felder auf den seine Aufmerksamkeit erregenden Gegenstand zu. Das, was als ein einzelner Fleck erschienen war, schied sich im Näherkommen in verschiedene Bestandteile; seine Form wurde unregelmäßig und zerstückelt. Eine aufgelöste, in Dunst und Staub gehüllte Masse bewegte sich auf Annixter zu; im Weiterreiten vernahm er ein Gewirr ihr vorausgehender, durch die Entfernung gedämpfter Geräusche. Längst war es kein Punkt, kein Fleck mehr, sondern ein Zug, der, einer fernen Heeressäule gleichend und von einzelnen schwarzen Punkten begleitet, sich vorwärts bewegte. Als Annixter die Entfernung verringerte, wuchsen diese Punkte zu Reitern und Buggys, die mit dem Zuge Schritt hielten. In dem Zuge selbst waren ebenfalls Pferde. Zuerst glaubte man nichts andres zu sehen als diese reiterlose Schwadron, die, beständig vorrückend, über das zur Saat bereitete Land dahinzog. Immer näher kamen die Pferde, die je sechs nebeneinander vor Ackermaschinen gespannt waren. Die Geräusche nahmen zu und waren voneinander zu unterscheiden. Zurufe erschallten, hin und wieder schnaubte ein Pferd durch die geblähten Nüstern. Unaufhörlich klapperten und klirrten aneinander schlagende Eisenteile; die Zahnräder, Wellen, Saattrichter und Ketten der Drillmaschinen arbeiteten unter fortwährendem Rasseln. Der Zug war jetzt dicht an Annixter herangekommen; die mannigfachen Arbeitsgeräusche klangen zu einem verwirrenden Getöse zusammen, dessen Grundton der mahlende, knirschende Tritt unzähliger Hufe bildete. Maschine folgte auf Maschine. Annixter ritt zur Seite; wohl zehn Minuten lang fesselte ihn der Anblick jener kunstvollen Ackergeräte, die wie in Schlachtordnung vorrückende Streitwagen klirrend, rasselnd und mit knarrenden Rädern an ihm vorbei rollten. In endloser Reihe folgte Maschine auf Maschine, Sechsgespann auf Sechsgespann – Magnus Derricks dreiunddreißig Saatdrills, jeder zu acht Scharen; wie eine Heeressäule zogen sie über die zehntausend Acker von Los Muertos und streuten den Samen in das der Befruchtung harrende Land. Tief in den dunkeln Schoß der Erde pflanzten sie die Keime des Lebens, die Nahrung einer ganzen Welt, das Brot eines ganzen Volkes. Nachdem die Maschinen vorbeigezogen waren, wandte Annixter sein Pferd und ritt über das eben besäte Feld zurück nach dem Unteren Wege. Er wunderte sich nicht, daß man auf Los Muertos die Saat etwas hastig zu betreiben schien. Magnus und Harran Derrick hatten den beim Beginn der Ackerbestellung durch das Warten auf die Pflüge erlittenen Zeitverlust noch nicht wieder gutmachen können. Sie waren mit der Arbeit zurückgeblieben. Annixter war bereits mit Säen und Eggen fertig; an den Stellen, wo es nötig war, hatte er sogar noch einmal quer geeggt. Die weiten Flächen waren besät. Jetzt brauchte man nichts weiter zu tun, als zu warten, bis der Weizen keimte und aufging.

Als Annixter das im Schatten der Zypressen und Eukalyptusbäume liegende Wohnhaus von Los Muertos erreichte, fand er Frau Derrick auf der Veranda vor, die dort in einem Liegestuhl aus Weidengeflecht ruhte. Sie hatte ihr Haar gewaschen; die langen lichtbraunen Strähne, die ihren jugendlichen Glanz bewahrt hatten, waren sorgfältig über die Rücklehne gebreitet, um sie von der Sonne trocknen zu lassen. Annixter fiel es auf, daß Annie Derrick, trotzdem sie bereits das fünfzigste Lebensjahr überschritten hatte, noch immer eine hübsche Frau war. Als ihre Augen sich auf den Besucher richteten, bemerkte Annixter, daß ihr lieblicher Ausdruck sich in den der Unruhe, des Mißtrauens, ja fast des Abscheus wandelte.

In der vorhergehenden Nacht hatten Magnus und seine Frau, nachdem sie zur Ruhe gegangen waren, noch stundenlang wach gelegen und im Dunkeln miteinander geredet. Er hatte der Gattin das gegen die Eisenbahn gerichtete Bündnis nicht verheimlichen können; ebensowenig ließ er sie darüber im unklaren, daß die Verbündeten nicht zögern würden, jedes Mittel zur Erreichung ihrer Ziele anzuwenden. Den Ostermanschen Plan, durch List und Betrug die Wahl einer den Ranchbesitzern dienstbaren Eisenbahnkommission durchzusetzen, hatte er ihr mitgeteilt. Das alles war von dem Ehepaar immer wieder erörtert worden, und das nach der Abendmahlzeit begonnene Gespräch hatte bis tief in die Nacht hinein gedauert.

Sofort war die schreckhafte Angst über Annie Derrick gekommen, daß Magnus trotz seiner ausdrücklichen Weigerung sich doch noch zur Teilnahme bereden lassen und dem täglich stärker werdenden Drängen seiner Freunde nachgeben würde. Niemand kannte besser als sie die Lauterkeit der Gesinnung ihres Gatten und seine eiserne Charakterfestigkeit. Niemand war sich mehr der Tatsache bewußt, daß der ihm von seinem brennenden Ehrgeiz eingegebene Lieblingswunsch, im politischen Leben eine große Rolle zu spielen, nur deshalb unerfüllt blieb, weil er unlautere Mittel verschmähte, sich keinem auf ihn ausgeübten Druck fügte und von seinem starren Rechtsbegriff nicht abzubringen war. Aber jetzt schien eine Veränderung mit ihm vorzugehen. Von der so lange ertragenen Unterdrückung, Willkürherrschaft, Ungerechtigkeit und Erpressung war er zur Verzweiflung getrieben worden; S. Behrmans Unverschämtheit hatte ihn aufs höchste erbittert. Magnus schien nahe daran zu sein, Ostermans Plan gutzuheißen. Er sprach oft und ausführlich mit seiner Frau darüber; in diesem Umstande lag schon der Beweis, daß er sich viel mit diesem Plane beschäftigte. Ein Jammer war's, daß es so weit mit ihm kommen konnte! Er, Magnus, der »Governor«, der so standhaft, so unbeugsam redlich, so überzeugungstreu gewesen war, der die anrüchige neue Politik so bitter verdammt, der alle Bestechung und Verderbnis aufs schärfste verurteilt hatte! War es denn möglich, daß er jetzt auch nur einen Augenblick zögern konnte, die unter seinen Augen sich abspielenden unsauberen Machenschaften zu verdammen? Frau Derrick war aufs höchste überrascht, daß Magnus Harran nicht befahl, jeden Verkehr mit den Verschwörern abzubrechen. Ehedem hätte Magnus seinem Sohn schon verboten, einen unehrenhaften Mann auch nur zu kennen.

Neben alledem zitterte Annie Derrick bei dem Gedanken, daß Gatte und Sohn den verzweifelten Kampf mit der Eisenbahn aufnehmen wollten, jenem übermächtigen Ungeheuer, dessen eisernes Herz kein Erbarmen kannte. Noch immer hatte die Bahn über ihre Gegner triumphiert; stets war S. Behrman, der Ritter der P. und S. W., als Sieger aus dem Kampfe hervorgegangen und hatte im Vollgefühle seiner Unüberwindlichkeit ruhig und gelassen das Feld behauptet. Aber jetzt drohte ein furchtbarer Kampf, wie er erbitterter nie geführt worden war. Geld sollte wie Wasser ausgeschüttet, der gute Ruf jedes einzelnen Kämpfers aufs Spiel gesetzt werden. Eine Niederlage bedeutete die völlige Vernichtung, den finanziellen und moralischen Ruin und damit den unwiederbringlichen Verlust der gesellschaftlichen Stellung. Ein Erfolg schien ihr ausgeschlossen. In der Stille der Nacht sandte das ferne Getöse der Züge von Guadalajara, Bonneville und der langen Trestlebrücke seinen Widerhall über die Felder von Los Muertos bis in ihr Herz. In solchen Augenblicken sah sie das dahinjagende Schreckgespenst von Stahl und Dampf, das Sinnbild einer unüberwindlichen Macht, deutlich vor sich. Von Horizont zu Horizont raste der Leviathan mit seinem rotglühenden Zyklopenauge und den stählernen Fangarmen; wer sich ihm entgegenwarf, wurde im Augenblick von den donnernden Rädern zermalmt. Nein, es war besser, sich zu unterwerfen und geduldig das Unabwendbare zu ertragen. Sie verharrte, wie immer, in ihrer schüchternen Zurückhaltung und suchte, im Innersten vor der Rauheit dieser Welt erbebend, den Gatten mit ihren schwachen Händen mit sich zu ziehen.

Eben noch, ehe Annixter gekommen war, hatte sie, in Gedanken versunken, in ihrem Liegestuhl geruht; ein aufgeschlagenes Gedichtbuch lag mit dem Einband nach oben auf ihrem Schoß. Ihr träumerischer Blick verlor sich in die unendlichen Weiten von Los Muertos; am Rande des nahen Rasenplatzes beginnend, erstreckten sich die riesigen, vom Pfluge aufgerissenen Flächen bis weit über den fernen südlichen Horizont. So weit das Auge reichte, war das Erdreich alles Lebens bar, öde, traurig und von tiefem Schweigen umfangen. Vergebens suchten Annie Derricks milde Augen einen Ruhepunkt. In ihrer von langem trüben Sinnen angekränkelten Phantasie riefen diese unabsehbaren einförmigen Flächen die ungewisse, beängstigende Vorstellung eines furchtbaren, lähmenden Druckes hervor. Fortwährend wuchs in ihr das Entsetzen vor dieser Riesengröße und das Gefühl trostloser, unsäglicher Einsamkeit. In einem verlassenen Boot inmitten des Weltmeeres hätte ihre Angst nicht größer sein können. Deutlich fühlte sie den ewigen Gegensatz zwischen der Menschheit und der sie ernährenden Erde. Sie erkannte die ungeheure Gleichgültigkeit der Natur, die an sich nicht feindlich, sondern wohlwollend ist, solange der menschliche Ameisenschwarm sich ihr fügt, mit ihr arbeitet und an ihrer Seite im geheimnisvollen Marsch der Jahrhunderte dahinschreitet. Wenn aber das rebellische Insekt sich empört, wenn es wagt, sich der Macht der Natur entgegenzustemmen, so kennt jene riesige, furchtbare Maschinerie keine Duldung, kein Erbarmen. Mitleidslos, in lautloser Ruhe zerstampft der Leviathan mit dem Herzen von Stahl das menschliche Atom, dessen Todeszucken jenes ungeheure Triebwerk nicht im geringsten zu erschüttern, den unaufhaltsamen Gang seiner zahllosen Räder und Zapfen nicht zu stören vermag.

Eine bestimmte Form nahmen derartige Gedanken in ihrem Geiste nicht an. Sie hätte nicht genau zu sagen vermocht, was sie beunruhigte, sondern hatte vielmehr das unbestimmte Angstgefühl, als ob ein Windhauch aus der mit Feindseligkeit erfüllten Luft ihr Gesicht anwehte.

Das Geräusch von Pferdehufen auf dem Kies der Vorfahrt riß Annie Derrick aus ihrem trüben Sinnen. Sie wandte ihre Blicke von den öden Flächen von Los Muertos ab und sah Annixter, der sein Pferd an den in den Garten führenden Stufen anhielt. Sein Anblick ließ sie an ihre neuen Sorgen denken. Nur mit dem Gefühl tiefer Abneigung konnte sie den Besucher ansehen. Er gehörte zu den Verschwörern, ja er war einer der Führer in dem bevorstehenden Kampfe. Zweifellos war er gekommen, um einen neuen Versuch zu machen, Magnus für den ruchlosen Bund zu gewinnen.

In ihrem Gruße jedoch lag wenig Feindliches. Sie entschuldigte sich, daß sie wegen ihres aufgelösten Haares nicht aufstünde, das wie eine dichte Masse feinen braunen Seegrases auf dem über die Stuhllehne gehängten weißen Handtuch ausgebreitet war. Auf Annixters verlegene Frage nach dem Governor schickte sie den chinesischen Koch in die Office, um Magnus den Besucher zu melden. Annixter, der sein Pferd an einen in den Stamm eines Eukalyptusbaumes getriebenen Ring gebunden hatte, nahm den Hut ab und setzte sich auf die oberste Stufe der Verandatreppe.

»Ist Harran in der Nähe?« fragte er. »Ich möchte ihn auch sprechen.«

»Nein,« entgegnete Frau Derrick. »Harran ist heut früh nach Bonneville geritten.« Sie blickte unruhig nach Annixter hinüber, ohne den Kopf zu wenden, damit ihr ausgebreitetes Haar nicht in Unordnung geriet. »Weswegen wollen Sie mit Herrn Derrick sprechen?« fragte sie schnell. »Ist's wegen der Wahl in die Eisenbahnkommission? Magnus billigt den Plan nicht,« erklärte sie mit Nachdruck. »Er hat mir das gestern abend gesagt.«

Annixter rückte unruhig hin und her und suchte mit der Hand das widerspenstige Haarbüschel zu glätten, das wie die Feder in der Skalplocke eines Indianers von seinem Scheitel emporstarrte. Er schöpfte sofort Verdacht. Ah, dieses weibliche Femininum wollte ihn einfangen, ihn in eine Unterrockaffäre verwickeln, ihm um den Bart gehen. Augenblicklich nahm er seine ganze Schlauheit zusammen. In übertriebener Vorsicht, die seine natürlichen Antriebe förmlich einfrieren ließ, traute er sich kaum zu reden, weil er fürchtete, sich irgendwie bloßzustellen. Aengstlich um sich blickend, sehnte er Magnus herbei, von dem er die Lösung seiner unbehaglichen Spannung erhoffte.

»Ich bin wegen des Balles in meinem neuen Barn gekommen,« sagte er endlich und blickte mit zusammengezogenen Brauen in die Tiefen seines Hutes, als ob er seine Worte daraus ablesen müßte. »Ich wollte fragen, wie ich's mit den Einladungen machen soll. Ich hab' schon daran gedacht, eine Anzeige in den ›Merkur‹ zu setzen.«

Noch während er sprach, war Presley von rückwärts an ihn herangetreten und hatte gehört, worum es sich handelte.

»Das ist Unsinn, Buck,« sagte Presley. »Du gibst doch keinen öffentlichen Ball. Natürlich mußt du Einladungen verschicken.«

»Hallo, Presley, da bist du ja auch!« rief Annixter, sich umwendend, und schüttelte dem Freunde die Hand. »Einladungen verschicken?« wiederholte er verdrießlich. »Warum denn?«

»Weil's das einzig Richtige ist!«

»Wirklich? Ist das wirklich so?« fragte der verwunderte und beunruhigte Annixter. Niemand unter seinen Bekannten hätte ihm derartig widersprechen dürfen, ohne sofort einen Streit hervorzurufen. Daß der junge eigensinnige, reizbare und streitsüchtige Ranchbesitzer jedesmal dem Poeten nachgab, erschien allen als ein unerklärlicher Widerspruch im Charakter Annixters. Frau Derrick traute ihren Ohren nicht, als er fortfuhr:

»Nun, ich glaube, du weißt's am besten, Pres, was du redest. Müssen's geschriebene Einladungen sein, wie?«

»Natürlich.«

»Mit der Maschine geschrieben?«

»Was für ein Esel du bist, Buck,« sagte Presley gelassen. »Ehe du damit zu Rande kommst, wirst du wohl drei Viertel der Leute beleidigen, die du einladen willst, und dich in hundert Streitigkeiten und obendrein noch in ein paar Prozesse verwickeln.«

Noch ehe er etwas erwidern konnte, erschien Magnus, schlank und aufrecht wie immer, würdevoll und frisch rasiert. Ohne zu wissen, was er tat, erhob sich Annixter. Es war, als ob Magnus der kommandierende General und er ein Subalternoffizier wäre. Man redete über den geplanten Ball; dann aber fand Annixter Gelegenheit, den Governor auf die Seite zu nehmen. Mit angstvollen Augen beobachtete Frau Derrick die beiden, wie sie langsam den Kiesweg bis zum Tore hinabschritten und dort, auf die Pfosten gelehnt, ernsthaft miteinander redeten. Der schlanke, hochgewachsene Magnus stand barhäuptig mit undurchdringlicher Miene, die dünnen Lippen fest geschlossen und die Rechte in den übereinander geknöpften Schoßrock geschoben, vor Annixter; fest blickte er ihm mit seinen scharfen, blauen Augen ins Gesicht. Annixter kam ohne Umschweife zur Hauptsache.

»Ich habe heut früh ein Telegramm von Osterman bekommen, Governor, und – wir haben also Disbrow. Das bedeutet, daß die Denver-, Pueblo- und Majave-Bahn hinter uns steht. Damit haben wir die Sache schon halb gewonnen.«

»Osterman hat ihn bestochen, vermute ich,« sagte Magnus.

Annixter zuckte ungeduldig die Achseln. »Man muß bezahlen, wenn man was haben will,« erwiderte er. »Für nichts kriegt man nichts! Governor,« fuhr er fort, »ich verstehe nicht, wie Sie unsrer Sache länger fernbleiben können. Sie werden sehen, wie's werden wird. Wir werden gewinnen, und ich kann nicht glauben, daß Sie's für recht halten, wenn wir die ganze Arbeit allein tun und alle Kosten tragen. Hier ist nie etwas unternommen worden, ohne daß Sie nicht an der Spitze gestanden hätten. Das weiß ganz Tulare County und der ganze San Joaquin-Distrikt. Die Leute brauchen einen Führer, und den sehen sie in Ihnen. Ich weiß, wie Sie über unsre heutigen politischen Verhältnisse denken. Aber seit Ihrer Zeit hat sich der Maßstab geändert, Governor; jedermann spielt heut ein Spiel wie wir, – die ehrenhaftesten Männer tun's. Anders können Sie die Partie nicht spielen, und pah! die Hauptsache ist doch, daß der, auf dessen Seite das Recht ist, schließlich gewinnt. Wir brauchen Sie in unsrer Sache, unbedingt brauchen wir Sie. Sie haben sich die Sache lange überlegen können. Sind Sie zu einem Entschluß gekommen? Wollen Sie mitmachen? Ich will Ihnen was sagen, – man muß so was von einem höheren Standpunkt auffassen. Nach den Resultaten muß man urteilen. Nun, wie denken Sie darüber? Machen Sie mit?«

Magnus wandte seine Augen von Annixter ab und sah einen Augenblick zu Boden. Sein Gesicht verfinsterte sich; er fühlte aber mehr Unruhe als zornige Erregung. Die Furcht quälte ihn und weckte tausend widerstreitende Empfindungen in ihm.

Einer seiner stärksten Triebe, seiner heißesten Wünsche bestand darin, der Herr und Meister zu sein – wenn auch nur auf kurze Zeit. Zu herrschen war stets sein höchster Ehrgeiz gewesen, – sich zu unterwerfen sein tiefster Abscheu. Die vom Zorn über erlittenes Unrecht und stumm ertragene Beleidigungen angestachelte Tatkraft regte sich mächtig in ihm. O, wie dürstete er nach dem Augenblick, zuschlagen zu können und den Feind zu zerschmettern, die besiegte Bahngesellschaft im eisernen Griff seiner Faust zu halten, S. Behrman zu demütigen und sein verlorenes Ansehen und damit auch seine Selbstachtung wiederzugewinnen. Noch einmal wollte er die Macht in den Händen haben, befehlen und herrschen. Seine schmalen Lippen preßten sich aufeinander, die Flügel der kühngeschwungenen Adlernase blähten sich und seine schlanke, achtunggebietende Gestalt reckte sich unbewußt zu ihrer vollen Höhe. Schon sah er sich im Besitze der Macht, der erste Mann im Staate, geachtet und gefürchtet von Tausenden unter ihm. Endlich war sein Ehrgeiz befriedigt, seine einst so jäh unterbrochene Laufbahn vollendet und der große Erfolg errungen. Wenn jetzt endlich nach all den Jahren das Glück ihm lächelte! Sein Spielerglück! Die Instinkte des alten Spielers wurden wieder in ihm wach. Das Glück! Zu wissen, wenn es nahte, es zu erkennen, zu ergreifen und festzuhalten, wenn es mit Windeseile vorüberflog, und blind, tollkühn alles auf eine Karte zu setzen, das war das Genie. War das jetzt seine Chance? Und plötzlich glaubte er, daß sie jetzt sich ihm darbot. Aber seine Ehre! Die sein ganzes Leben hindurch bewahrte Makellosigkeit, die fleckenlose Reinheit seiner Grundsätze! Sollte er in seinem Alter alles das seinem Ehrgeize opfern? Sollte er jetzt noch im vollen Gegensatz zu seinem festgefügten Charakter handeln? Wie könnte er später Harran und Lyman ins Gesicht sehen? Und doch – und doch – der Pendel schwang zurück –, wenn er die Gelegenheit vorübergehen ließ, so war das eine verhängnisvolle Unterlassung; ein Leben, das vielversprechend begonnen hatte, endete dann in ruhmloser Dunkelheit, in Vermögensverfall vielleicht und drückender Armut. Griff er aber zu, so war das eine kühne Tat, mit der er sich Ruhm, eine hervorragende Stellung, weitgehenden Einfluß und möglicherweise großen Reichtum erwarb.

»Ich bedaure sehr, daß ich störe,« sagte Frau Derrick, auf die beiden zutretend. »Ich hoffe, Herr Annixter wird mich entschuldigen, aber Magnus muß den Geldschrank für mich öffnen. Ich habe die Kombination vergessen und brauche Geld. Phelps reitet in die Stadt und soll einige Rechnungen für mich bezahlen. Kannst du gleich kommen, Magnus? Phelps ist fertig und wartet.«

Mit einem unterdrückten Fluch bohrte Annixter seinen Absatz in den Boden. Diese dummen Feminina traten immer störend zwischen ihn und seine Pläne und mischten sich in seine Angelegenheiten. Magnus war bereits auf dem Punkte, etwas zu sagen; vielleicht hätte er sich breitschlagen lassen, und da mußte so zur Unzeit seine Frau dazwischenkommen. Die drei gingen zurück nach dem Hause; bevor sich Annixter verabschiedete, hatte er jedoch Magnus das Versprechen abgerungen, daß dieser, ehe er seine endgültige Entscheidung träfe, noch mit ihm reden wollte.

An der Verandatreppe begegnete er Presley. Der wollte Phelps nach der Stadt begleiten und schlug vor, daß Annixter sich anschließen sollte.

»Aber ich will den alten Broderson aufsuchen,« entgegnete Annixter.

Presley sagte ihm jedoch, daß Broderson, den er in seinem Buckboard hatte vorüberfahren sehen, auch in Bonneville wäre. Als die drei Männer, Phelps und Annixter zu Pferde, Presley auf seinem Zweirad, aufgebrochen waren, begab sich Frau Derrick zu ihrem Gatten in die Office. Sie war heut hübscher wie je. Ihre Wangen waren vor Erregung gerötet, und die unschuldigen weitgeöffneten Augen hatten einen fast mädchenhaften Ausdruck. Sie hatte ihr noch feuchtes Haar mit einem schwarzen Bande zusammengebunden; die lichtbraunen seidigen Strähnen reichten bis weit über ihren Gürtel und ließen sie ganz jung erscheinen.

»Was hat er dir eben gesagt?« rief sie, als sie durch das Pförtchen des grüngestrichenen, die Office teilenden Drahtgitters trat. »Worüber hat Herr Annixter mit dir gesprochen? Ich weiß es. Er hat versucht, dich auf seine Seite zu bekommen, er wollte dich zu etwas Unehrenhaftem bereden, habe ich recht? Sag mir, Magnus, war's nicht so?«

Magnus nickte.

Seine Frau trat dicht an ihn heran und legte eine Hand auf seine Schulter.

»Aber du wirst dich doch nicht darauf einlassen, nicht wahr? Du wirst ihn nicht wieder anhören. Du wirst ihm nicht, wirst niemand gestatten, auch nur daran zu denken, daß du dich zu etwas erniedrigen könntest, wobei Bestechung im Spiel ist! O Magnus, ich weiß nicht, was in den letzten Wochen über dich gekommen ist. Früher würdest du es als eine Beleidigung aufgefaßt haben, wenn jemand geglaubt hätte, daß du an etwas Unehrenhaftes auch nur denken könntest. Magnus, mir würde es das Herz brechen, wenn du dich mit Annixter und Osterman einließest. Wahrhaftig, du wärst für mich nicht mehr derselbe Mann, – du, der du dich bis jetzt so fleckenlos und rein erhalten hast. Und unsre Jungens! Was würde Lyman sagen und Harran und jeder, der dich kennt und achtet, wenn du dich zu der Rolle eines politischen Abenteurers erniedrigtest!«

Derrick stützte seinen Kopf in die Hand und vermied ihren Blick.

»Ich habe Sorgen, Annie,« sagte er tief atemholend. »Das sind schlimme Tage. Mich bedrückt vieles.«

»Schlimme Tage oder nicht,« entgegnete sie mit ängstlicher Beharrlichkeit, »versprich mir das eine, daß du dich nicht an Herrn Annixters Plan beteiligen willst.«

Sie hatte seine Hand in ihre beiden genommen und blickte ihn mit flehenden Augen an. »Versprich's mir,« wiederholte sie, »gib mir dein Wort. Was auch kommen mag, laß mich immer stolz auf dich sein, wie ich's ja immer gewesen bin. Gib mir dein Wort. Ich weiß, du hast nie im Ernst daran gedacht, dich Herrn Annixter anzuschließen, aber ich bin mitunter so nervös und in Angst. Nur um mich zu beruhigen, Magnus, gib mir dein Wort.«

»Wahrhaftig, du hast recht,« antwortete er. »Nein, ich habe nie im Ernst daran gedacht. Nur einen Augenblick hatte ich die ehrgeizige Regung, das zu werden – ich weiß selbst nicht – das, was ich einst erhofft hatte – nun, das ist jetzt vorüber. Annie, dein Mann ist ein schwer enttäuschter Mensch.«

»Gib mir dein Wort,« bat sie beharrlich. »Ueber alles andre können wir später reden.«

Wieder schwankte Magnus; schon wollte er seinen besseren Regungen und den Bitten seiner Frau nachgeben. Er begann einzusehen, wie verhängnisvoll weit er in dieser gefährlichen Sache schon gegangen war. Von Stunde zu Stunde wurde er dem Verhängnis näher getrieben. Er war bereits darein verwickelt, sein Fuß schon in der für ihn geknüpften Schlinge gefangen. Entsetzt prallte er zurück. Wieder empörte sich sein Ehrgefühl. Nein, was auch kommen sollte, er wollte seine Makellosigkeit bewahren. Seine Frau hatte recht. Noch immer hatte sie sein besseres Selbst beeinflußt. Magnus' Abscheu vor den geplanten unsauberen Machenschaften war in diesem Augenblick aufs höchste gesteigert. Er begriff nicht, wie er je auch nur daran hatte denken können, dem Bunde beizutreten. Jetzt aber wollte er sich losreißen, augenblicklich wollte er alle seine unwürdigen Beziehungen lösen. Seine Blicke suchten die seines Weibes. Magnus' Lippen öffneten sich schon zu dem Gelöbnis, das sie erflehte. Plötzlich aber erinnerte er sich des ihm eben von Annixter abgerungenen Versprechens. Er hatte sein Wort gegeben, daß er vor seiner Entscheidung noch einmal mit ihm sprechen wollte. Sein Wort war ihm heilig. Wenn er es auch wollte, er konnte jetzt noch nicht abbrechen, er konnte seiner Frau noch nicht versprechen, daß er nach den Geboten der Ehre handeln würde. Damit mußte er noch einige Tage warten. Zögernd erklärte er ihr das. Annie Derrick hatte nur wenig darauf zu erwidern. Sie küßte ihn auf die Stirn und verließ sorgenvoll und von unbestimmter Furcht gequält das Zimmer. Magnus blieb, das Haupt in die Hand gestützt, in trübes Sinnen versunken und von düsteren Ahnungen heimgesucht, vor seinem Schreibtisch sitzen.

Inzwischen setzten Annixter, Phelps und Presley ihren Weg nach Bonneville fort. Bald waren sie bei dem großen Wasserbehälter in die County-Straße eingebogen und zogen nun im Schatten der unendlichen Reihe von Pappeln weiter, die als Windschutz auf der die Broderson-Ranch begrenzenden Straßenseite standen. Als sie sich Carahers etwa eine halbe Meile außerhalb Bonneville gelegener Kneipe näherten, erkannten sie Harrans Pferd, das am Geländer vor der Tür angebunden war. Annixter trennte sich von seinen Begleitern und ging hinein, um mit Harran zu reden.

»Harran,« sagte er, als die beiden sich an einem der kleinen Tische niedergelassen hatten, »du mußt nun bald auf die eine oder die andre Weise deinen Entschluß fassen. Was willst du tun? Willst du mit den Händen in den Taschen dabei stehen und zusehen, wie wir andern für unsre gemeinschaftliche Sache das Geld eimerweise ausschütten? Wenn wir gewinnen, so profitierst du mit uns. Ich vermute, daß du etwas eignes Geld hast; nicht wahr, das hast du doch? Du führst ja für deinen Vater die Wirtschaft, 's ist doch so?«

Durch Annixters Unverfrorenheit verwirrt, stammelte Harran eine Bejahung und fuhr dann nach einigem Zögern fort: »Ich weiß nicht recht, was ich tun soll. Ich bin in einer schwierigen Lage, Buck. Ich möchte euch helfen, aber es muß ein offenes, ehrliches Spiel sein. Ein andres kenne ich nicht. Ich möcht' 'nen Rat vom Governor haben, wie ich mich verhalten soll, aber jetzt ist kein Wort aus ihm 'rauszubringen. Er scheint zu wünschen, daß ich für mich selbst entscheide.«

»So – weißt du was!« sagte Annixter. »Ich schlage vor, du bleibst der Sache fern, bis alles vorüber ist, und dann trägst du wie jeder andre vom Komitee die Kosten unsrer Kampagne.«

Harran wurde nachdenklich und blickte, die Hände in den Taschen vergraben, sinnend auf die Spitze seines Stiefels.

»Ich möchte nicht blind mitmachen,« begann er. »Denn ich habe dann auch die Verantwortlichkeit für das, was ihr unternehmt. Ich bin ein stiller Teilhaber. Und außerdem – ich will keine Unannehmlichkeiten mit dem Governor haben. Wir sind immer gut miteinander ausgekommen. Er würde es nicht gern sehen, wenn ich etwas derartiges täte.«

»Nun schön!« rief Annixter. »Wenn nun aber der Governor erklärt, daß er seine Hand nicht im Spiele haben will, daß du aber tun kannst, was du willst – würdest du dann beitreten? Mein Gott, wir Ranchbesitzer sollten doch dieses eine Mal gemeinsam handeln! Wir müssen in dem gemeinsamen Kampfe zusammenstehen!«

Ohne es zu wissen, hatte Annixter bei Harran die richtige Saite erklingen lassen.

»Ich glaube schon, daß du recht hast,« murmelte Harran. Er war noch nie so mutlos gewesen, hatte noch nie so drückend die Nutzlosigkeit all seiner Arbeit gefühlt. Alle gesetzlichen Mittel waren erschöpft. Der Weizenbauer war endlich an die Wand gedrückt worden. Wenn der jetzt die einzige ihm noch mögliche Kampfweise versuchte, so traf die Verantwortung dafür seine Feinde, nicht ihn.

»'s ist die einzige Möglichkeit, etwas zu erreichen,« fuhr er fort, »wir müssen zusammenstehen wie ein Mann – – – also – – –, geh drauf los und sieh zu, was sich machen läßt. Wenn der Governor nichts dagegen hat, so steure ich mein Teil zu dem Kampagnefonds bei.«

»Das lass' ich mir gefallen!« rief Annixter, ihm die Hand schüttelnd. »Der Kampf ist schon halb gewonnen. Du mußt wissen, Disbrow haben wir schon. Das nächste ist, daß wir einige von diesen oberfaulen San Franciscoer Machern auf unsre Seite bekommen. Osterman wird –«

Mit einer ungeduldigen Handbewegung unterbrach ihn Harran.

»Sag mir nichts,« rief dieser. »Ich will nicht wissen, was ihr vorhabt. Wüßt' ich's, so würde ich mich nicht beteiligen.«

Trotzdem aber hatte Annixter, ehe er sich verabschiedete, Harran das Versprechen abgenötigt, an der nächsten Ausschußsitzung teilzunehmen, in welcher der inzwischen von Los Angeles zurückgekehrte Osterman seinen Bericht abstatten sollte. Harran kehrte nach Los Muertos zurück, während Annixter nach Bonneville weiterritt.

In Bonneville herrschte stets reges Leben. Die Bürger einer solchen etwa zwanzig- bis dreißigtausend Einwohner zählenden Mittelstadt pflegen noch auf ihr Rathaus, ihre höhere Schule und das »Opernhaus« besonders stolz zu sein. Bonneville war gut verwaltet, sehr rein gehalten und zeigte auf seinen Straßen das emsige Treiben und den lebhaften Geschäftsverkehr einer aufblühenden jungen Stadt. Im Geschäftsteile, den die Hauptstraße durchschnitt, drängten sich die Menschen. Annixter, der bis zum Postgebäude gekommen war, fand sich inmitten einer Reihe schnell wechselnder Bilder und mannigfacher Geräusche. Reitpferde und bespannte Farmwagen – die unvermeidlichen Studebakers –, Buggys, grau von dem Staub der Landstraße, Buckboards mit Kürbissen und Paketen aus dem Materialwarenladen unter den Sitzen, zweirädrige Sulkys Der sulky ist ein leichter Wagen mit zwei hohen Rädern, der beim Trabrennen Verwendung findet. und Wagen zum Einfahren junger Pferde waren längs der die Fußbahn abschließenden Randsteine an die zernagten Geländer und blechbeschlagenen Telegraphenpfosten gebunden. Am Rande der Fußbahn standen hier und da Fahrräder in den mit Zigarrenreklamen bemalten Gestellen. Auf der asphaltenen, von der Hitze weich und klebrig gewordenen Fußbahn selbst war ein ununterbrochenes Kommen und Gehen. Wohlbeleibte Männer in Leinenröcken und ohne Westen schritten schwerfällig einher. Junge Mädchen in Waschkleidern, Hemdblusen und Gartenhüten wanderten paarweise vom Materialwarenladen zur Apotheke und von dort zur Modistin oder hielten sich vor der Post an der Ecke der Odd Fellow-Halle auf. Hemdärmelige junge Leute mit Manschettenschützern aus Bastgeflecht und dem Bleistift hinter dem Ohre waren vor den Läden mit der Abfertigung von Fuhrleuten und dem Empfang von Frachtgütern eifrig beschäftigt. Ein uralter Mexikaner, barhäuptig und in zerrissenen weißen Hosen, saß auf dem Aufsteigeblock vor dem Barbierladen und hielt ein Pferd am Halsstrick. Unter dem Gewicht seiner vollgepackten Marktkörbe, die er an einer über die Schultern gelegten Stange trug, schwankte ein Chinese vorbei. Vor dem Yosemite-Hotel standen Geschäftsreisende, Agenten von Versicherungsgesellschaften und Vertreter von San Franciscoer Juwelierfirmen, gutgekleidete muntere Leute mit großstädtischen Manieren, und erzählten sich lachend Späße oder gingen durch die weißen, in ihren Angeln schwingenden Türen des Yosemite-Barrooms ein und aus. Der Hotelwagen und ein Omnibus kamen jeder mit seinen zwei oder drei Fahrgästen vom Morgenzuge die Straße herauf. Ein sehr schmaler und langer Lastwagen der Mähmaschinenfabrik von Cole & Colemore rasselte mit seiner Ladung von Eisenstäben mit entsetzlichem Getöse über das unebene Pflaster. Die elektrische Straßenbahn, der Stolz Bonnevilles, schien ein flottes Geschäft zu machen; ihre gutbesetzten Wagen sausten unter gellendem Läuten und mit ächzendem, kreischendem Triebwerk die Straße auf und nieder. Auf dem steinernen Säulengeländer des Rasenplatzes, in dessen Mitte das neue Rathaus stand, saßen tabakkauend und schwatzend die nirgends fehlenden Bummler. Im Park wimmelte es von den unvermeidlichen Kindermädchen, schäkernden Pärchen und abgerissenen Jungen. Ein einzelner Polizist in grauem Rock und Helm, mit dem jedermann in der Stadt gut Freund war, stand an einen Pfosten gelehnt am Parkeingang und wirbelte seinen Polizeiknüppel zwischen den Fingern.

Mitten im besten Geschäftsviertel der Stadt erhob sich ein dreistöckiges Gebäude aus unbehauenem Braunstein mit Spiegelscheiben und großen Firmenschildern, deren Goldbuchstaben in der Sonne glänzten. Auf einem dieser Schilder war zu lesen: »Pacific- und Südwesteisenbahn, Fracht- und Passagier-Office«; ein andres, das erheblich kleiner und unter den Fenstern des zweiten Stockes angebracht war, trug die Inschrift: »P. und S. W. Land-Office«.

Annixter band sein Pferd an den vor dem Gebäude stehenden eisernen Pfosten, stieg zwei Treppen hinauf und trat in eine Office, in der einige Schreiber und Buchhalter hinter einer hohen Schranke aus Drahtgeflecht arbeiteten.

»Hallo!« rief der finster blickende Annixter. »Ist der Alte da? Ist Ruggles hier?«

Ein Buchhalter führte Annixter in das anstoßende Privatkontor; auf der in die Tür eingelassenen Scheibe von mattem Glase stand der Name »Cyrus Blakelee Ruggles«. Ein Mann in langem zweireihigen Rock mit schmaler schwarzer Krawatte und steifem Filzhut saß schreibend vor einem Schreibtisch mit Rollade. Darüber hing eine große Karte der Umgegend von Bonneville und Guadalajara; die der Eisenbahn gehörigen Landsektionen waren durch besondere Zeichnung hervorgehoben.

Ruggles empfing Annixter sehr freundlich. Er hatte eine sonderbare Angewohnheit, beim Sprechen fortwährend mit seinem Bleistift einzelne Buchstaben und Bruchstücke von Worten auf umherliegende Papierblätter zu schreiben. Kaum hatte sich Annixter gesetzt, so bemalte Ruggles auch schon seine Schreibvorlage in großer Rundschrift mit den Silben »Ann, Ann«.

»Ich wollte mal wegen meines Landes – ich meine wegen Ihres Landes – des Eisenbahnlandes – mit Ihnen reden,« begann Annixter. »Ich will wissen, wann ich kaufen kann. Ich hab's satt, mich länger zum Narren halten zu lassen.«

»Schön, Herr Annixter,« entgegnete Ruggles, während er ein großes L vor das Ann setzte und ein geschnörkeltes d hinten anhängte. »Das Land« – er strich ein n aus und warf einen kritischen Blick auf sein Werk –, »das Land gehört Ihnen ja eigentlich. Sie haben auf unbegrenzte Zeit das Vorkaufsrecht, und so wie die Sache liegt, zahlen Sie ja nicht mal die Steuern.«

»Zum Teufel mit dem Vorkaufsrecht! Ich will, daß das Land mein ist,« erklärte Annixter. »Was gewinnen Ihre Leute denn dabei, wenn sie den Verkauf an uns immer aufschieben? Länger als acht Jahre schleppt sich die Sache hin. Als ich nach Quien Sabe kam, wurde es abgemacht, daß das Land – eure alternierenden Sektionen – mir innerhalb von ein paar Monaten überlassen werden sollte.«

»Damals war die Zession des Landes noch nicht in unsern Händen,« antwortete Ruggles.

»Nun, inzwischen haben Sie sie wohl bekommen, dächt' ich,« warf Annixter ein.

»Das könnt' ich Ihnen nicht mal mit Bestimmtheit sagen, Herr Annixter.«

Annixter, der ungeduldig wurde, schlug die Beine übereinander:

»Wozu lügen Sie mir denn was vor, Ruggles? Sie wissen was Besseres, als so zu mir zu reden.«

Ruggles' Gesicht rötete sich. Er unterdrückte aber eine unwillige Entgegnung und sagte lachend:

»Wenn Sie freilich so genau unterrichtet sind –«

»Also, wann wollen Sie mir verkaufen?«

»Ich handle nur im Namen der Generaldirektion, Herr Annixter,« antwortete Ruggles. »Sobald die Direktoren bereit sind, die Sache aufzunehmen, werde ich alles Erforderliche mit dem größten Vergnügen für Sie erledigen.«

»Als ob Sie nicht genau Bescheid wüßten! Hören Sie doch, Sie reden jetzt nicht mit dem alten Broderson! Wachen Sie auf, Ruggles! Was bedeutet dieses Geschwätz in Genslingers Wisch über die Neuabschätzung und Preiserhöhung, die diesen Winter vorgenommen werden soll?«

Mit einer abwehrenden Gebärde breitete Ruggles die Hände aus. »Ich bin nicht der Eigentümer des ›Merkur‹,« sagte er.

»Aber Ihre Gesellschaft ist's.«

»Wenn das der Fall sein sollte, so weiß ich jedenfalls nichts davon.«

»Ach, Blech! Als ob Sie und Genslinger und S. Behrman hier nicht den ganzen Zirkus dirigierten! Kommen Sie 'raus damit, Ruggles! Was zahlt S. Behrman dem Genslinger für das dreizöllige Inserat der P. und S. W. im ›Merkur‹? Zehntausend pro anno, was?«

»O, warum nicht gleich hunderttausend?« entgegnete Ruggles, der die Sache scherzhaft auffassen wollte.

Statt zu antworten, zog Annixter sein Scheckbuch aus der inneren Brusttasche.

»Geben Sie mir mal Ihre Füllfeder,« sagte er. Das Buch auf den Knien haltend, schrieb Annixter einen Scheck aus, den er sorgfältig vom Block trennte und vor Ruggles auf den Schreibtisch legte.

»Was ist denn das?« fragte Ruggles.

»Drei Viertel des Kaufgeldes für die Eisenbahnsektionen auf meiner Ranch, basiert auf dem Preise von zwei und einem halben Dollar per Acker. Den Rest können Sie in Wechseln auf sechzig Tage haben.«

Ruggles schüttelte den Kopf und rückte hastig von dem Scheck ab, als ob er sich daran beschmutzen könnte.

»Ich muß die Hände davon lassen,« erklärte er. »Ich habe keine Vollmacht, jetzt schon an Sie zu verkaufen.«

»Euch Leute kann ich nicht begreifen,« rief Annixter aus. »Vor vier Jahren habe ich Ihnen genau dasselbe Anerbieten gemacht, und Sie haben ganz dasselbe Lied gesungen. Wo bleibt denn da das Geschäft? Sie verlieren die Zinsen von Ihrem Gelde. Sieben Prozent des Kapitals auf vier Jahre – rechnen Sie sich's nur aus. 's ist ein Haufen Geld.«

»Na, ich sehe nicht ein, warum Sie so erpicht darauf sind, Ihr Geld loszuwerden. Sie können die sieben Prozent doch ebensogut haben wie wir.«

»Ich will, daß mein Land mir erb- und eigentümlich gehört,« erwiderte Annixter. »Ich will das Gefühl haben, daß jede Scholle innerhalb meines Zaunes mein persönliches Eigentum ist. So aber steht sogar das Haus, in dem ich wohne – das Ranchhaus – auf Eisenbahnland.«

»Aber Sie haben doch das Vorkaufsrecht und – –«

»Ich sage Ihnen, ich brauche Ihr verdammtes Vorkaufsrecht nicht. Ich brauche das Eigentumsrecht, und Magnus Derrick und der alte Broderson und Osterman und alle übrigen Ranchbesitzer im County wollen das auch. Wir wollen das Land als Eigentum besitzen, wir wollen das Gefühl haben, daß wir damit tun können, was uns beliebt. Angenommen, ich beabsichtigte Quien Sabe zu verkaufen. Ich kann's im ganzen gar nicht verkaufen, ehe ich von Ihnen gekauft habe. Ich kann niemand den vollen Besitztitel geben. Seitdem ich's habe, ist das Land durch meine Meliorationen zehnfach im Wert gestiegen. Zwanzig Dollar ist der Acker jetzt gewiß wert. Von dieser Wertsteigerung habe ich aber keinen Vorteil, solange Sie nicht an mich verkaufen wollen, solange ich das Land nicht voll als Eigentum besitze. Sie verhindern mich daran.«

»So wie Sie das auffassen, hat auch die Eisenbahn in keiner Weise einen Vorteil davon. Nach Ihrer Auffassung können Sie für zwanzig Dollar verkaufen, wir aber können nur zwei und einen halben Dollar bekommen.«

»Wer hat's denn zwanzig Dollar wert gemacht?« schrie jetzt Annixter. »Ich hab's doch durch meine Arbeit dazu gebracht. Genslinger scheint dieselbe Idee wie Sie in seinem Schädel zu haben. Ja, denkt ihr denn, ihr könnt das Land als Spekulationsobjekt halten, bis es dreißig Dollar wert ist, und es dann an irgendwen über unsre Köpfe weg verkaufen? Sie und Genslinger waren noch nicht in Amt und Würden, als die Kontrakte aufgesetzt wurden. Fragen Sie nur Ihren Herrn und Meister, fragen Sie nur S. Behrman, der weiß Bescheid. Die Generaldirektion ist kontraktlich gebunden, an uns vor allen andern zum Preise von zwei und einem halben Dollar zu verkaufen.«

»Nun,« sagte Ruggles in entschiedenem Tone, während er, um seinen Worten Nachdruck zu geben, sich vorbeugte und mit dem Ende seines Bleistifts auf den Tisch klopfte, »jetzt verkaufen wir noch nicht. Darauf gebe ich Ihnen Brief und Siegel, Herr Annixter.«

»Warum nicht? Spucken Sie's doch aus! Was für 'ne Bauernfängerei haben Sie diesmal vor?«

»Wir sind noch nicht bereit. Hier ist Ihr Scheck.«

»Sie wollen ihn nicht nehmen?«

»Nein.«

»Ich zahle bar, den ganzen Betrag auf den Tisch, an Cyrus Blakelee Ruggles für die P. und S. W.«

»Nein.«

»Zum dritten und letzten Male!«

»Nein.«

»O, gehn Sie zum Teufel!«

»Ich vertrage Ihren Ton nicht, Herr Annixter,« rief Ruggles, dem die Zornesröte ins Gesicht stieg.

»'s ist mir verdammt gleichgültig, ob Sie ihn vertragen oder nicht,« gab Annixter zurück, während er aufstand und den Scheck in die Tasche steckte. »Und nehmen Sie sich nur in acht, Herr Ruggles, Sie und S. Behrman und Genslinger und Shelgrim und die ganze Diebesbande – Sie werden eines Tages den Staat Kalifornien gegen sich auf die Beine bringen, wenn Sie mal nur 'ne Kleinigkeit zu weit gegangen sind – und es wird 'ne Eisenbahnkommission gewählt werden aus dem Volke, von dem Volke und für das Volk, und die wird Sie beim Kragen nehmen, werter Freund und Bauernfänger, Sie und Ihre Hintermänner, Ihre Schlepper, Schwindler und Preller, wie ihr gebacken seid, mit Sack und Pack. Das wollt' ich Ihnen nur noch sagen, Herr Cyrus Blackleg Unübersetzbares Wortspiel. » Blackleg« = »Gauner«. Ruggles!«

Er stürmte hinaus aus der Office und warf die Tür hinter sich ins Schloß. Der wutbebende Ruggles wandte sich wieder seiner Schreibunterlage zu, die mit den Worten: »Land, zwanzig Dollar, zwei und ein halb, Vorkauf« beschrieben war. Zwischen und über diesen Worten aber stand in weit ausgezogenen großen Schnörkeln und Kurven immer wieder: Eisenbahn, Eisenbahn, Eisenbahn!

Als Annixter in die äußere Office trat, bemerkte er, daß ein Mann, dessen hohe Gestalt und breite Schultern ihm bekannt vorkamen, sich an einen der Beamten hinter dem Drahtgitter wandte. Er hatte kaum mit dem Angestellten zu reden begonnen, als Annixter ihn sofort an der lauten, polternden Baßstimme erkannte; es war Dyke. Wie jedermann in und um Bonneville hatte auch Annixter den ehemaligen Lokomotivführer gern. Er blieb stehen, gab Dyke die Hand und erkundigte sich nach dessen kleiner Tochter Sidney, an der, wie Annixter wußte, der Vater mit großer Zärtlichkeit hing.

»'s ist das gescheiteste Kleinchen in ganz Tulare County,« versicherte Dyke. »Jeden Tag wird sie hübscher, Herr Annixter. Das Kleinchen ist dazu geboren, ne Dame zu werden. Das lange Gedicht ›Eingeschneit‹ kann sie hersagen, ohne ein einziges Mal zu stocken. Das möchten Sie wohl nicht glauben, wie? Aber 's ist wirklich wahr. Nächsten Winter wird sie gerade alt genug für das Seminar in Marysville, und wenn meine Hopfenpflanzung mir auch nur zwei Prozent von dem Anlagekapital bringt, so geht sie auch hin.«

»Wie geht 's Geschäft?« fragte Annixter.

»Die Hopfenfarm? Fein. Das Land ist soweit in Ordnung, und ich habe einen Vormann, der sich gründlich auf Hopfen versteht. Ich habe Glück. Wenn die Leute erst sehen, daß Hopfen bis auf einen Dollar steigt, so wird nächstes Jahr jeder in das Hopfengeschäft hereingehen. Da wird natürlich der Markt überfüllt und der Preis gedrückt werden. Ich aber schöpfe den Rahm ab. Ich sagte zwei Prozent. Du lieber Gott, 's wird ein gut Teil mehr bringen. Das muß es ja. Die Sache in Gang zu bringen hat mich mehr gekostet, als ich kalkulierte, und ich werde vielleicht irgendwo Geld borgen müssen –, aber auf eine so sichere Sache –, und ich will doch auch etwas aus meinem Kleinchen machen.«

»Sind Sie hier fertig?« fragte Annixter, der weiterwollte.

»In 'nem Augenblick,« antwortete Dyke. »Warten Sie auf mich – wir gehen dann zusammen die Straße 'runter.«

Annixter knurrte, daß er es sehr eilig hätte, wartete aber trotzdem, während Dyke mit dem Angestellten sprach.

»Ich werd' diesen Herbst 'n paar leere Waggons von euch brauchen,« sagte Dyke. »Ich baue jetzt Hopfen und möchte genau wissen, wie hoch Ihre Hopfenfrachten sind. Man hat mir's schon gesagt, aber ich will sichergehen.«

Es dauerte eine Weile, während der Beamte in dem Frachtverzeichnis blätterte, und Annixter wurde ungeduldig. Dyke hatte ein unbehagliches Gefühl, während er, die Ellbogen auf den Zahltisch gestützt, den nach dem Hopfentarif Suchenden beobachtete. War der Frachtsatz übermäßig hoch, so sah er seine Pläne vereitelt, das angelegte Geld aufs Spiel gesetzt und die kleine Sidney der ihr zugedachten Ausbildung beraubt. Er begann sich Vorwürfe zu machen, daß er nicht schon lange vorher sichere Erkundigungen über den Frachtsatz für Hopfen eingezogen hatte. Er sagte sich, daß er kein Geschäftsmann sei und ohne die nötige Vorsicht handle.

»Zwei Cents,« verkündete plötzlich der Beamte mit einer gewissen verdrossenen Gleichgültigkeit.

»Zwei Cents das Pfund?«

»Ja, zwei Cents das Pfund – das heißt natürlich in Waggonladungen. Für kleinere Posten kann ich Ihnen den Satz nicht geben.«

»Jawohl, Waggonladungen, natürlich – zwei Cents. Schön, danke.«

Mit einem Seufzer der Erleichterung wandte er sich zum Gehen.

»Ich kriegte 's 'nett Augenblick mit der Angst, wie der so lange 'rumtrödelte,« sagte er zu Annixter, als die beiden die Treppe herabstiegen. »Zwei Cents ist aber ganz in Ordnung. Mir scheint's nicht übertrieben. Das lange 'rumsuchen war nur Tuerei. Ich kenne diese Eisenbahnhandlanger. Er wußte sofort, daß ich ein entlassener Angestellter war, und da stellte er sich so großartig an, um mich klein zu machen, weil ich 'ne Gefälligkeit von ihm haben wollte. Ich glaube nicht, daß die Generaldirektion ihre Sklaven instruiert, sich so schweinemäßig zu benehmen, aber die ganze Bande hat das Gefühl: ›Ihr müßt zu uns kommen. Wir lassen euch nur am Leben, solange es uns paßt –, was wollt ihr denn dagegen machen? Wenn's euch nicht recht ist, so packt euch!‹«

Annixter und der ehemalige Lokomotivführer gingen die Straße hinab und nahmen einen Trunk in der Yosemite-Bar. Dann suchten sie den »Laden für alles« auf, wo Dyke ein Paar kleine rote Pantoffeln für Sidney kaufte. Ehe der Verkäufer sie einpackte, steckte Dyke ein Zehncentstück in jede Schuhspitze, wobei er Annixter verschmitzt anblinzelte.

»Das Kleinchen wird sie dort schon finden,« flüsterte er heiser hinter der vorgehaltenen Hand. »Das wird ein Spaß für Sid sein.«

»Wohin jetzt?« fragte Annixter, als sie wieder auf der Straße waren. »Ich will noch zur Post und dann wieder 'raus auf die Ranch. Haben Sie denselben Weg?«

Verlegen zupfte Dyke an den Enden seines blonden Vollbartes. »Nein – nein,« sagte er zögernd. »Mir scheint, ich muß Sie hier verlassen. Ich habe – ich muß noch mal die Straße hinauf und verschiedenes besorgen. Auf Wiedersehn!«

Die beiden trennten sich, und Annixter eilte durch das Gedränge nach der Post. Der Morgenzug hatte eine ungewöhnlich große Anzahl von Briefen und Postsendungen gebracht, und es dauerte wohl eine halbe Stunde, bis sie verteilt waren. Annixter gab natürlich der Eisenbahn die Schuld für die Verzögerung und machte inmitten der wartenden Menge einige scharfe Bemerkungen. Er war im höchsten Grade gereizt, als er schließlich draußen seine Postsachen in die Tasche stopfte. Der Umstand, daß unter den Briefen für Quien Sabe ein an Hilma gerichteter, mit Aufschrift von Männerhand, war, machte ihn noch ärgerlicher.

»Hm! hm!« brummte Annixter in sich hinein. »Dieser Pips von Delaney! Es scheint, daß ich noch den Kuppler für die zwei machen muß. Nun, vielleicht kriegt das dumme, feminine Frauenzimmer den Brief, und vielleicht kriegt sie ihn auch nicht.«

Seine Aufmerksamkeit wurde plötzlich auf etwas andres gelenkt. Das Eckhaus gerade gegenüber von der Post war das schönste Geschäftsgebäude, dessen Bonneville sich rühmen konnte. Seine massigen und dabei schöngegliederten Fronten machten einen höchst stattlichen, ja großartigen Eindruck. Auf der großen Spiegelscheibe im Erdgeschoß war in goldenen und roten Buchstaben zu lesen: »Leih- und Sparbank von Tulare County«. S. Behrman war der Präsident dieser Bank. Ueber dem Eingang an der Ecke war ein großes halbrundes Firmenschild aus poliertem Kupfer mit dem Namen »S. Behrman« angebracht; darunter standen in kleineren Buchstaben die Worte: »Grundbesitz, Hypotheken«.

Zu seiner Verwunderung sah Annixter den ehemaligen Lokomotivführer auf der Fußbahn vor dem Bankgebäude stehen und anscheinend in einer Zeitung lesen, die er in der Hand hielt. Sehr bald bemerkte aber Annixter, daß Dyke gar nicht las, sondern von Zeit zu Zeit mit schnellen, scharfen Seitenblicken nach beiden Richtungen der Straße auslugte. Annixter wußte sofort Bescheid. Dyke wollte zweifellos sehen, ob er beobachtet wurde; er wartete darauf, daß niemand in der Nähe war, der ihn kannte. Annixter stellte sich hinter einen Telegraphenpfosten auf die Lauer und beobachtete mit angespannter Aufmerksamkeit sein Gegenüber. Sehr bald steckte Dyke seine Zeitung in die Tasche und schlenderte gemächlich zu dem Schaufenster einer Papierhandlung neben dem Eingange zu Behrmans Geschäftsräumen. Mit dem Rücken nach dem Fahrdamm und anscheinend in die Betrachtung der Auslage versunken, blieb er dort einige Augenblicke stehen, blickte aber dabei scharf die Straße hinauf und hinunter. Dann wandte er sich um, schaute schnell noch einmal nach allen Seiten aus und trat dann durch die Türe unter dem großen Halbrund des Firmenschildes in die Bank. Mit schamroten Wangen kam Annixter hinter seinem Telegraphenpfosten hervor. In den Bewegungen, in dem ganzen Verhalten jenes hochgewachsenen, breitschultrigen, ehrlichen Kerls von Lokomotivführer hatte etwas so Scheues, Schleichendes gelegen, daß Annixter sich für ihn schämte. Es mußten Umstände vorliegen, die Dyke eine bloße geschäftliche Abmachung fast als etwas Unrechtes, eine Selbsterniedrigung, eine sorgfältig zu verheimlichende Handlung erscheinen ließen. ›Geld von S. Behrman zu borgen,‹ dachte Annixter bei sich. ›Deine kleine Heimstätte der Eisenbahn zu verpfänden, den Kopf in die Schlinge zu stecken! Armer Tor! 's ist ein Jammer. Guter Gott, da wird dir dein Hopfen viel Geld bringen müssen, alter Freund!‹

Annixter nahm sein Gabelfrühstück im Yosemite-Hotel ein und stieg nachmittags beizeiten wieder zu Pferde. In flottem Galopp verließ er die Stadt und schlug den der Eisenbahn parallel laufenden Oberen Weg ein, der in gerader Linie von Bonneville nach Guadalajara führte. Ungefähr halbwegs überholte er Sarria, der im Schweiße seines Angesichts zurück nach der Mission wanderte. Seine lange Soutane war grau vom Staub der Straße; in der einen Hand trug er einen Korb aus Weidengeflecht, in der andern eine kleine viereckige Handtasche, die das heilige Sakrament enthielt. Seit dem frühen Morgen hatte der Priester bereits fünfzehn Meilen zu Fuß zurückgelegt, um einem sterbenden Nichtsnutz von Greaser, etwa: »Schmierfink«, verächtliche Bezeichnung für eingeborene Mexikaner und Mischlinge. halb Indianer, halb Portugiese, der am fernsten Zipfel der Ostermanschen Viehranch in einer Schlucht hauste, die letzte Oelung zu reichen. Er war über Bonneville zurückgegangen, um einen von San Diego an ihn gesandten Korb abzuholen, von dessen Eintreffen man ihn tags zuvor benachrichtigt hatte.

Annixter parierte sein Pferd und begrüßte den Priester.

»Ich komme nicht oft in Ihre Gegend,« sagte er, sein Pferd zurückhaltend, um sich dem langsamen Schritt Sarrias anzupassen. Der trocknete sich den Schweiß von dem glatten, glänzenden Gesicht.

»Sie? Nun, mit Ihnen ist's was andres,« entgegnete er. »Aber es gibt viele Katholiken im County – auch auf Ihrer Ranch sind welche. Und so wenige kommen zur Mission. Sonntags zum Hochamt finden sich wohl etliche ein – meistens Mexikaner und Spanier aus Guadalajara; an den Wochentagen aber zur Frühmesse, Vesper und bei anderm Gottesdienst, da rede ich zu einer leeren Kirche – 's ist ›die Stimme des Predigers in der Wüste‹. Ihr Amerikaner seid keine guten Kirchgänger. Sonntags schlaft ihr – oder lest die Zeitungen.«

»So, aber Vanamee,« sagte Annixter, »der ist doch früh und spät da, dächt' ich.«

Sarria horchte sofort auf.

»Ah, Vanamee – ein sonderbarer Geselle, aber dabei ein außerordentlicher Mensch. Wenn es nur mehr seinesgleichen gäbe! Er macht mir Sorge. Sie müssen wissen, ich bin eine wahre Nachteule. Zu allen Stunden wandere ich in der Mission herum. In den letzten acht Tagen habe ich Vanamee nicht weniger als dreimal mitten in der Nacht in unserm kleinen Garten gesehen. Nicht meinethalben ist er gekommen. Er hat mich gar nicht gesehen, 's ist höchst sonderbar. Einmal, als ich beim Morgengrauen aufgestanden war, um zur Frühmesse zu läuten, hab' ich ihn beobachtet, wie er aus dem Garten schlich. Er muß die ganze Nacht dort gewesen sein. Was er treibt, ist mir ein Rätsel. Er ist so blaß, und seine Wangen sind hohler wie je. Irgendwas ist bei ihm nicht in Ordnung. Ich werde nicht klug daraus, 's ist mir ein Rätsel. Wie wär's, wenn Sie ihn fragten?«

»Fällt mir nicht ein. Ich hab' mich grad' um genug zu sorgen. Vanamee ist verdreht im Kopf. Eines schönen Morgens wird er wieder auf und davon sein und sich drei Jahre lang nicht sehen lassen. 's ist besser, Sie kümmern sich nicht um ihn, Sarria! Wie geht's denn Ihrem Greaser da auf Ostermans Viehranch?«

»Ach, der arme Mensch – der arme Mensch,« antwortete Sarria mit Tränen in den Augen. »Heut morgen ist er gestorben, in meinen Armen. Einen schweren Todeskampf hat er gehabt, aber im Glauben ist er hinübergegangen, im Glauben. Ein guter Mensch war's.«

»Ein fauler, nichtsnutziger Viehdieb, ein Dago korrumpiert aus dem spanischen Eigennamen Diego und Spitzname der Spanier, Portugiesen und Italiener. mit 'm Messer im Stiefelschaft.«

»Sie verkennen ihn. Er war wirklich ein guter Mensch, wenn man ihn näher kennen lernte.«

Annixter grunzte höhnisch. Sarrias Güte und Nachsicht gegen die nichtsnutzigsten Tagediebe der umliegenden Ranchos war sprichwörtlich. Er unterhielt wohl ein halbes Dutzend Familien, die von ihren früheren Besitzern verlassene, zerfallene Hütten in entlegenen, schwer zugänglichen Schluchten und Viehtriften bewohnten. Der heut verstorbene Greaser war der faulste, schmutzigste und nichtswürdigste Schlingel dieser ganzen Gesellschaft. Dem guten Sarria aber erschien der Kerl als ein liebenswerter, aufrichtiger und gläubiger Mensch. Dreimal in der Woche schleppte der Priester einen Korb mit allerlei Mundvorrat – kaltem Schinken, einer Flasche Wein, Oliven, Brotlaiben, ein bis zwei Hühnern sogar – den ganzen endlosen Weg von der Mission bis zu der entlegenen Hütte. In der letzten Zeit, während der Krankheit dieses Nichtsnutzes, war Sarria fast täglich bei ihm gewesen. Und fast nie verließ er das Krankenbett, ohne der Frau oder ältesten Tochter ein Halbdollarstück in die Hand zu drücken. Und das war nur ein Fall von vielen.

Für Tiere hatte er dieselbe Güte. Eine Horde räudiger Hunde, wölfische, undankbare Bestien, die oft nach ihm schnappten und doch nie ein böses Wort von ihm zu hören bekamen, lebten von seiner Milde. Der überfütterte, faule und widerspenstige Esel, der auf dem Missionshügel graste, wies jeden Versuch, ihn in das Wägelchen seines Herrn zu spannen, quiekend und beißend zurück. Sarria fügte sich seinen Launen und erfand sogar Entschuldigungen für das unbändige Tier; der »Burro« wäre lahm oder müßte erst beschlagen werden und sei zudem schon recht altersschwach. Den beiden prächtigen Pfauen, die in ihrem kaltherzigen Stolz jede Vertraulichkeit zurückwiesen, wartete er mit der furchtsam-achtungsvollen Zuneigung auf, wie sie eine schüchterne Hofdame für ihre teure Königin hegen mag; an ihre Unnahbarkeit gewöhnt, war er schon glücklich, wenn sie voller Herablassung die Körner aufpickten, die er ihnen streute.

Bei der langen Trestlebrücke verließen Annixter und Sarria die Straße und schlugen den Pfad ein, der an dem Gebüsch graugrüner Weiden den Broderson-Bach kreuzte und über die Felder von Quien Sabe nach dem Ranchhaus und weiterhin nach der Mission führte. Sie mußten jetzt einer hinter dem andern ihres Weges ziehen. Annixter ließ den Priester vorangehen und wurde dabei auf den Korb aus Weidengeflecht aufmerksam, den Sarria in der Hand trug. Die Frage nach dem Inhalt setzte seinen Besitzer in sichtliche Verlegenheit. Es wäre ein Korb, antwortete er, der für ihn in der Stadt angekommen sei.

»Ja, ich weiß – aber was ist denn drin?«

»Ach ja – freilich – o! nichts Besonderes – Geflügel – ein Paar Hühnchen!«

»Eine besondere Rasse?«

»Ja, ja, so ist's, eine besondere Rasse.«

Als sie gegen fünf Uhr das Wohnhaus erreichten, bestand Annixter darauf, daß der Priester rasten und ein Glas Sherry trinken sollte. Sarria ließ den Korb und seine kleine schwarze Handtasche unten an der Verandatreppe stehen und ließ sich auf der Veranda selbst in einem Schaukelstuhl nieder, worauf er sich mit seinem breitkrämpigen Hut Luft zufächelte und den Staub aus der Soutane schüttelte. Annixter brachte Wein und Gläser, und die beiden tranken sich zu.

Als der Priester sein Glas niedersetzte und sich behaglich schmatzend die Lippen wischte, kroch der altersschwache irische Vorstehhund, der Annixter zugelaufen war, unter der Veranda hervor und schnüffelte eifrig an dem Korbe, wobei dieser umfiel. Der kleine Pflock, der den Deckel niederhielt, rutschte heraus, und der auf die Seite gefallene Korb öffnete sich. Ein Hahn, den Kopf in einem Säckchen von Wildleder, ähnlich denen, in welchen goldene Uhren aufbewahrt werden, taumelte blindlings ans Tageslicht. Ein zweiter, mit gleicher Kopfhülle, folgte. Die beiden Tiere mit ihren die Augen verhüllenden Kappen blieben steif und regungslos stehen und glucksten ängstlich. Ihre Schwänze waren ganz kurz gestutzt. An den muskulösen und außerordentlich langen Beinen saßen ungeheure, nadelspitze Sporen. Ihre Rasse war nicht zu verkennen. Annixter warf einen Blick auf die Hähne und brach dann in unmäßiges Gelächter aus.

»Geflügel – ein Paar Hühnchen – 'ne besondere Rasse – ha, ha! Jawohl, das wollt' ich meinen! Kampfhähne, ha, ha! O Sie alte Ratte! Sie sind die Kinderfrau von Ihrem Burro und unterhalten ein Hospital für invalide Köter, aber Ihre Hahnenkämpfe müssen Sie haben. O Gott, o Gott! Wahrhaftig, Sarria, 'nen besseren Spaß hab' ich noch nicht gehabt. Da kommt eben der Spanier 'raus.«

Sprachlos vor Scham und Aerger stopfte der Priester seine Hähne wieder in den Korb und riß fast im Laufschritt aus, um so schnell als möglich außer Hörweite von Annixters Spottreden zu kommen. Dem sich vor Lachen schüttelnden Annixter, der ihn noch nach zehn Minuten mit flatternder Soutane den Hügelhang in der Richtung der Mission hinaneilen sehen konnte, erschien er selbst in dieser großen Entfernung als ein wahres Bild peinlicher Scham und Verwirrung.

Als Annixter sich umwandte, um wieder ins Haus zu treten, sah er sich plötzlich Hilma Tree gegenüber. Sie ging gerade zur Tür hinein, und die unter dem vorstehenden Verandadach schräg einfallenden Strahlen der Abendsonne hüllten sie von ihrem Scheitel mit den dichten feuchtglänzenden Haarmassen bis zu den schmalen Füßen in eine Flut von Licht und ließen die kleinen Stahlschnallen an ihren ausgeschnittenen Schuhen wie Gold glänzen. Sie wollte den Tisch für Annixters Abendmahlzeit decken. Ganz verwirrt durch die Plötzlichkeit der Begegnung, stieß Annixter ein kurzes und in diesem Falle sinnloses: »Pardon!« hervor. Hilma aber ging, ohne aufzublicken und mit gleichgültiger Miene, in das Speisezimmer und ließ Annixter, der erst wieder zu Atem kommen mußte und an der Krämpe seines Hutes herumfingerte, draußen stehen. Er war ganz überrascht von dem Umstand, daß er den Hut abgenommen hatte. Und dann faßte er den raschen Entschluß, die günstige Gelegenheit zu benutzen, und ging Hilma in das Speisezimmer nach.

»Ich sehe, der Hund hat sich wieder eingefunden,« redete er sie mit gemachter munterer Unbefangenheit an. »Der irische Vorstehhund, nach dem ich Sie fragte.«

Eine tiefe Röte überflog während eines Augenblicks Hilmas zarte rosige Wangen. Sie antwortete nicht, sondern nickte nur. Dann warf sie mit rascher Bewegung das Tischtuch über den Tisch und strich es wie liebkosend mit ihren Händen glatt. Nach einigen Augenblicken begann Annixter von neuem: »Hier ist ein Brief für Sie.« Er legte den Brief auf den Tisch, und Hilma nahm ihn auf. »Und was ich sagen wollte, Fräulein Hilma, wegen – wegen heut morgen – ich glaube fast – ich fürchte, Sie halten mich für einen rüden Patron. Wenn ich's damit gutmachen kann, daß ich um Entschuldigung bitte, wahrhaftig, so will ich's tun. Ich möchte, daß wir Freunde sind. Ich hab' 'ne große Dummheit gemacht –, ich hab's falsch angefangen. Ich versteh' nicht viel von den Frauen. Ich möchte, daß Sie's vergessen, das von heut morgen – und daß Sie mich nicht für einen Lümmel und rüden Patron halten. Wollen Sie das? Wollen Sie mit mir gut Freund sein?«

Hilma stellte stumm Teller und Kaffeetasse vor Annixters Platz, und Annixter wiederholte seine Frage. Dann holte sie tief und schnell Atem, während ihre Wangen sich von neuem röteten.

»Ich denke, es war so unrecht von Ihnen,« murmelte sie. »O, Sie wissen gar nicht, wie mich das beleidigt hat. Ich habe geweint – o, eine ganze Stunde lang.«

»Nun, das ist's ja eben,« erwiderte unsicher Annixter, den Kopf hin und her wiegend. »Ich wußte nicht, was für eine Art von Mädchen Sie sind – ich meine, ich hab' 'ne Dummheit gemacht. Ich dachte, es käme nicht so genau darauf an. Und ich hab' immer gedacht, alle Feminina wären so ziemlich eine wie die andre.«

»Ich hoffe, daß Sie's jetzt wissen,« murmelte Hilma kummervoll. »Mich hat's genug gekostet, daß Sie's erfahren haben. Ich hab' doch so geweint – Sie können sich's gar nicht vorstellen. Wirklich, ich kann mich nicht entsinnen, daß mich in meinem ganzen Leben etwas mehr beleidigt hätte. Ich hoffe, Sie wissen's jetzt!«

»Ja, jetzt weiß ich's!« rief er aus.

»Was Sie versuchten – was Sie taten, war noch nicht das Schlimmste,« entgegnete Hilma mit vor Erregung wogender Brust. »Aber daß Sie dachten, Sie dürften –, daß irgend jemand, dem es gerade einfiel –, daß Sie glauben konnten, ich – ich hielte so wenig auf mich. O!« sie schluchzte plötzlich auf, »ich werde das nie vergessen, und Sie wissen nicht, wie ein Mädchen das empfindet.«

»Nun, ich möchte doch aber gerade, daß Sie's vergessen,« wiederholte er. »Ich möchte, daß Sie's vergessen und daß wir gute Freunde sind.« In seiner Verwirrung wußte Annixter nichts andres zu sagen. Immer wieder brachte er dasselbe vor. »Ich möchte, daß Sie's vergessen. Wollen Sie? Wollen Sie's vergessen – das – das – von heut morgen? Wollen wir gute Freunde sein?«

Er sah, wie tiefbekümmert sie war, und staunte, daß sie sich die Sache so zu Herzen nahm. Was war denn schließlich dabei, wenn ein Mädchen geküßt wurde? Aber er wollte den verlorenen Boden wiedergewinnen.

»Wollen Sie's vergessen, Fräulein Hilma? Ich möchte, daß Sie mich gernhaben.«

Sie nahm eine reine Serviette aus dem Schubfach des Anrichtetisches und legte sie neben den Teller.

»Ich – ich möchte, daß Sie mich gernhaben,« wiederholte Annixter beharrlich. »Ich möchte, daß Sie die dumme Geschichte vergessen und mich gernhaben.«

Hilma schwieg. Annixter sah Tränen in ihren Augen.

»Wie ist's also? Wollen Sie's vergessen? Wollen Sie – wollen – wollen Sie mich gernhaben?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Nein,« sagte sie.

»Wie, nein? Sie wollen mich nicht gernhaben? Ist's das?«

Hilma, die durch ihre Tränen auf die Serviette herniederblinzelte, nickte: Ja, so wäre es.

Der bestürzte und verwirrte Annixter zögerte eine Weile. Dann fragte er stirnrunzelnd: »Sie mögen mich also ganz und gar nicht, wie?«

Endlich fand Hilma ihre Sprache wieder. Mit ihrer tiefen Stimme, die heut tiefer und samtweicher als je war, sagte sie: »Nein – ich mag Sie ganz und gar nicht.«

Jetzt konnte sie die überströmenden Tränen nicht länger zurückhalten. Rasch fuhr sie sich mit der Hand über die Augen und eilte zum Zimmer und zum Hause hinaus. Mit vorgeschobener Unterlippe und die Hände in die Hosentaschen versenkt blieb Annixter eine Weile nachdenklich stehen.

»Es scheint, sie wird jetzt von hier wegwollen,« brummte er. »Sie wird wohl nicht mehr auf der Ranch bleiben, wenn sie mich so haßt. Schön, sie kann gehen – wenn's weiter nichts ist – sie kann gehen. Dummes, feminines Frauenzimmer,« murmelte er zwischen den Zähnen, »Unterrockgeschichte«!

Er wollte sich eben zum Essen niedersetzen, als er den irischen Vorstehhund erblickte, der auf den Hinterkeulen in der Türöffnung saß. In den Augen des Hundes war etwas Erwartungsvolles, Einschmeichelndes; er mochte wohl denken, daß es jetzt Essenszeit sei.

»Fort, 'raus mit dir!« brüllte Annixter in heller Wut.

Anstatt wegzulaufen, kroch der Hund, den Schwanz zwischen die Beine geklemmt und mit tief herabhängenden Ohren, nur ein Stück zurück, um sich dann, ein wahres Bild zahmster, widerwärtigster Unterwürfigkeit, auf den Rücken zu legen. Gerade das konnte Annixter am wenigsten vertragen; er geriet in rasende Wut. Ganze Salven von Flüchen herausdonnernd, trieb er das Tier mit Fußtritten von der Veranda und warf sich dann hochrot und keuchend auf den Stuhl vor seinem Gedeck.

»Verdammt soll der Hund und das Mädel und der ganze Schwindel sein, und jetzt – das fehlte gerade noch!« rief er aus, während sich bei ihm ein plötzliches, nur eingebildetes Unbehagen in der Magengegend einstellte. »Jetzt hat's mich noch krank gemacht. Das hätt' ich wissen können. O, so was hat heut nur noch gefehlt! Sie soll nur gehen, mir ist's egal, und je eher, je besser.« Er bestellte sein Abendbrot ab und ging noch vor Eintritt der Dunkelheit zu Bett. Die brennende Lampe neben sich auf dem Stuhle, öffnete er seinen »Copperfield« an der Stelle, die er mit dem von der Pflaumendüte abgerissenen Papierstreifen bezeichnet hatte. Länger als eine Stunde las er und verschluckte, wenn er an das Ende einer Seite gekommen war, regelmäßig eine Backpflaume. Etwa um neun Uhr blies er die Lampe aus, knüllte sein Kissen zusammen und bereitete sich zur Nachtruhe. In dem eigenartigen, hypnotischen Zustande, der, dem Schlafe unmittelbar vorangehend, sich zugleich mit der Abspannung der Sinnes- und Geisteskräfte einstellt, sah er die Erlebnisse und Gestalten des heutigen Tages wie die Bilderreihe eines Kinetoskops an sich vorüberziehen. Zuerst kam Hilma Tree, wie er sie in der Molkerei gesehen hatte, strahlend in Liebreiz und Jugendfrische. Er sah den vollen weißen Hals mit den bleichen, bernsteinhellen Schatten unter dem Kinn, ihre großen, weitgeöffneten, von schwarzen seidigen Wimpern eingerahmten Augen, die wundervolle Rundung von Busen und Hüften, den feinen, seidig glänzenden Flaum ihrer Wangen, so zart wie Blütenstaub, der unter der leisesten Berührung vergeht. Im hellglänzenden Licht des Morgens stand sie vor ihm mit ihren vollen weißen, von Milch feuchten und nach Milch duftenden Armen. Von goldigem Sonnenschein durchglüht und wie umzüngelt von hellfunkelnden Flammen war ihre ganze Gestalt; schön und begehrenswert, taufrisch und duftig wie ein holder Frühlingsmorgen sah er Hilma vor sich.

Dann kam die große Los Muertos-Ranch und Hooven, der schmierige kleine Deutsche, an dem der Staub des von ihm bearbeiteten Bodens klebte, und der, wenngleich er sich aufs lebhafteste der kurzen ruhmvollen Kriegszeit erinnerte und bei dem Gedanken an Gravelotte und den Kaiser ganz außer sich geriet, doch zufrieden in dem Lande seiner Wahl lebte. Für ihn war das Vaterland dort, wo Frau und Kinder weilten. Es folgte das Wohnhaus von Los Muertos im Schutz seiner Zypressen und Eukalyptusbäume mit der festen, kiesbeschütteten Anfahrt und den wohlgepflegten Rasenplätzen; Frau Derrick mit ihren großen, weitgeöffneten Augen, die einen unschuldigen, ängstlich fragenden Ausdruck hatten, dem noch so hübschen Gesicht und dem braunen, über die Stuhllehne zum Trocknen gebreiteten Haar von jugendlichem Glanz; Magnus, schlank und aufrecht wie ein Kavallerieoffizier, glattrasiert, achtunggebietend, mit dünnen Lippen, kühngeschwungener Adlernase und nach vorn gelocktem Schläfenhaar; Presley mit seiner dunkeln Gesichtsfarbe, dem feingeschnittenen Mund und den vollen, sinnlichen Lippen im Corduroyanzug und Schnürstiefeln, Zigaretten rauchend – eine eigenartige Erscheinung, in der man das Produkt einer Rassenmischung vermuten konnte, kränklich aussehend, leicht erregt und geneigt zum Tiefsinn und Brüten über Namenloses, Unergründliches. Dann kam Bonneville an die Reihe mit seiner verkehrsreichen Hauptstraße, den dahinsausenden Wagen der elektrischen Straßenbahn, den blechbeschlagenen Telegraphenpfosten, den Buckboards mit Kürbissen unter den Sitzen; Ruggles in seinem langen zweireihigen Rock, steifem Filzhut und schmaler schwarzer Krawatte machte seine Schnörkel auf der Schreibunterlage; Dyke, der Lokomotivführer, gutmütig, groß, grobknochig, mit den Armen eines Athleten, dem prächtigen blonden Vollbart und der dröhnenden Baßstimme, – Dyke, der, von dem einen Ehrgeiz beseelt, sein Töchterchen Sidney das Mädchenseminar besuchen zu lassen, nicht genug Rühmens von dem Kleinchen machen konnte und dabei die Zehncentstücke in ihre Pantöffelchen steckte; bald darauf aber schlich der blonde Riese verstohlen und voller Scham in S. Behrmans Office, um sein Heim dem Gefolgsmann ebenjener Eisenbahn zu verpfänden, die ihn entlassen hatte. Das brachte Annixter auf S. Behrman; fett und schwer, mit vorstehendem Hängebauch, glaubte er ihn zu erblicken; Hals und Wangen liefen zusammen in den mächtigen, wabbligen Kehlbraten; eine mit dünnem Haar bewachsene Fettwulst quoll über den Hinterrand seines Halskragens. Er trug einen steifen glänzendbraun lackierten Strohhut mit nach oben abgerundetem Kopfteil. Den Hängebauch umspannte eine mit unzähligen ineinander greifenden Hufeisen gemusterte braunleinene Weste, gegen deren Knöpfe von falschem Perlmutter eine großgliedrige, schwere Uhrkette leise klirrte. Stets gelassen, mit unveränderlichem Gleichmut und durch nichts zu erschütternder Ruhe thronte er auf seinem Geldsack.

Den bunten Reigen beschloß die Ranch, über deren weite Flächen er vor dem Zubettgehen noch einen schnellen Blick geworfen hatte. Die befruchtete, endlich zur Ruhe gekommene Erde nährte, im rötlichen Glanze der sinkenden Sonne einschlummernd, den ihrem Schoße eingepflanzten Lebenskeim. Purpurn schimmerte der Horizont; die stille Dämmerung breitete sich über das Land und baute ihren Dom in den Zenit. Die Hühner saßen schlafend auf den Aesten der Bäume neben dem Stalle, in dessen Ständen die Pferde knirschend ihr Futter kauten; das Werk des Tages kam mählich zur Ruhe. Vater Sarria aber, der spanische Priester, das Ueberbleibsel einer entschwundenen Zeit, gütig und wohltätig, ein liebevoller Freund der Menschen und aller stummen Kreatur, floh voller Verwirrung und Scham von dannen, – in der einen Hand die Gefäße des heiligen Sakraments, in der andern einen Korb mit Kampfhähnen.


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