Edward Phillips Oppenheim
Schatten der Vergangenheit
Edward Phillips Oppenheim

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Kapitel 9.
Eine furchtbare Unterbrechung.

Die Nachricht von dem Besuch des Bischofs hatte sich wie ein Lauffeuer im Dorf verbreitet, und lange vor Beginn des Gottesdienstes war die Kirche gefüllt. In einer dunklen Ecke sah ich zu meinem Erstaunen Bruce Deville, der mit verschränkten Armen an einem Pfeiler lehnte. Und als ich zu meinem Platz ging, kam ich an Adelaide Fortreß vorbei, die im Hauptschiff der Kirche saß. Ich hatte die beiden vorher niemals in der Kirche gesehen und verstand nicht, warum sie gerade an diesem Abend gekommen waren. Es war eine Ironie des Schicksals – ich konnte es kaum für einen Zufall halten.

Der Bischof erschien frühzeitig und nahm neben Lady Naselton Platz. Alle Blicke richteten sich auf ihn, nur ich sah zu der Kanzel hinauf. Ich war ungewöhnlich nervös. Die Kirche war noch nicht ganz hell erleuchtet, obgleich die Glocken nicht mehr läuteten. Einen Augenblick herrschte tiefe Stille. Dann kamen die Diakonen in ihren weißen Gewändern aus der Sakristei. Das leise, getragene Orgelspiel verstummte. Ich atmete erleichtert auf – es ging alles seinen gewöhnlichen Gang. Vielleicht war dieser Gottesdienst entscheidend für unsere Zukunft.

Ich beobachtete nun das Gesicht des Bischofs. Er schaute erstaunt auf, als die tiefe, wohltönende Stimme meines Vaters erklang, die die letzten Winkel der Kirche erfüllte. Als nun die Gemeinde sang, runzelte er die Stirne und sah Lady Naselton mit einem mitleidigen Lächeln an. Die Stimmen dieser Landleute lassen viel zu wünschen übrig. Ich beobachtete ihn mit halbgesenkten Augen und glaubte zu erkennen, daß diese Landgottesdienste ihn langweilten.

Erst als mein Vater auf der Kanzel stand und um sich schaute, blickte der Bischof wieder lebhaft auf. Einige Augenblicke herrschte tiefes Schweigen, ehe er den Text seiner Predigt verlas.

Für mich waren es grauenhafte Sekunden. Ich dachte an den schlechten Gesundheitszustand meines Vaters und an die müden, ausdruckslosen Worte seiner Morgenpredigt. Er hatte weder ein Manuskript, noch Notizen, und ich hielt es für unmöglich, daß seine Predigt Eindruck auf den Bischof machen würde. Aber kaum hatte er die ersten Silben des Textes gesprochen, als ich mit Entsetzen vorausahnte, was kommen sollte. »Der Tod ist der Sünde Sold.« Man kann es nicht beschreiben, wie wunderbar feierlich diese Worte von den Lippen meines Vaters kamen. Obwohl er die Stimme kaum erhoben hatte, drangen sie bis zu den letzten Sitzreihen der Kirche. Mit einer ruhigen Bewegung schloß er die Bibel und stand hochaufgerichtet auf der Kanzel. Sein blasses Gesicht, das fast ebenso weiß war wie sein Gewand, hob sich leuchtend von den dunklen Schatten ab, die ihn umgaben. Und als er zu sprechen begann, zitterte seine Stimme nicht. Er sprach ruhig und fest, aber seine feurigen Worte waren von geheimnisvollem Leben erfüllt, das sich allen Hörern mitteilte.

»Der Sünde Sold – das ist die ewige Qual des nimmer ruhenden, nimmer müden Gewissens!« Von diesem Satz ging er aus. Ich kann mich kaum auf die Einzelheiten dieser Predigt besinnen, aber der Eindruck auf mich und die ganze Gemeinde war tief und unvergeßlich. Diese markanten Worte, die er mit dramatischer Kraft und Wucht gesprochen hatte, packten alle Anwesenden, und sie lauschten in atemloser Spannung jedem seiner Worte bis zum Schluß. Es war so still in der Kirche, daß man ein Blatt hätte fallen hören. Nicht einmal ein Kind schaute seitwärts auf die Efeuranken, die vor den Kirchenfenstern leise vom Wind bewegt wurden, oder auf die seltsamen Ornamente, die das Licht der untergehenden Sonne auf Pfeiler und Wände warf. Es war, als ob ein persönlicher Schmerz durch diese Worte klang, als ob sich darin alle menschliche Not leidenschaftlich Bahn brach. Lauschten wir einem Geständnis? Oder einer Anklage? Er sprach mit erschütternden Worten über die Sünde im allgemeinen.

»Unser Leben ist vielseitig gestaltet gleich einem Schrank mit vielen Fächern«, führte er aus. »Einige stehen allen Blicken offen, und das helle Tageslicht schaut hinein. Aber andere halten wir ängstlich verborgen und verschlossen. Wohl können wir das Äußere schön verzieren, und die Blicke unserer Nachbarn daran hindern, ins Innere zu schauen. Mit geheimen Schlössern können wir sie sichern, so daß nur wir selbst das grauenvolle Innere betrachten können. Aber unser Gewissen läßt uns nicht zur Ruhe kommen, und manchmal fällt ein greller Schein in diese verborgenen Fächer und zehrt an den Fasern unseres Herzens. Vor uns selbst können wir diese dunklen Kammern nicht verschließen, unser Gewissen sprengt jedes Siegel und jedes Schloß. Und ich glaube, keiner unter uns kann von sich sagen, daß ihm solche dunklen, verborgenen Stellen in seinem Innern fremd sind.«

Plötzlich war seine ruhige, getragene Sprache von Leidenschaft erfüllt. Sein blasses Gesicht leuchtete auf, seine Augen glänzten von innerem Feuer, und die Wucht seiner Worte steigerte sich. Er sprach ergreifend von der Gewissensqual der Menschen, deren Sünde wie ein dunkler Schatten über ihrem Leben liegt und das helle Licht der Hoffnung zu verdunkeln droht. Erschüttert lauschten wir ihm. Wen verteidigte er?

Der tiefe Ernst seiner Rede packte uns immer mehr. Mehrere Frauen weinten leise; die Männer schauten vor sich nieder. In jedem tauchten Erinnerungen auf, die längst begraben schienen. Ich sah zu Bruce Deville hinüber. Er hatte die Arme verschränkt und den Kopf gesenkt. Adelaide Fortreß sah unentwegt auf das bleiche, begeisterte Gesicht meines Vaters. In ihren Augen standen Tränen. Auch der Bischof lauschte tiefbewegt jedem Wort. Aber ich zitterte, denn ich ahnte, daß eine fürchterliche Wahrheit hinter den glühenden Worten meines Vaters stand. Als er vor den letzten, gewaltigen Schlußsätzen eine kurze Pause machte, ging ein erregtes Raunen durch die Kirche, dann herrschte wieder atemlose Stille.

Plötzlich hörte ich einen schwachen Laut. Von meinem Platz aus konnte ich durch die offene Kirchentür sehen. Draußen lehnte sich ein Mann gegen einen Pfeiler der Vorhalle. Seine Kleider waren zerrissen, und auf seinem Rock sah ich einen großen, dunklen Flecken. Das leise Stöhnen wiederholte sich. Der Fremde hielt sich an dem Pfeiler fest; er schien schwach und elend zu sein. Sein Gesicht war mir jetzt zugewandt, und mit Entsetzen erkannte ich ihn. Ich erhob mich halb von meinem Sitz. Dieser Mann war sehr krank, vielleicht dem Tod nahe. Es war mir, als ob er mir verzweifelt zuwinkte. Ich versuchte alles, Mr. Charlsworth ein Zeichen zu geben, aber seine Augen hingen wie die aller anderen Hörer gebannt an der Kanzel. Bevor ich meinen Platz verlassen oder jemand aufmerksam machen konnte, war der Mann hereingewankt und lehnte sich an einen Kirchenstuhl. Jetzt sah ich, daß seine Hände und seine Kleider mit Blut befleckt waren. Seine Augen glühten in dem totenbleichen Gesicht, über das die wirren, schwarzen Haare fielen.

Außer mir hatten nur zwei oder drei Leute ihn bemerkt. Er stand im Schatten, und nur ich konnte erkennen, in welcher grauenvollen Verfassung er sich befand. Während mich namenlose Furcht lähmte, ertönte wieder die tiefe, volle Stimme meines Vaters. Frauen und Männer neigten ihre Häupter vor der Gewalt seiner leidenschaftlichen und doch so traurigen Worte.

»Der Tod ist der Sünde Sold, denn alles auf dieser Welt ist vergänglich, nur die Sünde allein ist ewig. Die Wiedervergeltung ist wie Ebbe und Flut, die niemand anhalten kann. Und der Tod fährt daher auf seiner Barke über die wogenden Wellen. Du und ich, jeder Mann und jede Frau auf dieser Welt, die gesündigt haben – siehe, sie sind dem Tode verfallen! Seine grause Knochenhand rafft sie erbarmungslos hinweg. Aber es gibt noch einen anderen Tod außer dem des Leibes – das ist der geistige Tod! Und viele von uns, deren Vergangenheit nicht in ihrem Antlitz geschrieben steht, haben bitter gekämpft mit diesem anderen Tod – dem Tod –«

Die Worte erstarben auf den Lippen meines Vaters, und alle sahen plötzlich den Mann, der sich mit wankenden Schritten zur Kanzel geschleppt hatte. Das Schlürfen und Stöhnen hatte sie allmählich aufmerksam gemacht. Die schreckliche Gestalt des Fremden wurde nun mitleidlos von dem hellen Licht in der Kirche beleuchtet. Das rote Blut tropfte langsam von seinen Kleidern auf den Steinboden, und Schaum stand vor seinem Munde. Die Schatten des Todes lagen über seinem Gesicht. Er taumelte, dem Zusammenbruch nahe, und streckte seine Arme nach der Kanzel aus. Mit fiebernden Blicken sah er zu dem Prediger empor, der sich zu ihm herabneigte. Die physische Kraft meines Vaters war erschöpft. Die leichte Röte war nach dieser fast übermenschlichen Anstrengung aus seinen Wangen gewichen. Er war blaß, aber er verlor seine Haltung nicht für einen Augenblick. Er winkte Mr. Charlsworth und einem anderen Kirchenältesten. Beide verließen ihre Plätze und eilten auf den Mann zu. Als sie ihn erreichten, entrang sich ein Schrei seiner Brust, und er machte eine krampfhafte Bewegung vorwärtszukommen. Es war, als ob er wie ein Tiger die ruhige Gestalt anspringen wollte, die auf ihn herniederschaute.

»Judas! Du Judas! Oh –«

Seine Hände fielen herab, und er brach zusammen. Die beiden Männer fingen ihn auf. Ein letzter Schrei – der schrecklichste, den ich je in meinem Leben hörte – hallte schauerlich durch die Kirche. Noch bevor er verklang, stand Adelaide Fortreß auf und kniete bei dem Bewußtlosen nieder. Mein Vater erhob die Arme und sprach mit tiefer, feierlicher Stimme den Segen. Dann stieg er schnell von der Kanzel herab und trat zu den erschreckten Leuten, die sich im Mittelschiff um den Toten gesammelt hatten. Als er sich näherte, wichen sie zurück. Er kniete neben dem Manne nieder und sah fest in sein Gesicht. Alice, die nur teilweise gesehen hatte, was unten in der Kirche vorging, spielte eine getragene Weise auf der Orgel.

Ein Flüstern ging durch die Menge. Dann hoben starke Arme den Fremden auf und trugen ihn aus der Kirche.

Mein Vater folgte. Einige Minuten herrschte ein beklemmendes Schweigen. Die Leute hatten zum Teil vergessen, daß der Segen schon gesprochen war, und wußten nicht, ob sie gehen oder bleiben sollten. Als sich schließlich einer zu dem Ausgang wandte, verließen auch die anderen zögernd die Kirche.

Lady Naselton ließ sich einen Augenblick an meiner Seite nieder. Sie zitterte am ganzen Körper.

»Wissen Sie, wer das war?« fragte sie mich leise.

»Es muß wohl ein Fremder gewesen sein –«

Sie schauderte.

»Entweder war es ein Fremder oder Mr. Berdenstein. Ich habe sein Gesicht nur einen Augenblick gesehen und konnte es nicht genau erkennen. Er sah so schrecklich aus.«

Sie entdeckte plötzlich, daß ich halb ohnmächtig war.

»Kommen Sie mit in die frische Luft«, flüsterte sie mir zu.

Ich erhob mich und trat mit ihr hinaus.

Sie hatten den Toten in eine entlegene Ecke des Kirchhofs gebracht. Mein Vater kam langsam auf uns zu, als ob er uns hindern wollte, weiterzugehen. Sein Gesicht sah eingefallen und müde aus. Nur mühsam konnte er sich aufrechterhalten.

»Der Mann lebt nicht mehr«, sagte er ruhig. »Es muß ein Unglücksfall vorliegen. Vielleicht ist er auch überfallen worden. Scheinbar weiß niemand, woher er kam.«

»Es ist nur seltsam«, meinte der Bischof nachdenklich, »daß er sich in diesem Zustand noch zur Kirche geschleppt hat. Eins der Gehöfte oder das Pfarrhaus wäre doch bedeutend näher gewesen.«

»Vielleicht wollte er die heilige Stätte noch erreichen«, erwiderte mein Vater ernst.

Der Bischof erhob feierlich die rechte Hand.

»Gott gebe, daß er Frieden gefunden hat.«

 


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