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Presleys sozialistisches Gedicht »Die Mühseligen« hatte einen ungeheuern Erfolg. Der Schriftleiter des Sonntagsbeiblattes der »San Franciscoer Zeitung«, dem er es eingesandt hatte, druckte das Gedicht mit gotischen Lettern und einer bis zur Unleserlichkeit verschnörkelten Ueberschrift; außerdem ließ er von einem der Zeichner des Blattes ein äußerst wirksames Bild dazu entwerfen. Gedicht und Bild nahmen eine volle Seite ein. In dieser Weise vor die Oeffentlichkeit gebracht, erregten »Die Mühseligen« allgemeine Aufmerksamkeit. Das Gedicht wurde sofort von Blättern in New York, Boston und Chicago abgedruckt. Es wurde besprochen, angegriffen, verteidigt, gepriesen und lächerlich gemacht. Widerlichste Lobhudelei hob es in den Himmel, schärfster Tadel ließ nichts Gutes daran. Leitartikel wurden darüber geschrieben. Aufsätze in literarischen Flugschriften zergliederten seine Sprache und sein Versmaß. Stellen daraus wurden zitiert und gaben den Stoff sowohl zu umstürzlerischen Brandreden wie rückschrittlerischen Strafpredigten. Es wurde parodiert und derartig entstellt, daß es sich wie eine Anpreisung von Getreidesämereien und künstlicher Säuglingsnahrung las. Schließlich druckte der unternehmende Herausgeber einer Monatschrift das Gedicht ab und brachte gleichzeitig das Bild und die Lebensbeschreibung des Dichters.
Presley war verblüfft und wie vor den Kopf geschlagen. Er wunderte sich über sich selbst. War er denn wirklich der größte amerikanische Dichter seit Bryant? Als er »Die Mühseligen« dichtete, hatte er nicht an den Ruhm gedacht. Er war nur bis in die Grundfesten seiner Seele erschüttert gewesen; klarsehend und unwiderstehlich zur Erfüllung einer ernsten Pflicht gedrängt, hatte er in einem glücklichen Augenblick, in dem ihm kraftvolle Worte und gedankenreiche Aussprüche nur so zuflogen, sein Gedicht in einem Zuge niedergeschrieben. Wurde so der Ruhm erworben? Eine Weile war er nahe daran, den Kontinent zu durchqueren und nach New York zu gehen, um sich dort des ihn erwartenden Triumphes zu freuen. Bald aber entsagte er dieser wohlfeilen Befriedigung seiner Eitelkeit. Ein tiefer Ernst erfüllte ihn. Er wollte dem Volk, dem Gemeinwesen, in dem er lebte, der kleinen Welt des San Joaquin, die mit der Eisenbahn rang, helfen. Der Kampf hatte seinen Dichter gefunden. Er sagte sich, daß sein Platz hier war. Trotzdem führte ihn das Anerbieten des Leiters eines Vorlesungsunternehmens vorübergehend in Versuchung. Das ganze Land zu durchstreifen und allen seinen Mitbürgern das Drama zu schildern, das sich eben an dem westlichen Rande des Kontinents, der unbekannten, fernen Küste des Stillen Ozeans abspielte, ihre Teilnahme wachzurufen und sie zum Handeln aufzurütteln – alles das reizte ihn außerordentlich. Er konnte gewiß Gutes wirken. Sich der »gerechten Sache« zu widmen, keinen Cent Entgelt anzunehmen, sein Leben hinzugeben, um den Griff des eisenherzigen Ungeheuers von Stahl und Dampf zu lockern, würde fraglos heldenhaft sein. Ebenso wie Kalifornien hatten auch andre Staaten mit schweren Mißständen zu kämpfen. Im ganzen Land wuchs und mehrte sich das Geschlecht der Zyklopen. Er wollte sich zum Verfechter der Volksrechte im Kampfe gegen den Trust aufwerfen, er wollte ein Apostel, ein Prophet, ein Märtyrer der Freiheit sein.
Presley war aber seinem ganzen Wesen nach ein Träumer, nicht ein Volks- oder Staatsmann. Anstatt das Eisen zu schmieden, solange es noch heiß war, zögerte er in dem entscheidenden Augenblick; während dieses Zögerns traten in seiner Umgebung Ereignisse ein, die ihn völlig in Anspruch nahmen.
In einer Nacht wurde Presley, der vor etwa einer Stunde erst zur Ruhe gegangen war, durch lautes Sprechen auf der Veranda wieder wach; er ging hinunter und fand dort Frau Dyke und Sidney vor. Die Mutter des ehemaligen Lokomotivführers sprach weinend mit Harran. Dyke war nirgends zu finden. Zeitig am Nachmittag war er mit seinem Farmgespann nach der Stadt gefahren; zum Abendessen wollte er wieder zu Hause sein. Es war zehn Uhr geworden, und er kam nicht. Frau Dyke erzählte, wie sie zuerst nach Quien Sabe gegangen war, um von dort nach Bonneville zu telephonieren. Annixter war aber in San Francisco und das Haus in seiner Abwesenheit verschlossen. Der Abteilungsverwalter, der einen zweiten Schlüssel hatte, war gerade in Bonneville. Darauf hatte Frau Dyke von Guadalajara aus dreimal nach Bonneville telegraphiert, ohne etwas über den Verbleib des Sohnes erfahren zu können. In ihrer Angst war sie endlich mit Sidney nach Hoovens Pachtfarm gegangen und hatte »Bismarck« gebeten, anzuspannen und sie nach Los Muertos zum Governor zu fahren; der würde gewiß so gut sein, nach Bonneville wegen ihres Sohnes zu telephonieren.
Während Harran das Telephonamt in der Stadt anläutete, schilderte Frau Dyke Presley und Magnus die traurige Veränderung, die mit Dyke vorgegangen war.
»Die bösen Menschen haben meinen Sohn gebrochen,« sagte die alte Frau. »Sie sollten ihn nur sehen. Stundenlang sitzt er auf der Veranda und brütet vor sich hin; er hat die Hände im Schoß liegen und sagt kein Wort. Er mag mir nicht mehr ins Gesicht sehen, und schlafen kann er auch nicht. Jede Nacht geht er bis zum hellen Morgen im Zimmer auf und ab. Und so treibt er's alle Tage; er ist ganz still, sagt kein Wort und sitzt ruhig auf seinem Stuhl. Aber auf einmal – o, es ist schrecklich, Herr Derrick – da gerät er in eine furchtbare Wut; er flucht und tobt, knirscht mit den Zähnen, ballt die Fäuste und stampft auf den Fußboden, daß das ganze Haus zittert. Und dann schwört er, daß er S. Behrman mit seinen beiden Händen erwürgen will, wenn er ihm nicht sein Geld wiedergibt. Aber das ist noch nicht das Schlimmste, Herr Derrick. Er geht jetzt immer in Carahers Trinkstube, und dort sitzt er viele Stunden und hört auf das, was Caraher ihm vorredet. Meinem Sohn geht etwas im Kopfe herum – ich weiß schon, er hat über irgendwas mit Caraher geredet, und ich kann nicht herauskriegen, was es ist. Caraher ist ein böser Mensch, und mein Sohn steht unter seinem Einfluß.« Tapfer den von neuem hervorquellenden Tränen wehrend, schloß sie Sidney in ihre Arme und lehnte ihren Kopf an die Schulter der Kleinen. »Ich – ich bin bis jetzt noch nicht so zusammengebrochen, Herr Derrick,« fuhr sie fort, »aber wir sind doch so glücklich gewesen in unserm Häuschen – wir drei – und die Aussichten waren so gut – o, Gott wird die Herren, denen die Bahn gehört, schon dafür strafen, daß sie so hart und grausam sind.« Sie unterbrach sich und blickte ängstlich fragend Harran Derrick an, der eben vom Telephon kam.
»Machen Sie sich keine Sorge, Frau Dyke,« sagte er in beruhigendem Ton. »Ich glaube, wir wissen, wo er ist. Bleiben Sie und das Kleinchen nur hier, Hooven und ich werben nach Ihrem Sohn sehen.«
Etwa zwei Stunden darauf kam Harran mit dem Gesuchten in Hoovens Wagen zurück. Er hatte den schwer betrunkenen Dyke aus Carahers Kneipe geholt. Dykes Trunkenheit hatte nichts weinerlich Rührseliges an sich; der Alkohol löste in ihm grimmige Wut und ungebändigte Rachsucht aus.
Als der Wagen mit Frau Dyke, Sidney und dem Ex-Lokomotivführer wieder nach der Hopfenfarm abfuhr, hörte der aus seinem Fenster lehnende Presley Dyke sagen:
»Caraher hat recht. Das einzige, worauf sie hören, das ist Dynamit.«
Am andern Morgen fuhr Presley den Governor, der nach San Francisco reiste, zur Bahn nach Guadalajara. Nachdem er sich von Magnus verabschiedet hatte, kam er auf den Gedanken, nach der Hopfenfarm zu fahren, um zu sehen, wie es dort stände. Tieftraurig und außer sich vor Zorn kehrte er nach Los Muertos zurück. Die Hopfenfarm, die er zuletzt noch im besten Zustande gesehen hatte, war so gut wie zugrunde gerichtet. Schon lange hatte alle Arbeit dort aufgehört. Die Hopfenranken waren bereits vom Unkraut überwuchert. Die Stangen standen überall windschief und hatten sich nach verschiedenen Richtungen gesenkt. Viele waren schon umgefallen und hatten die Ranken mit sich gerissen, die mit ihren vertrockneten Blättern und abgestorbenen Trieben, den verwickelten Schnüren und Drähten ein wirres Durcheinander bildeten. Der Zaun hatte große Lücken. Der unvollendete Speicher, der nie fertiggestellt werden würde, war mit seinen gähnenden Tür- und Fensteröffnungen so wüst und unheimlich wie ein klappriges Skelett anzusehen. Zuletzt bekam Presley auch Dyke zu Gesicht; mit wirrem Haar und Bart saß er unbeweglich in seinem Schaukelstuhl auf der Veranda und starrte auf die mit den Flächen nach oben gekehrten Hände, die müßig in seinem Schoße lagen.
In Bonneville schloß sich Osterman Magnus an und nahm ihm gegenüber im Rauchwagen Platz.
»Sie sehen ganz ausgefranst aus, Governor,« sagte er, während er den Hut in den Nacken rückte und sich mit der Hand über den Kahlkopf strich. »Fehlt Ihnen was?«
Magnus verneinte; Osterman aber hatte mit seiner Vermutung recht. Der Governor war zusehends gealtert. Die breiten Schultern waren etwas gebeugt; schlaffer waren die scharfen Linien um den feingeschnittenen Mund geworden, und die Hand, die den elfenbeinernen Stockknopf umfaßt hielt, zitterte leicht. Aber nicht nur äußerlich war eine Veränderung mit dem Governor vorgegangen. Im Vollbesitz der Macht, Präsident der Liga, eine in jedem County des Staates bekannte und vielgenannte Persönlichkeit, der Führer in dem großen Entscheidungskampfe, der »prominente Mann«, dessen Rat man suchte und befolgte, hatte er endlich die so lange vergeblich erstrebte, hervorragende Stellung erreicht; er hatte aber keine Freude an seinem Triumph, und das Leben bot ihm wenig andres als Bitternis. Das angestrebte Ziel war von ihm auf krummen Wegen und mit unlauteren Mitteln erreicht worden.
Er hatte sich der Bestechung schuldig gemacht. Das konnte er nicht vergessen. Um seine Pläne zu fördern, die ja selbstlos und aufs allgemeine Wohl gerichtet waren, hatte er bei einer mit seinem Wissen verübten Schurkerei ein Auge zugedrückt – er, der Politiker der alten Schule, der Mann von unbeugsamer Rechtlichkeit, der eine »Karriere« aufgegeben hatte, nur um nicht gegen seinen strengen Ehrbegriff zu verstoßen. Und jetzt in der elften Stunde war er in dem feingesponnenen Gewebe einer neuen Ordnung der Dinge verwickelt und gefangen, von Ostermans Schlauheit, seiner Glätte und Zungenfertigkeit irregeführt, durch die Angriffe des von ihm bekämpften Trusts bis zur Sinnlosigkeit gereizt und aufgestachelt worden und hatte schließlich nicht mehr zu widerstehen vermocht. Er war gefallen; denn er hatte zum Mittel der Bestechung gegriffen. Zuerst glaubte er, daß ihn diese Tatsache in seiner Selbstachtung nicht erniedrigen und er schließlich darüber hinwegkommen würde. Außer ihm wußten nur Osterman, Broderson und Annixter davon; die würden ihn nicht verdammen, da sie ja selbst in die Angelegenheit verwickelt waren. Er konnte noch eine unbekümmerte Miene zeigen und den Kopf hochtragen. Und mit der Zeit würde der gegen ihn gekehrte Stachel seine Spitze verlieren.
Aber dem war nicht so. Magnus hatte den, seinem Charakter zugrunde liegenden Zug eingebüßt. Er fühlte und wußte das. Die Unbeugsamkeit, der die Strenge seiner Grundsätze entsprang und die seinem Einfluß Gewicht, seiner Macht über die Gemüter Nachdruck und der ihm eignen stählernen Härte etwas Leidenschaftliches verlieh, ließ von Tag zu Tag nach. Er zögerte mit den zahlreichen Entscheidungen, die er als Vorsitzender der Liga zu treffen hatte. Er vermochte nicht mehr als der Herr und Gebieter aufzutreten und unabhängig von der Meinung andrer nur nach seiner Ueberzeugung zu handeln. Er begann seine Stellvertreter zu Rate zu ziehen, ihre Ansicht zu erfragen und der eignen zu mißtrauen. Er machte Mißgriffe und Fehler und nahm, wenn er darauf aufmerksam gemacht wurde, seine Zuflucht zur Großtuerei. Er wußte, daß es Großtuerei war, und wußte, daß seine Untergebenen sie später als solche erkennen würden. Wie lange konnte er seine Stellung noch behaupten? Vermochte er seine Hand auf dem die Maschine regulierenden Hebel zu halten, bis die Schlacht gewonnen war, so würde alles gut sein. Glückte es ihm nicht, so mußte er fallen; dann aber würde er, der bestochen hatte – Magnus wußte das genau – nie wieder in die Höhe kommen.
Er war jetzt auf dem Wege nach San Francisco, um sich wegen eines in dem Rechtsstreite zwischen Bahn und Ranchbesitzern zur Entscheidung kommenden Punktes mit Lyman zu beraten.
Als der geschäftsführende Ausschuß der Liga bei dem obersten Gerichtshofe Berufung eingelegt hatte, waren zu diesem Zwecke einzelne, der früheren Entscheidung zugrunde liegende Fälle herausgegriffen worden, die für sämtliche umstrittene Ländereien Geltung haben sollten. Weder Magnus noch Annixter hatten persönlich Berufung eingelegt, da sie natürlich glaubten, daß ihre Fälle sich mit den vor dem Washingtoner Obergericht verhandelten und der früheren Entscheidung zugrunde liegenden deckten. Magnus hatte wieder einen groben Fehler gemacht. Die Anwälte der Liga in San Francisco wurden darauf aufmerksam und warnten ihn; die Eisenbahn würde möglicherweise, so schrieben sie ihm, den Formfehler benutzen und behaupten, daß weder Los Muertos noch Quien Sabe in der Berufung einbegriffen wären. Die Bahn könnte dann, noch ehe die Entscheidung des obersten Gerichtshofs erfolgt wäre, die beiden Ranchos durch ihre Strohmänner, die vorgeschobenen Käufer, in Besitz nehmen lassen. Die Berufungsfrist von neunzig Tagen war beinah vorüber; nach ihrem Ablauf konnte die Bahn ungehindert vorgehen. Osterman und Magnus hatten sich sofort entschlossen, nach San Francisco zu reisen und dort mit Annixter zu reden, der bereits seit zehn Tagen von Quien Sabe abwesend war. Dann wollten sie die Sache mit Lyman besprechen; in seiner Eigenschaft als Kommissar wußte der jedenfalls von den Plänen der Bahn und konnte ihnen als Rechtskundiger raten, was gegebenenfalls zu tun war.
»Sagen Sie, Governor,« fragte Osterman, als der Zug von Bonneville abfuhr und die beiden Männer es sich für die lange Reise bequem gemacht hatten, »was ist in der letzten Zeit eigentlich mit Buck Annixter los? Er muß hinter irgendwas her sein.«
»Daß ich nicht wüßte,« antwortete Magnus. »Herr Annixter ist seit einiger Zeit von Hause abwesend. Ich habe keine Vermutung darüber, was ihn so lange in San Francisco zurückhält.«
»Das ist's ja,« sagte Osterman mit schlauem Augenzwinkern. »Man kann dreimal raten. Wer's errät, kriegt 'ne Zigarre. Ich rate, 's ist 'n Mädel und buchstabiert sich H–i–l–m–a T–r–e–e. Neulich erst ist sie von Quien Sabe nach San Francisco ausgerückt. Buck auch. Krieg' ich die Zigarre?«
»Sie ist mir aufgefallen,« bemerkte Magnus. »Eine stattliche, schöne Person. Sie würde eine gute Frau abgeben.«
»Hoho, Frau! Buck Annixter heiraten! Na, so was! Hinter dem Mädel ist der alte Buck her. Das ist so komisch wie Zwillinge. Ich muß ihn doch damit aufziehen!«
Als jedoch Osterman und Magnus den Gesuchten in der Halle des Lick Hotels auf der Montgomery Straße trafen, da war nichts aus Annixter herauszubringen. Er war in allerschlechtester Laune. Dem Governor, der ihm von Geschäften sprach, erklärte er, die ganze Geschichte könnte seinethalben zum Teufel gehen, und als Osterman mit schlauem Lächeln auf ein gewisses feminines Mädel anspielte, schnauzte ihn Annixter so grimmig an, daß selbst der kecke Osterman ganz klein wurde.
»Na,« sagte er begütigend, »ich wunderte mich nur, was Sie so lange in San Francisco zu suchen haben.«
»Katzenfelle zu Kätzchenhosen,« entgegnete Annixter mit orakelhafter Unbestimmtheit.
Seit vierzehn Tagen bereits weilte Annixter in San Francisco. Sofort nach seiner Ankunft hatte er ein Hotel auf der Bush-Straße hinter der ersten Nationalbank aufgesucht, das, wie er wußte, von einem Verwandten der Trees geführt wurde. Seine Vermutung, daß Hilma und ihre Eltern hier zu finden sein würden, bestätigte sich. Ihre Namen waren im Fremdenbuch eingetragen. Annixter marschierte ohne weitere Umstände nach den Zimmern der Familie, um dort, ehe er sich selbst darüber klar war, vor dem alten Tree zu Kreuze zu kriechen. Hilma und ihre Mutter waren ausgegangen. Frau Tree kam später allein zurück. Hilma wollte bis zum Abend bei einer Cousine bleiben, die ein kleines Haus weit draußen auf der Stanyan-Straße, dem Park gegenüber, bewohnte.
Zwischen Annixter und Hilmas Eltern war eine Versöhnung zustande gekommen; er hatte sie überzeugt, daß er es ernst meinte und Hilma zur Frau haben wollte. Hilma jedoch wollte ihn nicht sehen. Kaum hatte sie gehört, daß er ihr nach San Francisco gefolgt war, als sie sich auch schon aufs bestimmteste weigerte, nach dem Hotel zurückzukehren, und sich mit ihrer Cousine verständigte, auf unbestimmte Zeit bei ihr zu bleiben.
Hilma war währenddem so elend und unglücklich wie nur möglich. Sie brachte es aber nicht über sich, auszugehen, und weinte sich allnächtlich in den Schlaf. Sie verabscheute die Stadt und hatte entsetzliches Heimweh nach der Ranch. Kummervoll dachte Hilma an die in der Molkerei zugebrachten Stunden. Wie froh war sie doch bei ihrer Arbeit gewesen, wenn sie butterte oder Käse machte, den Rahm von den großen Milchschüsseln abschöpfte, die kupfernen Kannen und Kessel putzte und ihre Arme bis zum Ellbogen in die weiße geronnene Milch tauchte; das war ein munteres Kommen und Gehen in dem frischen, sauberen, sonnendurchglänzten Raum, in dem sie singend und überglücklich, nur weil die Sonne so herrlich schien, mit unermüdlicher Arbeitslust schaffte. Sie dachte an ihre langen Spaziergänge nach der Mission am späten Nachmittage, ihr Kressesuchen unter der langen Trestlebrücke, an das Krähen der Hähne, den fernen Pfiff der vorübereilenden Züge und das über den Feldern verhallende Läuten der Abendglocke. Voll unendlicher Sehnsucht erinnerte sie sich der ihr so lieben Einsamkeit der Felder, der weiten Flächen, die so licht und still von Horizont zu Horizont reichten – der Mittagshitze dachte sie und der wolkenlosen Pracht des Sonnenauf- und -untergangs. Damals hatte sie sich so glücklich gefühlt. Diese unfertige, häßliche Stadt mit ihren zusammengedrängten Häusern aus Holz und Eisenblech, ihren düsteren Nebeln und scharf wehenden Passatwinden machte sie unruhig und trübsinnig.
Eines schönen Tages endlich, etwa eine Woche nach Annixters Ankunft, ließ sie sich zu einem Spaziergange in den Park bereden. Sie ging allein und trug zum ersten Male den kleinen schwarzen Strohhut mit der weißseidenen Puffe, den ihr die Mutter gekauft hatte, eine rosa Bluse, ihren Gürtel von nachgemachtem Alligatorleder, ihren neuen Rock von braunem Tuch und die ausgeschnittenen Schuhe mit den kleinen Stahlschnallen.
Sie kam zu einem Gartenhäuschen, das nach japanischer Art um einen winzigen Teich herumgebaut war, und ließ sich dort auf einer Bank nieder. Die Hände im Schoß gefaltet, sah sie den Goldfischen zu und wünschte – sie wußte nicht was.
Plötzlich setzte sich Annixter, ohne ein Wort zu sagen, neben sie. Hilma erschrak so, daß sie sich nicht rühren konnte. Mit Augen, die in Tränen schwammen, blickte sie ihn an.
»O,« sagte sie endlich, »o – ich wußte nicht–«
»So,« rief Annixter, »da bist du ja endlich! Ich hab' vor dem verdammten Hause auf der Lauer gelegen, bis ich dachte, der Polizist würde mich wegjagen. Mein Gott!« unterbrach er sich plötzlich, »du bist ja ganz blaß. Hilma – du – du bist doch wohl?«
»Ja – ich bin ganz wohl,« stammelte sie.
»Nein, du bist's nicht,« widersprach er. »Ich weiß es besser. Du kommst mit mir zurück nach Quien Sabe. Die Stadt bekommt dir nicht. Was ist denn eigentlich los, Hilma? Warum hast du dich die ganze Zeit nicht sehen lassen? Weißt du denn, wie – wie's mit mir steht? Deine Mutter hat dir's doch gesagt – hat sie nicht? Weißt du, wie leid mir das tut? Weißt du, daß ich jetzt einsehe, daß ich damals, dort unter der langen Trestlebrücke, die größte Dummheit in meinem ganzen Leben gemacht habe? Das ist mir in der Nacht klar geworden, nachdem du fort warst. Die ganze Nacht Hab' ich auf 'nem Stein draußen im Feld gesessen, und ich weiß nicht, was da mit mir vorgegangen ist, aber seitdem bin ich ein andrer Mensch. Ich seh' jetzt alles mit ganz andern Augen. Wahrhaftig, ich hab' seitdem erst zu leben angefangen. Jetzt weiß ich, was Liebe ist, und anstatt mich dessen zu schämen, bin ich stolz darauf. Und wenn ich dich auch nie wieder sehen sollte, so würde ich doch froh sein, diese Nacht erlebt zu haben. Denn in der Nacht bin ich aufgewacht. Durch und durch selbstsüchtig bin ich gewesen bis zu dem Augenblick, in dem es mir klar wurde, daß ich dich wahrhaft liebte, und ob du mich heiraten willst oder nicht, ich hab' mir vorgenommen, ein neues Leben anzufangen. Ich muß ein neues Leben anfangen. Ich – ja – o, ich kann dir das nicht so verständlich machen – aber nur die Liebe hat mich von Grund aus verändert. Sie hat mir's leicht gemacht, alles das zu tun, was gut ist und ehrenhaft. Ich will das tun, ich hab' meine helle Freude dran. Weißt du noch, wie ich dir mal sagte, ich wäre stolz darauf, ein harter Mann zu sein, ein Leuteschinder, und daß ich mich freute, wenn die Menschen mich haßten und fürchteten? Nun, seitdem ich dich liebe, schäme ich mich, so was gesagt zu haben. Ich will nicht mehr hart sein, und niemand soll mich hassen, wenn ich's irgendwie helfen kann. Ich bin glücklich und will, daß es andre Leute auch sind. Ich liebe dich!« rief er plötzlich aus, »und wenn du mir verzeihen und dich zu so 'ner Bestie herablassen willst, wie ich bin, Hilma, so will ich mein Bestes tun, um 'ner Frau wie dir der beste Mann zu sein. Verstehst du mich. Kleine? Dein Mann will ich sein.«
Sie blickte durch Tränen auf die Goldfische.
»Hast du mir etwas zu sagen, Hilma?« fragte er nach einer Weile.
»Ich weiß nicht, was ich sagen soll,« murmelte sie.
»Ja, du weißt's,« drang er in das Mädchen. »Ich bin dir hierher nachgekommen, um es zu hören, lieber 'ne Woche habe ich darauf gewartet, hier auf diesem verdammten zugigen Picknickplatz. Du weißt, was ich hören möchte, Hilma.«
»Nun – ich verzeihe Ihnen,« stammelte Hilma.
»Das ist schon was für den Anfang,« entgegnete er. »Aber 's ist noch nicht das Richtige.«
»Ich weiß sonst nichts.«
»Soll ich's für dich sagen?«
Sie zögerte eine ganze Weile.
»Sie könnten's nicht richtig sagen,« erwiderte sie endlich.
»Verlaß dich nur auf mich. Soll ich's für dich sagen, Hilma?«
»Ich weiß nicht, was Sie sagen werden.«
»Ich werd' sagen, was du denkst. Soll ich's sagen?«
Es entstand eine lange Pause. Mit plätscherndem Geräusch schnellte sich ein Goldfisch aus dem kleinen Teich empor, um wieder in das sich leicht kräuselnde Wasser zurückzufallen. Der Nebel zog über den Park hin. Weit und breit war niemand zu sehen.
»Nein,« sagte Hilma endlich. »Ich – ich – ich kann es selbst sagen. Ich –« Mit einem Male schlang sie die Arme um seinen Hals. »O, liebst du mich?« rief sie. »Ist es wirklich wahr? Meinst du jedes Wort, was du sagst? Und tut es dir leid und willst du gut zu mir sein, wenn ich deine Frau bin? Du willst mein lieber, lieber Mann sein?«
Tränen stürzten aus Annixters Augen. Er schloß Hilma in seine Arme und zog sie an sich. Nie in seinem Leben hatte er sich dieses edeln, reinen Mädchens so unwürdig gefühlt, das ihm verzieh, seinem Wort vertraute und in ihm den vortrefflichen Menschen sah, der er erst werden wollte. Hilma stand so unendlich hoch über ihm, daß er seine Stirn in den Staub zu ihren Füßen hätte beugen müssen, und doch schloß sie ihn in ihre Arme, überzeugt, daß er ihr an Güte gleichkomme. Die Worte fehlten ihm, um zu sagen, was er fühlte. Tränen strömten über seine Wangen. Sie rückte auf Armeslänge von ihm ab, legte die Hände auf seine Schultern und blickte ihm in die Augen. Er bemerkte jetzt, daß sie auch geweint hatte.
»Ich glaube, wir sind ein paar Schwachköpfe,« sagte er.
»Nein, nein,« widersprach sie. »Ich will weinen, und du sollst auch weinen. Ach Gott, ich hab' ja kein Taschentuch!«
»Hier, nimm meines.«
Wie zwei Kinder trockneten sie einander die Augen. Lange saßen sie dann Arm in Arm in dem einsamen japanischen Gartenhäuschen und hatten sich unendlich viel zu erzählen.
Am folgenden Sonntag wurden sie in einer Presbyterianerkirche der oberen Stadt getraut. Die erste Woche seines Honigmonds verbrachte das junge Paar in einem kleinen Familienhotel auf der Sutter-Straße. Sie machten den für Jungverheiratete unvermeidlichen Ausflug nach dem Cliff-House und verbrachten einen Nachmittag inmitten der abgeschmackten, gekünstelten Herrlichkeiten von Sutros Garten; sie sahen sich die Chinesenstadt, das Palasthotel und das Parkmuseum an – wo Hilma sich hartnäckig weigerte, an die ägyptische Mumie zu glauben – und fuhren in einem Mietswagen nach dem Presidio und dem Goldenen Tor.
Am sechsten Tage erklärte Hilma, die Bummelei hätte nun ein Ende; sie müßten jetzt vernünftig sein und an die Arbeit gehen.
Das bedeutete nichts geringeres als den Einkauf der Möbel und des übrigen Hausgeräts für das verjüngte Ranchhaus von Quien Sabe. Annixter hatte seinem Verwalter telegraphiert, er solle das Haus neu abputzen, neu malen und neue Schindeln auf das Dach nageln lassen. Die Zimmer sollten vollständig ausgeräumt werden; nur das Telephon und der Geldschrank blieben an ihren Plätzen. Er ließ sich auch die genauen Maße von jedem Zimmer schicken. Das Eintreffen des Briefes mit den gewünschten Angaben spornte Hilma zur Tätigkeit an.
Jetzt folgte eine wundervolle Woche. Mit endlosen, von Annixter auf die Briefumschläge des Hotels geschriebenen Listen bewaffnet, überfielen die zwei alle Warenhäuser, Teppichgeschäfte und Möbelhandlungen der Stadt. Rechts und links handelten und kauften sie; jeder größere Posten wurde sofort nach Quien Sabe gesandt. Beinahe eine ganze Waggonladung von Teppichen, Vorhängen, Küchengerät, Bildern, Haushaltungsgegenständen, Lampen, Strohmatten, Stühlen und noch vielem andern ging nach der Ranch ab; Annixter legte besonderen Wert darauf, daß die ganze Einrichtung ihres neuen Heims nur aus San Franciscoer Geschäften herrühren sollte.
Die Ausstattung des Schlaf- und des Wohnzimmers wurde ganz zuletzt besorgt. Für das erstere hatte Hilma durch einen wunderbaren Zufall eine weißlackierte, aus drei Stühlen, einem Waschtisch und einer Kommode bestehende »Garnitur« bei einem »Freitagsverkauf« entdeckt und zu dem lächerlich billigen Preise von dreißig Dollar erworben. Das Bett gehörte nicht dazu; es stammte aus einem andern Geschäft, war aber ein Wunder für sich. Mit seinen blanken Messingstäben war es prächtig anzusehen; außerdem hatte es – man denke nur – einen wunderschönen Betthimmel! Sie kauften es mit allem Zubehör, so wie es im Schaufenster des Warenhauses stand. Hilma war außer sich vor Entzücken über die frischen, schneeweißen Paradekissen und Ueberdecken von feinstem Musselin. Solch ein Bett gab es gar nicht mehr; für eine Prinzessin wäre es noch ein Luxus gewesen. Ihr ganzes Leben hatte sie von solch einem herrlichen Bett geträumt.
Dann machte ihr die Einrichtung des Wohnzimmers viel zu schaffen. Annixter war durch alle die zur Schau gestellten schönen Sachen ganz verwirrt und unfähig, sich an der Auswahl zu beteiligen; er beschränkte sich darauf, alles gutzuheißen, was sie kaufte. Hilma wählte eine wunderschöne blau und weiße Tapete, feingeflochtene Matten für den Fußboden und Teppiche von weißer Wolle, einen Blumentisch, der am Fenster stehen sollte, eine Goldfischschale, Schaukelstühle, eine Nähmaschine und einen großen runden Mitteltisch von hellgebeizter Eiche, auf dem eine Lampe mit einem großen Schirm von krausem roten Seidenpapier stehen sollte. Die Wände sollten verschiedene Bilder zieren – reizende Sachen – übermalte, nach dem Leben aufgenommene Photographien – Chorknaben in ihren kirchlichen Gewändern und mit wunderschönen Augen, sinnige, sich über goldene Harfen beugende, junge Mädchen in rosenfarbenen Kleidern und mit aufgelöstem Blondhaar; ferner die farbige Nachbildung von »Rouget de Lisle, die Marseillaise singend«, und zwei in Holz geschnitzte »Stilleben«, eine Wachtel und eine Wildente, die je an einem Bein zwischen Jagdtaschen und Pulverhörnern hingen – beides wahre Meisterstücke. Endlich hatte man alles gekauft; alle Anordnungen waren getroffen, Hilmas Koffer mit ihren neuen Kleidern gepackt und die Fahrscheine nach Bonneville gelöst.
»Wir fahren mit dem Overland, der den nordamerikanischen Kontinent von Westen nach Osten oder umgekehrt durchquerende sehr schnelle Zug. by Jingo,« erklärte Annixter seiner Frau bei dem letzten Mahle im Hotel. »Bummel- und Lokalzüge sind nichts für uns, was?«
»Aber wir kommen so schrecklich früh in Bonneville an,« erklärte Hilma. »Um fünf Uhr morgens!«
»Das macht nichts,« erwiderte er. »Wir fahren im Pullman Schlaf- und Speisewagen. nach Hause, Hilma. Keins von den Schandmäulern in Bonneville soll sagen, daß ich nicht wüßte, was sich gehört, und Vacca soll uns mit dem Wagen abholen. No, sir, im Pullman oder gar nicht! Wenn's zum Möbelkaufen kommt, da bin ich vielleicht kein großes Licht, aber was meiner Frau zukommt, das weiß ich.«
Dabei blieb er, und so stieg das Paar eines späten Nachmittags an der Mole in Oakland in den famosen Ueberlandflieger der Pazifischen und Südwest-Bahn. Nur Hilmas Eltern waren zum Abschiednehmen mitgekommen. Annixter wußte, daß Magnus und Osterman sich noch in San Francisco aufhielten; er hatte ihnen aber seine Abreise verheimlicht. Magnus würde sich ja zweifellos angemessen verhalten, aber man konnte nie wissen, was der Ziegenbock Osterman nicht alles anstellen würde, und Annixter beabsichtigte nicht, die Reise in einem Schauer von Reis Nach amerikanischer Sitte wird Neuvermählten beim Antritt der Hochzeitsreise Reis nachgeworfen. anzutreten.
Mit Körbchen aus Weidengeflecht, Handtaschen und Täschchen beladen, die Fahrkarten im Munde und den Hut verkehrt auf dem Kopfe lies Annixter den langen Zug entlang; Hilma und ihre Eltern eilten hinterher, eifrig bestrebt, mit ihm gleichen Schritt zu halten. Er war äußerst aufgeregt und in großer Sorge, daß irgend etwas nicht in Ordnung sein könnte; rechtzeitig zur Bahn zu kommen, war für ihn immer eine verwickelte Sache. Er raste so schnell voran, daß er die Seinen verloren hatte, als er endlich vor seinem Pullman stand. Annixter setzte seine Taschen ab, um sich den Wagen zu merken, und rannte, wild mit den Armen winkend, zurück. »Kommt, kommt!« rief er, als er Frau und Schwiegereltern endlich entdeckt hatte, »'s ist keine Zeit mehr!«
Er drängte und schob sie nach der Stelle hin, wo er sein Handgepäck gelassen hatte, und entdeckte jetzt, daß eine Reisetasche fehlte. Ah, das war eine schöne Art, Passagiere zu behandeln! So was konnte einem nur bei der P. und S. W. passieren. Er wollte, bei Gott, er wollte – aber da erschien auch schon der Wagenwärter im Vorraum des Pullman und beruhigte ihn. Er hatte die Tasche in den Wagen gestellt.
Annixter ließ es nicht zu, daß seine Schwiegereltern mit einstiegen, da der Zug ja jeden Augenblick abgehen könnte. Er folgte mit Hilma dem Wärter in dem schmalen Gang bis zu seinem Abteil und brachte das Gepäck unter; dann lehnten sich die beiden aus dem offenen Fenster hinaus, um den Eltern Lebewohl zu sagen. Die Trees beabsichtigten nicht, nach Quien Sabe zurückzukehren. Der Vater hatte eine ihm zusagende Beschäftigung gefunden und versorgte das Hotel seines Verwandten mit Molkereierzeugnissen. Aber Bonneville war nicht allzuweit von San Francisco, und so konnte von einer Trennung auf unabsehbare Zeit nicht die Rede sein.
Die Wärter begannen die Tritte aufzunehmen, die an dem Vorraume jedes Wagens standen.
»Na, laß es dir gut gehen, meine Tochter,« sagte der Vater, »und besuch uns, wenn du abkommen kannst.«
Von vornher kam der die weite Bahnhofshalle durchdröhnende abgemessene Klang der Lokomotivenglocke.
»Mir scheint, es geht los,« rief Annixter. »Leben Sie wohl, Frau Tree!«
»Vergiß dein Versprechen nicht, Hilma,« rief die Mutter noch in aller Eile, »und schreib jeden Sonntagnachmittag!«
Das Knarren und Aechzen des durch die Zugspannung sich dehnenden Holz- und Eisenwerks durchlief die lange Wagenreihe. Die Reisenden und Zurückbleibenden riefen sich ein letztes Lebewohl zu. Der Zug setzte sich in Bewegung, bekam langsam Fahrt und rollte hinaus in den Sonnenschein. Hilma lehnte sich aus dem Fenster und wehte, solange sie ihre Mutter sehen konnte, mit dem Taschentuche. Dann setzte sie sich auf ihren Platz und sah ihren Mann an.
»So,« sagte sie.
»So,« wiederholte Annixter, »bist du auch glücklich?«, denn sie hatte Tränen in den Augen.
Sie nickte eifrig und lächelte ihn tapfer an.
»Du siehst etwas blaß aus,« erklärte er mit besorgtem Stirnrunzeln. » Bist du auch wohl?«
»O, gewiß.«
Sofort wurde er unruhig.
»Aber nicht ganz wohl, wie? Nicht wahr?«
Hilma hatte in der Tat eine leichte Anwandlung von Seekrankheit auf dem Fährboot gehabt, das den Verkehr zwischen der Stadt und der Mole in Oakland vermittelte. Davon war jedenfalls noch eine Spur von Uebelkeit bei ihr zurückgeblieben. Aber Annixter wollte von dieser Erklärung nichts wissen. Er war ganz unglücklich.
»Du wirst krank werden,« rief er angstvoll.
»Nein, nein,« widersprach sie, »nicht im geringsten.«
»Aber du hast doch gesagt, du wärest nicht ganz wohl. Wo tut dir's weh?«
»Nirgends. Ich bin nicht krank. Ach, mach dir doch keine Sorgen!«
»Kopfschmerzen?«
»Keine Spur davon.«
»Dann bist du übermüdet. Das ist's, 's ist ja auch kein Wunder, wie ich dich heut abgehetzt habe.«
»Schatz, ich bin aber nicht müde und ich bin nicht krank und mir geht's ganz gut.«
»Nein, nein, ich weiß schon! Am besten ist's, dächt' ich, wir lassen das Bett zurecht machen, und du legst dich nieder.«
»Das wäre aber wirklich lächerlich.«
»Also, wo tut dir's weh? Zeig mir's, leg die Hand auf die Stelle! Möchtest du was essen?«
Aufs genaueste fragte er sie aus und wollte von nichts anderm reden; sie hätte dunkle Ränder unter den Augen, behauptete er, und magerer wäre sie auch geworden.
»Ob wohl ein Doktor im Zuge ist?« murmelte er, unsicher um sich blickend. »Zeig mir deine Zunge. Ah, ich weiß – du brauchst ein bißchen Whisky und ein paar Backpflau–«
»Nein, nein, nein!« rief sie. »Ich bin so wohl wie je in meinem Leben. Sieh mich nur an! Sag, seh' ich denn wie eine kranke Frau aus?«
Besorgt musterte er ihr Gesicht.
»Bin ich nicht ein wahres Bild der Gesundheit?« forderte sie ihn heraus.
»Auf eine Art, ja,« begann er, »und dann wieder –«
Hilma trommelte vor Ungeduld mit den Hacken auf dem Fußboden, ballte ihre Hände mit den Daumen nach innen und schüttelte, die Augen schließend, hartnäckig den Kopf.
»Ich will nichts davon hören, ich will nicht, ich will nicht.«
»Aber, trotz alledem –«
»Unsinn – Unsinn – Unsinn,« spottete sie. »Ich will nichts hören, ich will nicht!« Sie legte die Hand auf seinen Mund. »Sieh nur, hier ist der Speisewagenkellner! Er ruft schon zum Abendessen, und deine Frau ist hungrig.«
Sie gingen nach vorn in den Speisewagen und nahmen ihre Abendmahlzeit ein, während der Zug, der jetzt auf die Hauptlinie gekommen war, die volle Fahrgeschwindigkeit erreichte, seinen langen und gleichmäßigen, den größeren Teil der Woche anhaltenden Galopp, und die Meilen abspann wie der Baumwollspinner den Faden.
Es wurde bereits dunkel, als man Antioch hinter sich hatte. Das Abendrot schien sich auf einmal zu verschieben und erst rechts von der Fahrtrichtung hinter Mount Diablo, der von hier aus bis fast zu seinem Fuße sichtbar war, zum Stillstand zu kommen. Der Zug hatte sich nach Süden gewendet. An Neroly, Brentwood, Byron sauste er vorbei. In dem zunehmenden Dunkel begannen zu beiden Seiten ferne, den Horizont einengende Berge sich aufzubauen. Brausend schoß der Zug dahin. Das Land zwischen den Bergen war eben und in Farmen und Ranchos eingeteilt, die immer größer wurden. Weizenfelder begannen zu erscheinen, deren halbhohe Halme in dem scharfen, von der dahinrasenden Wagenreihe verursachten Luftzuge wogten. Höher wurden die Serge und fruchtbarer die Felder; als der Mond aufging, war der Zug bereits in dem nördlichsten Teile des San Joaquin-Tales.
Annixter, der ein ganzes Abteil genommen hatte, ließ, als es Zeit war zu Bett zu gehen, die unbenutzte obere Lagerstelle von dem Aufwärter wieder zusammenklappen. Hilma saß, das Gesicht mit beiden Händen bedeckend, im Bett auf und betete; dann gab sie Annixter den Gutenachtkuß und schlief, seine Hand in ihren beiden haltend, so schnell und ruhig ein wie ein kleines Kind.
Annixter, der im Bahnzuge nie recht schlafen konnte, dämmerte, sich unruhig hin und her werfend, stundenlang hin und sah, wenn der Zug hielt, nach der Uhr und in den Fahrplan. Zweimal stand er auf, um Eiswasser zu trinken; in der Zwischenzeit saß er eine ganze Weile aufrecht in dem schmalen Bett, gähnte und streckte sich und murmelte immer wieder: »O, Gott! O–o–o Gott!«
Es waren noch etwa ein Dutzend andre Passagiere in dem Wagen – eine Dame mit drei Kindern, ein paar Geschäftsreisende, drei Volksschullehrerinnen, ein beleibter Herr mit einem Backenbart und ein gut angezogener junger Mann, der eine buntgestreifte Reisemütze trug; Annixter hatte ihn vor dem Abendessen Daudets »Tartarin« in der französischen Ausgabe lesen sehen.
Als es neun Uhr war, lagen alle schon in ihren Betten. Neben dem rhythmischen Rollen der Räder hörte Annixter hin und wieder, wie eins der Kinder unruhig wurde oder über irgend etwas klagte. Der beleibte Herr schnarchte mit einförmigem Tonfall, bald in sägendem Baß, bald in schrillem Diskant. Von Zeit zu Zeit schritt ein Bremser oder der Conductor, Der conductor versieht den Dienst des Schaffners und Zugführers. die rot und weiße Laterne am Arm, eilig durch den schmalen Gang zwischen den zusammengezogenen Bettvorhängen. In dem leeren Endabteil, dessen Lagerstatten nicht heruntergeklappt waren, konnte Annixter, wenn er den Kopf zwischen den Vorhängen hervorstreckte, den Aufwärter in seinem weißen Drillichrock sehen, wie er mit offenem Munde und den Kopf auf die Schulter geneigt schlummerte. Die Stunden verrannen. Schon war Mitternacht vorüber. Annixter, der auf die Stationen achtete und noch die Durchfahrt von Modesto, Merced und Madeira bemerkt hatte, wußte nach einem kurzen Schlummer nicht mehr, wo der Zug war. Hatte man etwa Fresno schon hinter sich? Er zog einen Fenstervorhang in die Höhe und schattete, um besser sehen zu können, die Augen mit den zu beiden Seiten des Gesichts gehaltenen Händen ab. Die Nacht war dunkel und der Himmel bewölkt. Ein feiner Regen fiel und hinterließ wagerechte Streifen an dem Glase des äußeren Fensters. Nur ein ganz schwacher grauer Schimmer machte den Himmel kenntlich; alles andre war in undurchdringliches Dunkel gehüllt.
»Ich dächte, wir sind gewiß über Fresno hinaus,« murmelte er, nach der Uhr sehend. Es war etwas nach halb drei. ›Wenn wir Fresno schon hinter uns haben,‹ sagte er sich, ›so möcht' ich wohl die Kleine bald wecken, 'ne Stunde zum Anziehen braucht sie. Ich will doch mal hören, wo wir sind.‹
Er fuhr in Beinkleider und Schuhe, zog den Rock an und ging den Gang hinunter. Auf dem Platze, den vorher der Aufwärter eingenommen hatte, saß der Pullmanschaffner, seine Kasse und die Wagenlisten vor sich, und strich die Nummern der belegten Betten mit einem Blaustift an.
»Wo halten wir das nächste Mal, Käpt'n?« fragte Annixter. »Sind wir schon in Fresno gewesen?«
»Eben sind wir durch,« erwiderte der Angeredete und blickte zu Annixter über den oberen Rand seiner Brille auf.
»Wo halten wir das nächstemal?«
»In Goshen. In zirka fünfundvierzig Minuten sind wir dort.«
»'ne ziemlich finstere Nacht, wie?«
»Finster wie 'ne Hosentasche. Lassen Sie sehen, Sie haben die obere und untere Nummer neun.«
Zur rechten Zeit noch griff Annixter nach der Lehne des nächsten Sitzes; er wäre sonst hingefallen. Der Geldkasten des Pullmanschaffners glitt von dem mit Plüsch überzogenen Sitze herab und fiel rasselnd auf den Fußboden. Die Pintsch-Lampen an der Decke klirrten und flackerten mit blendender Schnelle in dem langen, gleitenden Ruck, der den Zug von einem Ende bis zum andern durchlief, und die plötzlich aufgehobene Geschwindigkeit schleuderte den Schaffner fast von seinem Sitz. Ein entsetzliches, ohrenzerreißendes Knirschen kam von unten her von den scharf angezogenen Westinghousebremsen; Annixter wußte jetzt, daß die Räder aufgehört hatten sich zu drehen und daß der Zug nur noch auf den bewegungslosen Flanschen vorwärts glitt.
»Hallo, hallo,« rief er aus, »was ist denn jetzt los?«
»Notbremse,« erklärte der Schaffner, der den Geldkästen aufraffte und seine Papiere und Bettkarten hineinsteckte. »Nichts Besonderes; wahrscheinlich 'ne Kuh auf den Gleisen.« Er nahm seine Laterne und verschwand.
Alle Fahrgäste mit Ausnahme des beleibten Herrn waren aufgewacht; sie steckten die Köpfe zwischen den Vorhängen hervor und bestürmten den zu Hilma eilenden Annixter mit einer Flut von Fragen.
»Was war das eben?«
»Ist was passiert?«
»Was ist denn nur los?«
Hilma war eben wach geworden, als Annixter die Vorhänge zur Seite schob.
»O, ich bin so erschrocken!« rief sie. »Was ist denn geschehen, Schatz?«
»Ich weiß nicht,« antwortete Annixter. »'s ist nur die Notbremse, 'ne Kuh wird wohl auf 'm Gleise sein. Aengstige dich nicht. Es ist weiter nichts.«
Mit einem letzten schrillen Kreischen der Westinghousebremse kam der Zug zum gänzlichen Stillstand. Sofort herrschte vollkommene Stille. Die von dem langanhaltenden Räderrollen und aneinander klirrendem Eisenzeuge noch halbtauben Ohren vermochten zuerst die jetzt hörbar werdenden, geringeren Geräusche nicht recht aufzunehmen. Vom Ende des Wagens her klangen Stimmen, so seltsam und fremdartig, als ob sie über eine weite Wasserfläche hallten. Die Nacht draußen war so still, daß man das Tropfen des Regens von dem Wagendache auf den Bahnunterbau so deutlich wie das Ticken einer Uhr hören konnte.
»Na, jetzt liegen wir zweifellos still,« bemerkte einer der Geschäftsreisenden.
»Was ist's denn nur?« fragte Hilma wieder. »Bist du sicher, daß kein Unglück passiert ist?«
»Ganz sicher,« sagte Annixter.
Draußen, dicht unter ihrem Fenster, hörten sie eilige Schritte auf der die Schwellen einbettenden Kiesschüttung knirschen. Die Schritte entfernten sich, und Annixter hörte jemand von weitem rufen:
»Ja, auf der andern Seite.«
Dann wurde die Tür am Ende des Wagens geöffnet, und ein rotbärtiger Bremser rannte den Gang entlang nach der Plattform. Die vordere Tür fiel hinter ihm ins Schloß, und alles war wieder ruhig. In der Stille konnte man den beleibten Herrn wieder schnarchen hören.
Die Minuten verrannen; nichts rührte sich. Kein andres Geräusch als der tropfende Regen war zu hören. Unbeweglich und starr stand die lange Wagenreihe in der dunkeln Nacht. Einer der Geschäftsreisenden, der auf die Plattform getreten war, um sich umzusehen, kehrte bald zurück.
»'s ist keine Station in der Nähe und auch kein Nebengleis. Ich wette, 's ist irgendein Unfall passiert.«
»Man müßte den Aufwärter fragen.«
»Ich hab' ihn gefragt. Er weiß auch nichts.«
»Vielleicht haben sie gehalten, um Holz oder Wasser oder sonst was einzunehmen.«
»Na, dazu würden sie doch keine Notbremse gebraucht haben, nicht wahr? Wahrhaftig, der Zug stoppte fast in seiner eignen Länge. Mich schleuderte es beinah aus dem Bett. Es war die Notbremse. Ich hörte, wie's jemand sagte.«
Vom vorderen Ende des Zuges nahe der Lokomotive kam jetzt der scharfe, kurze Knall eines Revolvers, dann, fast gleichzeitig, zwei weitere, und endlich, nach einer Pause, ein vierter Knall.
»Hören Sie, das sind Schüsse! Bei Gott, Jungens, sie schießen. Das ist ein Ueberfall.«
Unsagbar schrecklich, rätselhaft und unglückdrohend waren diese vier in der dunkeln Regennacht fallenden Schüsse. Aus dem Gefühl der Sicherheit brach, wie ein aus seinem Bau aufgeschrecktes Kaninchen, angstvolle Verwirrung hervor. Mit weitaufgerissenen Augen starrten die Reisenden einander an. Sie waren also doch einmal in diese furchtbare Lage gekommen, von der sie schon so oft gelesen hatten. Jetzt sollten sie erfahren, wie die Wirklichkeit war, sie sollten der Gefahr ins Auge sehen, die da vermummt, bewaffnet und zum Töten bereit aus dem Dunkel der Nacht hervorsprang. Jetzt standen sie ihr gegenüber. Sie waren überfallen worden.
Hilma sagte nichts; sie ergriff nur Annixters Hand und blickte unverwandt in seine Augen.
»Bleib ruhig, Kleine,« sagte er. »Sie können dir nichts tun. Ich geh' nicht von deiner Seite. Bei Gott,« rief er, von seiner Aufregung fortgerissen, plötzlich aus, »bei Gott, 's ist ein Ueberfall!«
Die drei Lehrerinnen, mit Nachtgewand, Schlafrock und Morgenjacke angetan, drängten sich im Wagengange wie Schafe aneinander und blickten stumm um Schutz flehend auf die Männer. Zwei von ihnen weinten; sie waren weiß bis zu den Lippen.
»O, o, o, es ist schrecklich! O, wenn sie mir nur nichts tun!«
Die Dame mit den Kindern aber blickte ganz ruhig zwischen den Vorhängen hervor und sagte lächelnd: »Ich fürchte mich gar nicht. Sie tun uns nichts, wenn wir uns ruhig verhalten. Ich halte meine Uhr und Ringe schon in meinem schwarzen Säckchen hier für sie bereit. Sehen Sie, hier ist's!«
Sie zeigte das Säckchen. Ihre Kinder waren ganz wach. Sie verhielten sich ruhig und blickten mit gespannter Aufmerksamkeit und sichtlich von der Ueberraschung belustigt um sich.
»Ich gehe 'raus,« erklärte plötzlich einer der Geschäftsreisenden und zog einen Taschenrevolver hervor.
Sein Freund packte ihn am Arme.
»Sei kein Narr, Max,« sagte er.
»Die kommen nicht zu uns,« bemerkte der gut angezogene junge Mann. »Die haben es auf den Wells Fargo Schrank Außer der Post befördern auch Privatunternehmungen – express-companies, deren größte die Wells Fargo Co. sein dürfte – Gelder, Wertsendungen und Pakete. Die Post nimmt nur Sendungen im Höchstgewicht von zwei Pfund an. und auf die eingeschriebenen Postsachen abgesehen. Sie können draußen nichts nützen.«
Der Mann mit dem Revolver aber erhob lauten Einspruch. Nein, nein! Er beabsichtigte nicht, sich ausplündern zu lassen, ohne sich gewehrt zu haben. Er wäre kein Feigling.
»Du gehst nicht 'raus und dabei bleibt's,« sagte ärgerlich sein Freund. »Es sind Frauen und Kinder hier im Wagen. Du kannst doch das Feuer nicht hierherziehen.«
»Ja, das ist allerdings zu erwägen,« entgegnete der Kampflustige und ließ sich beruhigen. Seinen Revolver aber behielt er in der Hand.
»Lassen Sie ihn nicht das Fenster aufmachen,« rief Annixter von seinem Platze an Hilmas Seite her, als der Geschäftsreisende sich anschickte, das Fenster in einem der leeren Abteile zu öffnen.
»Gewiß, das ist richtig,« riefen die andern. »Kein Fenster ausmachen! Den Kopf im Wagen behalten! Wenn Sie so unvorsichtig sind, wird auf uns alle geschossen werden.«
Der Revolvermann öffnete aber doch das Fenster und lehnte sich, noch ehe ihn jemand wegziehen konnte, hinaus.
»Wahrhaftig,« rief er, sich in den Wagen zurückwendend, »unsre Maschine ist weg. Wir stehen auf 'ner Kurve, und man kann das vordere Ende des Zuges sehen. Sie ist weg, sag' ich Ihnen. Bitte, überzeugen Sie sich selbst.«
Trotz aller vorherigen Warnungen sah jetzt jeder hinaus. In der Tat, der Zug hatte keine Lokomotive mehr.
»Das haben sie gemacht, damit wir nicht fort können.« zeterte der Geschäftsreisende mit dem Revolver. » By Jiminy Christmas etwa: Beim Weihnachts-Jesus! jetzt gehen sie durch die Wagen und lassen uns die Hände hochhalten! In einer Minute werden sie hier sein. Herrgott! Was war denn das?«
Von weither – anscheinend etwa eine halbe Meile vorn auf der Strecke – kam das Krachen einer heftigen Explosion, von der die Fenster des Pullman zitterten.
»Sie schießen wieder.«
»Das ist kein Schießen,« rief Annixter. »Sie haben von der Maschine den Expreß- und Postwagen nach vorn nehmen lassen und sprengen den Geldschrank jetzt mit Dynamit!«
»Das wird es wohl sein. Ja, gewiß, das werden sie getan haben.«
Die Vordertür wurde geöffnet und wieder geschlossen; kreischend kauerten sich die Lehrerinnen nieder. Der Geschäftsreisende mit dem Revolver wandte sich um; seine Augen traten fast aus den Höhlen. Es war aber nur der Conductor, der ohne Kopfbedeckung, seine Laterne am Arm und vom Regen bis auf die Haut durchnäßt im Mittelgange erschien.
»Ist vielleicht ein Doktor hier?« fragte er.
Sofort umdrängten ihn die Passagiere und bestürmten ihn mit Fragen. Er war aber in schlechter Laune.
»Ich weiß nicht mehr als Sie!« rief er laut und ärgerlich. »Wir sind gestoppt worden. Ich dächte, das wissen Sie wohl auch, wie? Na, was wollen Sie sonst noch? Ich hab' keine Zeit, den Narren zu spielen. Sie haben unsern Expreßwagen abgekoppelt und den Schrank gesprengt, und jemand von unserm Zugpersonal haben sie geschossen, das ist alles, und ich brauche 'nen Doktor.«
»Geschossen haben sie ihn – totgeschossen, meinen Sie?«
»Ist er schwer verwundet?«
»Sind die Räuber auf und davon?«
»O, wollen Sie nicht mal alle den Mund halten?« rief der Conductor. »Was weiß ich? Ist hier im Wagen ein Doktor? Das will ich wissen!«
Der gut angezogene junge Mann trat vor.
»Ich bin ein Doktor,« sagte er.
»Schön, da kommen Sie mal mit,« entgegnete mürrisch der Conductor, »und die andern Passagiere hier,« fügte er, sich an der Tür umwendend, mit drohendem Kopfnicken hinzu, »wollen wieder zu Bett gehen und gefälligst dort bleiben, 's ist alles vorüber, und zu sehen ist nichts.«
Er verließ den Wagen, gefolgt von dem jungen Arzt.
Jetzt trat eine endlose Zeit tiefer Stille ein. Der ganze Zug schien verlassen zu sein. Hilflos, seiner Maschine beraubt, lag er wie ein enthauptetes Ungeheuer, um eine Kurve gekrümmt, unbeweglich in Nacht und Regen. Die Vorstellung, daß diese lange Reihe von Schlafwagen mit ihren vernickelten Beschlägen und Spiegelglasscheiben, ihren Polstersitzen, bedeckten Wagenverbindungen und andern, dem Behagen ihrer zahlreichen Fahrgäste dienenden Einrichtungen so verlassen und vergessen in der Regennacht zurückgeblieben war, hatte etwas Unheimlicheres und Grausigeres als vorher der Gedanke an die tatsächliche, unmittelbar bevorstehende Gefahr.
Was sollte aus all den Menschen werden? Wo war jemand, der ihnen helfen konnte? Ihre Maschine war verschwunden; sie waren hilflos. Das Warten schien kein Ende zu nehmen, und das ununterbrochene Schnarchen des Dicken raspelte auf den Nerven wie das Schrappen einer Feile.
»Na, wie lange werden wir noch hier stecken bleiben?« begann einer der Geschäftsreisenden. »Ob sie wohl die Maschine mit ihrem Dynamit beschädigt haben?«
»O, sie werden gewiß in den Wagen kommen und uns ausplündern,« jammerte eine Lehrerin.
Die Dame mit den Kindern ging wieder zu Bett, und Annixter, der überzeugt war, daß man nichts mehr zu befürchten hatte, tat dasselbe. Aber niemand schlief. Von Bett zu Bett sprach man mit gedämpfter Stimme über den Vorgang und stellte allerlei Mutmaßungen an. Gewisse Einzelheiten schienen – man wußte zwar nicht weshalb – unbestreitbar zu sein. Es waren nämlich vier Räuber gewesen; sie hatten den Zug durch Ziehen an der Signalleine zum Halten gebracht. Auf den Bremser, der sie daran verhindern wollte, hatten sie geschossen. Den ganzen Weg von San Francisco aus waren sie im Zuge gewesen. Der von seinem Freunde mit Max angeredete Geschäftsreisende hatte vier »verdächtig aussehende Individuen« in Lathrop im Rauchwagen bemerkt und den Conductor auf sie aufmerksam machen wollen. Er war schon einmal in einem Zuge gewesen, den Räuber angehalten hatten, und erging sich immer wieder in der genauen Schilderung des Vorfalls.
Endlich – man glaubte bereits eine Stunde gewartet zu haben, und schon begann die Dämmerung sich im Osten zu zeigen – rückte die Lokomotive wieder mit einem von Wagen zu Wagen sich fortpflanzenden Rasseln an den Zug heran. Bei dem Stoß kreischten die Schullehrerinnen im Chor; der Dicke mit dem Backenbart hörte auf zu schnarchen, streckte den Kopf zwischen den Vorhängen hervor und blinzelte, von dem Licht der Pintsch-Lampen geblendet, mit den Augen. Er war allem Anschein nach ein Engländer.
»Sagen Sie,« fragte er Max, den Geschäftsreisenden, »sagen Sie, mein Freund, welche Station ist das?«
Wieherndes Gelächter verspottete ihn.
»Wir sind angehalten worden, bester Herr, ja, angehalten worden sind wir. Ueberfallen hat man uns, und Sie haben die ganze Sache verschlafen. Die größte Glanznummer in Ihrem Leben haben Sie verpaßt.«
Lange und starr blickte der dicke Herr die Gruppe an. Er sagte kein Wort; allmählich dämmert: es ihm, daß man ihm die Wahrheit sagte. Mit einemmal erfaßte ihn der Zorn, und sein Gesicht wurde puterrot. Rasch zog er den Kopf zurück und knöpfte wütend die Gardinen wieder zusammen. Der Grund für seinen Zorn war unerfindlich; man konnte hören, wie er sich mit kräftigem Rucken von Kopf und Schultern wieder in den Kissen zurechtlegte. Einige Augenblicke darauf tönte der sägende Baß und der schrille Diskant seines Schnarchens wieder durch den Wagen.
Endlich setzte sich der Zug unter schrillen, zwecklosen Warnungspfiffen der Lokomotive wieder in Bewegung. In voller Fahrt auf den Kurven schaukelnd und über die Durchlässe brausend, raste er dahin, um den Zeitverlust wieder auszugleichen. Die Reisenden jedoch brachten den Rest der Nacht auf ihren in Unordnung geratenen Betten sitzend zu, während der hin und her schwankende Schlafwagen, in dem sich der Schein der in zitternde Bewegung versetzten Pintsch-Lampen mit dem fahlen Licht des grauenden Morgens mischte, mit halsbrecherischer Schnelligkeit durch Webet und Regen dahinraste. Noch standen alle unter dem Bann der weit hinten zurückgelassenen Schreckensgestalten, die, vermummt und den schußbereiten Revolver in der Hand, mit der am Sattelknopf festgebundenen Beute den Bergen zu galoppierten und auf ihrem schnellen Ritt Furcht und Schrecken um sich verbreiteten.
Der junge Arzt kam jetzt zurück. Er setzte sich in das Raucherabteil und brannte eine Zigarette an. Voller Spannung, den ganzen Hergang von ihm zu hören, drängten sich Annixter und die Geschäftsreisenden um ihn.
»Der Mann ist tot,« erklärte er, »der Bremser. Er hat zwei Schüsse durch die Lungen. Man glaubt, daß der Kerl sich mit etwa fünftausend in Gold aus dem Staube gemacht hat.«
»Der Kerl? Waren's nicht ihrer vier?«
»Nein, nur einer. Und ich muß schon sagen, der hat Courage gehabt. Er scheint die ganze Zeit auf dem Dache des Expreßwagens gewesen zu sein. Von dort ist er trotz der schnellen Fahrt auf die Kohlen des Tenders gesprungen, ist von dort in den Lokomotivführerstand gekrochen und hat dem Lokomotivführer und dem Heizer den Revolver vor die Nase gehalten. Die mußten ihm dann ihre Schießeisen ausliefern und den Zug halten lassen. Er hat ihnen sogar befohlen, die Notbremse zu gebrauchen – er schien genau Bescheid zu wissen. Dann ging er zurück und kuppelte selbst den Expreßwagen von dem übrigen Zuge los. Während er sich damit zu schaffen machte, kam ein Bremser – Sie erinnern sich des Bremsers, der ein- oder zweimal hier durchging – er hatte 'nen roten Schnurrbart –«
»O, der!«
»Ja, derselbe. Na, als der Zug so plötzlich hielt, da dachte der Bremser, es müßte irgendwas los sein. Er rannte also nach vorn, sah dort, wie der Räuber gerade den Expreßwagen loskuppelte, und schoß zweimal auf ihn. Der Heizer sagt, der Kerl hätte die eine Hand nicht mal vom Kuppelungsbolzen 'runtergenommen; ganz kaltblütig hätte er sich 'rumgedreht und den Bremser über den Haufen geschossen. Sie wären nicht fünf Fuß voneinander entfernt gewesen, als das Schießen losging. Ganz unversehens wäre der Bremser auf ihn gestoßen; er hätte keine Idee gehabt, daß er so nahe an ihn herangekommen war.«
»Und was machte der Expreßbeamte die ganze Zeit?«
»Nun, er tat sein Bestes. Er sprang mit seinem Repetiergewehr aus dem Wagen, aber ehe er sich noch umdrehen konnte, hatte der Kerl schon den Revolver auf ihn angeschlagen. Der hieß ihn die Hände hochhalten und nahm ihm seine Flinte weg. Wissen Sie, das nenn' ich doch Courage! Ein einziger gegen 'ne ganze Zugladung. Nachdem er den Expreßwagen vom Zuge losgekoppelt hatte, mußte der Lokomotivführer damit etwa eine halbe Meile bis zu einer Wegkreuzung fahren; dort hatte der Räuber sein angebundenes Pferd stehen. Was meinen Sie? Hat er nicht alles genau berechnet? Dort hat er den eisernen Kassenschrank mit Dynamit gesprengt und sich an den Wells Fargo Geldkasten gemacht. Fünftausend in Gold hat er genommen. Der Wells Fargo Mann sagt, es wäre Eisenbahngeld gewesen zur Auszahlung an die Beamten und Arbeiter in Bakersfield. Es war in 'nem Sack. Die eingeschriebenen Wertsendungen und ein ganzes Bündel Banknoten, die auch mit im Schrank waren, hat er nicht angerührt. Er nahm nur das Gold, stieg aufs Pferd, und weg war er. Der Lokomotivführer sagt, er wäre ostwärts geritten.«
»Er ist also auf und davon?«
»Jawohl, aber man hofft ihn zu fangen. Er trug 'ne Art Maske, aber der Bremser hat ihn erkannt. Ehe er starb, konnte er noch aussagen, daß der Kerl eine Pike gegen die Bahn hatte. Er ist ein entlassener Angestellter und ist bei Bonneville zu Hause.«
»Dyke, bei Gott!« platzte Annixter heraus.
»Das ist der Name,« sagte der junge Arzt.
Als der Zug mit vierzig Minuten Verspätung in Bonneville ankam, stieß Annixter und Hilma etwas zu, was sie vor allem andern zu vermeiden wünschten – sie gerieten in ein ungeheures Menschengedränge. Die Nachricht, daß der Ueberlandzug dreißig Meilen südlich von Fresno angehalten, daß ein Bremser erschossen, der Geldschrank beraubt und Dyke als der Täter festgestellt worden, war von Fowler voraustelegraphiert worden; der Conductor hatte die Depesche aus dem vorbeifliegenden Zuge dem Stationsvorsteher zugeworfen.
Der Zug wurde, ehe er noch unter dem Bogendach der Bonneviller Bahnhofshalle zum Stehen gekommen war, im Sturm genommen. Annixter mit Hilma am Arm mußte sich den Weg aus dem Wagen förmlich erkämpfen. S. Behrman war da, Delaney, Cyrus Ruggles, der City Marshal, das Oberhaupt der städtischen Polizei. der Mayor. der Bürgermeister. Genslinger, den Hut im Nacken und das Notizbuch in der Hand, suchte den Zug vom Lokomotivführerstand bis zu den Schlußlaternen ab und fragte die Leute aus, um möglichst viele Einzelheiten für die Sonderausgabe seiner Zeitung zu sammeln. Seine schmalen, knochigen Hände zitterten vor Erregung, und sein mageres braunes Gesicht zuckte, als er Annixter, dem es endlich gelungen war, auf dem Bahnsteig festen Fuß zu fassen, am Ellbogen packte.
»Kann ich Ihre Darstellung des Vorganges haben, Herr Annixter?«
Blitzschnell wandte sich Annixter nach ihm um.
»Jawohl!« schrie er ihn an. »Sie und Ihre Bande haben Dyke aus dem Dienst gejagt, weil er nicht für einen Hungerlohn arbeiten wollte. Dann haben Sie die Fracht in die Höhe geschraubt und ihm alles weggenommen. Sie haben ihn ruiniert und ihn dazu getrieben, sich mit Carahers Whisky vollzusaufen. Er hat sich bloß das zurückgenommen, was Sie ihm geraubt haben. Und jetzt werden Sie ihn über den ganzen Staat hetzen, wie ein wildes Tier werden Sie ihn jagen und ihn endlich an den Galgen in San Quentin bringen. Das ist meine Darstellung des Vorganges, Herr Genslinger, und drucken können Sie sie auch; dafür kriegen Sie ja die Hilfsgelder von der P. und S. W.«
Ein Beifallsgemurmel erhob sich aus der Menge, während Genslinger mit ärgerlichem Achselzucken seiner Wege ging.
Annixter brachte Hilma durch das Gedränge zu dem Gespann, mit dem der junge Vacca wartete. Aber sie konnten nicht sofort den Heimweg antreten, da Annixter bei der Güterabfertigung noch wegen einer Sendung Stühle anfragen wollte. Und so wurde es beinahe elf Uhr, ehe sie aufbrachen. Um auf den nach Quien Sabe führenden Oberen Weg zu kommen, mußten sie die Hauptstraße der Stadt in ihrer vollen Länge durchfahren.
Ganz Bonneville schien auf der Straße zu sein. Es hatte inzwischen zu regnen aufgehört, und jetzt schien die Sonne. Die Geschichte des Ueberfalls, die Tat eines Mannes, den alle kannten und gernhatten, war in jedermanns Munde. Wie hatte Dyke das nur tun können? Wer hätte das von ihm geglaubt? Was sollte aus seiner armen Mutter und dem Kleinchen werden? Nun, man konnte es ihm am Ende nicht verdenken; die Eisenbahnleute hatten es sich selbst zuzuschreiben. Aber er hatte einen Mann erschossen. Ah, das war eine böse Geschichte! Der gutmütige, große und breitschultrige, lustige Dyke, den sie so gut kannten, mit dem sie noch gestern einen Händedruck gewechselt – jawohl – und mit dem sie getrunken hatten! Er hatte auf einen Mann geschossen und ihn getötet. Draußen in Nacht und Regen, während sie alle in ihren Betten schliefen, hatte er den Mann erschossen. Wo mochte er nur jetzt sein?
Unwillkürlich richteten sich die Blicke über die Dächer der Häuser hinweg oder, dem Zuge der ins Freie führenden Seitenstraßen folgend, nach Osten, wo die in der Ferne verschwimmenden hohen Berge sich über dem weiten Tale aufbauten. Dort war er; irgendwo auf den blauen Bergkämmen oder in den sie trennenden dunkeln Schluchten hielt er sich verborgen. Wochenlang würde man das Land nach ihm durchsuchen. Neuentdeckte Anhaltspunkte, blinder Lärm, gefundene und wieder verlorene Spuren, frische Fährten, Hinterhalte und ununterbrochene Wachsamkeit, all der Schauer und die herzerschütternde Aufregung einer Menschenjagd würden die Leute fortwährend in Atem halten. Ob es ihm wohl geglückt war, zu entkommen? An diesem Tage war kaum einer auf den Straßen, der ihm das nicht wünschte.
Als Annixters Gespann über den Hauptplatz der Stadt trabte, deutete der junge Vacca auf ein Menschengewühl, das sich um den Eingang an der Rückfront des Rathauses drängte. Wohl zwanzig gesattelte Pferde waren an dem Geländer unter den spärlichen halbwüchsigen Bäumen angebunden. Als Annixter und Hilma vorbeifuhren, teilte sich die Menge, und ein Dutzend Männer, den Revolver an der Hüfte, drängten sich nach dem Bordstein, bestiegen ihre Pferde und galoppierten davon.
»'s ist die Posse,« posse (comitatus) = Hilfsmannschaft, die der Sheriff, der höchste Exekutivbeamte eines County, zur Ergreifung von Verbrechern aufbietet. sagte der junge Vacca.
Draußen vor der Stadt war das Gelände ganz eben und nichts schränkte den Blick ein. Vacca erspähte nach Norden hin, in der Richtung von Ostermans Ranch, eine andre, ostwärts galoppierende Reiterschar und ein Stück weiter noch eine.
»Dort sind die andern Possen,« sagte er. »Die ganz vorn ist Archie Moores. Er ist der Sheriff. Mit 'ner Extralokomotive ist er heut früh von Visalia gekommen.«
Als Annixters Wagen in die nach dem Ranchhaus führende Vorfahrt einbog, stieß Hilma einen Ruf der Ueberraschung aus und klatschte vor Freude in die Hände. Das Haus glänzte in seinem neuen weißen Anstrich, die Vorfahrt hatte eine frische Kiesschüttung, und die ehedem vernachlässigten Blumenbeete waren voller Blumen. Frau Vacca und ihre Tochter, die emsig die letzte Hand angelegt hatten, traten zur Tür heraus und bewillkommneten das junge Paar.
»Was ist denn das hier?« fragte Annixter, als sein Blick, nachdem er Hilma aus dem Wagen geholfen hatte, auf eine etwa fünf Fuß lange und drei Fuß breite Kiste fiel, die auf der Veranda stand und mit dem roten Wells Fargo Zettel beklebt war.
»Es kam gestern abend für Sie an, Herr,« erklärte Frau Vacca. »Wir konnten uns nicht denken, daß es etwas von Ihrer Einrichtung war, und da haben wir's nicht aufgemacht.«
»O, vielleicht ist's ein Hochzeitsgeschenk!« rief Hilma mit blitzenden Augen.
»Ja, vielleicht ist's so,« entgegnete ihr Mann. »Hier, mein Sohn, helfen Sie mir's 'reintragen.«
Die beiden Männer trugen die Kiste in das Wohnzimmer, wo sich Annixter mit Hammer und Stemmeisen sofort an die Arbeit des Oeffnens mochte. Vacca zog sich auf ein Zeichen seiner Mutter zurück und schloß die Tür hinter sich. Annixter und seine Frau waren allein.
»O, schnell, schnell!« rief Hilma, ungeduldig hin und her trippelnd. »Ich muß sehen, was es ist. Wer, glaubst du, kann uns das geschickt haben? Und so schwer ist's. Was denkst du, wer's sein kann?«
Annixter zwängte die Klaue des Hammers unter den Deckel und wuchtete mit aller Kraft. Die den Deckel bildenden Bretter waren durch eine Querleiste verbunden und so hoben sie sich gleichzeitig. Zunächst kam eine Lage von Hobelspänen zum Vorschein, auf denen ein in Maschinenschrift an Annixter adressierter Brief lag. Der Briefumschlag trug den Ausdruck einer Firma in Los Angeles. Annixter warf einen Blick darauf und nahm, noch ehe Hilma etwas davon gewahrte, den Brief mit einem Ausrufe des Verständnisses rasch an sich.
»O, jetzt weiß ich, was es ist,« sagte er gleichmütig, während er ihre geschäftigen Hände zurückzuhalten suchte, »'s ist weiter nichts. Nur Maschinenteile. Laß es nur sein.«
Sie hatte aber schon die Lage Hobelspäne weggerafft. Zwei Dutzend Winchester-Repetiergewehre, in roh zusammengeschlagenen Gestellen verpackt, kamen zum Vorschein.
»O – was – was –« stammelte Hilma.
»Nun, ich sagte dir doch, laß es sein,« entgegnete Annixter. »Es ist weiter nichts. Komm, wir wollen uns die Zimmer ansehen!«
»Du hast mir aber gesagt, du wüßtest, was es wäre,« widersprach die bestürzte Hilma. »Du wolltest mich glauben machen, es wären Maschinenteile. Verheimlichst du mir etwas? Sag mir, was das bedeutet. O, warum bekommst du so was?«
Sie faßte ihn am Arm und blickte voll ängstlicher Spannung in sein Gesicht. Sie schien zu ahnen, was es mit der Sendung auf sich hatte. Annixter bemerkte das.
»Nun,« erklärte er ihr verlegen, »weißt du, es wird ja gar nicht dazu kommen, aber – na, unsre Liga – für den Fall nämlich, daß die Eisenbahn Quien Sabe oder Los Muertos oder irgend 'ne andre Ranch mit Gewalt in Besitz nehmen will, weißt du – da haben wir – die Mitglieder der Liga – beschlossen, uns das nicht gefallen zu lassen. Das ist alles.«
»Und ich dachte,« rief Hilma, furchtsam vor der Kiste mit Gewehren zurückweichend, »ich dachte, es wäre ein Hochzeitsgeschenk!«
Das war ihre Heimkehr und das Ende ihrer Hochzeitsreise. Durch die von Revolverschüssen widerhallende Schreckensnacht voll Raub und Mord brachte Annixter sein junges Weib in eine in Unruhe und Aufregung versetzte Umgebung. Während eine Menschenjagd veranstaltet wurde und bewaffnete Reiter am Horizont austauchten, führte er Hilma in ein Heim, in dem anstatt der Hochzeitsgeschenke eine Sendung mörderischer Waffen ihrer wartete und das mit Lebensgefahr verteidigen zu müssen er jeden Augenblick gewärtigen konnte.
Bald war eine Woche dahingegangen. Magnus Derrick und Osterman kehrten von San Francisco zurück, ohne etwas Bestimmtes über die Pläne der Eisenbahngesellschaft erfahren zu haben. Lyman hatte nichts mitzuteilen gehabt. Er war über den Gang der Prozesse in Washington nicht unterrichtet. Jede Nachricht fehlte. Der geschäftsführende Ausschuß der Liga hielt in Los Muertos eine belanglose Sitzung ab, in der nur die laufenden Geschäfte gewohnheitsmäßig erledigt wurden. Eine von Osterman vorgeschlagene Zusammenkunft mit den Direktoren der P. und S. W. kam nicht zustande, weil die Bahn sich weigerte, mit den Ranchbesitzern auf einer andern Grundlage als der durch die neue Preisbemessung gegebenen zu verhandeln. Es war unmöglich, herauszubekommen, ob die Bahngesellschaft Los Muertos, Quien Sabe und die andern bei Bonneville gelegenen Ranchos in die zur Berufung angemeldeten grundlegenden Fälle eingeschlossen betrachtete oder nicht.
Die durch Dykes Tat im ganzen County verbreitete Aufregung hatte inzwischen nicht abgenommen. Tag auf Tag lieferte sie den alles andre ausschließenden Stoff für Gespräche an Straßenecken, Kreuzwegen und bei Tisch, in Geschäftszimmern, Banken und Läden. S. Behrman beklebte die ganze Stadt mit Anschlagzetteln, die demjenigen, der Dyke lebend oder tot zur Stelle brachte, eine Belohnung von fünfhundert Dollar versprach; die Expreßgesellschaft fetzte einen Betrag in gleicher Höhe aus. Zahlreiche mit Gewehren und Revolvern bewaffnete Trupps von Reitern, die in Visalia und Goshen angeworben waren – aus der Gegend von Bonneville und Guadalajara hatten sich ihnen nur die vereinzelten Parteigänger der Bahn angeschlossen –, durchstreiften das Land nach allen Richtungen. Aber trotzdem daß einer nach dem andern dieser Trupps unverrichteter Sache, schmutz- und staubbedeckt und mit erschöpften Pferden, heimkam, begegnete jede Posse auf ihrem Rückwege frischen Scharen, von denen die Verfolgung immer wieder von neuem aufgenommen wurde. Der Sheriff des Santa Clara County sandte aus San José zur Unterstützung der Menschenjäger seine Bluthunde – kleine, harmlos aussehende Tiere, deren Gebell etwas geradezu Fürchterliches hatte. Zeitungsberichterstatter aus San Francisco kamen an und fragten jedermann aus; einige begleiteten sogar die Possen auf ihrer Suche. Pferdehufe trappelten zur Nachtzeit auf den Straßen, Glocken wurden geläutet, und der »Merkur« gab ein Extrablatt nach dem andern heraus. Die Bluthunde bellten, Gewehrkolben rasselten auf dem Asphaltpflaster von Bonneville, zufällig losgehende Revolver brachten die ganze Stadt auf die Beine. Farmarbeiter riefen einander das Neueste über die Grenzzäune der Ranchos zu – kurz, die ganze Gegend war in Aufruhr.
Aber alle Mühe war vergebens. Die Hufspuren von Dykes Pferd waren in dem vom Regen aufgeweichten Boden bis eine Viertelmeile an die Vorberge heran verfolgt, dort aber unauffindbar verloren worden. Drei Tage nach dem Ueberfall stieß man auf einen Schafhirten, der den Räuber auf einem Bergrücken nordöstlich von Tarusa gesehen hatte. Und das war tatsächlich alles. Zahlreiche Gerüchte gingen um, vielversprechende Spuren wurden entdeckt, neue Fährten aufgenommen, aber trotz alledem ereignete sich nichts, um die Verfolger und den Verfolgten einander näher zu bringen. Nach zehn Tagen der größten Spannung begann die allgemeine Aufregung nachzulassen. Man glaubte, daß es Dyke gelungen sei, zu entkommen. War das wirklich der Fall, so mußte er sich, nachdem er das Gebirge erreicht hatte, nach Süden gewandt haben, um dann im südlichen Teile des San Joaquin-Tales nicht weit von Bakersville wieder aus den Bergen herauszukommen. Die Sheriffs, die Marshals und ihre Hilfsbeamten waren sich darüber einig. Sie hatten die Berge schon nach zu vielen Verbrechern abgesucht, um die von diesen eingeschlagenen Richtungen nicht zu kennen. Mit der Zeit mußte sich Dyke aus seinem Schlupfwinkel hervorwagen, um zu Wasser und Nahrungsmitteln zu kommen. Aber die Zeit ging dahin, und von keinem der zahlreichen Beobachtungsposten hörte man etwas über ihn. Schließlich begannen die Possen sich aufzulösen, und die Verfolgung wurde allmählich aufgegeben.
Nur S. Behrman ließ nicht nach. Er hatte sich fest vorgenommen, Dykes habhaft zu werden. Es gelang ihm, denselben Grad von Beharrlichkeit in Delaney, der inzwischen ein zuverlässiger Gefolgsmann der Bahn geworden war, und in seinem eignen Vetter wachzurufen. Dieser letztere, ein Land- und Grundstücksmakler namens Christian, war ehedem, als man sich noch auf Viehzucht beschränkte, Marshal des Visaliabezirkes gewesen und kannte die Berge genau. Die beiden begaben sich mit zwei bezahlten Gehilfen in die Sierra und nahmen Mundvorrat auf einen Monat sowie zwei der vom Sheriff von Santa Clara geliehenen Bluthunde mit.
Eines Sonntags, einige Tage nach dem Aufbruche Christians und Delaneys, lag Annixter in der Hängematte auf seiner Veranda und las »David Copperfield«. Mit einem Male legte er das Buch aus der Hand und stand auf, um sich zu Hilma zu begeben, die Luise Vacca beim Decken des Mittagstisches half. Sie hatte einen Stoß der weißen goldgeränderten Porzellanteller, die Luise nicht anrühren durfte, in den Händen, als Annixter ins Eßzimmer trat.
Seine Frau war heut hübscher wie je. Sie trug über rosa Satin ein Kleid von geblümtem Musselin mit rosa Bändern am Gürtel und Halsausschnitt; ihre Füße steckten in den von ihr bevorzugten ausgeschnittenen Schuhen mit den zierlichen blanken Schnallen. Der goldigbraune Schimmer der hochgehäuften Massen ihres duftenden Haares wurde durch eine schwarze Samtschleife noch mehr hervorgehoben. Unter den Schatten der schweren Flechten glänzten, das Sonnenlicht zurückstrahlend, ihre großen, von feinen schwarzen Wimpern eingefaßten Augen. Die Ehe hatte die wundervolle, jetzt nicht mehr vorzeitige Reife von Hilmas Gestalt noch mehr zur Geltung gebracht; in herrlicher Rundung wölbte sich die Linie vom Halse bis zum Gürtel und die holde, weibliche Kurve von Hals und Schultern. Das Rot der Gesundheit blühte auf ihren Wangen, und die kräftigen runden Arme trugen leicht und ohne zu zittern die Last der hochaufgetürmten Teller. Annixter, der für alles, was seine Frau betraf, ein scharfes Auge hatte, bemerkte, wie das weiße Porzellan einen bernsteinhell schimmernden Widerschein unter ihr Kinn warf.
»Hilma,« sagte er, »mir geht was im Kopf 'rum. Wir selbst sind ja so verdammt glücklich, da dürfen wir aber erst recht die Leute nicht vergessen, die im Elend sind. Meinst du nicht auch? Das könnte uns Unglück bringen. Mir passiert's leicht, daß ich so was vergesse. Es liegt in meiner Natur.«
Freudig blickte Hilma zu ihm auf. Es war eben der neue Annixter, der zu ihr sprach.
»Bei all dem Lärm wegen Dyke,« fuhr er fort, »hat kein Mensch auch nicht im geringsten an jemand gedacht. Das ist nämlich Frau Dyke – und – und das Kleinchen. Es sollt' mich nicht wundern, wenn die da drüben übel dran sind. Was meinst du dazu, wenn wir nach dem Essen nach der Hopfenfarm führen und mal sähen, ob wir nicht was für die beiden tun können?«
Hilma setzte die Teller nieder, ging um den Tisch herum und küßte ihren Mann.
Gleich nach dem Essen ließ Annixter anspannen und fuhr, ohne die Dienste des jungen Vacca in Anspruch zu nehmen, mit Hilma nach der Hopfenfarm.
Die junge Frau konnte die Tränen nicht zurückhalten bei dem jammervollen Anblick, den die verdorrten braunen Ranken, die Sinnbilder begrabener Hoffnungen und als vergeblich aufgegebener Arbeit, boten; Annixter brummte halblaute Flüche.
Obgleich die Räder laut auf dem Kies vor dem Hause knirschten, so erschien doch niemand in der Tür oder am Fenster. Das Haus schien unbewohnt zu sein und machte einen unendlich traurigen und düsteren Eindruck.
Annixter band sein Gespann fest und näherte sich mit Hilma der weit offen stehenden Tür, wobei sich beide durch lautes Austreten und Scharren mit den Füßen auf den Dielen der Veranda bemerklich zu machen suchten. Aber nichts rührte sich. Sonntägliche, lautlose Stille herrschte. Die verdorrten Hopfenblätter draußen raschelten im Luftzug wie hin und her gewehtes Papier. Die Stille schien nichts Gutes zu künden. Suchend blickten die beiden in das Vorderzimmer, wobei Hilma Annixters Hand hielt. Jetzt entdeckten sie Frau Dyke. Die alte Frau saß an dem Tisch in der Mitte des Zimmers; ihren Kopf mit dem weißen Haar hatte sie auf den einen Arm niedergebeugt. Eine Menge unaufgewaschene Teller und Schüsseln standen unordentlich auf dem rot und weiß gemusterten Tischtuch umher. Das unaufgeräumte Zimmer, einst ein Wunder von Nettigkeit, war seit Tagen nicht gesäubert worden. Genslingers Sonderausgaben und eine Menge Zeitungen, darunter auch Nummern der in San Francisco und Los Angeles erscheinenden Blätter, waren überall umhergestreut. Dutzende gelber Telegramme, die zerknittert auf dem Tisch lagen, wehten in dem durch das Oeffnen der Tür verursachten Luftzuge. Und in dieser Unordnung, inmitten der Berichte über das Verbrechen ihres Sohnes und der sie umwirbelnden telegraphischen Antworten auf ihre jammervollen Bitten um Nachricht verschlief die erschöpfte, verlassene und vergessene Mutter des Räubers den stillen Sonntagnachmittag.
Weder Annixter noch Hilma vergaßen je ihren Besuch bei Frau Dyke. Plötzlich erwachend, erblickte die alte Frau Annixter und rief sofort angstvoll:
»Gibt's was Neues?«
Lange war nichts andres aus ihr herauszubringen. Für sie handelte es sich nur darum, ob man ihren Sohn gefangen hatte oder nicht; alles andre war für sie nicht vorhanden. Sie gab keine Antwort auf die Fragen ihrer Besucher und beachtete deren Anerbieten, ihr zu helfen, nicht. Hilma und Annixter besprachen sich, dicht neben ihr stehend und ohne leiser zu reden, miteinander, während sie auf den Fußboden starrte und mit der Beharrlichkeit einer Geistesgestörten mit einer Hand über die andre strich.
Von Zeit zu Zeit schreckte sie, die Augen weit aufreißend und sich plötzlich der Anwesenheit der beiden bewußt werdend, aus ihrem Stuhle auf und rief:
»Gibt's etwas Neues?«
»Wo ist Sidney, Frau Dyke?« fragte Hilma zum vierten Male. »Ist sie wohl? Achtet jemand auf sie?«
»Hier ist das letzte Telegramm,« sagte Frau Dyke mit lauter, eintöniger Stimme. »Er hat es nicht getan,« jammerte sie, den Oberkörper vor- und rückwärts wiegend und mit einer Hand über die andre streichend, »er hat es nicht getan, er hat es nicht getan. Ich weiß nicht, wo er ist.«
Endlich kam sie unter einem Strom von Tränen wieder zu sich. Hilma schlang ihre Arme um die beklagenswerte alte Frau, die, auf den Tisch niedergebeugt, weinte und schluchzte.
»O, mein Sohn, mein Sohn,« wehklagte sie, »mein geliebtes Kind, mein einziger Sohn! Wenn ich hätte für dich sterben können, um das zu verhindern! Ich sehe ihn noch, wie er klein war. Solch ein prächtiger kleiner Kerl, so gut, so zärtlich! Nie hat er einen lieblosen Gedanken gehabt, nie was Unrechtes getan. Wir waren immer zusammen. ›Lieber kleiner Sohn!‹ und ›liebe Mammie!‹ hieß es immer zwischen uns – nie war er unfreundlich, und er hat mich doch so geliebt und war mir der beste Sohn. Und er war ein guter Mann. Er ist es noch, er ist es noch. Die verstehen ihn alle nicht. Sie wissen's nicht mal gewiß, daß er das getan hat. Er hat das nie beabsichtigt. Mein Gott, er hätte keinem Kätzchen wehgetan. Bei jedermann war er beliebt. Er ist dazu getrieben worden. Sie haben's auf ihn abgesehen gehabt, keine Ruhe haben sie ihm gelassen. Er war nicht richtig im Kopf. Sie haben ihn ins Unglück getrieben!« rief sie außer sich. »Geplagt und gequält haben sie ihn, bis er's nicht mehr aushalten konnte, und jetzt wollen sie ihn umbringen, weit er sich wider sie gekehrt hat. Mit Hunden hetzen sie ihn; Nacht auf Nacht Hab' ich draußen auf der Veranda gestanden und die Hunde in der Ferne bellen gehört. Wie einem wildert Tier spüren sie meinem Jungen mit Hunden nach. Möge Gott ihnen das nie verzeihen.« Hoch richtete sie sich auf, schrecklich in ihrem Zorn und mit dem losen weißen Haar. »Möge Gott sie bestrafen, wie sie's verdienen, mögen sie nie Glück haben – auf meinen Knien will ich jede Nacht darum flehen – möge ihr Geld ihnen ein Fluch sein, mögen ihre Söhne, ihre erstgeborenen einzigen Söhne, in ihrer Jugend ihnen genommen werden!«
Aber Hilma wehrte ihr und bat sie, ruhig zu sein und sich zu fassen. Von neuem flössen ihre Tränen, und erstickende Seufzer entrangen sich ihrer Brust. Hilma schloß sie in die Arme.
»O, mein kleiner Junge, mein kleiner Junge!« jammerte die alte Frau. »Mein einziger Sohn, mein alles, was ich auf der Welt hatte, muß ein solches Ende nehmen! Er war nicht richtig im Kopf; er würde sonst gewußt haben, daß mir das mein Herz bräche. O, mein Sohn, mein Sohn, hält' ich doch für dich sterben können!«
Sidney kam jetzt herein. Unter heißen Tränen klammerte sie sich an ihr Kleid und flehte die Großmutter an, nicht mehr zu meinen. Sie versicherte, daß die bösen Leute niemals ihren Papa fangen könnten und daß er bald zurückkommen würde. Hilma schloß beide, das kleine Mädchen und die gebrochene, alte Frau, liebevoll in ihre jugendstarken Arme, und alle drei schluchzten zusammen.
Annixter stand, der Gruppe den Rücken zuwendend, draußen auf der Veranda; mit zusammengebissenen Zähnen und grimmig vorgeschobener Unterlippe starrte er in die Wildnis der verdorrten Hopfenranken.
»Ich hoffe, S. Behrman ist mit alledem zufrieden,« murmelte er. »Ich hoffe, er ist jetzt zufrieden – Gott verdamm' seine Seele.«
Mit einem Male kam ihm ein Gedanke. Er wandte sich um und trat wieder ins Zimmer.
»Frau Dyke,« begann er, »ich möchte, daß Sie und Sidney zu uns nach Quien Sabe kommen. Ich weiß – Sie können mir nichts vormachen –, daß die Reporter und die Gerichtsbeamten und all das aufdringliche Pack, das so tut, als ob es Ihnen helfen möchte, und dabei nur seine Neugierde befriedigen will, Sie zu Tode quälen. Ich möchte Sie und das Kleinchen in Obacht nehmen, bis Ihre Ungelegenheiten vorüber sind. Für Sie ist massenhaft Platz da. Sie können das Haus haben, in dem die Eltern meiner Frau gewohnt haben. Sie müssen den Dingen ins Gesicht sehen. Was wollen Sie denn tun, um sich durchzubringen? Das Geld muß Ihnen schon sehr knapp geworden sein. S. Behrman wird sehr bald auf Farm und Haus Beschlag legen. Ich möchte, daß ich Ihnen helfen darf und daß Hilma und ich Ihre guten Freunde sein dürfen. Als einen Vorzug würd' ich's betrachten.«
Frau Dyke versuchte tapfer, sich hinter ihren Stolz zu verschanzen, und versicherte beharrlich, daß sie mit dem Ihrigen auskommen könne. Aber bald fühlte sie ihren Mut versagen, und die Angelegenheit endete damit, daß Annixter und Hilma Dykes Mutter und sein Töchterchen in ihrem Wagen nach Quien Sabe brachten.
Frau Dyke hatte nicht das kleinste Stück Hausrat oder Zimmerschmuck mitnehmen wollen. Das würde sie nur an entschwundenes Glück erinnert haben. Mit Hilmas Hilfe hatte sie einige Kleidungsstücke für sich und Sidney in einen kleinen Koffer gepackt, den Annixter unter den Rücksitz stellte. Frau Dyke schloß die Haustür ab und ließ sich dann von Annixter auf den Sitz neben seiner Frau helfen. Zwischen den welken, verdorrten Hopfenranken fuhren sie Quien Sabe zu. An der Wegebiegung wandte sich die alte Frau um und warf einen letzten Blick auf die verwüstete Farm. Das Dach des Hauses ragte gerade noch über die Bäume; sie sollte es nie wieder sehen.
Nachdem Frau Dyke und Sidney in dem früheren Hause der Trees untergebracht und die Gatten wieder allein waren, schlang Hilma ihre Arme um Annixters Hals.
»O Schatz,« rief sie, »es war schön von dir, daß du an sie gedacht hast und so gut zu ihnen bist. Mein Mann ist so ein guter Mensch. So selbstlos, 's ist noch nicht lange her, da wär' dir's nicht eingefallen, so lieb gegen Frau Dyke und Sidney zu sein. Du würdest gar nicht an sie gedacht haben. Aber jetzt hast du an sie gedacht, und zwar deshalb, weil du mich wahrhaft liebst – ist's nicht so? Nicht wahr? Und weil du dadurch ein besserer Mensch geworden bist. Ich bin so stolz und froh, wenn ich daran denke. So ist's doch, ist's nicht so? Nur weil du mich wahrhaft liebst.«
»So ist's, Hilma,« antwortete er ihr.
Als die beiden sich zu der ihrer wartenden Abendmahlzeit niedersetzen wollten, erschien Luise Vacca in der Tür des Speisezimmers und meldete, daß Harran Derrick von Los Muertos aus an Annixter telephoniert und hinterlassen hätte, Annixter möchte, sobald er zurückkäme, Los Muertos anrufen.
»Er sagte, es wäre wichtig,« fügte Luise Vacca hinzu.
»Vielleicht ist Nachricht aus Washington gekommen,« meinte Hilma.
Annixter wartete nicht, bis er gegessen hatte, sondern telefonierte sofort nach Los Muertos. Magnus antwortete selbst. Er teilte Annixter mit, daß für den nächsten Tag eine außerordentliche Sitzung des geschäftsführenden Ausschusses der Liga anberaumt worden sei. Es handelte sich um die von der Eisenbahnkommission neu aufgestellten Frachtsätze für Getreide. Lyman hatte geschrieben, daß er den eben herausgebrachten Tarif nicht völlig in Uebereinstimmung mit den Wünschen der Weizenproduzenten hätte aufstellen können und daher nach Los Muertos zu kommen beabsichtigte, um scheinbare Widersprüche aufzuklären. Magnus sagte noch, Lyman würde der Sitzung beiwohnen.
Annixter hätte gern Ausführlicheres erfahren; er unterließ es aber, danach zu fragen. Die Verbindung zwischen Los Muertos und Quien Sabe wurde durch das Bonneviller Amt hergestellt, und in diesen unruhigen Zeiten mußte man gegen jedermann auf der Hut sein. Man konnte nicht wissen, wer das Gespräch belauschte. Und so beschränkte sich Annixter darauf, zu antworten, daß er sicher kommen würde. Mit Rücksicht auf Lyman, der geschrieben hatte, daß er mit dem Abendzuge eintreffen würde, aber dringender Geschäfte wegen zeitig am andern Morgen nach San Francisco zurückkehren müßte, war die Sitzung auf sieben Uhr abends anberaumt worden.
Die Ausschußmitglieder hatten sich zur festgesetzten Zeit im Speisezimmer von Los Muertos versammelt. Die Art der Veranstaltung erinnerte lebhaft an jenen bedeutsamen Abend, an dem Osterman den Plan zur Wahl einer den Ranchbesitzern günstig gesinnten Eisenbahnkommission entwickelt hatte. Magnus Derrick saß in seinem zweireihigen zugeknöpften Rock an dem Ehrenplatze. Whiskyflaschen und Siphons mit Sodawasser standen für jeden bequem erreichbar auf dem Tisch. Presley, der schon lange als Vertrauter jedes einzelnen Ausschußmitgliedes betrachtet wurde, lehnte wie damals Zigaretten rauchend und Natalie, die Katze, auf seinen Knien, in der Sofaecke. Außer Magnus und Annixter waren Osterman, Broderson und Harran erschienen; ferner hatten sich Garnet von der Ruby- und Gethings von der San Pablo-Ranch eingefunden – ebenfalls Ausschußmitglieder – bedächtige, bärtige Männer, die schwarze Zigarren rauchten, und schließlich noch Dabney, der schweigsame Alte, von dem man nicht viel mehr als seinen Namen wußte, und der – niemand konnte sagen weshalb – auch in den Ausschuß gewählt worden war.
»Meine Herren, mein Sohn Lyman wird in spätestens zehn Minuten hier sein,« erklärte Magnus, als er die Sitzung eröffnete. »Ich habe ihm den Wagen nach Bonneville geschickt. Der Schriftführer wird die Namen aufrufen.«
Osterman tat wie ihm geheißen und verlas, um die Zeit auszufüllen, außerdem noch den letzten Sitzungsbericht. Als dann der Schatzmeister Rechnung über die Gelder der Liga ablegte, erschien Lyman.
Magnus und Harran gingen ihm entgegen; die andern standen etwas verlegen auf und blieben stehen. Während die drei sich begrüßten, musterten die Ausschußmitglieder, von denen einige Lyman noch nie gesehen hatten, mit prüfenden Blicken ihren Kommissar.
Lyman war wie immer aufs sorgfältigste gekleidet. Er trug eine Krawatte nach der neuesten Mode, und sein Anzug war von tadellosem Zuschnitt und Sitz. Das Licht der Lampen spiegelte sich in den glänzenden Lackschuhen. Einen gelblichgrauen Ueberzieher trug er zusammengelegt über dem Arme. Ehe er noch dem Ausschuß vorgestellt wurde, entschuldigte er sich auf einen Augenblick und eilte, seine Mutter zu begrüßen die im Wohnzimmer nebenan auf ihn wartete. Sehr bald kam er wieder zurück und entschuldigte sich nochmals wegen der Verzögerung.
Er war die Freundlichkeit selber; seine hervorstehenden Augen, die dem dunkeln Gesicht ein so außergewöhnliches, fremdartiges Aussehen gaben, strahlten in liebenswürdigem Frohsinn. Er war offenbar bestrebt, zu gefallen und auf die ernsten, schwerfälligen Farmer, vor denen er stand, einen guten Eindruck zu machen. Presley jedoch, der ihn von seinem Sofaplatz aus beobachtete, hatte die Empfindung, daß Lyman ziemlich nervös war. Seine gewinnende Freundlichkeit hatte etwas Fahriges, und die drehende Handbewegung, mittels deren Lyman seine Manschetten zur Geltung zu bringen suchte, sowie das Aufwärtsstreichen des kurzen dichten Schnurrbarts mit dem Daumenballen erfolgte heute häufiger als je.
»Herr Broderson, mein Sohn Lyman, mein Aeltester. Herr Annixter, mein Sohn Lyman.« Der auf Lymans gutes Aussehen, seine sorgfältige Kleidung und die Gewandtheit seines Benehmens stolze Governor stellte seinen Sohn den Ranchbesitzern vor. Lyman beglückwünschte den ihm bereits bekannten Osterman zu seinem Organisationstalent, und dem alten Broderson brachte er einen gemeinsamen Bekannten in Erinnerung. Endlich aber nahm er seinem Bruder gegenüber am Ende des Tisches Platz. Jetzt trat Ruhe ein.
Magnus erhob sich, um die Gründe für die heutige außerordentliche Sitzung noch einmal anzuführen. Er stellte von neuem fest, daß die Eisenbahnkommission, die ins Amt zu bringen den Ranchbesitzern geglückt war, endlich den neuen, herabgesetzten Frachttarif herausgebracht hatte und daß Herr Derrick die Liebenswürdigkeit gehabt hatte, nach Los Muertos zu kommen, um in eigner Person den Weizenproduzenten des San Joaquin die neuen Sätze für die Verfrachtung ihres Getreides bekanntzugeben.
Lyman aber verwahrte sich sehr höflich dagegen, wobei er seinen Vater in peinlicher Beobachtung der Form mit »Herr Vorsitzender« und die andern Ranchbesitzer als »die Herren vom geschäftsführenden Ausschuß der Liga« anredete. Er hätte durchaus nicht den Wunsch, sagte er, störend in die Tagesordnung der Versammlung einzugreifen. Wäre es nicht vorzuziehen, wenn er seinen Bericht erst nach der vom Vorsitzenden gestellten Frage, ob neue Geschäfte vorlägen, zur Verlesung brächte? Der Ausschuß mochte sich also nicht stören lassen und vorerst das heut zu Erledigende aufarbeiten. Er begriffe vollkommen »die delikate Natur der sekret zu behandelnden Materie« und würde sich selbstverständlich gern zurückziehen, bis für ihn die Zeit gekommen wäre, zu sprechen.
»Was macht der für Umstände wegen des Ablesens von 'ner Reihe Zahlen,« brummte Annixter dem neben ihm Sitzenden zu.
Lyman »erwartete die Entscheidung des Ausschusses«. Er setzte sich und tupfte die Spitzen seines Schnurrbarts.
»O, wirf den Ball,« knurrte Annixter.
Gethings erhob sich und sagte, daß die Versammlung lediglich zu dem Zweck einberufen worden wäre, um von dem neuen Getreidetarif Kenntnis zu nehmen und darüber zu beraten. Er beantrage daher, von der Erledigung der laufenden Geschäfte abzusehen und den neuen Tarif sofort verlesen zu lassen. Die Versammlung stimmte seinem Antrage zu.
Lyman stand auf und hielt eine lange Rede. Er sprach mit derselben Geläufigkeit wie Osterman, verfügte aber außerdem noch über eine Menge gebrauchsfertiger Phrasen, die, dem reichen Wortvorrat des politischen Redners und dem marktgängigen Warenbestand des kaufmännischen Anwalts entnommen, in überzeugendster Beredsamkeit über seine Zunge rollten. Im Verlauf seiner Ausführungen gab er nach und nach zu verstehen, die Weizenbauern hätten niemals erwartet, daß ihre Beschwerden gegen die Bahn während der Amtszeit nur einer Kommission behoben werden würden. Sie hätten vielmehr auf einen lange Jahre dauernden Feldzug gerechnet, während dessen eine ganze Reihe von Eisenbahnkommissionen einander ablösen mußten, bis es gelingen würde, den erwünschten niedrigen Tarif zu erlangen. Sie wären sich darüber im klaren gewesen, daß die zurzeit im Amt Befindliche Kommission nur den Anfang machen und daß man allzu große Ergebnisse nicht von ihr erwarten könnte. Er brachte es fertig, alles das so ganz obenhin und gelegentlich zu bemerken, als ob es auf einer vorgefaßten Meinung beruhte und von allen in der von ihm geschilderten Weise aufgefaßt worden wäre.
Während er in dieser Weise weiterredete, richteten sich die Augen der Ranchbesitzer mit stets wachsender Aufmerksamkeit auf diesen feingekleideten, großstädtischen jungen Mann, der so fließend sprach und sie über ihre eignen Absichten aufklärte. Ein Gefühl der Beunruhigung begann aufzukommen, und ein leiser Verdacht fing an, sich in ihnen zu regen.
»Aber es ist ein vielversprechender Anfang gemacht worden,« fuhr Lyman fort. »Derartige durchgreifende Reformen wie die angestrebten können nicht über Nacht zu Ende geführt werden. Großes wächst langsam; ein Gewinn, der dauernd sein soll, stellt nur allmählich sich ein. Aber trotz alledem hat die Kommission viel für Sie erreicht. Schon ist die Phalanx des Feindes durchbrochen, schon sein Bollwerk erschüttert. Wir, die von Ihnen eingesetzte Kommission, die wir uns zu einem im Durchschnitt zehn Prozent betragenden Abstrich in dem Getreidefrachttarif der Pacific- und Südwest-Eisenbahn verpflichteten, haben unentwegt an den Forderungen unsrer Wählerschaft festgehalten; wir haben dem Willen des Volkes gehorcht. Die Lösung des Hauptproblems ist noch nicht vollständig geglückt; sie bleibt einer späteren Zeit vorbehalten, wenn wir unsre ganze Kraft gesammelt haben werden, um den Feind in seiner Feste anzugreifen. Es ist aber im ganzen Staate ein durchschnittlicher Abstrich von zehn Prozent gemacht worden. Wir haben einen großen Erfolg errungen, wir haben einen großen Schritt vorwärts getan, und wenn in den von den gegenwärtigen Kommissaren und ihren Wählern eingeschlagenen Bahnen weiter fortgeschritten wird, so sind wir vollauf zu dem Glauben berechtigt, daß innerhalb weniger Jahre ein angemessener und den Verhältnissen Rechnung tragender Tarif für die Verfrachtung von Weizen aus dem San Joaquin-Tale nach Stockton, Port Costa und den Seehäfen dauernd festgesetzt wird.«
»Na, warten Sie mal,« rief Annixter, die Geschäftsordnung und den Mahnruf des Governors nicht beachtend, »hat die Kommission denn nicht die Getreidefracht im San Joaquin-Tale herabgesetzt?«
»Wir haben die Getreidefrachten um zehn Prozent im ganzen Staat herabgesetzt,« erwiderte Lyman, »hier ist der neue Tarif.«
Er zog eine Anzahl Listen aus seiner Reisetasche hervor und verteilte sie.
»Sehen Sie,« bemerkte er, »die Fracht zwischen Mayfield und Oakland zum Beispiel ist um fünfundzwanzig Cent pro Tonne herabgesetzt worden.«
»Ja – aber – aber –sagte der alte Broderson, »es ist ziemlich ungewöhnlich, nicht wahr, daß in der Gegend Weizen nach Oakland geschickt wird?«
»Oho, sehen Sie mal her!« rief Annixter von seiner Liste aufblickend, »wo ist denn ein Frachtabstrich im San Joaquin – von Bonneville und Guadalajara aus zum Beispiel? Ich kann nicht sehen, daß Sie da überhaupt 'ne Reduktion gemacht haben! Stimmt das? Haben Sie mir die richtige Liste gegeben?«
»Alle Orte im Staat konnten natürlich nicht auf einmal miteinbezogen werden,« entgegnete Lyman. »Sie müssen wissen, wir erwarteten gar nicht, daß wir die Frachten im San Joaquin gleich auf den ersten Anhieb würden herabsetzen können. Aber, wie Sie sehen, wir haben ganz bedeutende Reduktionen für Verladungen aus dem oberen Sacramento-Tal gemacht; auch ist der Frachtsatz von Jone nach Marysville um achtzig Cent die Tonne heruntergedrückt worden.«
»Ach was, Blech,« rief Annixter, »kein Mensch verschickt von dort Weizen.«
»Die Salinas-Rate,« fuhr Lyman fort, »ist um fünfundsiebzig Cent erniedrigt worden, die von Helena um fünfzig Cent und, bitte, wollen Sie den sehr bedeutenden Abstrich von Red Bluff im Norden an der Oregon-Bahn bis zur Oregon-Staatslinie bemerken.«
»Wo das ganze Jahr nicht eine Waggonladung Weizen versandt wird,« warf Gethings von San Pablo ein.
»Ob Sie sich da vielleicht nicht irren, Herr Gethings?« entgegnete Lyman in verbindlichem Tone. »Und dann dürfte ein niedriger Frachtsatz wohl auch dem Anbau von Weizen in dieser Gegend förderlich sein.«
Die Sitzung wurde nicht mehr ordnungsmäßig weitergeführt, und die Beobachtung der parlamentarischen Regeln hörte auf. Magnus gab sich nicht einmal den Anschein, als ob er den Vorsitz führte. In der wachsenden Aufregung über die unerklärliche Liste dachte niemand mehr an die Geschäftsordnung, und jeder sprach nach Belieben.
»Aber Lyman,« fragte Magnus, über den Tisch weg seinen Sohn anblickend, »ist denn das die richtige Liste? Die Frachten im San Joaquin sind ja gar nicht herabgesetzt worden. Wir – die Herren hier und ich – wir sind um nichts besser dran wie damals, als wir deine Wahl zum Kommissar durchsetzten.«
»Wir hatten uns verpflichtet, einen durchschnittlichen Abstrich von zehn Prozent zu machen –«
»Es ist ein durchschnittlicher Abstrich von zehn Prozent,« brach jetzt Osterman los. »O ja, das sehen wir! Mit dem durchschnittlichen Abstrich von zehn Prozent hat es seine volle Richtigkeit; Sie haben ihn aber dadurch zuwege gebracht, daß Sie Getreidefrachten zwischen Punkten herabgesetzt haben, die tatsächlich kein Getreide versenden. Wir, die Weizenproduzenten im San Joaquin-Tale, wo all der Weizen gebaut wird, sind genau so weit wie zuvor. Die Eisenbahn verliert nicht einen Nickel. Wahrhaftig,« schloß er, um den Tisch blickend, »ich möchte wohl wissen, was das zu bedeuten hat.«
»Da Sie von der Eisenbahn sprechen,« entgegnete Lyman, »so kann ich Ihnen mitteilen, daß sie bereits Protest gegen die neuen Frachtsätze eingelegt hat.«
Annixter hatte einen Ausruf des Spottes für diese Erklärung.
»Einen Protest! Das ist wirklich gut. Wenn die P. und S. W. was gegen Frachtsätze einzuwenden hat, dann ›protestiert‹ sie nicht, mein Sohn. Das erste, was Shelgrim von sich hören läßt, ist ein gerichtliches Verbot, wodurch das Inkrafttreten des neuen Tarifs verhindert wird. Bei Gott,« rief er zornig und sprang von seinem Sitze auf, »ich möchte auch wissen, was das bedeutet. Warum haben Sie unsre Getreidefrachten nicht heruntergesetzt? Wozu haben wir Sie gewählt?«
»Jawohl, wozu haben wir Sie gewählt?« wiederholten Osterman und Gethings, die sich auch erhoben hatten.
»Ruhe, Ruhe, meine Herren,« rief Magnus, der sich jetzt der Pflichten seines Amtes erinnerte, und klopfte mit den Knöcheln auf die Tischplatte. »Die Versammlung hat sich bereits zu weit gehen lassen.«
»Sie haben uns gewählt,« erklärte Lyman hartnäckig, »damit wir die Getreidefrachten um zehn Prozent im Durchschnitt herabsetzten. Das haben wir getan. Nur weil Sie nicht sofort Ihren Vorteil davon haben, machen Sie Einwendungen. Mir scheint, es macht einen Unterschied, wessen Ochse geschlachtet wird.«
Magnus hatte gerufen. Volle sechs Fuß hoch stand er aufrecht da. Seine Augen schössen Blitze in die des Sohnes. Streng und fremd klang seine Stimme.
»Lyman, was bedeutet das?«
Der breitete die Hände aus.
»Wir haben unser Bestes getan. Ich warnte von vornherein davor, zu viel zu erwarten. Ich sagte gleich, daß die Transportfrage sehr schwierig ist. Man kann nicht verlangen, die Frachten derartig herabzusetzen, daß die dadurch hervorgerufene Wirkung einer Einziehung des Besitzes der Bahngesellschaft gleichkommt.«
»Warum habt ihr die Fracht im San Joaquin-Tale nicht herabgesetzt?«
»Darum handelte es sich in erster Linie nicht,« antwortete Lyman mit genauer Betonung der einzelnen Worte. »Natürlich weiß ich, daß mit der Zeit dieser Angelegenheit nähergetreten werden sollte. Die Hauptsache war eine Reduktion von durchschnittlich zehn Prozent. Die Frachten werden auch im San Joaquin-Tale herabgesetzt werden. Die Ranchbesitzer werden dann in der Lage sein, ihren Weizen für einen den Verhältnissen Rechnung tragenden Frachtpreis nach Port Costa zu senden; eine so radikale Maßregel kann aber nicht im Handumdrehen durchgeführt werden. Die einschlägigen Verhältnisse zu studieren – –«
»Sie wußten aber, daß es sich in erster Linie um den San Joaquin-Frachtsatz handelte,« schrie Annixter und schüttelte drohend seinen Zeigefinger. »Was gehen uns hier, die wir Ihre Wahl gemacht haben, die Frachtsätze oben in Del Norte und Siskiyou County an? Nicht 'n Hallo in der Hölle! Um die San Joaquin-Fracht haben wir gekämpft, und wir haben Sie gewählt, damit Sie sie 'runtersetzen sollten. Das haben Sie nicht getan und wollen es auch gar nicht tun, und ich, zum Teufel noch mal, will hören, weshalb!«
»Sie müssen wissen, Herr –,« begann Lyman.
»Ja, ich will Ihnen sagen weshalb!« zeterte Ostermann. »Ich will Ihnen sagen weshalb. Weil wir verkauft und betrogen worden sind. Weil die P. und S. W. ihren Löffel in der Suppe gehabt hat. Weil unsre Kommissare uns betrogen haben. Weil wir 'ne verdammte, dumme Farmerbande sind, da hat man uns den Sattelgurt wieder mal fester gezogen.«
Lymans dunkles Gesicht wurde aschfahl bei diesem gegen seine Person gerichteten Angriff. Offenbar hatte er ihn noch nicht erwartet. Während eines Augenblicks kam er aus seinem Gleichgewicht; er versuchte zu sprechen, vermochte aber nur mit stockendem Atem zu stammeln.
»Was hast du darauf zu sagen?« rief Harran, der bis dahin kein Wort geredet hatte.
»Darauf hab' ich zu sagen,« antwortete Lyman, der sich zu sammeln suchte, »daß es nicht angeht, in der hier beliebten Art und Weise Geschäfte zu besprechen. Die Kommission ist ihren Verpflichtungen nachgekommen. Sie hat die Frachten nach bestem Vermögen auszugleichen gesucht. Zwei volle Monate haben wir gearbeitet, um diese Liste hier aufzustellen –«
»Das ist 'ne Lüge,« schrie Annixter mit purpurrotem Gesicht, »das ist 'ne Lüge. Die Liste ist in der Office der Pacific- und Südwestbahn zusammengestellt worden, und das wissen Sie. Der Tarif ist für die Bahn und von der Bahn gemacht, und Sie sind dafür bezahlt worden, daß Sie Ihren Namen daruntergesetzt haben.«
Nach diesen Worten brach ein allgemeiner Aufruhr los. Alle waren aufgesprungen und schrien mit wilden Gebärden durcheinander.
»Meine Herren, meine Herren,« rief Magnus, »sind wir Schulbuben, sind wir Straßenrowdys?«
»Wir sind 'ne dumme Farmerbande und beschwindelt sind wir,« schrie Osterman.
»Was hast du zu sagen, was hast du zu sagen?« drang Harran immer wieder in den Bruder und beugte sich über den Tisch nach ihm hin.
»Sie haben das mißverstanden,« verwahrte sich Lyman bleich und zitternd. »Sie haben das mißverstanden. Sie haben zu viel erwartet. Nächstes Jahr – nächstes Jahr, bald, möglichst bald wird die Kommission von neuem – die Kommission wird den San Joaquin-Frachtsatz erwägen. Wir haben unser Bestes getan, mehr kann ich nicht sagen.«
»Hast du das getan?« fragte Magnus.
Dem Governor schwirrte der Kopf. Ein Gefühl, das fast einer Ohnmacht gleichkam, bemächtigte sich seiner. War es denn möglich? War es denn möglich?
»Hast du dein Bestes getan?« Eine Sekunde lang zwang er Lymans Auge in seinen Bann. Die Blicke von Vater und Sohn trafen sich; Lymans Auge aber vermochte, so sehr er sich auch mühte, dem des Vaters nicht standzuhalten. Er begann sich von neuem zu verwahren und die Sache wieder von Anfang an auseinanderzusetzen. Aber Magnus hörte nicht mehr auf ihn. Jene Sekunde hatte genügt, um ihn davon zu überzeugen, daß das Schreckliche, das Unglaubliche geschehen war. Er fühlte es in der Luft. Zwischen Vater und Sohn stand plötzlich die unverhüllte Wahrheit, die hier das stumme Eingeständnis einer Lüge war. Aber selbst jetzt wehrte sich Magnus noch dagegen. Lyman sollte das getan haben! Sein Sohn, sein ältester Sohn hätte sich dazu hergegeben! Noch einmal, zum letzten Male wandte er sich an ihn; in seiner Stimme war ein Ton, der sich Stille erzwang.
»Lyman,« sagte er, »ich beschwöre dich – ich – ich fordere dich auf als meinen Sohn und ehrenhaften Mann, erkläre dich deutlicher! Was steckt hinter alledem? Ich spreche nicht länger als Vorsitzender des Ausschusses zu dem Mitgliede der Eisenbahnkommission. Dein Vater spricht zu dir – ich wende mich an meinen Sohn. Erkennst du den Ernst der Krisis? Bist du dir klar über die Verantwortlichkeit deiner Stellung? Verstehst du denn nicht die Bedeutung dieses Augenblickes? So erkläre dich doch!«
»Es ist nichts weiter zu erklären.«
»Du hast die Frachten im San Joaquin nicht herabgesetzt? Du hast die Frachten zwischen Bonneville und der See nicht herabgesetzt?«
»Ich wiederhole, was ich bereits gesagt habe. Eine Reduktion von zehn Prozent im Durchschnitt – –«
»Lyman, antworte mir, ja oder nein. Hast du die Bonneviller Fracht herabgesetzt?«
»Das war nicht so schnell zu machen. Gib uns Zeit. Wir – –«
»Ja oder nein! Bei Gott, wagst du meine Worte zu verdrehen? Ja oder nein, hast du die Bonneviller Fracht herabgesetzt?«
»Nein.«
»Und antworte mir,« schrie Harran, sich weit über den Tisch beugend, »antworte mir! Bist du von der Bahn dafür bezahlt worden, daß du die San Joacquin-Frachten nicht angerührt hast?«
Lyman, bleicher als je, brüllte wütend seinen Bruder an.
»Wage nicht noch einmal diese Frage an mich zu richten!«
»Nein, das will ich gar nicht,« schrie Harran. »Denn ich sage dir's in dein Schurkengesicht, daß du bezahlt worden bist.«
Sofort brach der Lärm von neuem los. Die Ranchbesitzer hatten sich allmählich um den Tisch herum gedrängt; der Governor allein war auf seinem Platz geblieben. Die erbitterten Männer umstanden Lyman in einer dichten Gruppe, drängten ihn an die Wand und schrien von allen Seiten mit drohenden Gebärden in sein Gesicht. Die Wahrheit, in diesem Falle das stumme Eingeständnis einer Lüge, die Gewißheit, daß Lyman ihr Vertrauen schmählich getäuscht und sein ihnen gegebenes Versprechen gebrochen hatte, stand für jeden unumstößlich fest.
»Bei Gott! Männer sind schon für weniger als das erschossen worden,« schrie Osterman. »Verkauft haben Sie uns, und wenn Sie sich unterstehen, mir mit Ihrem Dago-Gesicht Dago, vermutlich aus Diego korrumpiert. Verächtliche Bezeichnung für Spanier, Portugiesen und Mexikaner. Hier als Anspielung auf die dunkle Hautfarbe Lymans gebraucht. je wieder unter die Augen zu kommen, so setzt's Ohrfeigen!«
»Rühren Sie mich nicht an,« rief Lyman, in dem die verzweifelte Wut der in die Enge getriebenen Ratte aufflammte. »Keine Gewalttätigkeiten! Gehen Sie nicht zu weit!«
»Was hat man dir gezahlt? Was hat man dir gezahlt?« schrie Harran.
»Ja, ja, was war Ihr Preis?« brüllten die andern. Sie waren außer sich vor Wut und bedrohten ihn, Verwünschungen ausstoßend, mit den geballten Fäusten.
»Sie wissen, daß die Kommission in gutem Glauben gehandelt hat,« zeterte Lyman. »Sie wissen, daß alles nach Recht und Billigkeit zugegangen ist.«
»Lügner,« schrie Annixter, »Lügner, bestochener Schuft! Gekauft und bezahlt bist du worden!« Sein Arm schien bei diesen Worten förmlich aus der Schulter zu fliegen. Der mit voller Kraft geführte Schlag traf Lyman mitten ins Gesicht und ließ ihn rückwärts nach der Wand taumeln. Dabei stolperte er über seine Reisetasche und fiel mit dem Rücken gegen die geschlossene Tür. Magnus sprang auf. Sein Sohn war geschlagen worden. Einen Augenblick empörte sich in ihm das Gefühl des Vaters – aber einen Augenblick nur; dann erstarb es in seinem Herzen auf immer. Er hielt die sich auf seine Lippen drängenden Worte zurück und ließ den zur Abwehr erhobenen Arm sinken. Nein, er hatte nur einen Sohn. Diese erbärmliche, taumelnde Kreatur mit den seinen Kleidern, dem fahlen Gesicht und den blutigen Lippen gehörte ihm nicht länger an. Ein Schlag ins Gesicht konnte diesen Menschen nicht mehr entehren, als er selbst sich schon entehrt hatte.
Der alte Gethings aber sprang dazwischen und zog Annixter zurück.
»Halt! Das geht nicht. Nicht vor seinem Vater.«
»Ich bin nicht der Vater dieses Menschen, meine Herren,« rief Magnus. »Von nun an habe ich nur einen Sohn. Und Sie, Herr, verlassen Sie mein Haus!«
Lyman, das Taschentuch vor den Lippen und der in Unordnung geratenen modischen Krawatte, raffte Hut und Ueberrock zusammen und riß die Tür auf. Er zitterte vor Wut, und seine hervorstehenden Augen waren blutunterlaufen.
»Rowdys,« rief er, auf der Schwelle stehend, »Rowdys, Gesindel! Ihr könnt eure schmutzigen Geschäfte jetzt selbst besorgen. Ich bin fertig mit euch. Wie kommt ihr auf einmal dazu, von Ehre zu reden? Was tut ihr auf einmal so offen und ehrlich? In Sacramento vor den Wahlen habt ihr's nicht so genau damit genommen. Wie wurde denn die Kommission gewählt? Ein bestochener Schuft bin ich? Ist das denn schlimmer, als selber Bestechung zu üben? Fragt Magnus Derrick, wie er darüber denkt. Fragt ihn nur, wieviel er den demokratischen Cliquenführern gezahlt hat, damit sie die Wähler 'rumkriegten.«
Er ging und warf schallend die Tür ins Schloß.
Auch Presley ging hinaus. Der ganze Vorgang ekelte ihn an; er fühlte sich unendlich niedergeschlagen und abgespannt und wollte allein sein. Das Speisezimmer und die aufgeregten lärmenden Männer hinter sich lassend, trat er hinaus auf die Veranda. Von Lyman war nirgends etwas zu sehen. Presley war allein. Nach der von den Lampen erhitzten Lust, nach dem Lärmen und Toben da drinnen tat ihm die Kühle der Nacht und ihre Stille wohl, die wie himmlischer Segen von den Sternen herabfloß. Er trat am den Rand der Veranda und blickte hinaus gen Süden.
Und dort, Meile auf Meile, von Horizont zu Horizont breitete sich vor ihm die schon hoch emporgeschossene Saat, ein im Licht des Mondes und der Sterne bleichgrün schimmernder unbewegter Ozean. Unaufhaltsam wuchs dort unter dem Dome der Nacht macht- und kraftvoll der Weizen, das Mark der Völker, der Lebensspender der Welt. Vor diesem Anblick schien Presley die Szene in dem Zimmer, das er eben verlassen hatte, zu kläglicher Bedeutungslosigkeit einzuschrumpfen. Ah, gewiß, der Weizen – seinetwegen rauften sich ja die Ranchbesitzer, die Bahn, der feile Verräter und alle die andern, die sich hüben und drüben zu kleinlichen Verschwörungen zusammengetan hatten. Als ob Menschenkraft diese riesige Macht beeinflussen könnte! Was waren diese hitzigen und doch so nichtigen Balgereien, dieses fieberhafte nutzlose Hasten der Sterblichen, dieses nur Augenblicke währende Schwärmen des menschlichen Insektes im Vergleich zu dem ungeheuern, majestätischen, ruhevollen Ozean des Weizens? Die Menschen, Liliputaner, Mücken im Sonnenschein, umschwirrten keck einander in ihren kleinlichen Kämpfen. Sie wurden geboren, lebten ihren kurzen Tag, starben und wurden vergessen, während der Weizen, eingehüllt in die tiefe Ruhe des Nirwana, stetig wuchs unter dem Dome der Nacht, allein mit den Sternen und mit Gott.