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Wenige Wochen darauf wurde der »Salon« eröffnet und Münzels Porträt erlebte einen großen Triumph. Noch nie hatte sich die Begabung des Künstlers so voll entfaltet, noch nie hatte sein Können eine derartige Höhe erreicht und das vielfach abgenützte Schlagwort »meisterhaft« kam hier mit Fug und Recht zur Anwendung. Das Bild, welches im »Ehrensaal« unter den Auserwählten hing, zog unwiderstehlich jeden Blick an. Die junge Frau, ganz in Schwarz, die mattweiße Stirn unter dem dunkeln, welligen Haar hervorleuchtend, die großen Augen mit einem Ausdruck der Verzückung zum Himmel aufgeschlagen, war von wahrhaft überirdischer Schönheit. Aus dem offenen Aermel ward vom Ellbogen ab der entblößte Arm sichtbar und schmiegte sich weich in die Falten der Gewandung, die Hand hielt gleichsam unbewußt, wie zufällig, den kleinen Vergißmeinnichtstrauß, das einzig Bunte in dem düster gehaltenen Gemälde, das, um den Eindruck der Trauer zu vervollständigen, ein Ebenholzrahmen umschloß.
So glückselig Rameau über den Erfolg des Freundes war, fehlte doch eins, um seine Freunde voll zu machen – Münzel war nicht in Paris und konnte die Wonne dieser ersten Ruhmestage nicht kosten. Ein Brief seines Vaters hatte ihn schon vor Monatsfrist urplötzlich nach Stuttgart abberufen und die spärliche Kunde, die er den Freunden von seinem Ergehen zukommen ließ, enthielt nichts, was auf eine baldige Rückkehr deutete. Der Doktor konnte sich an Conchitas Bild nicht satt sehen und ward nicht müde, in die Ausstellung zu gehen. Es machte ihm das größte Vergnügen, mitten unter den Gruppen, die sich vor dem Porträt bildeten, stehen zu bleiben und die Lobeserhebungen, die man der Schönheit seiner Frau und dem Talent seines Freundes spendete, einzuschlürfen. Lang dauerte zwar dieser Genuß nie, denn seine herkulische Gestalt und das Löwenhaupt zogen stets die Aufmerksamkeit des einen oder andern auf sich, man tuschelte sich seinen Namen in die Ohren und er mußte sich rasch aus dem Staub machen, um sich vor dem eignen Ruhm zu retten. Mit Feuereifer studierte er die Zeitungsberichte, merkte sich jedes Lob, als ob es sich um ihn selbst gehandelt hätte, und ließ auch nicht den leisesten Tadel gelten, einstimmig sollte die Menschheit diese Schöpfung anerkennen, die ihm zwiefach am Herzen lag.
Talvannes Kälte hatte ihn im Innersten verletzt. Als er ihn vor das Bild geführt, hatte er keinerlei Einwand erhoben, keinen Tadel geäußert, sich aber mürrisch und wortkarg verhalten. Und als Rameau ihm ein Urteil abnötigen wollte, hatte er sich in Bewunderung des Originals ergangen, über das, was der Maler geleistet, aber völliges Schweigen bewahrt. Rameau hatte sich sehr zusammengenommen und angesichts der zahlreichen Beschauer, die um sie versammelt waren, sein Mißfallen nicht laut werden lassen, aber als sie sich trennten, befand er sich in einer Empörung, die nicht zu überwinden war und die nicht spurlos vorübergehen konnte. Am folgenden Tag kam Talvanne zu Tisch in die Rue Saint Dominique und im Verlauf des Abends verlangte Rameau barsch und unvermittelt Rechenschaft über das, was er seine vorgefaßte Meinung nannte.
»Daß du nicht zufrieden bist, sehe ich ja wohl,« sagte er, »und ich möchte nur hören, was du eigentlich an diesem Bild auszusetzen findest – sei so freundlich und erkläre dich!«
Conchita, die mit einer Handarbeit am Tisch saß, schreckte bei diesen Worten zusammen und die Häkelnadel in ihrer Hand zitterte und stach ins Leere. Ein rascher, scharfer Blick flog wie ein Pfeil zu Talvanne hinüber und sie richtete den Kopf in die Höhe, damit das Licht der schirmbeschatteten Lampe nicht auf ihr Gesicht falle.
Talvanne that sein Möglichstes, nicht auf ein Gespräch einzugehen, das jedenfalls von beiden Seiten zu heftigem Streit Anlaß geben mußte, und antworte ausweichend, allein Rameau fuhr mit erhöhter Lebhaftigkeit fort: »Jawohl, ich will wissen, was du gegen das Bild hast? Du wirst dir wohl nicht einbilden, daß dein verstocktes Schweigen in der Ausstellung und dein Gesichterschneiden, wenn jemand in meiner Gegenwart darüber spricht, mir irgend welchen Zweifel über deine Stimmung gelassen hätten! Da du nicht Maler bist, kann dir Münzels Erfolg, und einen solchen hat er unbestritten und in ausgedehntem Maße errungen, doch nicht im Wege sein? Uebrigens, ich bin ein Narr, dich noch zu fragen, nachdem ich über diesen Punkt längst im klaren sein könnte – du bist von jeher eifersüchtig auf Franz gewesen!«
»Ich!« rief Talvanne und fuhr heftig in die Höhe. »Ich? Der . . .«
Er machte eine zornige, wegwerfende Handbewegung und öffnete eben den Mund, um seinen verborgensten Gedanken Ausdruck zu geben, da fiel sein Blick auf Conchita, und langsam den Kopf schüttelnd, sagte er mit plötzlicher Ruhe: »Seine Art zu malen gefällt mir nicht, das ist das Ganze! Für mich ist nichts Freies, Einfaches darin, alles gemacht, voll Schick und kleiner Kniffe . . . eine heuchlerische unwahre Kunst.«
Er betonte diese Worte, als ob er sie einem Gegner auf Leben und Tod ins Gesicht schleudere!
»So sag doch noch vollends ›wie er selbst‹,« fiel ihm Rameau bitter ins Wort. »Es muß dir wahrhaftig an jeder richtigen Empfindung fehlen, um in meinem Hause so von einem Menschen sprechen zu können, den ich schätze und der meinem Herzen nahe steht!«
»Nehmen wir also an, daß es mir an Empfindung fehlt,« sagte Talvanne kalt.
Er sah zu Conchita hinüber; sie war anscheinend wieder ganz ruhig und saß mit gesenkten Wimpern teilnahmslos über ihre Arbeit gebeugt. Nach einem drückenden Schweigen von einigen Sekunden stand sie auf, ging einmal durchs Zimmer und trat dann zu ihrem Mann, dem sie die Stirn zum Kuß bot.
»Ich bin müde,« sagte sie, »ich gehe hinauf . . . Ihr seid auch nichts weniger als unterhaltend mit euren Zänkereien und Erörterungen.«
Sie gab Talvanne die Hand und ging.
»Nun hast du Conchita vertrieben, wie du siehst,« bemerkte Rameau vorwurfsvoll. »Weil sie dir nicht sagen wollte, wie abgeschmackt und taktlos sie dich fand, hat sie sich lieber zurückgezogen.«
»Gut, gut!« brummte der Arzt, sich in einen Lehnstuhl werfend. »Ich werde morgen schon wieder mit ihr ins Reine darüber kommen!«
»Sie bedarf der Rücksichten mehr als je,« fuhr der Doktor fort. »Vor dir habe ich keine Geheimnisse . . . Du magst auch um unsre frohe Hoffnung wissen . . . Die Natur in ihrer Weisheit und Milde ersetzt, was der Tod geraubt, durch neues Leben – sie hat Conchita die Mutter genommen und gibt ihr dafür ein Kind.«
Talvanne blieb regungslos, fast wie versteinert, auf seinem Platz; nur die dichten Augenbrauen zogen sich ein wenig zusammen und es war, als ob er eine schwere Gedankenarbeit zu vollbringen habe.
»Auf diese Art nimmst du eine Nachricht auf, bei der mir das ganze Herz von Freude überströmt,« bemerkte Rameau nach kurzem Schweigen. »Wahrhaftig, es gibt Augenblicke, wo ich mich fragen muß, ob du auch nur einen Funken Zuneigung für mich hast, und ob du nicht der abscheulichste Egoist bist, der sich denken läßt . . . Ein Kind in diesem Hause, das bedeutet Unruhe, Geräusch, und das kann dich vielleicht stören, nicht wahr? Dies kleine Geschöpf, in dem man weiterlebt, sich selbst überlebt, auf dessen geliebtem Haupt von nun an alle Zukunftsgedanken und Hoffnungen beruhen, das die Freude unsrer alten Tage ist, uns das Sterben leichter macht und uns die Augen zudrückt – du trägst ja kein Verlangen danach, du sehnst es nicht herbei mit aller Kraft deiner Seele . . . Ein Kind! Das würde ein Eindringling . . . Wozu die Störung?«
Rameau war aufgestanden und ging, die dicke Mähne schüttelnd und seine mächtigen Schultern hin und her wiegend, im Zimmer auf und ab. Plötzlich legte sich eine Hand auf seinen Arm und hielt ihn fest; er blickte auf. Vor ihm stand Talvanne, ein wenig bleicher als sonst, und mit feuchten Augen lächelnd: »Nein, mein Alter,« sagte er bewegt, »es wird kein Eindringling sein, dies Kind, nach dem du dich sehnst. Wenn du es lieb hast, Rameau, so ist es mir schon um dessenwillen teuer. Ist's ein Junge, so verlaß dich auf mich, ich helfe dir ihn erziehen und unterrichten; er soll uns gehören, unsres Geistes Kind sein, niemands sonst. Unter unsern Augen soll er aufwachsen; wir machen einen Gelehrten aus ihm und sind für ihn so ehrgeizig, wie wir es für uns nie gewesen sind.«
»So ist's recht, Talvanne!« rief Rameau gerührt und drückte den Freund an sich, daß ihm schier der Atem verging. »Jetzt kenn' ich dich wieder.«
Lachend machte sich der andre los und fragte heiter: »Aber wenn's ein Mädchen ist?«
»Dann hoffen wir, daß sie ihrer Mutter ähnlich wird, mehr braucht es nicht!«
Eine Wolke glitt über Talvannes Stirn, aber Rameaus frohe Laune ließ keinen Trübsinn aufkommen, und rauchend und plaudernd verbrachten die beiden Kameraden den Rest des Abends damit, Zukunftsbilder auszumalen und Pläne zu schmieden, wie sie die Gegenwart reich und beglückend machen, wenn auch die Zukunft sie gar selten bestätigt.
Conchitas Kind war ein Mädchen, das von ihrem Taufpaten Talvanne den Namen Adrienne erhielt. Münzel, der seit drei Monaten auf einer Reise durch Griechenland begriffen war, schickte die innigsten Wünsche für das Wohlergehen der Neugebornen und wundervolle alte Spangen für die Mutter. Es war schmerzlich für Rameau, den Freund am Tauftag nicht um sich zu haben, allein Talvannes strahlende Glückseligkeit entschädigte ihn einigermaßen dafür. Der Psychiater vergötterte das kleine weiß und rosige Ding, das so vergnüglich in seiner Wiege lag, förmlich; er setzte sich zu ihr, steckte den Kopf unter die Vorhänge und versenkte sich in ihren Anblick, und man mußte mit Strenge auftreten, sollte er sie nicht mitten im Schlaf aufnehmen und auf den Armen wiegen. Er führte lange Gespräche mit ihr und bald kannte das kleine Menschenkind die Stimme des alten Junggesellen so gut, daß sie zu lachen anfing, sobald er sich zeigte.
»Ja wohl,« sagte er oft, »du bist mein Töchterchen, und ich mache es nicht wie dein Papa, und nehme mir keine Frau, sondern bleibe hübsch ledig, und mein Goldkind wird nie auf seinen Onkel eifersüchtig zu sein haben. Du wirst schön werden, und ich werde dich spazieren führen, und wir werden vor jedem Schaufenster stehen bleiben – ich bin ja kein berühmter Mann, ich habe Zeit, und meine Zeit steht dir zur Verfügung. Glücklich sollst du werden, das gelobe ich dir, der alte Talvanne wird darüber wachen! Schlaf nur, mein Liebling, schlaf nur und träume: bei Licht besehen ist das vielleicht das beste, was man im Leben hat!«
Rameau hörte derartige Standreden lächelnd mit an, und die Zärtlichkeit, die Talvanne für den kleinen Erdenbürger hegte, brachte ihn seinem Herzen näher.
»Du bist ein wunderlicher Kerl!« konnte er zuweilen sagen. »Du bemächtigst dich meiner Tochter, ich werde einfach beiseite gesetzt, meine Rechte für null und nichtig erklärt, kurz, ich existiere gar nicht mehr! Sei vernünftig und laß mit dir reden, einen kleinen Anteil könntest du mir schon noch lassen!«
»Du verstehst ganz und gar nichts von Kindern,« entgegnete der Freund gereizt, »geh nur und halte deine Vorlesungen.«
Damit wurde dem Vater die Thür gewiesen.
Glorreich und stolz wie eine Königin, welche die Zukunft der Dynastie gesichert hat, genoß Conchita den Luxus, mit dem ihr Gatte sie umgab. Ihre Schönheit hatte sich jetzt erst voll und siegreich entfaltet und trug sehr das ihrige dazu bei, die Flut von Menschen, die sich in dem kleinen Palast der Rue Saint Dominique an jedem Empfangstag um den großen Mann drängte, anzuziehen und zu fesseln. Es war in der letzten Periode des Kaiserreichs, als Glanz und Pracht sich in dem allzeit Feste feiernden Paris zu unerhörter Ueppigkeit steigerten. Wie auf einen Zauberschlag war an Stelle der alten, winkeligen, rauchgeschwärzten Stadt ein neues, breitstraßiges, glänzendes Paris erstanden, das aus Stein- und Marmorpalästen mit reichem bildnerischem Schmuck bestand. Den überreichen Fassaden mußte naturgemäß das Hausgerät entsprechen, und das Kunstgewerbe hatte zum Schmuck dieser neuen Stadt die entzückendsten Stoffe, die zierlichsten Möbel hervorgebracht. Bei der Zusammenstellung dieser Wunderwerke entschied nicht immer der auserlesenste Geschmack, aber mit Gold wurden sie aufgewogen. Reich war in diesem stolzen, strahlenden Paris damals ein jeder oder gab wenigstens vor, es zu sein. Man riß alle Fensterflügel auf, um das Geld in Strömen hinauszuwerfen, und nie hatte das goldne Kalb einen derartigen Reigen um sich aufführen sehen, wie er damals nach dem Takt klingender Thalerstücke aufgeführt wurde.
Rameau ging willig auf alle Einfälle seiner Frau ein und gestaltete sein Haus zu einem wahren Kunstkabinett, in dem er Feste gab, die in den Zeitungen fast ebensoviel von sich reden machten wie seine Arbeiten. Er war glücklich, und nur ein dunkler Punkt störte seine Zufriedenheit: seit zwei Jahren hatte Münzel das Weichbild von Paris immer nur überschritten, um sofort wieder nach fernen Ländern abzureisen. Kalt, förmlich und fast verlegen war er dann bei seinem jedesmaligen flüchtigen Aufenthalt in der Rue Saint Dominique erschienen, und sein Ton sowohl Rameau als Conchita gegenüber war ein völlig andrer geworden. Er schien sich nicht mehr wohl bei ihnen zu fühlen, jede Stunde in ihrem Kreis ward ihm zur Pein. Die kleine Adrienne würdigte er kaum eines Blickes, und sie zu küssen mußte er förmlich gezwungen werden. Was aber Rameau an diesem Zustand am meisten befremdete, war, daß Talvanne diese Veränderung ganz natürlich und selbstverständlich zu finden schien.
»Was den Maler packt, siehst du,« sagte er dem Freund, »ist an Dingen und Menschen nur die äußere Erscheinung, das Innere ist für ihn gar nicht vorhanden; die Form ist alles. Wie sollte denn Münzel dazu kommen, ein Geschöpf mit einem Stumpfnäschen, aufgerissenen Augen, einem zahnlosen Mäulchen und einem beinahe kahlen Kopf interessant zu finden? Das Erwachen der Denkkraft in diesem kleinen Gehirn, die zunehmende Erkenntnis in diesen fragenden, verwunderten Augen wird er nicht beobachten, und das köstliche Geplapper des kleinen Mäulchens wird ihm höchstens langweilig und lästig vorkommen. Dafür wird er aber dann über eine abgehärmte Bettlerin, die recht malerisch in Lumpen gehüllt ist, in Entzücken geraten, ordentlich vernarrt in sie sein, sie als Modell benützen und hernach nicht mehr kennen: Prosit Mahlzeit! Er lebt nur durchs Auge, das übrige geht den Maler nichts an, ist für ihn nicht vorhanden. Ueberdies ist der unsrige, wie ich dir von jeher sagte, ein ausbündiger Egoist, und Egoisten mögen keine Kinder leiden aus dem einfachen Grund, weil man sich statt mit ihnen mit den Kleinen beschäftigt. Er will nach Palermo, weil ihm dort wohler zu Mut ist als bei uns – das freut mich ungeheuer für ihn, und damit: Glück auf die Reise!«
Rameau schüttelte den Kopf, ohne etwas zu entgegnen – das war sonst nie seine Art; aber er selbst war im Innern nicht mehr ganz sicher, ob Talvanne nicht etwa recht habe, und er fragte sich oft, ob der Maler nicht in der That gleichgültig gegen ihn geworden. Wie konnte Franz sich so leichten Herzens von ihm trennen, nachdem er ihm in so warmer Freundschaft ergeben gewesen? War denn das Gedächtnis all der miteinander verlebten Jahre in seiner Seele erloschen? War es denn möglich, daß er in reifen Jahren die Empfindungen seiner Jugend Lügen strafen wollte? Schließlich gelangte er zu der Vermutung, daß Münzel einen geheimen Kummer haben müsse. Eine derartig menschenfeindliche Stimmung, eine so unerklärliche Entfremdung müßten ihre Ursache haben, und diese Ursache konnten nur verborgene Schmerzen sein. Daraufhin faßte er den Entschluß, den Künstler nicht wieder abreisen zu lassen, ohne ihn befragt zu haben, und zu diesem Zwecke suchte er ihn eines Morgens in seinem Atelier auf.
Er war nicht mehr der blonde, blasse Münzel, wie Rameau ihn einst in verzweiflungsvollem Nachsinnen auf seinem Sofa ausgestreckt gefunden hatte, seit zwei Jahren hatte das Ergrauen bei ihm begonnen und die südliche Sonne hatte ihn gebräunt. Auf einem hohen Gerüst stehend, arbeitete Franz an einem Deckengemälde, welches der König von Württemberg für einen Saal in seinem Schlosse bestellt hatte. Als er des Doktors ansichtig wurde, stieß er nicht wie ehedem einen Freudenschrei aus; ein tieferes Rot färbte seine Wangen, und als er seine Palette auf dem Gerüst untergebracht hatte, stieg er langsam herab. Mit gespannter Aufmerksamkeit sah Rameau ihm entgegen und suchte in den Zügen des Freundes irgend ein Merkmal des geheimnisvollen Leidens, das er voraussetzte und dem auf die Spur zu kommen seine Absicht war, zu entdecken. In gewohnter Haltung, ein bißchen steif und allzu förmlich vielleicht, kam Franz jetzt auf ihn zu und streckte ihm lächelnd die Hand hin, die er rasch ergriff und kräftig drückte.
»Hast du mich nicht mehr lieb, Münzel?« fragte er weich und herzlich.
Die höchst unerwartete Ansprache machte den Künstler erbeben, und seine Augen, die mit einem Ausdruck der Angst auf den großen Freund geheftet waren, füllten sich mit Thränen.
»Wie kommst du zu der Frage?« entgegnete er mit unsicherer Stimme.
»Weil du in den letzten zwei Jahren ein andrer geworden bist und weil ich mir vergebens den Kopf zerbreche, was dein ganzes Wesen so umgestaltet haben kann. Du, der sonst wie ein Bruder mit mir an meiner Seite dahinlebte, du treibst dich jetzt elf Monate des Jahres in fremdem Lande umher, ohne andern Anlaß als deine Laune! Fast ist's, als ob du dich auf der Flucht vor mir befändest, denn bist du zufällig einmal in Paris, so bekomme ich dich kaum zu Gesicht und muß dich ordentlich herbeischleppen lassen, wenn ich dich bei mir sehen will. Hast du Kummer oder bist du krank? Als Arzt und als Freund laß mich dir zu Diensten sein!«
Ohne zu antworten sank Münzel mit düsterer Miene in einen Stuhl; sein trüber Blick erhob sich nicht vom Fußboden und mit kalten, nervös zitternden Fingern zupfte er die Fäden einer kleinen Schutzdecke von chinesischer Seide aus.
»Nun ja, unglücklich bin ich freilich,« sagte er leise und fuhr, als Rameau sich anschickte, eine weitere Frage an ihn zu thun, hastig fort: »Aber weder du . . . noch irgend jemand kann etwas für mich thun . . . mein Leiden ist ohne Hoffnung auf Heilung.«
»Du liebst?«
»Ja.«
»Und die dir so viel Schmerzen bereitet?«
»Kann ich nicht wiedersehen . . . darf sie nicht wiedersehen!«
»Sie ist in Paris?«
Münzel zögerte einen Augenblick, dann sagte er: »Ja«.
»Und um sie zu meiden, verbannst du dich in so weite Ferne für so lange Zeit? Was steht zwischen euch?«
»Quäle mich nicht mit weiteren Fragen,« sprach der Maler gebrochenen Tones und mit einer todmüden Gebärde der Abwehr. »Du reißest die Wunden nur auf, und aussprechen will ich mich nicht. Ich bin hoffnungslos und mutlos, das ist die ganze Wahrheit, und ich verlasse Paris jetzt für länger als sonst, möglich, daß zwei, drei Jahre vergehen, ohne daß ich nach Hause komme. Aber zeihe du mich darum nicht des Mangels an Freundschaft! Wie könnte ich je deiner Güte, deiner Aufopferung, all der Herzensfreundlichkeit, die du mir im Ueberschwang zu teil werden ließest, vergessen? . . . Das ist's ja, was mir das Herz zerreißt . . . und doch, ich muß fort, keine Macht der Welt kann mich zurückhalten! . . .«
Die Stimme versagte ihm, er brach in Thränen aus und lehnte schwach und hilflos wie ein Kind die kummerschwere Stirn an Rameaus breite Brust. Allein auf jedes Wort des Zuspruchs und der Ermutigung, das ihm der Freund aus treuem, warmem Herzen spendete, hatte der Maler nur ein eigensinniges, unbedingtes »Nein«. Zwei Stunden blieben sie in dieser Weise bei einander und der Doktor verließ das Atelier erst, nachdem er Münzel das Versprechen abgerungen, vor seiner Abreise noch einmal sein Tischgast zu sein.
Am folgenden Morgen erhielt er jedoch einige kurze, wehmütige Zeilen, in welchen Franz ihm mitteilte, daß unvorhergesehene Ereignisse ihn zwängen, Knall und Fall abzureisen; er bitte den kleinen Kreis der Rue Saint Dominique, ihm diesen formlosen Abschied zu verzeihen, und sende demselben innigsten Gruß. Mit lächelndem Gleichmut ließ sich Conchita den Brief vorlesen, ohne ihr Spiel mit der Kleinen, die sie auf dem Schoß hielt, zu unterbrechen; Talvanne zuckte die Achseln und warf einige nicht ganz verständliche verdrießliche Bemerkungen über die Schattenseiten des Verkehrs mit verrückten, abgeschmackten Leuten hin, und Rameau war der Einzige, dem die Sache zu Herzen ging.
Allmählich schloß sich die Lücke, die des Malers Ausscheiden gelassen; alles kam in sein altes Geleise und der Flüchtling wurde zwar nicht vergessen, hörte aber doch auf der Gegenstand leidenschaftlicher Erörterungen zu sein. Rameau setzte seine Thätigkeit auf anatomischem und physiologischem Gebiete fort und gab der Wissenschaft der Gegenwart immer neuen und kühnen Anstoß. Der Rebell von ehedem wurde jetzt einstimmig als einer der klarsten und tiefgehendsten Geister des Jahrhunderts verehrt, und er genoß vor vielen Neuerern den Vorzug, die Zeit der Anerkennung und Verherrlichung der von ihm aufgestellten Sätze zu erleben.
Sein Gesichtskreis hatte sich erweitert, seine Gedanken sich zu hohen, ernsten Lehren krystallisiert; er durfte das Kriegsbeil begraben und die leidenschaftliche Heftigkeit des Sektierers hatte der ruhigen, in sich gefesteten Sicherheit des Priesters Raum gemacht. Nirgends verleugnete er die Anschauungen seiner Jugend, aber er trug sie mit minderer Schroffheit vor, seine Natur war nicht weniger feurig als einst, aber die Aschenschicht der Jahre barg die Glut. Sein Kolleg war stets außerordentlich besucht, und wenn er sich herbeiließ, in der Sorbonne einen Vortrag zu halten, so strömten ihm Studenten, Aerzte und Laien in solcher Zahl zu, daß man sich die Plätze streitig machte. Neben der Klarheit und Anschaulichkeit war sein Vortrag auch über alle Maßen fesselnd und anziehend, die Form so befriedigend und bedeutend wie der Inhalt, und die stenographischen Aufzeichnungen seiner Vorlesungen konnten fast ohne Durchsicht und Verbesserungen in Druck gegeben werden. Man hat ihn den Michelet der Naturwissenschaften genannt, und in der That war er dem großen Geschichtschreiber an Darstellungsgabe ebenbürtig und wußte die abstraktesten Ausführungen in greifbare Gestalt zu kleiden. Seine eiserne Gesundheit gestattete ihm auch heute noch wie in den Tagen der Jugend jedes Uebermaß der Arbeit. Er hatte sein Dasein völlig geteilt zwischen Familienleben und Dienst der Wissenschaft und erschien aller Welt auf dem einen wie auf dem andern Gebiete als ein Liebling der Götter.
Und bei alledem war er nicht vollkommen glücklich, denn auf dem Verhältnis zu Conchita lag ein Schatten und ein ungreifbares Etwas hatte sich zwischen ihn und sie gedrängt. Nicht daß der Kirchenglaube der Frau mit der Freidenkerei des Gatten so heftig zusammengeprallt und dadurch Zwistigkeiten entstanden wären, nein, sie fürchteten sich gegenseitig und vermieden mit wahrer Aengstlichkeit, den gefährlichen Gegenstand zu berühren, der sie zu verschiedenen Malen so grausam entzweit hatte. Wie ermüdete Kämpen, die, nachdem sie ihre Kräfte gemessen, es nicht mehr zu einem Kampfe kommen lassen wollen, dessen Ausgang unsicher und ungewiß bleiben muß, standen sie sich in bewaffnetem Frieden gegenüber.
Conchitas religiöser Eifer steigerte sich dabei immer mehr und die kirchlichen Pflichten wurden mit größter Gewissenhaftigkeit und Regelmäßigkeit erfüllt. Mit einer Leichtigkeit und Ruhe, die sicherlich ihrer spanischen Abstammung zuzuschreiben waren, verband sie Himmlisches und Irdisches und schwebte vom Ballsaal zur Messe. Wenn sie sich den ganzen Freitag strenges Fasten auferlegt, hatte sie gegen ein fröhliches Souper nach Mitternacht nicht das geringste einzuwenden, und so sehr ihr unduldsamer, eifernder Glaube Anklänge an die alte leidenschaftliche Zeit der Inquisition enthielt, so gut verstand sie es, denselben den Sitten und Anschauungen der Gesellschaft anzupassen. Eine Dame, welche nicht zur Kirche ging, flößte ihr Abscheu ein, Frauen von mehr als zweifelhaftem Ruf bei sich zu empfangen, nahm sie keinen Anstand. Ihr Mann lachte oft mit Talvanne über diese Schwächen, in ihrer Gegenwart aber wagte er keinen derartigen Scherz.
Er liebte sie noch wie am ersten Tag, mit jener Leidenschaft des gealterten Mannes, dem sich in der Liebe eine neue Jugend erschlossen, und vielleicht – so wunderlich ist der Mensch geartet – liebte er sie um dieses religiösen Fanatismus willen, der ihn ihren Besitz immer neu zu erkämpfen zwang, nur noch heißer. In ihrem Wesen fühlte er stets etwas wie Empörung und Auflehnung gegen sich, und bei seiner Berührung überlief es sie wie ein Erschaudern des Hasses. Auch hierin streng die Vorschrift ihres Glaubens befolgend, machte sie übrigens keinen Versuch, sich ihm zu entziehen, aber daß sie seine Liebe duldete, mußte ihm genügen. In seiner an Schwäche grenzenden Güte ging er auf alle Launen und Einfälle des jungen Geschöpfes ein, überhäufte sie mit Großmut und ließ einen unversieglichen Strom von Gold durch ihre harmlos damit spielenden Finger rinnen. Die Gottheit, die er dem Himmel nicht zugestand, war für ihn auf Erden – sein Töchterlein. Stundenlang konnte er mit ihr plaudern, jede kindische Frage wurde von der tiefen, klangvollen Stimme, welche all seine Zuhörer hinriß und die er möglichst dämpfte, um sie des Kindes Ohr anzupassen, eingehend und erschöpfend beantwortet. Wenn der große Gelehrte im Spiel mit seiner kleinen Adrienne begriffen war, vergaß er alles: Kranke, Besuche, Berufspflichten, und gehorchte einzig und allein dem Zauber dieser geliebten blauen Kindesaugen.
Denn dies Kind, das auffällig der Mutter glich, hatte trotzdem blondes Haar und blaue Augen. Sie war auf und nieder Conchitas Ebenbild, nur daß die tief schwarzen natürlich gewellten Scheitel und der verschleierte Blick ihres dunkeln Auges fehlten. Wie ein Prinzeßchen unter der Oberaufsicht der getreuen Rosalie heranwachsend, kannte das Kind nur Lust und Freude: die Thränen waren ihr unbekannte Gäste, und fühlte sie sich einmal krank, so hatte der Papa stets Mittel und Wege, dem Uebel abzuhelfen und den Schmerz zu stillen. Ihr gewohnter Spielgefährte war, sei es in den schattigen Laubgängen des eignen Gartens oder draußen in den Champs Elysées ein Junge, der um mehrere Jahre älter war als sie, den sie »Rob« nannte und der ein Enkel des alten Doktors Servant war.
Ungünstige Schicksale hatten die Familie des wackern Arztes von Lagny heimgesucht und sein Sohn war, Frau und Kind in höchst bedrängter Lage zurücklassend, als Batteriechef in Mexiko gestorben. Aber Rameau lebte ja und er hatte nie vergessen, was er seinem väterlichen Freund und Gönner verdankte! Er schuf der Witwe eine Stellung als Aufseherin einer Anstalt für verwahrloste Kinder und durch eine List, zu deren Mitschuldigen der Verwaltungsrat sich gern hergab, weil Rameau die Summe aus seinen eignen Mitteln spendete, ließ er ihr den Gehalt verdoppelt auszahlen. Die Erziehung ihres einzigen Sohnes Robert hatte er überdies übernommen – »er soll mein Nachfolger werden« sagte er oft lächelnd zu Frau Servant, und wenn er sah, wie der kräftige Junge sich aus freien Stücken zum willigen Sklaven der kleinen Adrienne hergab, traten noch andre, gar anmutige und lockende Zukunftsbilder vor seinen innern Blick.
Talvanne, der jetzt die fünfziger Jahre erreicht hatte und mit dem glatt rasierten Gesicht und den langen, schon weißen Haaren sehr alt aussah, nahm von Jahr zu Jahr eine bedeutendere Stellung ein. Als Gerichtsarzt stand er einzig da, und wo ein schwerer Verbrecher in die Hände der Polizei kam, holte man sein Urteil ein. Freilich hatte seine weiche, ehrliche Seele einen unüberwindlichen Hang, in jedem Mörder einen Unzurechnungsfähigen zu sehen, aber in schwierigen Fällen offenbarte sich seine reiche Erfahrung und seine Tüchtigkeit durch geistvolle, scharfsinnige Beobachtungen und Schlußfolgerungen von hervorragender Klarheit. Der europäische Ruf seiner Heilanstalt setzte ihn in Stand, in unzähligen Fallen und ganz insgeheim Wohlthaten zu üben, und der unentgeltlich aufgenommenen Kranken waren es stets mindestens ebensoviele wie der zahlenden, der Doktor nahm aber entschieden mehr Anteil an den Armen, als an den Reichen.
In dieser lauteren Seele lebte nur gegen eine Berufsklasse ein unauslöschlicher Haß und zwar gegen die Zeitungsschreiber. Stellte sich zufällig ein gierig nach Notizen schnappender Berichterstatter in seinem Sprechzimmer ein und begehrte, ihn über irgend einen berühmten Verbrecher, den er untersucht oder einen hervorragenden Patienten, den er in Behandlung hatte, zu »interviewen«, so war der Psychiater im stand, die Zähne zu fletschen wie eine Bulldogge und den Verwegenen mit einem Strom von Bitterkeiten über den Skandaldurst und die freche Lügenhaftigkeit aller Papierschwärzer an die Luft zu setzen. Von den Zeitungen sprach er stets mit Abscheu und Empörung und er pflegte seine Ansicht in die Worte zusammenzufassen: »Es sind öffentliche Giftpflanzungen.« Uebrigens würde er nicht den kleinen Finger gerührt haben, um die Preßfreiheit zu beschränken, und gab ein armer Journalist allzudeutliche Beweise von Tollheit oder Unfähigkeit, so übernahm er dessen Behandlung mit ebenso aufopfernder Wärme, als ob derselbe nie eine Feder in der Hand gehalten hätte. So viel Glück, als einem Sterblichen nur beschieden sein kann, besaß er; seine Wissenschaft war ihm Herzenssache, er war vollkommen unabhängig, und obgleich unverheiratet, entbehrte er nicht eine kleine Erbin, die er liebte, verwöhnte und verhätschelte, als ob sie sein eigen Fleisch und Blut wäre.
Das Familienleben Rameaus – ein Freund wie Talvanne darf füglich zur Familie gezählt werden – nahm in dieser Weise einen nach innen friedlichen und traulichen, nach außen glänzenden Verlauf, als, wie ein schwerer Gewittersturm, der Krieg über Frankreich hereinbrach. Mit einem Schlag war alles anders geworden. Die von Ueberfluß und Uebermut strotzende Stadt ward zur Einöde: die Klänge der Tanzmusik verstummten vor dem Geräusch der Waffen. Fieberhafte Aufregung vor dem Kampf, dumpf grollende Bestürzung nach der Niederlage bemächtigte sich der Bevölkerung, welche an die Huldigungen eines Weltteils und an keinen Widerstand gewöhnt war. Verletzter Stolz gestaltete sich zu wilder Wut; da sie dem Vordringen des Feindes nicht wehren konnten, wandte sich der Haß der Pariser gegen das Kaiserreich und statt der Siege gab es eine Revolution. Gewisse Elemente priesen sich glücklich darob. Von den Höhen von Belleville und Montmartre wälzte sich ein Strom herab, der sich, trüb und schmutzig, in die Straßen ergoß, die kaiserlichen Adler in Stücke brach, Denkmäler verstümmelte und eine vom Schrecken verwirrte Regierung, die der leiseste Stoß ins Wanken brachte, über den Haufen warf. Dem folgte die unheilschwangere Stille, wie der Morgen nach durchtobter Nacht sie immer bringt. Die Stadt, welche so ganz auf Feste eingerichtet war, schickte sich an, einer Belagerung standzuhalten; die Bäume des Bois de Boulogne, in deren kühlem Schatten vor wenig Wochen die Wagen der eleganten Gesellschaft dahingerollt waren, fielen der Axt anheim und sanken einer um den andern auf den sorgfältig mit Sand bestreuten Weg. Der sorglosen Fröhlichkeit folgte schwerer Mannesernst und es trat klar zu Tage, daß dies Paris, über dessen Thorheiten und Tollheiten die ganze Welt gelästert hatte, nun auch die ganze Welt durch sein Heldentum im Leiden in Erstaunen setzen werde.
Nicht einen Augenblick war es Rameau in Sinn gekommen, die Stadt zu verlassen. Sein warm patriotisches Gemüt war von den niederschmetternden Ereignissen der ersten Kriegszeit tief berührt, und vom ersten Tage an hatte er die Gefahr für die Hauptstadt mit Sicherheit vorausgesehen und danach seine Maßregeln getroffen. Er hatte bedeutende Vorräte an Lebensmitteln angeschafft und Talvanne eifrig zugeredet, einen großen Teil seiner Kranken zu ihren Familien zurückzuschicken, worauf die beiden Freunde das Irrenhaus zu einer Ambulanz umgestalteten, in der zweihundert Verwundete Aufnahme finden konnten. Rameau, dessen berühmter Name den Männern, welche die Verteidigung der Stadt in die Hand genommen hatten, nicht entgehen konnte, wurde an die Spitze des gesamten Sanitätswesens gestellt und nahm dies schwere Amt mit der ganzen Hingebung des feurigen Patrioten auf sich.
Er, der nichts halb thun konnte und dem die Natur eine so wunderbare Arbeitskraft verliehen, widmete sich Tag und Nacht der Aufgabe, die man in seine Hände gelegt hatte. In seinem Civilanzug – er haßte den bunten Kragen – einfach mit dem roten Genfer Kreuz am Arm eilte er durch Wind und Wetter, Regen und Schnee, von den Spitälern nach den Vorposten, vom Industriepalast, wo der Schwerpunkt seiner Thätigkeit lag, zu Talvannes Ambulanz und überall wachte sein Auge, überall legte er Hand an. Mit fast peinlicher Genauigkeit ordnete er alle Einzelheiten der Verwaltung, blieb da und dort an einem Bett stehen, um einen Verband zu untersuchen, hielt strenge Aufsicht über das pflegende Personal und streifte, wo es not that, kurzweg die Hemdärmel zurück, um eigenhändig eine schwierige Operation zu vollführen.
Des Morgens, Nachmittags, Abends, mitten in der Nacht, immer erschien er, wo und wann man ihn am wenigsten erwartete, und er hielt seine Untergebenen mit einer so fabelhaften Rührigkeit in Atem, daß man sich unwillkürlich fragte, wie lang er selbst solchen Anstrengungen gewachsen sein werde, allein sein Befinden war besser als je, und nie verrieten seine thatkräftigen Gesichtszüge die leiseste Spur einer Ermüdung. Nur milder war er geworden und zwar in einem Grad, daß seine Schüler ihn kaum wieder erkannten. Nie ein lautes Wort, nie eine heftige Gebärde, nie mehr einer jener Zornesausbrüche, vor dem das ganze Spital gezittert hatte. Es war, als ob das Unglück des Vaterlandes seine große Seele erweicht hätte und als ob er jetzt, da er alles um sich her in Leid und Thränen sah, das Bedürfnis habe, sich in seiner ganzen Güte zu zeigen. Nicht ein einziges Mal hörte man ihn fluchen, und der arme Teufel von einem Soldaten, dem er eine Kugel herauszog oder ein Bein absägte, hatte vorher keinen Schreck zu bestehen. Bei den Aerzten und Chirurgen, welche unter seiner Leitung arbeiteten, hieß es: »Das ist unser Rameau nicht mehr, er muß uns ausgetauscht worden sein.«
Und doch war er der alte in der ans Wunderbare grenzenden Geschicklichkeit und Sicherheit der Hand und der schöpferischen Kraft im Ersinnen neuer Heilmittel. Der Spitalbrand raubte ihm eine Masse Verwundeter und er richtete sein ganzes Augenmerk auf Bekämpfung dieses fürchterlichen Feindes, gegen den er mit karbolgetränktem Verbandzeug vergebens zu Felde zog.
Er besprach sich mit Talvanne über die Notwendigkeit eines neuen Desinfektionsmittels, dessen Macht kein Pilz widerstehen könnte, und Tag und Nacht trug er den Gedanken mit sich herum. Eine rote Glut hinter den Fensterscheiben seines Laboratoriums in der Rue Saint Dominique verriet der Nachbarschaft fast allnächtlich, daß der Gelehrte an seinem Ofen irgend eine geheimnisvolle Mischung braute, die den armen Verwundeten zu gute kommen sollte.
Einmal, es war gegen drei Uhr morgens, erwachten alle Bewohner des Rameauschen Hauses an einem furchtbaren Knall; Conchita, die aus ihrem Zimmer gestürzt war, eilte mit Rosalie nach dem Arbeitszimmer ihres Mannes, den sie inmitten einer scharf riechenden Dampfwolke, mit von Glassplittern zerrissenen Händen und einer Stirnwunde fand, wie er am Boden kniete und eine Flüssigkeit mit dem Schwamm aufwischte. Sein Gesicht leuchtete dabei vor Freude, und als er, seine Arbeitslampe hochhaltend, die erschrockenen Mienen seiner Frau und Dienerin erkannte, rief er ihnen beruhigend zu: »Es hat ganz und gar nichts zu sagen! Die Dosis war ein bißchen stark und da platzte die Retorte.«
»Aber du bist ja verwundet,« wandte Conchita ein, indem sie ihm das Blut von der Stirn wischte.
»Eine Schramme! Was liegt daran? Ich habe, was ich suchte, und zwar durch einen bloßen Zufall, durch reines Tasten! Das Ding ist so einfach und lag so nahe und doch kam ich nicht darauf. Man wird die Entdeckung der Wissenschaft zuschreiben und doch hat sie sich, wie so oft, ganz von selbst gemacht! Wenn alle Erfinder ehrlich sein wollten, so würde sich's bald zeigen, wie herzlich wenig Verdienst sie oft bei ihren Entdeckungen haben! Der Zufall ist der Gott der Gelehrten!«
»Aber wie leicht hättest du deine Augen dabei einbüßen können,« bemerkte Conchita. »Sieh doch nur, wie unvorsichtig du bist!«
»Ach, Kind, schließlich wären meine Augen ein Ding, das wenig ins Gewicht fällt, wo es sich um die Erhaltung von Tausenden von Menschenleben handelt . . . Aber es ist feucht und du wirst dich erkälten . . . Ich habe hier nichts mehr zu thun, gehen wir zu Bett.«
Am Tag darauf berief er einen der tüchtigsten Apotheker von Paris zu sich und bot ihm unter der Bedingung, daß die von ihm erfundene Mischung zu einem sehr mäßigen Preis abgegeben werde, ihm das Geheimnis derselben zum Kauf an. Der Gelehrte, bei dem es sich um das Wohl der Menschheit handelte, und der Geschäftsmann, der eine bedeutende Einnahmequelle sich eröffnen sah, waren rasch handelseinig; der Gebrauch des Desinfektionsmittels erzielte den ersehnten Erfolg und schon eine Woche später war die Sterblichkeit fast auf die Hälfte herabgemindert.
Nach allen Richtungen hin äußerte sich Rameaus bewunderungswürdige Thatkraft; hatte er sich bisher mit wahrer Hingebung dem Allgemeinen gewidmet, so unterzog er sich jetzt mit ebenso großem Eifer der Behandlung eines einzelnen Falles. In Talvannes Ambulanz in Vincennes war ein Kavallerist untergebracht worden, dem auf einem Rekognoszierungsritte eine Kugel das Knie zerschmettert hatte. Das Geschoß war in die Kniekehle eingedrungen, hatte das Gelenk durchbohrt und die Kniescheibe verletzt. Nach Ansicht der Aerzte war eine Amputation unbedingt notwendig. Der Verwundete war aber so jung und so ergeben in sein Schicksal, daß Rameau sich im Innersten von Mitleid ergriffen fühlte und bei sich beschloß, das Bein zu retten. Welches Maß von Geschicklichkeit und Sorgfalt er auf diesen Fall verwendete, war wunderbar, der Erfolg aber lohnte auch alle Mühe, denn nicht nur, daß das Bein erhalten wurde, es wurde auch wieder vollständig dienstfähig. Rameau war wirklich stolz auf das Gelingen seiner Kur und herzlich gerührt über die unsägliche Dankbarkeit seines Patienten.
»Ach, Herr Doktor,« sagte der in der Genesung Begriffene eines Tages aus tiefstem Herzen, »für mich sind Sie wie unser Herrgott selbst!«
»Gewiß, mein Lieber . . . ja wohl,« erwiderte der große Mann lachend und dann gegen Talvanne gewendet bemerkte er: »Wenn man auf unsern Herrgott warten wollte zum Knochenflicken, würden die Krückenmacher gute Geschäfte machen!«
»Unser Doktor Rameau macht zerbrochene Beine wieder ganz,« sagte Talvanne ernsthaft, »aber unser Herrgott hat den Doktor gemacht.«
»Bist du dessen so gewiß?« fragte Rameau heiter, indem er den Freund ansah.
»Will's meinen! Es müßte höchstens sein, daß es der Teufel gewesen wäre! Und diesmal könntest du recht haben, es wird wohl Beelzebub gewesen sein!«
»So schweige doch: da ist meine Frau.«
Conchita hatte in der That ihren träumerischen Gleichmut abgeschüttelt und ihre Ehre drein gesetzt, sich an dem Liebeswerk zu beteiligen, und versäumte nun keinen Tag die selbst erwählten Pflichten. Sie war regelmäßig mehrere Stunden in den verschiedenen Sälen der Ambulanz, sah überall nach dem Rechten, brachte den Verwundeten Erfrischungen und Süßigkeiten, tröstete die Sterbenden und verrichtete an mancher Leiche ihre stille Andacht. Ihre Frömmigkeit war kein Luxusgegenstand mehr, und Rameau sah mit geheimer Rührung sein junges Weib als einen Engel des Trostes von Bett zu Bett gehen und freute sich über den Sonnenstrahl, den ihre Schönheit in den düstern Ernst dieser Räume trug.
Allabendlich fand sich Talvanne bei der Mahlzeit in der Rue Saint Dominique ein: das gemeinsame Leid aller knüpfte die Bande der Freundschaft noch enger, und wenn der Doktor nach einem Gang von Fort zu Fort, von Vorposten zu Vorposten todmüde, durchnäßt und durchfroren nach Hause kam, war es ihm eine große Wohlthat, in dem wohl durchwärmten und hellerleuchteten Speisezimmer Frau und Kind samt dem Freund seiner harrend zu finden. Den Greueln des Gefechts zu entfliehen, die Spitalsäle mit dem Röcheln der Sterbenden, dem wilden Geschrei der Operierten hinter sich zu lassen, die dumpfe, schweigende Schneedecke, die sich wie ein großes Bahrtuch über die belagerte Stadt gelegt, nicht mehr vor Augen zu haben und in seinem friedlichen Haus, am traulichen Kaminfeuer, sich ein paar Abendstunden der Nähe seiner Lieben zu freuen, das war doch immerhin noch ein Stückchen Glück!
Mehr vom Schicksal begünstigt, als so viele andre Kinder, deren Gesundheit durch die Entbehrungen der Belagerung untergraben wurde, entwickelte sich die kleine Adrienne von Tag zu Tag kräftiger, und ihre blauen Augen und blonden Locken waren für ihren Vater der einzige lichte Punkt im Bilde der Zukunft, das ihm düster und trostlos entgegenstarrte. Sein Töchterchen auf den Knieen verspätete er sich manchen Tag am Kaminfeuer, weil er sich nicht losreißen konnte von ihrem kindlichen Geplauder und nicht müde wurde, mit der kraftvollen Hand, die jeden Tag so tief in Blut tauchte, die goldnen Haare zu streicheln.
Unter all den bangen Sorgen, die ihn erfüllten, war es eine, die sich immer wieder in den Vordergrund drängte: was konnte aus Franz geworden sein? Ohne daß es ihm aufgefallen wäre, welch beklommenes Schweigen Conchita und Talvanne befiel, so oft er den Gegenstand berührte, kam er immer von neuem darauf zurück und erging sich in angstvollen Vermutungen. Was ein Deutscher hieß, war einberufen worden oder freiwillig zu den Fahnen geeilt, wo mochte er weilen? In welchem Land hatte die Kunde vom Ausbruch des Kriegs ihn erreicht? Was hatte er beginnen können? War er in einer deutschen Festung zurückgeblieben oder mit ausmarschiert? Hatte ihn sein Geschick als Feind in das ihm so vertraute Frankreich geführt?
Talvanne schenkte diesen Erwägungen wenig Aufmerksamkeit und wurde sichtlich verdrießlich, so oft Rameau davon anfing.
»So mach dir doch nicht solche Sorgen,« sagte er eines Tages. »Münzel ist ein viel zu geriebener Kerl, als daß er sich nicht ein geschütztes Plätzchen ausgesucht hätte. Er liegt irgendwo an einem behaglichen, gesunden Fleck im Lager und nützt den Krieg zum Studienmalen. Der Schlingel ist verdammt praktisch und wird das Gemetzel verwerten und jede Feuersbrunst zu Geld machen. Du bist wahrhaftig gar zu gut, so viel an ihn zu denken, ich für mein Teil bin überzeugt, daß er sich über unser Ergehen keine grauen Haare wachsen läßt.«
Conchita, die sonst nie den Mund aufthat, wenn Talvanne in ihrer Gegenwart eine mißliebige Aeußerung über Franz that, stand diesmal hastig auf, und leichenblaß, mit fast erstickter Stimme, rief sie: »Was Sie da behaupten, ist ehrlos! Ich begreife nicht, wie mein Mann das ruhig mit anhören kann . . . ich habe weniger Geduld und lasse mir das nicht eine Sekunde länger bieten!«
Mit wilder Hast nahm sie ihr Kind auf den Arm, als ob sie vor allem Adrienne davor schützen müßte, Schlimmes über Münzel zu hören, und verließ, ohne die verblüfft dastehenden Männer eines Blickes zu würdigen, das Zimmer.
Fragend sah Rameau den Freund an und dieser senkte die Augen beschämt und reuevoll, daß er sich zu Aeußerungen hatte hinreißen lassen, die so unglücklich gewirkt. Verlegen suchte er dem Gespräch eine andre Wendung zu geben, und kaum war eine Viertelstunde verflossen, so stand er auf und ging nach Hause.