Georges Ohnet
Doktor Rameau – Erster Band
Georges Ohnet

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Sechstes Kapitel.

Seit drei Monaten war Paris eng umschlossen, auf Rationen gesetzt und ohne ausreichendes Brennmaterial dem Frost preisgegeben. Die Entbehrung aber, die sich fast am peinlichsten fühlbar machte, war das Abgeschnittensein von der Außenwelt, die Unkenntnis der Vorgänge im übrigen Frankreich. Was jenseits des Belagerungsrayons geschah, war in ein Dunkel gehüllt, welches zu durchdringen das unermüdliche aber fruchtlose Streben der Umzingelten war. Gerüchte, Vermutungen gingen von Mund zu Mund, zuweilen warf eine im Mantel eines Gefallenen aufgefundene deutsche Zeitung ein grelles Streiflicht auf die Sachlage. Was sie enthielt, war immer die Kunde von neuem Unheil, vom Rückzug der erwarteten Hilfstruppen, die sich auf schneebedeckten, von Flüchtigen wimmelnden Straßen wieder entfernten, Gefangenenlisten von zehntausend Mann, wenn es ein kleines Gefecht, dreißigtausend, wenn es eine Schlacht gewesen, und wenn die deutschen Truppen es der Mühe wert gefunden hatten, die Auseinandergetriebenen, die ihnen beim nächsten Zusammenstoß ja doch nicht entgehen konnten, überhaupt noch zu sammeln.

Dann tauchte wohl mitten unter den vom Feind möglichst düster gehaltenen Schilderungen plötzlich ein Lichtpunkt auf. Man stieß auf einen kurzen Zwischenartikel, der von dem kühnen Vordringen irgend eines verwegenen Regimentskommandanten meldete, das, wie man aus der Absichtlichkeit und Kühle der Darstellung ersah, für die Deutschen nachteilig gewesen war, und sofort lebte die Hoffnung wieder auf! Was hoffte man eigentlich? Ach, das wußte man selbst nicht, aber man klammerte sich an jeden Strohhalm an und spähte wie der Schiffbrüchige, der auf dem weiten Meer treibt und immer die Küste erblicken will, die zu erreichen seine Kräfte ihm doch nicht gestatten, nach Rettung und Hilfe.

Je entsetzlicher die Lage ward, desto heldenmütiger und energischer erwies sich die Widerstandsfähigkeit der Pariser Bevölkerung. In den eisigen Dachwohnungen herrschte die bittre Not als grausame Tyrannin und raffte Frauen und Kinder in Scharen dahin; jeden Tag wuchs das Herzeleid, das Leiden wurde immer unerträglicher; man klagte, man weinte, aber man ward nicht schwach und nicht wankend. In den mit schmutzigem Schnee bedeckten Straßen standen die Frauen eine hinter der andern vor den Läden der Fleischer und Bäcker und warteten geduldig, bis die Reihe an sie kam, ihr zugemessenes Teil Schwarzbrot oder Pferdefleisch an sich zu nehmen. In den Stadtteilen am linken Flußufer schlugen die Granaten mit entsetzlicher Regelmäßigkeit ein; da hob man einen Toten auf, dort schleppte man einen Verwundeten weg: eine kleine Blutlache blieb auf dem Pflaster zurück, und der Straßenjunge pfiff den Gassenhauer, den er einen Augenblick unterbrochen gehabt, ruhig weiter. Diese zur Lebensfreude geschaffene Stadt war rasch heimisch geworden im Reich der Schmerzen, und das dumpfe, die ganze Nacht fortdauernde Donnern der Kanonen wiegte sie jetzt in Schlaf, wie es früher die geträllerten Kehrreime der Operette und das fröhliche Schmettern der Tanzmusik gethan.

Die Unthätigkeit lastete maßlos schwer auf den Belagerten. Geduldig zu warten unter dem Feuer der deutschen Geschütze, das war weit schwieriger, als in feurigem Aufschwung einen stürmischen Ausfall ins Werk setzen. Es kam äußerst selten zum Gefecht; die Führer schienen die in Paris brachliegenden Kräfte für irgend einen letzten verzweifelten Versuch, den alles ahnte und der nie zur Ausführung kam, aufsparen zu wollen. Allmählich steigerte sich die Ungeduld des Publikums zur heftigen Gärung; dunkle Gerüchte waren in den Vorstädten im Umlauf; am 31. Oktober hatte ein Aufstand stattgefunden und es ward nur allzu klar, daß, wenn man die Pariser nicht auf den Feind losließ, sie sich in ihrem Kampfesfieber untereinander aufzehren würden.

Es war Ende November; die Kälte war noch immer im Zunehmen und der Winter schien sich zum Verbündeten des Feindes zu machen. In den Laufgräben erfroren die Posten; eine finstere Verzweiflung ergriff die Gemüter, und es erwies sich als eine Notwendigkeit, die vom Hunger Geschwächten und in Unthätigkeit Erstarrten im Feuer der Schlacht wieder aufzutauen. Eine ungewohnte Bewegung im täglichen Dienst, ein dumpfes Krachen und Erdröhnen des Räderwerks der Verteidigung deuteten an, daß große Ereignisse sich vorbereiteten. Seit drei Tagen war von einem Vordringen der Loirearmee die Rede und es verlautete, daß die zur Hilfe herbeieilenden Truppen auf einen Ausfall der Garnison, der ihnen in die Hände arbeiten sollte, rechneten.

Am 30. November wurden Brücken über die Marne geschlagen und die Forts eröffneten urplötzlich ein heftiges Feuer gegen die deutschen Cernierungstruppen. Gleichzeitig ward in der Richtung von Villiers und Champigny ein heftiger Vorstoß ausgeführt, wodurch etwa sechzigtausend Franzosen mit den sächsischen Vorposten handgemein wurden. Der Anprall war ein äußerst heftiger und der Feind wich zurück: es war ein klarer, herrlicher Wintertag und die reifbedeckten Hügel flimmerten und funkelten im hellen Sonnenschein; die klare, trockene Luft trug den Knall der Geschütze weithin, und kerzengerade, wie leichte flockige Wölklein stieg der Rauch in die Höhe. Fliegenden Schrittes durcheilten die zum Nachschub kommandierten Truppen die Straßen von Vincennes; die am Kampf schon Beteiligten entfernten sich immer weiter vom Ausgangspunkt der Aktion und in endlosen Reihen strömte die Verstärkung die Hügel hinan, wo sich die Schlacht mit wachsendem Getöse entwickelte.

Sobald das Gefecht seinen Anfang genommen, hatte sich Rameau eingefunden und in Saint-Maur Ambulanzen eingerichtet und den Dienst geordnet. Mit einer Ungeduld, die er kaum zu bemeistern vermochte, schritt er im Hof einer Talgsiederei, deren Dach und Mauern von den Kugeln der Belagerer vielfach durchlöchert waren, auf und ab, indessen Talvanne mit philosophischer Gelassenheit rauchend auf einem Stein saß und die Sorge für die ersten, auf Tragbahren herbeigebrachten Verwundeten den jungen Regimentsärzten überließ. Unter diesen ersten Opfern des Kampfes befanden sich Deutsche in beträchtlicher Anzahl. Die Ueberstürzung, mit welcher ihre Vorposten zum Rückzug gezwungen worden waren, hatte ihre Verwundeten in unsre Hände fallen lassen. In finsterem Schweigen, den Blick in die Ferne geheftet, als ob sie jeden Augenblick die dichten Reihen der Ihrigen unter dem energischen Kommandowort ihrer Führer wieder vorwärts stürmen zu sehen erwarteten, verharrten die jungen Leute.

Allein das Gewehrfeuer verzog sich mehr und mehr, dauerte indes ununterbrochen, wild, rasch und heftig fort und der Tag schien sich entschieden zu gunsten der Franzosen zu entscheiden. Siegestrunkene Mobilgardisten stürmten in wilder Unordnung vorüber und verkündeten mit großer Zungenfertigkeit und Ruhmrednerei den Fortgang der Schlacht. Ein württembergisches Regiment sollte von den Dreizehnern der Linie vollständig aufgerieben, die Mannschaft, soweit sie nicht tot oder verwundet war, gefangen sein. Und in der That kamen kurz darauf Gefangenenzüge in Sicht. Mitten unter dem betäubenden Gerassel und den lauten Kommandorufen einer im Galopp nach dem Plateau, wo das Feuern immer in der Zunahme begriffen war, hinstürmenden Batterie langte, von seinem Stab umgeben, ein General an. Der weißhaarige, hagere Herr mit dem geröteten Gesicht geriet beim Anblick der am Weg umherlungernden Mobilgardisten, die eifrig gestikulierend die Einzelheiten des Gefechts schilderten und in einer im freien Feld aufgeschlagenen Kantine tüchtig kneipten, in Wut.

»Was haben die Kerls hier Maulaffen feilzuhalten?« schrie er mit heiserer Stimme. »Wieder einmal diese Kanaillen von der Mobilgarde! Wo sind eure Regimenter? Im Feuer, nicht wahr? Und ihr seid ausgerissen? An den Ohren will ich euch in Reih und Glied zerren, ihr Memmen! Man soll mir eine Rotte Gendarmen mitten auf die Brücke stellen, und wer zurück will, wird niedergestoßen!«

Mit klirrenden Waffen und in einer dichten Staubwolke verschwand der General zwischen den die Straße begrenzenden Bäumen. Rameau, der vorläufig all seine Anordnungen getroffen hatte, blieb vor dem Haus; das Herz war ihm seltsam beengt und schier mit Gewalt zog es ihn heute in das Gewühl der Schlacht. Nur wenigstens jene kleine Erderhöhung dort drüben hätte er ersteigen mögen: ihm schien, als ob er von dort einen Ueberblick gewinnen, sich Aufklärung über die Vorgänge hätte schaffen können. Unbeweglich stand er da; der gewaltige, in regelmäßigen Zwischenräumen die Luft erschütternde Kanonendonner machte ihm Ohrensausen und störte sein ruhiges Denken. Schließlich konnte er nicht länger an sich halten und im Laufschritt, als ob ihm jemand auf den Fersen wäre und ihn zurückrufen wollte, fing er an, den Hügel zu ersteigen. Er befand sich jetzt auf einem tief eingeschnittenen, steilen Hohlweg, wo das Artilleriefeuer nur dumpf, wie halb erstickt, hereinklang, plötzlich aber, bei einer Biegung des Weges, bot sich ihm ein überraschender Ausblick auf das Schlachtfeld und er blieb wie angewurzelt stehen.

Zu seinen Füßen lag hinter einem von Erde aufgeworfenen Kugelfang ein Bataillon Nationalgarde, die Mannschaft flach am Boden liegend, um besseren Schutz vor den Geschoßen zu haben, die fortgesetzt in die Böschung schlugen und die Erde aufwirbelten. Der kommandierende Offizier, ein breitschulteriger Mann, saß auf einem Baumstumpf und klopfte mechanisch mit der Degenscheide an seine Stiefel; sein Pferd stand mit schleppendem Zügel daneben und zupfte gierig an den spärlichen Grashalmen, die aus dem gefrorenen Boden aufragten. Etwa zweihundert Meter weiter vorne war eine Batterie von sechs Geschützen aufgefahren, die mit rasender Schnelligkeit auf einen unbekannten Zielpunkt Feuer gab. Wo ihre Geschoße niederfielen, war nicht zu entdecken, und es hatte etwas Schauerliches, diese Kanonen ohne Unterlaß Feuer speien zu sehen und ins Leere hinein Tod und Verderben senden.

Der Marne entlang waren außerhalb des eigentlichen Aktionsgebiets Verstärkungstruppen in dichten Linien aufgestellt, aber da, wo die eigentliche Schlacht stattfand, hielt Rameau vergebens Umschau nach jenen Episoden, wie Maler und Dichter sie uns vorzuführen pflegen: Säbelangriffe von Kavallerieschwadronen, Infanteriekolonnen, die im Sturmschritt gegeneinander vorrücken, heldenhaftes Ringen, gräßliches Hinmetzeln und was dergleichen unvergeßliche Scenen sind. Nirgends erblickte sein Auge Bilder, die an diese Kompositionen der Künstler auch nur entfernt erinnert hätten.

In weiter Ferne, durch dichten Rauch halb verhüllt, sah er kleine schwarze Punkte sich emsig hin und her bewegen: es sah etwa aus wie ein in der Arbeit begriffener Bienenschwarm. Er unterschied jetzt deutlich, daß sie eine Straße, die sich wie ein gelbes Band am Abhang des Hügels hinzog, erkletterten: von Zeit zu Zeit gingen sie rückwärts, dann wieder rascher bergauf. Was sie eigentlich thaten, davon konnte der Doktor sich keine klare Vorstellung machen. Es war dies der berühmte Angriff der Zuaven auf Champigny. Diese kühne, ausdauernde Truppe versuchte den Sturm auf die krenelierten Mauern unter einem Kugelregen, der sie zurückwarf und hinwegfegte wie ein Wirbelwind das welke Laub. Eine Viertelstunde darauf waren die Reihen wieder geschlossen und von neuem begann der todbringende Aufstieg. Das war das Hinundherrennen, welches Rameau sich nicht erklären konnte. Er sah die weißen Rauchflocken vorwärts, dann plötzlich wieder rückwärts ziehen, und das Bild der Schlacht faßte sich für ihn in die Bewegung zweier Rauchsäulen zusammen.

Und dabei mußte sie blutig und schreckensvoll genug sein, denn unaufhörlich rasselten die Munitionswagen der Artillerie gegen die Marne hinunter und im Thal sah man große Gruppen sich aus dem Getümmel ablösen, und Verwundete in ungeheurer Zahl wurden beiseite geschafft. Ein gewaltiges Getöse, in dem der ununterbrochene Donner der Kanonen und das scharfe Knattern des Gewehrfeuers zusammenschmolzen, stieg von allen Punkten der Ebene auf, in welcher Hundertfünfzigtausend Menschen gegeneinander losschlugen, ohne daß man hätte unterscheiden können, was eigentlich vor sich ging.

Eine Hand, die sich plötzlich auf seine Schulter legte, schreckte Rameau aus seinem aufmerksamen Beobachten auf, und sich umwendend, sah er in Talvannes blasse, verstörte Züge.

»Ich suche dich,« sagte der Irrenarzt hastig.

»Wie erregt du bist! . . . Was ist denn vorgefallen?« fragte Rameau besorgt, indem er dem Freund fest ins Auge sah.

Talvanne, der so stürmisch herbeigeeilt war und offenbar große Eile gehabt hatte, sich mitzuteilen, hielt jetzt an sich und schwieg, als ob er in diesem Augenblick entdeckt hätte, daß ein Abgrund sich unter ihm aufthue.

»Du bist ja ganz außer dir! . . . Was geht vor sich?« fragte Rameau, dessen Erregung in demselben Maß zunahm, als der Freund sich abkühlte.

Mit sichtlicher Ueberwindung und verlegener Miene preßte Talvanne schließlich die Worte heraus: »Du mußt kommen . . . Die Ambulanzen sind überfüllt . . . Man wird die Verwundeten auf die kleinen Marnedampfer bringen müssen, um sie zu Wasser nach Paris zu schaffen . . .«

»Das konntest du doch alles an meiner Stelle anordnen . . .«

»Deine Gegenwart ist aber dringend nötig,« fiel ihm Talvanne ins Wort und in förmlich barschem Ton wiederholte er: »Du mußt kommen!«

»So!« sagte Rameau mit einer dumpfen Angstempfindung, indem er sich ohne weiteres Hin- und Herreden dem Dorfe zu in Bewegung setzte. Nach ein paar hundert Schritten warf er einen prüfenden, durchdringenden Blick auf den Freund und sagte mit ganz veränderter Stimme: »Es muß sich irgend etwas Besondres ereignet haben! Du willst es mir nicht sagen, und gerade das erschreckt mich . . . Deine Schonung wird mir zur Qual . . . Heraus damit, was ist's?«

Talvanne zuckte die Achseln und begann dann stotternd, als ob er nach Atem ringen müsse: »Nun denn! Man hat uns viele Deutsche hereingebracht, Schwerverwundete . . . und unter diesen . . .«

Rameaus Züge verzerrten sich, er war totenblaß geworden.

»Münzel?« rief er und packte den Freund am Arm.

Talvanne erwiderte nichts; er nickte nur schweigend mit dem Kopf.

»Ist er tot?«

»Nein, er lebt, aber die Verletzung ist sehr schwer . . .«

Rameau hörte nichts mehr; er lief nach der Ambulanz. Im nächsten Augenblick war er dort, und atemlos, ohne auf etwas andres Rücksicht zu nehmen, stürzte er sich in den dichten Menschenknäuel, stieß Aerzte und Krankenträger unsanft beiseite und drängte sich nach dem Hof durch, wo die Verwundeten, die im Haus kein Unterkommen mehr hatten finden können, auf Strohmatratzen nebeneinander lagen.

»Wo hat man ihn hingelegt?« rief er, als ob alle, die ihn staunend umstanden, wissen müßten, um wen er zitterte. Talvanne, der ihm so rasch als möglich nachgeeilt war, trat jetzt auf ihn zu, nahm ihn beim Arm und führte ihn nach einem kleinen, von Kugeln durchlöcherten Häuschen, der einstigen Wohnung des Fabrikaufsehers. Er stieß die kaum noch in den Angeln haltende Thür auf und flüsterte: »Da drinnen!«

Rameau machte einen Schritt vorwärts, blieb aber von Entsetzen gefesselt stehen: der Anblick, der sich ihm bot, war grauenerregend. In einem Raum von höchstens ein paar Metern im Quadrat lagen zehn Menschen mit zerfetzten Mänteln und blutigen Hemden, und aus jeder Brust erklang ein dumpfes Stöhnen, das in einen einzigen langgezogenen Wehlaut zusammenklang. Zwischen dem Stroh, das den Fußboden bedeckte, rieselte das Blut, und ein schwärzlicher schon halb geronnener Streifen sickerte langsam die Staffel herab. Es waren lauter Offiziere, die man hier unter der Aufsicht eines preußischen Gefreiten, dem die Kinnlade zerschmettert war, zusammengelegt hatte. Ihr Wächter saß auf einem Block zum Holzspalten, der, kein Mensch weiß wie, da hineingeraten war, und drückte die Hand auf seine klaffende, sternförmige Wunde.

»Münzel?« herrschte ihn Rameau in befehlendem Ton an.

Der Mann richtete den Kopf in die Höhe, stand auf, grüßte militärisch und stammelte mühsam, denn er konnte die Zähne nicht voneinander bringen, die Worte heraus: »Kenne ich nicht. Ist es der Hauptmann?«

Einer der Verwundeten richtete sich halb auf und auf den Ellbogen gestützt bezeichnete er, ohne zu sprechen, dem Doktor eine Ecke des engen Raumes, in der mit einem Mantel bedeckt eine menschliche Gestalt ruhte. An Leib und Seele zitternd beugte sich Rameau nieder, hob die Decke ab und erkannte den Freund, der, das Haupt nach hinten hängend, mit geschlossenen Lidern und totenblaß vor ihm lag. Er sah sich prüfend um, erblickte Talvanne, der am Fußende der Pritsche stand, winkte ihm, näher zu treten, und befahl dem Gefreiten: »Da komm her. Nimm ihn an den Schultern und richte ihn auf.«

Und da die Beleuchtung höchst ungenügend war, und er sich überdies in dem engen Raum mit dem entsetzlichen Geruch von Blut und nassem Stroh dem Ersticken nahe fühlte, stieß er mit der Faust ein Fenster ein, that einen tiefen Atemzug in der frischen Luft, die rasch hereinströmte, und ließ sich dann auf die Kniee nieder, um die Wunde eingehend zu untersuchen. Eine braune, schon ganz trockene Blutkruste war um einen der großen Risse in Münzels Hemd zu erblicken, etwa in der Höhe des Zwerchfells. Rameau schnitt die Leinwand auf, legte die Hüfte bloß und fand zu seinem Entsetzen unterhalb der Rippen in der Höhe der Darmbeingrube ein kleines blutendes Loch, eine durch die gefährliche Chassepotkugel hervorgebrachte Verletzung. Nirgends eine Spur eines zweiten Loches; das Blei war in der Wunde stecken geblieben.

»Hilf mir,« sagte er in festem Ton zu Talvanne; mit der Ausübung seines Berufes hatte Rameau seine volle Kaltblütigkeit und Energie wiedergewonnen. Er breitete sein Etui auf dem Holzblock aus, nahm eine Sonde heraus und senkte sie mit sicherer Hand in die Wunde. Dieselbe war sehr tief, und der Blick des Arztes verdüsterte sich. Er legte das Instrument beiseite und bewaffnete sich mit dem elektrischen Kugelsucher, den er kühn in das klaffende Loch versenkte. Ein Schauer überlief den Körper des Verwundeten, und ein dumpfes Stöhnen kam von seinen Lippen. Ein leises Klingeln ward hörbar; das Instrument war mit dem Geschoß in Berührung gekommen.

»Gib mir die Kugelzange; ich werde sie gleich haben,« sagte Rameau zu Talvanne, ohne von Münzels Wimmern und Zucken Notiz zu nehmen.

Mit der Gewandtheit, die seinen Ruhm begründete, führte er das Instrument ins Fleisch ein, und mühelos, als ob seine Fingerspitzen Augen hätten, zog er das flachgedrückte Blei hervor.

»Sind Knochensplitter da?« fragte Talvanne.

»Nein,« versetzte Rameau kurz.

»Welchen Lauf hat die Kugel genommen?«

»Sie hat die Leber gestreift und sich in der Nähe des Darmes festgesetzt.«

Der Psychiater schüttelte den Kopf und stellte keine weiteren Fragen. Er konnte das Besorgniserregende des Falles voll ermessen und hielt Münzel für verloren. Der Doktor fuhr noch immer knieend in seiner Untersuchung fort und beobachtete den Verwundeten nun mit angstvollen Blicken; mit geschlossenen, aufgedunsenen Lidern lag er, mühsam atmend, da; bei der Berührung mit den Instrumenten hatte sein Leib schmerzlich gezuckt, und ein Schrei hatte sich seiner Brust entrungen, aber er war sich dessen nicht bewußt, nur der Körper hatte reagiert. Das Gehirn war völlig betäubt, ein dichter Nebel hüllte seine Gedanken ein.

»Er kommt nicht zum Bewußtsein,« sagte Talvanne. »Es muß ein Bluterguß nach innen stattfinden; er ist am Ersticken und die Wunde kaum feucht.«

»Ja, wir müssen ihm zu Ader lassen,« erklärte Rameau, »ohne das ist er noch in dieser Stunde unbedingt verloren . . . wenn wir es hinausziehen können bis morgen – wer weiß?«

Und mit dem Selbstvertrauen eines Mannes, der Wunder zu wirken gewöhnt ist, betrachtete er den Freund. Gehorsam wie ein Untergebener riß Talvanne sein Taschentuch in Streifen, unterband den Arm des Verwundeten und sagte, indem er Rameau die Lanzette bot: »Thue du es: dein Glück soll ihm zu gute kommen.«

Ein rötlicher Tropfen erschien auf Münzels Haut, und langsam begann das Blut zu fließen. Es waren schon so viel blutige Lachen am Boden, daß keiner der Aerzte daran dachte, das hier entzogene in einem Gefäß aufzufangen; man ließ es einfach fließen und es verbreitete sich rasch über das Strohlager. Ein tiefes Aufseufzen ward hörbar; der Atem ging sichtlich leichter, die Lider bewegten sich und Franz schlug die Augen auf. Sein unsteter, halbverschleierter Blick glitt über die kahlen Mauern und die elenden Lagerstätten, auf denen seine Leidensgenossen ruhten; es huschte wie ein düsterer Schatten über seine Züge. Allmählich kehrten ihm Verständnis und Erinnerung zurück: er fing an sich klar zu machen, wie er hierher gekommen und weshalb er mit diesem stechenden Schmerz in den Eingeweiden hier lag. Ein frischer Luftzug strich belebend über seine Stirn, und undeutlich und verworren drang der Lärm der Kanonen an sein Ohr. Er versuchte sich aufzurichten, zwei hilfreiche Arme unterstützten ihn dabei; er blickte auf, und über ihn gebeugt, gerade wie damals, als er so krank gewesen, erkannte er Rameaus besorgte Züge. Er ward leichenbleich, sein Gesicht verzerrte sich noch mehr und ein heftiges Zittern befiel ihn.

»Franz!« rief der Doktor, von Jammer und Rührung überwältigt. »Franz, mein armer Freund, mein teures Kind!«

Bei diesem Ton, der aus dem innersten Herzen des Mannes kam, der ihn so ehrlich lieb gehabt, stieß der Verwundete einen tiefen Seufzer aus, zwei Thränen rannen ihm die Wangen herab, in seinen Augen malte sich namenlose Seelenangst, und die Hände stehend erhoben, flüsterte er mit schwacher Stimme: »Rameau! . . . Gott hat also nicht gewollt, daß ich sterbe, ohne dich wiederzusehen!«

»Sterben! Retten will ich dich!« sagte der große Arzt, indem er seine bebende Hand dem Freunde auf die Stirn legte: »Leben sollst du!«

Ein bleiches Lächeln spielte um Münzels Lippen.

»Jetzt, nachdem du mich geküßt hast, wäre es freilich schade,« hauchte er leise.

Von neuem verlor er das Bewußtsein, und tiefblaue Flecken zeigten sich auf seinen Wangen. Erschrocken trat Rameau näher.

»Er atmet!« sagte er zu Talvanne. »Jetzt gilt es, ihn zu dir zu befördern. Dort wird er am besten untergebracht sein . . . Eine Tragbahre werden wir schwerlich zu unsrer Verfügung haben . . . nehmen wir also meinen Wagen, wenn man Schritt fährt . . .«

Sie waren nicht mehr allein in dem kleinen Saale. Ein Militärarzt mit zwei Heilgehilfen untersuchten die Kranken, die der Wand entlang lagen; Verwünschungen, Hilferufe und Stöhnen erhoben sich aus allen Ecken, und das Knirschen der Instrumente verriet, welche Qualen die Unglücklichen zu erdulden hatten. Ein frisch abgesägter Arm war gleichgültig quer über die Thürschwelle geworfen worden, und mit hohlen Augen und eingefallenen Lippen starrte ein junger Offizier, der eben hereingebracht wurde, entsetzt auf den blutenden Stummel. Unaufhaltsam wurden neue Verwundete abgeliefert, bunt durcheinander: Franzosen und Deutsche, immer mehr füllte sich jeder Winkel und in gelben Omnibussen mit der Aufschrift »Madeleine–Bastille« wurden ganze Wagenladungen von armen Opfern, traurige Trümmer des Schlachtfelds, in der Richtung nach der Marne weggeführt.

»Wir werden Ihnen Platz machen,« sagte Rameau zu dem Regimentsarzt. »Geben Sie mir zwei Mann, um diesen Verwundeten fortzuschaffen.«

»Zwei Mann? Ja, verehrter Professor, wo soll ich denn die hernehmen? Unsre Träger legen heute selbst Verband an, wir sind vollständig überflutet . . . Aber, wollen Sie denn fort?«

»Vorwärts, Talvanne,« befahl der Doktor, ohne sich mit einer Antwort auf die Frage des Kollegen aufzuhalten, »dann müssen wir beide dran!«

Der eine faßte Münzel an den Beinen, der andre unter den Armen und so verließen sie mit ihm den dumpfen Raum und trugen ihn nach einem etwa hundert Schritt entfernten Gehölz, wo Rameaus Wagen unter dem Schutze der aufgehißten roten Kreuzesflagge hielt. Die beiden Männer betteten den immer noch Ohnmächtigen sorgsam in die Kissen des Wagens.

»Setze dich zum Kutscher und rasch nach Vincennes!« befahl Rameau. »Bringe ihn dort gut unter und weiche nicht von ihm. Mein Platz ist hier . . . Es gibt zu viel Arbeit, als daß ich meinen Posten verlassen dürfte.«

Er sah Talvanne warm in die Augen und drückte ihm kräftig die Hand.

»Ich verlasse mich ganz auf dich. Du wirst alles Nötige vornehmen, und wenn ihm etwas zustößt, so laß es mich sofort wissen . . . Vor Abend komme ich hier keinesfalls los, aber die Pflicht geht vor . . .«

»Sei ganz ruhig,« sagte Talvanne. »Das Menschenmögliche soll geschehen, aber komm, sobald du kannst.«

Der Wagen setzte sich in Bewegung und Rameau kehrte kopfschüttelnd und mit schwerem Herzen an seine gräßliche Arbeit zurück. Am Abend, nachdem die einbrechende Dunkelheit die kämpfenden Armeen getrennt hatte, schien wieder etwas mehr Klarheit und Ordnung im Dienst zu herrschen. Die französischen Truppen biwakierten auf den dem Feinde abgenommenen Höhen und ihre Wachtfeuer beleuchteten die Hügel, welche gestern noch der Belagerer inne gehabt. Ein eisiger Wind bog die hohen Pappeln am Ufer der Marne, und auf der hart gefrornen Landstraße rasselten die Munitionswagen mit dumpfem Dröhnen dahin. Eine große Truppenbewegung ward ausgeführt und man glaubte sich allgemein zu der Annahme berechtigt, daß der Ausfall, welcher für Frankreich so glücklich begonnen, am andern Tage zu einem weittragenden Siege führen werde.

Sobald er die nun fast gänzlich geräumten Ambulanzen hatte verlassen können, machte sich Rameau in der Richtung nach Vincennes auf den Weg und schritt zu Fuß die Landstraße dahin, die durch Patrouillen, Munitionswagen unter starker Bedeckung und allerhand Transporte der Verwaltung nicht eben leicht zu begehen war. An der Brücke war es nötig, daß er sich zu erkennen gab, denn die Wache hatte Befehl, niemand durchzulassen. Ein Regiment der Mobilgarde, mit der die Generäle von altem Schrot und Korn stets ein Hühnchen zu pflücken hatten und die nichtsdestoweniger ihr Leben heute so wacker eingesetzt hatte wie jede andre Truppe, hatte sein Nachtlager im Schutz der Böschung, die sich zu beiden Seiten der Straße erhob, aufgeschlagen. Auf dem jenseitigen Flußufer waren von den Forts herübergekommene Marinesoldaten beschäftigt, zwei große Geschütze, die morgen die Anhöhe beschießen sollten, in Stellung zu bringen. Von einem Floß aus beobachteten einige Ingenieure mit gespannter Aufmerksamkeit das Steigen des Flusses, dessen rasch anwachsende Wassermasse für die bei Nogent geschlagenen Schiffsbrücken nicht ohne Gefahr war.

Rameau war überarbeitet und erregt, der Frost schüttelte ihn und er fühlte sich fieberig. Hastig schritt er der Talvanneschen Heilanstalt zu und sah, nachdem er Joinville erreicht hatte, bald die Lichter des Gebäudes zwischen den entlaubten Bäumen des Gartens hindurchschimmern. Die Thore des Parkgitters waren weit geöffnet und sein Wagen stand ausgespannt im Hofe. Er eilte die Stufen der Terrasse hinauf, durchschritt die Vorhalle und trat, ohne anzuklopfen, in das Studierzimmer des Hausherrn. Eine dunkle Frauengestalt erhob sich bei seinem Eintritt hastig und Rameau erkannte Conchita. Sie blieb wortlos vor ihm stehen und war so erschüttert und verstört, daß er, der nur an Münzel dachte, in die angstvolle Frage ausbrach: »Komme ich zu spät?«

»Nein,« erwiderte sie mit tonloser Stimme. »Ich war in der Ambulanz, als man ihn brachte. Er war ohnmächtig und ist jetzt eben erst zur Besinnung gekommen.«

In dem Augenblicke erschien Talvanne auf der Schwelle.

»Ach, da bist du ja endlich!« rief er. »Münzel hat schon zweimal nach dir gefragt.«

Talvanne und die junge Frau wechselten einen raschen Blick, und ein bitteres Lächeln entstellte Conchitas Lippen, als sie ganz leise sagte: »Dich will er sehen . . . niemand außer dir.«

»Wo liegt er?«

Die beiden Aerzte gingen hinaus; Frau Rameau blieb allein. Wenn ihr Mann noch einen Blick auf sie geworfen hätte, würde die Veränderung in ihren Zügen ihn furchtbar erschreckt haben, allein er hatte nur Gedanken für den Verwundeten. Am Ende eines Flurs machte der Irrenarzt eine Thür auf und bedeutete Rameau, einzutreten.

»Da haben wir ihn hingelegt!«

»In dein eignes Zimmer! Wie gut von dir, Talvanne,« sagte Rameau gerührt, indem er dem Freunde so warm und liebevoll die Hand drückte, daß dieser kaum seine Thränen zurückhalten konnte. Münzel lag auf dem Bette, dessen Vorhänge man weit zurückgeschlagen hatte, um der Luft freieren Durchzug zu schaffen; das Licht einer Lampe fiel hell auf seine wachsbleichen Züge. Er hatte die Augen offen, der Mund verzog sich zu einem mühsamen Lächeln und er fuhr unruhig mit dem Kopfe auf dem Kissen umher.

»Rühre dich nicht vom Fleck!« rief Rameau, nach seinem Handgelenk greifend, das er eisig kalt fand. Der Puls war langsam und fadendünn.

Rameau schlug das Betttuch zurück, zog das Hemd weg und untersuchte die Wunde, die er angeschwollen fand. Der Länge nach über den Leib bis zur Hüfte hin war eine harte, schmerzhafte Anschwellung in der Bildung begriffen. Rameau befestigte den Verband wieder und setzte sich mit gelassener Miene ans Bett; Münzel ließ ihn nicht eine Sekunde aus den Augen und suchte die Gewißheit über Leben oder Tod ihm, den er in seinem Berufe als unfehlbar kannte, am Gesicht abzulesen.

»Es steht alles gut,« sagte Rameau, »aber du mußt Schmerzen haben. Wir müssen sorgen, sie dir zu erleichtern.«

Er stand auf und trat an Talvanne heran, der am Kamin stehen geblieben war. Ohne eine Miene zu verziehen, sagte er leise: »Er ist verloren . . . Der Darm ist schwer verletzt, es kann keine zwölf Stunden mehr dauern . . . ich werde ihm Morphium geben . . .«

Talvanne senkte traurig das Haupt; Rameaus Ruhe hatte für ihn etwas Schaudererregendes.

»Laß dir nichts anmerken. Er beobachtet uns,« fuhr er fort. »Ersparen wir ihm wenigstens seelische Leiden und die Angst vor dem Sterben. Besorge mir alles, was ich brauche . . .«

Talvanne ging hinaus, erteilte einem seiner Assistenten die nötigen Anweisungen und trat dann in sein Arbeitszimmer, um Conchita aufzusuchen.

»Nun?« fragte sie, hastig in die Höhe fahrend, indem sie dem Freunde ihres Gatten mit glühenden Blicken ins Gesicht sah. »Wie steht es? Verheimlichen Sie mir nichts! Ich beschwöre Sie!«

»Rameau hat keine Hoffnung mehr.«

Entsetzt rang Conchita die Hände. Ohne ein Wort zu sprechen, standen Talvanne und sie sich regungslos, völlig vernichtet gegenüber, als ob in diesem Augenblicke jegliche Zukunftshoffnung in Trümmer ginge. Die junge Frau faßte sich zuerst, und unbesorgt darum, daß man sie höre, ganz ihrem Schmerz hingegeben, rief sie in herzzerreißendem Tone: »Ich will ihn sehen! . . . Er soll nicht sterben, ohne daß ich mit ihm gesprochen habe! . . .«

»Ihr Gatte ist bei ihm.«

»Was liegt daran! . . . Ich will zu ihm, ich muß ihn sehen!«

»Sie vergessen jedes Gebot der Vernunft!«

Er sah ihr fest ins Auge.

»Ueberdies wissen Sie sehr wohl, daß er es abgelehnt hat, als ich ihn fragte, ob ich Sie zu ihm lassen solle . . .«

»Da wußte er noch nicht, daß er sterben muß.«

»Das weiß er auch jetzt nicht und er wird es nicht erfahren. Rameau will, daß er ohne körperlichen Schmerz und ohne seelisches Leiden vom Leben scheide . . . Er wird mit der Ueberzeugung, daß es ein Erwachen für ihn gibt, einschlafen.«

»Und das Heil seiner Seele?« rief die junge Frau mit maßloser Heftigkeit. »Ohne eine Tröstung . . . ohne ein Wort der Hoffnung . . . ohne einen Priester? Ihm dies Ende zu bereiten, ist natürlich meines Mannes Absicht? . . . Mag er für seine Person Atheist sein, über des andern Gewissen hat er nicht zu verfügen! Was er da beabsichtigt, ist ein himmelschreiendes Unrecht! Wer gibt ihm die Berechtigung, den Unglücklichen der ewigen Verdammnis anheimzugeben? Ich dulde das nicht! Nein, nein und abermals nein! Das darf nicht geschehen!«

»Sagen Sie das ihm selbst,« erwiderte Talvanne ernst.

Mit einem Ausdruck finsterer, unbarmherziger Entschlossenheit rief sie: »Das werde ich auch!«

»Hüten Sie sich wohl!«

»Glauben Sie, daß irgend etwas mich davon abhalten könnte?«

Schon war sie zum Zimmer hinausgestürzt; voll Angst vor dem Kampf, der sich unfehlbar entspinnen mußte, eilte Talvanne ihr nach. Das Zimmer, in dem der Verwundete seine Qualen litt, hatte den Eingang durch ein kleines Wohngemach. Dort hielt sie atemlos inne und blieb wartend vor der Thür in den inneren Raum stehen. Man hörte Rameau in demselben hin und her gehen und vernahm leises Geräusch.

Ein Zittern der Ungeduld überlief die junge Frau.

»Was gibt er ihm wohl?« flüsterte sie. »Er will wohl seine Vernunft betäuben, sein Gewissen einlullen . . . Ich muß ihn sprechen . . . Es muß sein!«

Schon hatte sie die Hand auf die Klinke gelegt, als die Thür von innen geöffnet ward und Rameau heraustrat. Leise glitt Talvanne an ihm vorüber und setzte sich an seiner Stelle ans Krankenbett; die Gatten waren allein.

»Wie steht es?« fragte sie.

Die Augen voll Thränen schüttelte Rameau schmerzlich den Kopf und erwiderte mit einer gewissen Feierlichkeit: »Er wird schlafen.«

»Schlafen?« wiederholte Conchita. »Das heißt sterben?«

»Ja, denn zu retten vermag ihn unsre Wissenschaft nicht.«

»Und das ist diese Wissenschaft, mit der ihr euch brüstet!« rief sie bitter. »Nicht einmal zur Rettung eines teuren Wesens gibt sie euch das Mittel in die Hand! Und einem so wertlosen, so unfähigen, unbrauchbaren Ding habt ihr auf den Trümmern jedes frommen Glaubens Altäre errichtet! Sterben! Sterben! . . . Den andern sterben lassen, das kann ein jeder! Leben erhalten kann Gott allein!«

Rameau hörte ihr mit schmerzvollem Ausdruck zu; er erwiderte kein Wort.

»Hast du deinem Freund gesagt, daß er Gottes Gnade anrufen soll?« fuhr sie fort, »Hast du ihm gesagt, daß sein Leben in Gefahr und daß es hohe Zeit ist, das Heil seiner Seele zu sichern? Hast du ihn gefragt, ob der Priester an sein Lager treten soll? Er ist ein Christ, er glaubt . . . hast du das bedacht?«

»Ja,« erwiderte Rameau fest und bestimmt.

»Und was gedenkst du zu thun?«

»Ich werde sein Leben friedlich erlöschen lassen.«

»Das hat mir Talvanne gesagt. Wer gab dir das Recht, so zu handeln?«

»Ich nehme es mir.«

»Du gibst ihn der Verdammnis preis.«

»Wenn Münzel vor einen Richter zu treten hat, so braucht er seine Strenge nicht zu fürchten – er ist ein guter Mensch gewesen; er kann ruhig scheiden.«

»Was weißt du davon?« fragte Conchita hoch aufgerichtet und das Gedächtnis ihrer Schuld glühte aus ihren Blicken.

Erstaunt sah ihr Gatte sie an, sie aber fuhr fort: »Hat er dir alles gestanden? Kennst du die Einzelheiten seiner letzten Lebensjahre? Deine Voraussetzungen sind sehr kühn – wie immer!«

Er runzelte die Stirn und offenbar fing er an eine gewisse Unruhe zu empfinden.

»Hat er solches Vertrauen zu dir gehabt, daß du erfahren hast, was er mir verbarg?«

»Was er uns oder einem andern geoffenbart oder verheimlicht hat, davon handelt es sich nicht in dieser Stunde,« entgegnete sie entschlossen, »sondern einzig darum, was er in seinem letzten Augenblicke Gott zu vertrauen haben könnte. Ich weiß es wohl, daß für dich, den hohen, freien Geist, all unsre Bräuche lächerlich sind, aber für uns Katholiken sind sie heilig und wichtig. Stoße du, wenn deine Vermessenheit bis zum letzten Atemzuge vorhält, für deine Person den Trost der Kirche von dir, aber beraube nicht kraft deiner ärztlichen Macht deinen Nebenmenschen alles dessen, was ihm sein Ende versüßen, ihm den Durchgang durch den Tod zum höheren Leben erleichtern und ihm die Aufnahme in die ewige Glückseligkeit sichern kann. Du bist nicht Herr über das Gewissen eines andern, du kannst deine Anschauungen nicht an Stelle der seinigen setzen, und wenn du eine derartige moralische Tyrannei ausübst, so begehst du ganz einfach ein Verbrechen!«

»Gut! Ich nehme die Verantwortlichkeit dafür auf mich. Möge euer Gott – wenn ein solcher ist – mich strafen und den Freund schuldlos sprechen.«

»Deine Gotteslästerungen schreien zum Himmel,« rief Conchita entsetzt. »Solche Reden wagst du jetzt, da der Tod dein Antlitz streift!«

»Der Tod,« sprach Rameau mit tiefer Traurigkeit. »Ja, das ist's, was alle schreckt, selbst wetterfeste Herzen, und doch ist er es nicht, das all unsrem Elend ein Ende macht? Armer, geliebter Freund! Da liegst du und verbrennst an inneren Qualen und dein Leib zuckt in tödlichem Schmerz, und nun soll ich zu all dieser körperlichen Not noch die Seelenangst gesellen! Während du dich nur danach sehnst, daß diese Schmerzen nachlassen, soll ich sie verlängern bis zu deinem letzten Atemzug. Aber sei ruhig, das wird nicht geschehen. Du wirst einschlafen, du treuer Kamerad, und mit diesem Schlaf wird die Ruhe für dich beginnen. Dein Leiden erbarmt mich, und statt es in die Länge zu ziehen, werde ich es in Verzückung enden lassen. Was das Jenseits dir vorbehält, ich weiß es nicht, aber ich will dir die letzten Stunden hienieden leicht machen und will in deinem brechenden Blick nicht die Angst vor jenem großen, dunkeln, unbekannten Etwas lesen, du wirst einschlummern, und wenn es aus diesem Schlaf ein Erwachen gibt, so wirst du dann erkennen, wie sehr ich dich geliebt!«

Wie verklärt stand Rameau vor Conchita. Die Wahrheit und Wärme seiner Freundschaft leuchtete aus seinen Zügen und der Strahl eines wahrhaft göttlichen Glaubens schimmerte in seinem Blick. Er war fähig, jede Qual zu ertragen, jedes Urteil über sich ergehen zu lassen, dem Manne zuliebe, der da drin mit dem Tode rang; sein Gefühl für ihn verlieh ihm eine sittliche Kraft, vor der sich jede andre Gewalt beugen müßte. Die unumstößliche Gewißheit, daß er das Gute wolle, beseelte ihn, und mit dieser Ueberzeugung konnte ein Mann wie er alles beherrschen.

Er that einen Schritt nach dem Krankenzimmer, da warf sich Conchita ihm in den Weg. War er entschlossen, so war sie verzweifelt und über alles Maß hinaus erregt, und ihrer beider Anschauungen mußten bis zum letzten Augenblick sich befehden. Sie fühlte, daß er sich ihrem Einfluß entziehen wollte und daß sie das Spiel verloren hatte. Eine düstere Glut brannte in ihren Augen und drohend, fürchterlich faßte sie den Arm ihres Gatten.

»Höre mich an,« flüsterte sie. »Was jetzt zwischen mir und dir vorgeht, ist ernster, als du vermutest. Es handelt sich nicht um den Wahn einer Frau, die sich von ihrer gesteigerten Frömmigkeit hinreißen läßt. Es darf nicht geschehen, verstehe mich wohl, es darf nicht geschehen, daß dieser, dessen Seele Gott fordert, ohne –«

»Wessen ist er schuldig? Weißt du das?«

»Ja, ich weiß es!«

»Wie kommst du dazu?«

»Das gehört nicht hierher – genug, ich weiß es!«

»Dann vertraue es mir an!«

»Dir?« stieß sie erschrocken hervor.

»Ja. Ich will dann in meinem Gewissen erwägen, ob die Sünde groß genug ist, um die furchtbare Züchtigung der Todesangst, zu der du den Unglücklichen verdammst, zu verdienen. Ist dem so, so soll dir Genugthuung werden – mein Wort darauf. Jetzt sprich!«

Conchitas Lippen bewegten sich zitternd. Der Entscheidung gegenübergestellt, entweder ihre eigne Ruhe zu sichern, oder Münzels Seele zu retten, war sie auf dem Punkt, ihrem Gatten alles zu gestehen. Eine tödliche Blässe entfärbte ihre Wangen, ihre Augen flackerten unstät, als ob eine Ohnmacht sich vorbereite. Was sie vor sich sah, war nicht mehr ihre wirkliche Umgebung: sie blickte in finstere Dunkelheit, durch die von Zeit zu Zeit leuchtende Flammen züngelten – sie wähnte, die Hölle vor sich zu sehen. Entsetzliche Jammerrufe und dann wieder die dumpfen Klänge des Dies irae surrten vor ihren Ohren; ganz deutlich hörte sie die Stimmen höllischer Dämonen, die ihr zuriefen: »Sprich nicht! Du stürzest dich ins Verderben!« Und dann erklangen himmlische Chöre aus lichter Höhe, die dem Geschrei der Bösen zu antworten schienen, und ihr Lied lautete: »Bring dein Selbst zum Opfer! Sühne seine That, büße für ihn, auf daß er der Sünde ledig!« Dem Wahnsinn nahe, ganz in ihrer Vision verloren und davon hingerissen, flüsterte sie: »Nun denn, wenn du selbst es forderst, so sei es!«

Aber der Trieb der Selbsterhaltung lebte wieder auf; ein Grauen vor dem Geständnis gebot ihr Einhalt. Sie schlug die Augen auf, sah, daß sie mit ihrem Gatten, der sie unverwandt ansah, allein war, erbebte und faßte sich.

»Bist du ein Priester, daß du mir die Beichte abnehmen willst?« sprach ihr bleicher Mund.

Ein wehmütiges Lächeln flog über Rameaus Züge.

»Ich brauche keine Beichte, weil du mir nichts mitzuteilen hast, armes, thörichtes Kind! Gib es auf, dich gegen mich aufzulehnen, und quäle dich nicht länger in dieser furchtbaren Weise. Dein religiöses Empfinden ist allzustark erregt und die herbe Not, die auf uns allen lastet, hat deine Nerven erschüttert. Ich verstehe das vollkommen und bemitleide dich, ohne dir den leisesten Vorwurf zu machen. Beruhige dich, fasse dich und laß mich ungestört meine schmerzliche Pflicht erfüllen!«

Conchita gab keine Antwort. Ein krampfhaftes Auflachen tönte unheimlich durch die Stille. Sie erhob die Hand gen Himmel, als ob sie diesen zum Zeugen aufrufen wollte, und sprach: »Du willst also mein Flehen nicht erfüllen? Du weigerst mir diese Gnade?«

»Ja! Denn ich bin der Menschlichkeit, in deren Namen ich handle, sicherer als der Gottheit, deren Rechte du vertrittst.«

»Hüte dich wohl! Du verwundest mich da, wo meine Seele am empfindlichsten ist.«

»Du wirst darüber nachdenken, wirst mich verstehen und mir vergeben.«

»Nie und nimmermehr!« rief sie rasend.

»Es sei!« versetzte er kalt.

Ein dumpfer Schmerzenslaut drang aus dem Nebenzimmer.

»Du entschuldigst mich wohl: mein Kranker bedarf meiner, und das geht allem vor.«

Er machte die Thür auf und schritt unerbittlich und gelassen an der jungen Frau vorüber. Einen Augenblick starrte sie ihm wie gebannt nach, dann sank sie, völlig gebrochen, in die Kniee und flüsterte in brünstigem Flehen: »Mein Gott! Mein Herr und mein Gott! Allmächtiger! Erbarme dich sein und vergib mir!«

Den Kopf zu Boden gesenkt, taub für alles, was um sie her vorging, blieb sie in dieser Stellung, ganz in ihr Gebet versenkt. Stunde um Stunde verrann, die Nacht brach herein, immer tiefer ward die Stille, und einsam und allein lag sie in tiefer Andacht an der Schwelle der Thür, die sie von dem Sterbenden trennte.

Erst viel später kam ihr dunkel in Erinnerung, daß Rameau einen Augenblick herausgekommen war, sie gezwungen hatte, sich zu setzen, und ihr mit ernsten, bewegten Worten zugeredet hatte, sich zu fassen und zu beruhigen, und daß Talvanne lange bei ihr gewesen war, daß er aber kein Wort gesprochen, sondern ihre Sammlung ehrend, sie nur mit Besorgnis und Rührung angeblickt hatte. Ein Schleier lag auf allem, was nach dem entsetzlichen Wortwechsel zwischen ihr und dem Gatten sich ereignet hatte; wie ein qualvoller Traum, voll Jammer und Todesangst, lebte die furchtbare Nacht in ihrem Bewußtsein. Kraftlos, scheinbar leblos verbrachte sie die endlosen Stunden und ihre Lippen stammelten flehende Worte, indes die Erwartung ihre Seele in Spannung erhielt. Worauf wartete sie denn? Auf den unvermeidlichen Tod des Aermsten, der im Todesschweiß röchelnd sich auf seinem Lager wälzte? Welch jammervolles Knieen am Fuß dieses Kalvarienbergs! Welche Buße für ihre sündhaften Glücksstunden!

Wenn ihr dann die geistige Klarheit und Denkkraft wiederkehrte, so gab es für sie keine noch so leise Regung des Zweifels. Angesichts dieses furchtbaren Geheimnisses, am Rand der schwarzen Gruft, in welcher der, den sie beweinte, versinken mußte, beschlich sie nicht eine Sekunde der Glaubensschwäche, die sie der Qual der Ungewißheit preisgegeben hatte. Aus ihren heutigen Gedanken und Erlebnissen schöpfte sie nur erhöhte Gewißheit; die Hoffnung, daß alle, die reuigen Herzens waren und die vor dem Tod ihre Sünde bekannten, sich in der Ewigkeit dereinst wiederfinden werden, ward ihr zur unumstößlichen Gewißheit. Diese Vorstellung aber nährte und steigerte ihren bittern Kummer darüber, daß der, den sie heute verlor, sein Leben aushauchen sollte, ohne in den Stand der Gnade zu treten, und mit der Gewalt ihrer Ueberzeugung wuchs das Maß ihrer Verzweiflung. Dann beugte sie das Haupt zur Erde und ganz leise, in aller Demut und Selbsterniedrigung, deren ihre Seele fähig war, rief sie die göttliche Barmherzigkeit an und rang mit heißem Flehen um die Vergebung für ihn, den Schuldigen.

Gegen zwei Uhr morgens fühlte sie, wie eine Hand sich auf ihre Schulter legte, und aufblickend sah sie Talvanne bleich und ernst vor sich stehen. Ihre Augen richteten die große Frage an ihn und er neigte das Haupt in trauervollem Bejahen.

»Es ist vorüber?« stammelte sie.

»Es ist zu Ende.«

»Schmerzlos?«

»Vollkommen schmerzlos.«

»Ohne eine Ahnung des Todes?«

»Ohne eine Ahnung.«

Sie zögerte, dann fragte sie leise: »Was war sein letztes Wort?«

»Er ist aus seiner Betäubung erwacht und hat Ihren Mann, der ihm eine beruhigende Medizin beizubringen versuchte, angesehen. Ein sonniges Lächeln, als ob er sich ganz wunderbar wohl fühle, flog über sein Gesicht und er flüsterte leise und innig: »Ich danke dir!««

»Sein letztes Wort galt also ihm,« sagte sie mit großer Bitterkeit.

Sie wandte sich nach dem Sterbezimmer und überschritt die Schwelle desselben, Rameau, der neben dem Bett gesessen hatte, stand auf und wies ihr mit der Hand den toten Freund, der mit geschlossenen Augen und schon so blaß und kalt, als ob all sein Blut durch die Wunde entströmt wäre, dalag. Er richtete kein Wort an die junge Frau, die er in ihrem Denken und Empfinden nicht stören wollte, und zog sich in das Nebenzimmer zurück, um sie ihr frommes Werk allein verrichten zu lassen. Sie kniete nieder und sprach die Totengebete, dann löste sie ein goldenes Kreuz, das sie immer trug, von ihrem Hals, legte die kalten Totenhände betend ineinander und drückte das heilige Symbol in die erstarrten Finger. Das schien ihr Trost gewährt zu haben, und ruhiger werdend, wandte sie sich nach Talvanne um: »Versprechen Sie mir, daß er so begraben wird.«

»Ich verspreche es Ihnen.«

»Haben Sie Dank.«

Plötzlich ließ die furchtbare Anspannung ihrer Nerven nach, und auf den Arm des treusten Freundes gestützt, brach sie in schmerzliches Weinen aus. Kein Schluchzen, kein Schrei, kein Stöhnen kam über ihre Lippen, lautlos rannen die heißen Thränen über ihre Wangen und diese stille Verzweiflung war namenlos ergreifend. Nach wenigen Minuten gewann sie ihre Selbstbeherrschung wieder und trocknete die geröteten Lider.

»Sie glauben, daß ich um ihn weine?« sagte sie rasch und zeigte mit der Hand auf den Toten, der mit dem Kreuz in den gefalteten Händen zu beten schien. »Da täuschen Sie sich. Ihm ist wohl; er hat jetzt Ruhe. Die Thränen, die ich vergieße, gelten mir selbst.«

Und mit raschem Verständnis für den bestürzten Blick, den Talvanne auf sie heftete, fuhr sie fort: »Ich bin noch bei gesundem Verstand, haben Sie keine Angst, aber ich sehe in die Zukunft. Ich, die Christin, habe mich herbeigelassen, das Weib des Atheisten zu werden, und dafür kann die Strafe nicht ausbleiben. Sehen Sie doch selbst, wie alle, die diesem Mann nahe traten, hingemäht werden. Meine Mutter ist mir entrissen! Gedenken Sie dessen, was ich Ihnen an jenem Totenbett gesagt. Jetzt ist die Reihe an Münzel gekommen und die nächste, die scheiden muß, bin ich. Talvanne, die Luft, die den Gottlosen umweht, ist mit Gift geschwängert – fürchten Sie auch für sich selbst!«

Wie eine Kassandra stand sie in ihrem schwarzen Gewand hochaufgerichtet vor dem Lager des Toten. Sie reckte den Arm aus und beschrieb mit der Hand einen weiten Bogen, als ob sie die Sichel des Todes schwänge.

»Die nächste, die scheiden muß, bin ich!«

Von neuem stürzten ihr die Thränen aus den Augen und ihre Blicke ruhten bang und flehend auf Talvanne.

»Schwören Sie mir, daß Sie mein Kind nicht verlassen werden, wenn ich nicht mehr bin! Daß Sie Adrienne lieben und sie als Christin erziehen werden!«

»Ihres Kindes Vater ist ein Ehrenmann,« versetzte Talvanne, »der Ihren Willen achten wird. Aber Sie werden am Leben bleiben, liebste Frau, und Ihre Hand wird uns die Augen zudrücken.«

»Nein,« fuhr sie mit einer Beharrlichkeit, in der sich furchtbare Angst ausdrückte, fort, »Sie müssen mir den Eid leisten! Ich finde vorher keine Ruhe.«

»Nun denn – zu Ihrer Beruhigung: ich gebe Ihnen mein Wort darauf, daß Ihr Begehr erfüllt werden soll.«

Sie atmete erleichtert auf und kniete dann wieder bei der Leiche nieder, um ihre Gebete fortzusetzen.

 

Ende des ersten Bandes.

 


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