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Die Vorsehung, wie Talvanne sagte, der Zufall, wie Rameau entgegnete, schickte sich an, die mit so großer Zähigkeit festgehaltene Lebensweise des Gelehrten gründlich umzugestalten. Eines Tages stellte sich während der Sprechstunde eine Person von etwa vierzig Jahren, dem Anzug nach Dienerin in einem Haus des Mittelstandes, mit einem gestrickten schwarzwollenen Tuch auf dem Kopf und einem triefend nassen Regenschirm in der Hand, bei Rameau ein. Sein Diener, der schwarz befrackt mit weißer Halsbinde ganz wie ein Notar in feierlicher Amtstracht aussah, empfand eine mitleidige Regung und öffnete, indem er der Hilfesuchenden eine Nummer in die Hand gab, die Thür eines Gemaches, in dem etwa fünfzehn Personen geduldig und schweigend warteten. Die Frau that einen Blick hinein, stieß einen leisen Schrei aus und trat von der Schwelle zurück.
»Wenn Sie sich vor dem zu langen Warten fürchten,« sagte der feierliche Diener, indem er die Thür geräuschlos wieder zuzog, »so kommen Sie lieber morgen wieder, aber dann am besten zwei Stunden früher . . .«
»Morgen!« rief die Frau mit einer Verzweiflungsmiene, indem sie verzagend die Hände rang. »Ach, heute abend kann es ja schon zu spät sein! . . . Jetzt, auf der Stelle, muß ich den Herrn Doktor sprechen . . .«
»Das ist einfach unmöglich!«
»Dann muß meine arme Frau also ohne Hilfe sterben? Mein Gott, mein Gott! Was wird das Fräulein sagen!«
Sie mußte sich setzen, denn die Kniee zitterten ihr, und den Kopf tief herabgebeugt, brach sie in ein leidenschaftliches Schluchzen aus; Thräne um Thräne fiel auf ihre Schürze herab, und ihre Umgebung offenbar vollständig vergessend, ließ sie ihrem Schmerz freien Lauf.
»Ja, aber beste Frau,« wagte der Diener, welcher sich trotz der Gewöhnung, menschliches Elend Tag für Tag ungerührt an sich vorübergehen zu lassen, etwas beunruhigt fühlte.
Der Ton einer Klingel schnitt ihm das Wort ab, und ohne sich weiter um die Verzweifelnde zu bekümmern, machte er eine Thür auf und hielt sich bereit, einen das Sprechzimmer verlassenden Herrn hinauszuführen. Auf der Schwelle des schon dämmerigen Vorplatzes ward Rameau sichtbar, der noch einige Abschiedsworte mit seinem Patienten austauschte. Die weinende Frau blickte auf; mit dem Ahnungsvermögen des Schmerzes erriet sie, daß der Unbekannte, dessen hohe Gestalt sie kaum zu unterscheiden vermochte, kein andrer war als der Retter, den anzuflehen sie gekommen, und mit fliegender Hast erhob sie sich und drängte sich hinter ihm in sein Zimmer. Rameau ließ es geschehen, warf einen prüfenden Blick auf sie und fragte dann lächelnd: »Was gibt es denn, gute Frau?«
»Ach, mein lieber Herr!« rief sie erregt, aber wohlthätig berührt von dem weichen Klang seiner vollen, tiefen Stimme, »nicht wahr, Sie sind es, Sie sind der Herr Doktor Rameau?«
»Gewiß bin ich der.«
»O, das hat der Himmel gefügt, daß ich Sie ansprechen konnte . . . Warten oder morgen wiederkommen, sagte Ihr Bedienter; mein Gott! . . . als ob der Tod sich aufs Warten einließe . . .«
»Der Tod?«
»Ja wohl, Herr Doktor, der Tod! Unser Hausarzt hat selbst gesagt, es handele sich nur noch um Stunden . . . wenn die Operation nicht heute abend noch gemacht wird, so überlebt meine arme Frau diese Nacht nicht . . . Und es scheint, daß nur Sie, nur Sie allein auf der ganzen Welt sie machen können. ›Geh auf der Stelle zu diesem Doktor Rameau und bring ihn mit!‹ hat mein Fräulein gerufen, ›sag' ihm, daß er alles erhält, was er verlangt . . . wir können ja die Möbel verkaufen, wenn's sein muß . . . aber er soll kommen und soll meine arme Mama retten!‹«
Rameau zog die Augenbrauen finster zusammen, und die arme Person, der seine Verstimmung nicht entging, ward sehr rot und hielt verlegen inne.
»Ach, verzeihen Sie nur,« fuhr sie dann fort, »ich bin so außer mir, daß ich alles heraussage, was mir in den Sinn kommt . . . um alles in der Welt möchte ich nichts sagen, was Sie verdrießen könnte . . .«
Rameau winkte beschwichtigend mit der Hand.
»Ihre Herrschaft ist also arm?« fragte er.
»Ach Gott, ja! Die lieben Damen, nachdem sie früher so vornehm gewesen: und deshalb ist's ja gerade so hart und drückend für sie! Aber gut sind sie, so gut, daß man sich für sie in Stücke schneiden lassen könnte . . . und das Fräulein so engelschön und sanft! Ach, Herr Doktor, wenn Sie die kennen würden!«
»Was fehlt Ihrer Kranken denn eigentlich?«
»O du lieber Himmel, so was wie ein brandiges Geschwür. Erst hat man es für einen Rheumatismus in der Schulter gehalten, und plötzlich, über Nacht, haben sie gemerkt, daß es mit ihr zu Ende geht. Freilich, wäre sie noch reich gewesen, so hätte man wohl eher herausgebracht, wo der Schaden sitzt, und hätte sie nicht auf Fingerbreite an Grabesrand kommen lassen . . . arme Leute die können ja sterben, was liegt daran! Ist's nicht so, Herr Doktor?«
»Nein, meine gute Frau!« erwiderte Rameau kopfschüttelnd.
Er drückte auf die Klingel: sein Diener trat ein.
»Meinen Hut,« befahl er.
»O Herr des Himmels! Sie gehen mit mir?« rief die arme Hilfesuchende in glückseliger Bestürzung. »Warten Sie nur, ich hole eine Droschke! . . .«
»Mein Wagen steht unten, da kommen wir rascher vom Fleck,« erwiderte Rameau lächelnd. »Die Wohnung?«
»Boulevard des Batignolles . . .«
»Der Herr Doktor wissen, daß Leute im Vorzimmer sind, die seit heute früh warten,« wagte der Diener mit ärgerlicher Miene einzuwenden.
»Sie sollen morgen wieder kommen; sagen Sie ihnen das!« warf Rameau kurz hin, ergriff das auf einem Tische fix und fertig bereit liegende chirurgische Besteck und stieg die Treppe hinab, die hochbeglückte Bittstellerin hinter ihm.
An der Ecke der Rue des Batignolles, ganz in der Nähe der warmen Bäder und der hydropathischen Anstalt, die sich mit ihren anspruchsvollen Fassaden an dem Boulevard breit machen, erhebt sich ein fünfstockiges Gebäude, dessen vom Regen ausgewaschene, vom Teppichausschütteln beschädigte und geschwärzte Stuckaturgesimse ihm den Stempel schmutziger Armseligkeit aufdrücken. Durch eine schmale Hausthür tritt man in einen mit Platten belegten langen Gang, der an der Portierloge vorüber zu einem Treppenhaus führt, von dessen grünlich bemalten Wänden der von der Feuchtigkeit zerfressene Gips abbröckelt. Kleine Fenster, die durch einen winzigen, an einen Schacht gemahnenden Hof ein spärliches Licht erhalten, erleuchten dasselbe so weit, daß man sich des Nachmittags ohne Kerze die ausgetretene Treppe hinaufarbeiten kann; die Stufen sind uneben durch die dicke Schicht von Straßenschmutz, welche von den Fußtritten etlicher hundert Bewohner dieses arbeitsamen Bienenkorbs alltäglich zurückbleibt. Die Dienerin, welche mit der Gewandtheit dessen, der jeden Winkel und jede Wendung einer Treppe genau kennt, Rameau voranging, blieb von Zeit zu Zeit stehen und sagte besorgt: »Nehmen Sie sich in acht, es kommt noch eine Stufe . . . halten Sie sich am Geländer fest . . .«
Man fühlte, daß sie den Helfer und Erlöser, den sie im Triumph nach Hause brachte, am liebsten auf ihren Armen getragen hätte. Im vierten Stock hielt sie inne, zog einen Schlüssel aus der Schurztasche und öffnete eine Vorthür, an der ein kleines Messingschild mit der Aufschrift: »Madame Etchevarray, Modes« prangte. Mit trauriger Ironie wirkte diese vielversprechende, kokette Anzeige: »Modes« auf diesem elenden Stockwerk, in diesem Hause, in dem alles nur von Armut erzählte! Was für Putz konnte wohl in diesem Viertel, wo die Frauen im bloßen Kopf oder der weißen Leinwandhaube ausgingen, bestellt und verkauft werden? Ein trauriges Handwerk, mit dem sich schwerlich das Salz an die Suppe verdienen ließ!
Der erste Raum, den man betrat, war ein düsteres, rauchgeschwärztes Speisezimmer, dessen Einrichtung aus einem Nußbaumtisch, vier Stühlen und einem Buffett, auf dem die Ueberreste einer spärlichen Mahlzeit zu erblicken waren, bestand; abgeschossene Ripsvorhänge hingen an den auf der Hofseite befindlichen Fenstern. An den gegenüberliegenden Küchenfenstern der andern Haushälfte hingen Lumpen und Scheuerlappen zum Trocknen, und von ihnen schien der widerliche Gußsteingeruch auszugehen, der gleich beim Eintritt unangenehm berührte. Auf einem Kachelofen mit zerborstener grauer Marmorplatte stand ein Haubenstock mit einem noch nicht vollendeten Hut.
Auf den ersten Blick nahm Rameau all diese Einzelheiten in sich auf, indes die Dienerin in das daneben gelegene Zimmer eilte. Ein freudiger Ausruf wurde hörbar, und unmittelbar darauf trat aus der hastig aufgerissenen Thür eine Erscheinung, in der er die Verkörperung alles Schönen und Lieblichen erblickte; glühende, bebende Hände umklammerten und drückten die des Arztes und eine weiche Stimme flüsterte: »O, mein Herr! Wie großen Dank sind wir Ihnen schuldig!«
Ohne daß ihm Zeit zu einer Erwiderung geblieben wäre, fühlte er sich fortgezogen und stand eine Sekunde später am Fußende eines Bettes, in dem eine blasse, abgemagerte Frau lag. Bei diesem Anblick gewann der Berufsmensch in Rameau die Oberhand, es flimmerte ihm nicht mehr vor den Augen und surrte ihm nicht mehr vor den Ohren, er war wieder der große Arzt mit dem scharfen, untrüglichen Blick, für den nichts existierte als die Krankheit.
»Es ist hinten am Hals, Herr Doktor, zwischen Schulter und Genick,« flüsterte die süße Stimme wieder.
Er beugte sich herab und fing an zu untersuchen. Zu kraftlos zum Sprechen, matt und gebrochen, große Schweißtropfen auf der vom Leiden gefurchten gelblichen Stirn, lag die Kranke stöhnend in ihrem Bett. An dem Arme, der ausgestreckt war, traten die heftig schlagenden Arterien stark hervor, die Umrandung einer dunkelblau gefärbten Geschwulst unter dem rechten Ohr sah aus den um den Hals geschlungenen leinenen Tüchern hervor.
Mit leichter Hand nahm Rameau den Verband ab und sein Gesicht verfinsterte sich.
»Wie hat man es so weit kommen lassen können,« sagte er halblaut vor sich hin.
Er trat vom Bett weg und wendete sich zu der Dienerin, die ihn herbeigeholt hatte.
»Halten Sie Leinwand bereit,« befahl er, ergriff seinen Instrumentenkasten, legte den Hut auf den Tisch und kehrte ins andre Zimmer zurück.
»Wollen Sie denn Mama auf der Stelle operieren?« fragte das junge Mädchen, sichtlich tief erschüttert.
Rameau blickte auf und bemerkte, wie leichenblaß sie war.
»Haben Sie mich denn nicht dazu rufen lassen?« sagte er, und die sonst so kräftige Stimme klang seltsam weich und innig.
»Steht es wirklich so schlimm, wie unser Arzt gesagt hat?«
»Der Fall ist sehr bedenklich, mein Fräulein . . .«
»O Gott . . . aber Sie sehen doch, wie schwach die Mama jetzt ist – könnte man denn nicht wenigstens bis morgen warten?«
»Nein, mein Fräulein, der Zustand Ihrer Frau Mutter fordert schleuniges Einschreiten. Es handelt sich hier um einen sogenannten Karbunkel, dem man Zeit gelassen, sich bis in die unmittelbare Nähe der Hauptschlagader auszudehnen . . . Bei der Möglichkeit einer Rettung handelt es sich hier um Stunden – heute Abend schon wäre es vielleicht zu spät.«
Mit bebenden Knieen, das Köpfchen auf die Brust gesenkt, klammerte sich das junge Mädchen an den Tischrand; sie war ganz gebrochen. Rameau konnte nicht anders, er mußte sie ansehen. Sie war mittelgroß, schlank, von jener lässigen Anmut südlicher Frauen; das matte Gelbweiß ihrer Haut bekam durch brennendrote Lippen und leuchtende braune Augen Leben; die natürlich krausen dunklen Haare bedeckten eine etwas niedere, von feinen geraden Brauen durchschnittene Stirn. Ihre ganze Erscheinung war von seltener Vornehmheit, sie gehörte zu jenen Frauen, die sich jeder Lage, in die eine Schicksals-Tücke sie versetzen mag, gewachsen zeigen, und in der ärmlichen Wohnung, in einem verschossenen braunen Wollkleidchen, blieb sie die große Dame.
»Wird die Operation lange dauern?« fragte sie.
»Ja – Ihre Mutter muß chloroformiert werden, und ich bitte deshalb, daß Sie nach Ihrem Hausarzt schicken; ich brauche Hilfe.«
Zwei Stunden dauerte es, bis das Dienstmädchen, das ihn im ganzen Stadtviertel von Haus zu Haus suchte, mit dem Arzt zurückkam. Rameau, der sich wieder in das Krankenzimmer begeben hatte, wo die Patientin in dumpfem Halbschlaf ruhte, fing mit leiser Stimme mit dem jungen Mädchen zu plaudern an. Fortzugehen kam ihm gar nicht in Sinn, so gut er die Zeit zu einigen dringend nötigen Krankenbesuchen hätte verwenden können; es war, als ob ein geheimer Zauber ihn umsponnen hielte. Mehr und mehr brach die Dämmerung herein, schon unterschied man die Gegenstände der Umgebung nicht mehr deutlich, alles versank allmählich in tiefen Schatten, nur das Profil des jungen Mädchens zeichnete sich scharf und dunkel auf dem Fenster ab, durch welches das Licht der eben angezündeten Straßenlaterne hereinfiel. Sie sprachen miteinander, er mit ernster Stimme, in väterlichem Ton, sie einfach und natürlich und in tiefer Erregung, die zurückzuhalten, ihr schlecht gelang. Eine lange Woche voll Angst und Sorge und ermüdender Pflege hatte ihre Nerven aufs äußerste angespannt und erregt, jetzt, wie sie in der Dunkelheit am Bett der sterbenden Mutter mit dem berühmten Gelehrten, in dem sie ihren Retter sah und ahnte, plauderte, ließ die Spannung nach und sie folgte dem Drang, der sie trieb, alle Kümmernisse und alle Traurigkeit ihres Daseins vor seinen Augen zu enthüllen.
Sie hieß Conchita und war die Tochter eines spanischen Offiziers, José Etchenarray, der mit den Trümmern einer von Isabellas Heer geschlagenen und zerstreuten karlistischen Truppe nach Frankreich gekommen war. Die Mutter war mit ihr – sie war damals sieben Jahre alt gewesen – nach Carcassonne gegangen, wo die französische Regierung die Flüchtigen internierte; der Vater hatte dort bei einem Weinhändler eine Stellung als Buchhalter gefunden, und in dem schönen Land, unter diesem glücklichen Himmel, der an Blau dem spanischen wenig nachgab, hatten sie ein ruhiges, heiteres Dasein geführt. Nachdem der Krieg beendigt und die Internierung aufgehoben war, hatte sich der Karlist nach Paris gewendet, wo er vermöge seiner Verbindungen eine hervorragende Stellung zu erlangen hoffte. Allein die Waffenbrüderschaft war gleichzeitig mit dem Waffenrock beiseite gelegt worden und die als Flüchtlinge in Paris lebenden Häupter der aufständischen Bewegung nahmen den Kämpfer ihrer verlorenen Sache mit kühler Zurückhaltung auf. Nicht daß sie den so edel getragenen Leiden und Mühen ihres Parteigängers ihre Anerkennung versagt hätten, ach nein, aber sie kannten ihrer so viele, die unterstützt zu werden verdienten und dessen noch bedürftiger waren als der Kapitän. Natürlich wußte man seine Verdienste zu schätzen und wollte sich ernstlich bemühen, ihm eine Anstellung zu finden, nur gehörte eben Zeit, viel Zeit dazu. Mit bitteren Empfindungen erkannte der Karlist, daß dabei nichts und immer wieder nichts herauskam, und voll Reue, seine Schreibstube in Carcassonne im Stich gelassen zu haben, fing er tapfer an Unterricht in der spanischen Sprache zu erteilen; seine Frau, welche viel Geschick in Handarbeiten besaß, hatte sich bei einer Modistin Arbeit verschafft, und so schlug sich die Familie mit großer Anstrengung und vielfältigen Entbehrungen leidlich durch.
Zehn Jahre lang floß ihr Leben dahin, einförmig und armselig, ohne Wechsel, ohne Glück und ohne Unglück, jeder Morgen und jeder Abend brachte nur das ewig Alltägliche. Der Vater ging fort, um seinen Unterricht zu geben, die Mutter setzte sich an ihren Arbeitstisch und unter ihrer leichten Hand entstanden duftige Gebilde aus Tüll, Seide und Atlas. Vom vierzehnten Jahre an war Conchita die Gehilfin der Mutter geworden, und die Art, wie sie eine Bandschleife zu knüpfen, einen kleinen Vogel auf den Hut zu stecken wußte, war von unnachahmlicher Anmut. Das kleine Mädchen, welches so wenig gesehen, von Moden und eleganter Welt so wenig wußte, besaß ein angebornes Schönheitsgefühl und einen Schick, in dem sie alle vielgepriesenen Talente dieses Faches übertraf.
Bald wurde die Modistin, für die Mutter und Kind arbeiteten, auf sie aufmerksam und bot ihr unter äußerst glänzenden Bedingungen eine Stellung in ihrem Hause an, allein Etchevarray schlug das Anerbieten aus. Das heranwachsende Mädchen entwickelte sich von Tag zu Tag reizender; der Vater sah sie erblühen frisch und duftig wie eine Granatblüte in seinem Heimatland, und er wollte sie nicht aus dem Haus geben, sie nicht der Berührung mit dem Geschwätz einer Putzmacherinnenwerkstatt und den Zudringlichkeiten auf der Straße aussetzen. Um aber Conchitas Begabung dennoch gründlich zu verwerten, mietete er sich frisch gewagt in einem Erdgeschoß der Rue Taitbout ein und eröffnete ein selbständiges Putzgeschäft, in welchem die beiden Frauen nun, für eigne Rechnung, mit verzehnfachtem Eifer arbeiteten. Fünf Jahre lang führten sie das Geschäft und Frau Etchevarray hatte sich nach und nach eine feste Kundschaft erworben, als der alte Karlist urplötzlich in Folge des Durchbruchs einer Pulsadergeschwulst starb.
Ganz plötzlich, ohne vorhergegangene Mahnung und Sorge sah sich Mutter und Tochter von heute auf morgen einzig und allein auf sich selbst angewiesen. Das Herzeleid, das sie ihrem Kind möglichst zu verbergen suchte, untergrub Frau Etchevarrays Gesundheit, sie schleppte sich noch lange mühsam dahin, kämpfte, um sich aufrecht zu erhalten, und wurde schließlich sehr krank. Unter Conchitas und Rosalies aufopfernder Pflege – die treue Dienerin war mit ihnen von Carcassonne nach Paris gezogen – erholte sie sich endlich, aber sie war nicht mehr, was sie gewesen, ihr Mut schien völlig aufgezehrt und gebrochen. Sie, die unermüdlich Fleißige, konnte jetzt halbe Tage lang mit der Nadel in der Hand dasitzen und ins Leere starren, und wenn Conchita sie ansprach, schreckte sie zusammen, faßte sich mühsam und schien nur mit großer Anstrengung ihre Gedanken aus einem fernen Traumland zurückzurufen.
So tapfer das junge Mädchen sich hielt, so fabelhaft rührig und thätig sie war und so viele Nächte sie der Arbeit opferte, so verlief sich doch die mühsam errungene Kundschaft mehr und mehr, das kleine Geschäft geriet in Verlegenheiten mancher Art, und die Fabrikanten, von denen sie die Waren bezogen, schlugen einen andern Ton an und bestanden hart und mißtrauisch auf Barzahlung. Nach zwei Jahren eines qualvollen und fruchtlosen Kampfes wurde die Messingtafel: Mme. Etchevarray, Modes, welche das Fenster der Parterrewohnung in der Rue Taitbout geziert hatte, an der Vorthür im vierten Stockwerk des Boulevard des Batignolles befestigt.
In diesem übervölkerten Viertel, weit entfernt von dem eleganten Mittelpunkt, hatten die beiden Frauen mit ihrer Arbeit kümmerlich ihr Dasein gefristet, ohne auch nur hoffen zu können, je wieder die bescheidene Höhe zu erreichen, von der sie in einem Augenblick so jäh und grausam herabgeschleudert worden. Dann war die Witwe abermals erkrankt, und Conchita, die alle Kraft aufbieten mußte, um die so nötige tägliche Arbeit mit der anstrengenden Pflege der Mutter zu vereinen, hatte nach und nach das Elend hereinbrechen und die Schuldenlast anwachsen sehen. Längst nahmen in ihrer Schublade die rosa und blauen Scheine des Leihhauses den Platz der wenigen Wertgegenstände ein, die bis hierher erhalten geblieben waren, und machtlos dem Zusammenbruch entgegenstarrend, hatte das arme Kind zu seinem Todesschrecken auch noch den Ausspruch des Arztes vernehmen müssen, wonach eine sofort vorzunehmende Operation auf Leben und Tod für Frau Etchevarray notwendig war.
In dem indes völlig dunkel gewordenen Krankenzimmer hatte Rameau diese klägliche, von vielen Thränen und verzweifelten Klagen unterbrochene Erzählung entgegengenommen, und ein unsägliches Mitleid hatte sich der ganzen Seele des berühmten Chirurgen bemächtigt. Er, der seit langer Zeit abgestumpft war gegen alle Leiden der Menschheit, hatte bei der Schilderung aller Aengste und Nöten dieses jungen Mädchens, von dessen Vorhandensein er zwei Stunden zuvor noch keine Ahnung gehabt, sein Innerstes erbeben gefühlt, sein Herz hatte bang und heftig geschlagen und heiße Glutwellen durchströmten ihm die Brust, und über ihn, vor dessen hochmütiger, überlegener Ironie die Vermessensten Furcht empfanden, war eine fremdartige Schüchternheit gekommen.
Wie im Flug waren ihm die zwei Stunden des Wartens vergangen, und wenn er später versuchte, sich die Einzelheiten derselben ins Gedächtnis zu rufen, so war es nur eine unklare, aber unaussprechlich süße Empfindung, deren er sich entsann, das Gefühl, unter dem Einfluß eines unwiderstehlichen, wonnigen Zaubers gestanden zu haben, und die einzige äußere Thatsache, die klar und deutlich vor seiner Erinnerung stand, war die Ankunft seines Kollegen und die vor Conchitas Augen ausgeführte Operation.
Noch sah er sie vor sich, wie sie sich leichenblaß krampfhaft am Kopfende des Bettes festhielt, während der Arzt, den Puls der Kranken sorgfältig prüfend, dieselbe das Chloroform einatmen ließ. Und einer Masse von Einzelheiten, die für ihn selbstverständlich waren, erinnerte er sich, weil ihr Blick mit Entsetzen darauf geruht, der Instrumente, die auf einem Tischchen ausgebreitet gelegen, des Blutes, das auf das Kopfkissen gerieselt, des Schluchzens der Dienerin, die, als sie ihre Herrin kalt und leblos wie eine Tote daliegen und das Messer in ihr Fleisch versenken sah, alle Fassung verloren hatte. Nachdem alles vorüber, war Conchita in ein jammervolles, nicht zu stillendes Weinen ausgebrochen und war ihm in ihrer Fassungslosigkeit und dem gänzlichen Aufgelöstsein in Schmerz nur noch schöner und rührender erschienen.
Widerstrebend nur hatte er die bescheidene Behausung verlassen, und sein Kollege, der viel von der sprichwörtlich gewordenen Grobheit des großen Chirurgen gehört hatte, wunderte sich nicht wenig über die Zartheit und Weichheit, die er hier allen gegenüber zeigte. Er hatte versprochen, am folgenden Tag selbst nach der Kranken zu sehen, und er hielt nicht nur darin Wort, sondern kam bis zur vollständigen Heilung der Wunde täglich, und so aufmerksam wie Frau Etchevarray war noch nie eine Kranke behandelt worden. Alles, was an Arzneien und Verbandzeug nötig war, besorgte Rameau persönlich und schickte es hin, damit die getreue Rosalie ihre Zeit nicht mit Ausgehen verliere, und nie erschien er ohne eine erlesene Frucht oder die schönsten Blumen. Eines Tages befragte er die Dienerin eingehend über die pekuniäre Lage ihrer Herrschaft, und nachdem er sich strenges Schweigen hatte geloben lassen, stellte er ihr, um alle Rückstände im Haushalt zu begleichen, seine Börse zur Verfügung. Rosalie aber versetzte ihn in die größte Verlegenheit, indem sie diesen Vorschlag rundweg von der Hand wies, und natürlich hatte sie nichts Eiligeres zu thun, als das ganze Erlebnis brühwarm ihren Damen zu erzählen.
»Angefleht hat er mich, sein Geld zu nehmen, begreifen Sie denn so was? Man könne es ihm ja, wenn man durchaus darauf bestehe, später zurückgeben, für den Augenblick aber solle beileibe niemand ein Sterbenswörtchen davon erfahren. Freilich ist er mit seinem Anerbieten bei mir an die unrechte Person gekommen! Ich nehme gleich Gift darauf: der Mann ist in unser Fräulein verliebt . . . es heißt, er verdiene, so viel er nur wolle . . . eigentlich ist er gar nicht so alt . . . und eine schöne Figur hat er, das muß man sagen. Ich habe ihn aber ablaufen lassen, daß es eine Freude war, denn Gott weiß, ob er ehrliche Absichten hat . . .«
»So schweige doch, Rosalie,« fiel ihr Conchita ins Wort. »Du weißt gar nicht, was du da redest! Der Herr Doktor ist herzensgut und nimmt warmen Anteil an uns, aber jetzt ist ja Mama wieder gesund, und da darf er sich nicht mehr mit Besuchen bemühen.«
Am nächsten Morgen fand Rameau Mutter und Tochter sehr ernst und ein wenig steif und feierlich; sie sprachen ihm ihren Dank aus für die aufopfernde Behandlung, die er der Kranken hatte angedeihen lassen, und gaben ihm dabei deutlich zu verstehen, daß eine Fortsetzung seiner Besuche für beide Teile nicht wünschenswert wäre: für ihn nicht, weil er seine kostbare Zeit dabei verliere, und für sie nicht, weil sie nicht wüßten, wie sie sich diese große Aufmerksamkeit zurechtlegen sollten. Uebrigens hofften sie, sich eines Tages ihrer Schuld gegen ihn zu entledigen, einstweilen aber übergab ihm Conchita eine zierliche kleine Handarbeit aus altfarbiger Seide, die sie insgeheim für ihn gefertigt. Als das junge Mädchen ihm mit feuchtschimmernden Augen die niedliche Gabe bot, versagte Rameau zum erstenmal im Leben das Wort: er stotterte undeutlich seinen Dank, und mit einer ziemlich barschen, entschlossenen Bewegung machte er kehrt und entfloh förmlich.
Als er sich mit wirr durcheinanderwogenden Gedanken und summenden Ohren nach Hause begab, ermangelte er nicht, sich selbst kräftig den Text zu lesen: in seinem Alter wollte er sich noch kopfüber in eine Studentenliebschaft jugendlichster Sorte stürzen? Mit fünfzig Jahren, mit grauen Haaren, fing er an sich in ein junges Mädchen zu verlieben! Als ob nicht die Wissenschaft, diese eifersüchtige, strenge Gebieterin, die sich zu keiner Teilung bequemt, seine einzige Leidenschaft, seine ausschließliche Geliebte bleiben sollte! Und mitten aus diesen klugen, verständigen Erwägungen tauchte das reine, süße Gesichtchen Conchitas mit den dunkeln Augen und den roten Lippen, die ihm zuzulächeln schienen, vor ihm auf, daß es ihn wonnig überlief und ein tiefer Seufzer seine Brust schwellte beim Gedanken an all die Seligkeit, die zu verschmähen er sich zwang. So gelangte er vor seine Thür, und mit derselben Bewegung, mit der er einem hitzigen Streit mit Talvanne ein Ende zu machen pflegte, schüttelte er sich, brummte vor sich hin: »Zum Kuckuck die Weiber! Denken wir nicht mehr daran!« und eilte, immer vier Stufen auf einmal nehmend, seine Treppe hinauf, ging in sein Zimmer und vertiefte sich in die Arbeit.
In dieser Nacht schlief er nicht. Vor seinem Schreibtisch, der ganz mit den Korrekturbogen eines demnächst erscheinenden Buches bedeckt war, saß er in seinem tiefen Lehnstuhl, that lange Züge aus seiner Pfeife und ließ, den Blick auf die Decke geheftet, sein ganzes Leben an sich vorbeiziehen und legte sich immer neu die Frage vor, ob er nicht einem leeren Wahn geopfert, indem er sich der Arbeit und nur der Arbeit gewidmet. Der Reiz des häuslichen Herdes, die Seligkeit voll erwiderter Liebe, die Befriedigung, sich in seinen Kindern verjüngt wieder zu erblicken, das ruhige Glück des Alltagsmenschen, das alles hatte er verschmäht, und was war ihm statt dessen zu teil geworden? Ein europäischer Ruf, Ehrenämter, gestickte Palmen auf seinem Frack, und Orden und Kreuze. Und hatte sich denn dies alles nicht ebensogut, nicht mit noch größerer Sicherheit erreichen lassen, wäre er nicht gerade so zum Ziele gelangt, wenn er dabei ein Familienleben geführt und besessen hätte? Hätten Ruhe und Frieden nicht ebenso befruchtend auf ihn wirken können wie Kampf und Aufregung? Konnte denn der Geist nur auf Kosten des Herzens solche Früchte zeitigen? Wie dem alternden Faust in seiner Zauberküche, so erschien ihm hier in der stillen Welt seiner Bücher das verführerische Bild des jungen Mädchens, das ihm Sinn und Gedanken verwirrte, und ein aus tiefstem Herzen kommender Seufzer schmerzlichen Bedauerns hallte in dem schweigenden Raume wieder.
Gegen Morgen ward er Herr über seine Träume, ging mit gewohntem Eifer an die gewohnte Arbeit, machte seine Besuche, sah im Spital nach dem Rechten und kam zu Tisch zu Talvanne, den er durch eine über das sonstige Maß hinausgehende Neigung zu Paradoxen erschreckte. Gegen zehn Uhr versiegte der sprudelnde Quell urplötzlich, und lange Zeit blieb er, ohne die Lippen zu bewegen, auf einem Sopha ausgestreckt, erhob sich dann mit finsterer Miene und ging nach Hause.
Eine ganze Woche trieb er es in dieser Weise, und Talvanne fing an, sich so ernstliche Sorgen zu machen, daß er sich ein Herz faßte und ihn über diesen seltsamen Zustand befragte. Der Erfolg war natürlich, daß Rameau wütend wurde, seinen Freund zum Teufel gehen hieß, ihn als Schafskopf behandelte, ihm rundweg erklärte, daß er ins Blaue hinein rede, und so außer sich kam, daß der Irrenarzt ihn mit der felsenfesten Ueberzeugung verließ, daß sich dieses Mal in diesem mächtigen Kopf etwas Abnormes zutrage.
Er zog Münzel ins Vertrauen, und dieser, der in ganz andrer Weise vorging, traf sofort den richtigen Ton und die empfindliche Saite und wußte den großen Mann so weich zu stimmen, daß dieser ihm sein ganzes Herz erschloß. Der sinnige, sentimentale Deutsche weinte mit ihm, und in seinen Händen wurde der Mann von Erz zu Wachs; klar und deutlich stellte ihm Franz vor Augen, daß ein Glück zurückweisen, wenn es sich uns bietet, ein Verbrechen an uns selbst sei, und ehe der Abend zu Ende, hatte er ihn so weit gebracht, daß er sich entschloß, Conchita wieder aufzusuchen. Sie wiedersehen und sie zur Frau begehren, war so ziemlich ein und dasselbe und der letzte Schritt war rasch gethan.
Es war wunderbar, wie damit die Liebe in Rameau erblühte und sein ganzes Sein durchzog: er hatte keinen andern Gedanken mehr als für seine Braut, neben ihr mußte alles andre zurücktreten, und der Mann, der bisher jede Regung der Sinne unterdrückt hatte, gab sich seiner Leidenschaft mit trunkener Seligkeit hin. Unter dem ergrauenden Haar strahlte sein Gesicht von Lust und Wonne, er kam auf die jugendlichsten Thorheiten, kleidete sich mit großer Sorgfalt und zeigte sich der vor Staunen ganz versteinerten gelehrten Welt als ein glückstrahlender, zierlich geputzter Liebhaber, was entschieden eine der überraschendsten Erscheinungen der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts war.
Als es jedoch an die Frage von der kirchlichen Trauung kam, wurde er wieder er selbst. Frau Etchevarray bat ihn eines schönen Tages, ganz einfach das Aufgebot in der Pfarrkirche, zu deren Sprengel sie gehörte, anzuordnen, da warf der Materialist einen so eigentümlichen Blick auf seine künftige Schwiegermutter, daß diese kein Wort mehr hinzuzusetzen wagte, Conchita selbst aber kam auf die Sache zurück. Der Spanierin, die mehr noch abergläubisch als fromm war, erschien ein Ehebund ohne priesterlichen Segen als etwas Entsetzliches, und sie bat und beschwor Rameau unter Thränen, sich dem alten Brauch zu fügen.
Zum erstenmal stieß sie bei ihm auf unbeugsamen Widerspruch. Er schüttelte den mächtigen Kopf, zog die breiten Schultern in die Höhe, als ob er sich anschicken wollte, das Gewicht einer ganzen Kathedrale auf sich zu nehmen, und suchte in ungemein rücksichtsvollen und vorsichtigen Ausdrücken dem jungen Mädchen darzulegen, daß es seine Vergangenheit Lügen strafen, seine Ueberzeugung verleugnen hieße und den demütigendsten, erbärmlichsten Widerruf bedeuten würde, wollte er sich der kirchlichen Zeremonie unterwerfen. So gewiß er ihr alles zuliebe thun wollte, so konnte er sich doch ihrem kindlichen Verlangen zuliebe nicht so grausam bloßstellen.
Conchita zerbrach sich nicht das Köpfchen um Gegengründe, sie rief nur einfach die Beredsamkeit der Thränen zu Hilfe, aber Rameau blieb fest. Dann verstummte sie völlig und begegnete ihm mit Eiseskälte; stundenlang ließ sie ihn reden, ohne den scharfsinnigen, wunderbar gut gewählten Beweisgründen, mit denen er sie zu überzeugen suchte, auch nur Gehör zu schenken. Der Feuerstrom seines Wortes glitt an ihr ab wie die Lava am Marmor, und war er vorübergerauscht und verglommen, so stand sie so unberührt, so unerschüttert da wie zuvor. Drang er in sie mit Fragen, wollte er ihr ein Wort entlocken, das ihm dann gewonnenes Spiel gegeben hätte, so sagte das junge Mädchen ernst: »Vor dem Altar, oder gar nicht.«
Unentschlossen ging er von ihr, und es ergoß sich dann der fürchterlichste Zornesausbruch, der je einem menschlichen Gehirn entsprudelt, über Talvannes Haupt. Hatte doch jener die Vermessenheit gehabt, ihm mit gutmütigem Spott zu sagen: »Ich verstehe wirklich nicht, was du dagegen hast! Was kann es dir ausmachen, eine Messe zu besuchen? Du erfüllst diese Form, wie du irgend eine Form gesellschaftlicher Höflichkeit erfüllst. Hab ich dich nicht bei Begräbnissen von Kollegen schon in der protestantischen und katholischen Kirche und in der Synagoge gesehen? Hat dir das vielleicht etwas von deiner Ehre genommen? Du hast dich ruhig und anständig als gebildeter Mann hingestellt und dem Gottesdienst beigewohnt, ohne Teil daran zu nehmen, was war denn da Außerordentliches daran? Der große Vorzug des Atheismus sollte doch sein, daß er dem Menschen möglich macht, die Gottesverehrung in jeder Form und auf jede Art zu dulden – sobald du nichts glaubst, kann nichts dich beirren oder verletzen.«
»Ach, es handelt sich auch nicht um mich,« hatte Rameau erwidert, »aber wie wird man es auffassen?«
»Richtig, da will's hinaus! Du beschäftigst dich mit der Galerie, du fühlst dich auf offener Scene und bist nicht erhaben über das Urteil des lieben Publikums . . . du hast Angst, was man von dir denken wird! . . . Es handelt sich um das liebe: ›Wie nehme ich mich aus?‹ Ich bin im stillen von jeher überzeugt gewesen, daß ihr Herrn Materialisten, wenn man euch einzeln in ein schwarzes Loch steckte, wo kein Auge hindringt, und ihr dem Tod unaufhaltsam entgegen ginget, so gut wie jedes andre Menschenkind die Kniee beugen und euch auf eure Kindergebete besinnen würdet.«
Bis hierher hatte Rameau in schweigendem, sorgenvollem Nachsinnen zugehört, dann aber war er aufgefahren und hatte den Freund so grob beleidigt, daß dieser volle zwei Tage fern blieb. Der Gelehrte war es dann gewesen, der ihn aufgesucht. Er war zur Essenszeit bei Talvanne erschienen, hatte sich ohne ein Wort zu sprechen einfach zu Tisch gesetzt und hernach, im Arbeitszimmer des Irrenarztes, mitten unter der Schädelsammlung, in der Vertreter sämtlicher Menschenrassen wohlgeordnet umherstanden, hatte er dem Freund erzählt, daß ihm nichts übrig bleibe, als sich entweder Conchitas Willen zu fügen oder die Verbindung zu lösen.
»Sie ist eigensinnig, Freund, wie die Maultiere ihrer Heimat,« sagte er verdrießlich. »Sie streitet nicht, sie bringt keine Gegengründe vor, sie sagt ganz einfach: ich lasse mich vor dem Altar trauen, oder gar nicht. Und dann weint sie, und . . . macht mich noch verrückt.«
»Dann kommst du zu mir in Behandlung, Alter . . . Liebeswahnsinn ist heilbar . . . Kleienbäder, herunterstimmende Diät, täglich zwei Stunden Spazierengehen in einem schönen Garten . . . in Zeit von drei Monaten ist alles vorüber und man fühlt sich wohler als zuvor . . .«
Rameau schien ihn nicht zu hören; in tiefes Nachsinnen versunken verharrte er noch mehrere Minuten in Schweigen, dann sagte er traurig: »Sie gibt nicht nach – was soll ich thun?«
»Hängst du sehr an ihr?«
»Mehr als am Leben!«
»Ein Mann wie du! . . . Was glaubst du denn in ihr zu finden?«
»Das, was ich nicht kenne – das Glück,« sprach Rameau, und in seinem Blick loderte die Leidenschaft.
Talvanne zuckte die Achseln.
»Mach keinen Versuch, die Klauen aus der Falle zu ziehen, alter Kamerad, du steckst viel zu tief im Eisen! Wenn du dich denn also vor dem Aufsehen fürchtest, das deine scheinbare Abtrünnigkeit – denn ihr Atheisten seid ebensogut eine Sekte wie die andern, die ihr in die Acht erklärt – hervorrufen würde, wohl und gut, so mache deiner Braut den Vergleichsvorschlag, dich einer kirchlichen Trauung in Spanien zu unterwerfen. Geh über die Grenze – was ist daran merkwürdiges? . . . Deine Frau ist eine Navarreserin . . . und es müßte doch mit dem Teufel zugehen, wenn sie erführen, was du hinter den Bergen treibst.«
»Du hast recht!« rief Rameau sich erhebend, »Du hast mir den rettenden Ausweg gezeigt!«
Frau Etchevarray war sehr beunruhigt über die Wendung, welche die Dinge genommen, und hatte in ihrer Angst, diese so unverhofft gekommene glänzende Partie könnte sich vor Thorschluß noch zerschlagen, ihrem Töchterlein gehörig den Kopf zurecht gesetzt, so daß diese jetzt Rameaus halbes Entgegenkommen froh und dankbar, wie eine Siegesbotschaft aufnahm und ihm wieder so lieblich und zärtlich begegnete, daß sein Glück ein ungetrübtes war. Mutter, Tochter und der künftige Schwiegersohn reisten nach Biarritz, um sich von da in das spanische Dorf zu begeben, dem die Etchevarray entstammten, Talvanne und Münzel, die beiden Trauzeugen, gesellten sich dort ein paar Tage später zu ihnen und eine Woche darauf wurde in aller Stille, ohne jegliche Schwierigkeit, die Trauung vollzogen.