Edward Phillips Oppenheim
Schatten der Vergangenheit
Edward Phillips Oppenheim

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Kapitel 11
Das Gewitter zieht sich zusammen.

Soweit ich sehen konnte, hatte er sich nicht verändert. Er kam näher und nahm freundlich meine Hand. Dann neigte er sich über mich und küßte mich auf die Stirne.

»Geht es dir besser, Kate?«

»Ja, es geht mir ganz gut.«

Er sah mich nachdenklich an, stellte noch einige Fragen über meine Krankheit und erzählte mir dann von seinem Besuch bei dem Bischof, der ihn sehr liebenswürdig aufgenommen hatte. Als eine Pause eintrat, setzte er sich an meiner Seite nieder. Mein Herz schlug zum Zerspringen.

»Kate, du bist jetzt stark genug, um mich anzuhören. Ich möchte kurz eine sehr schwierige Angelegenheit mit dir besprechen.«

»Ja, bitte sprich mit mir«, erwiderte ich tonlos.

»Nach Alices Bericht vermute ich, daß du dich klug zurückgehalten und über einen gewissen Vorfall geschwiegen hast. Du hast dich scheinbar damit abgefunden, und sie hat dir alles gesagt, was in der Öffentlichkeit bekannt ist. Aber es muß dir natürlich aufgefallen sein, daß ich nichts von unserer Begegnung mit diesem unglücklichen Mann erzählte.«

»Ich war sehr bestürzt, als ich das entdeckte«, sagte ich stockend. »Ich verstehe es nicht – bitte erkläre es mir.«

Er sah mir ruhig in die Augen. Meine Erregung machte nicht den geringsten Eindruck auf ihn.

»Ich habe lange darüber nachgedacht«, begann er langsam, »und bin zu dem Entschluß gekommen, um meinet- und um eines anderen Menschen willen die Tatsache unserer Begegnung geheimzuhalten. Es sind damit Dinge verknüpft, die ich dir nicht sagen kann. Ich kann dir mein Vertrauen nicht in dem Maße schenken, wie ich gern wollte. Nur das eine kann ich dir sagen. Es wäre nichts dadurch erreicht worden, wenn ich darüber gesprochen hätte. Sowohl im Interesse anderer als auch um meiner selbst willen mußte ich Frieden haben. Eine direkte oder indirekte Verbindung mit einem solchen Verbrechen würde für mich wie für den Menschen, den er aufsuchen wollte, in gleicher Weise verhängnisvoll sein. Ich schwieg also; und ich verlange von dir, Kate, daß du mir glaubst und meinem Beispiel folgst. Gib mir dein Wort, daß du niemals über diese Begegnung sprechen wirst.«

Er sah mich an und wartete. Ich legte meine Hand auf seinen Arm.

»Vater, hast du in der Kirche das Gesicht dieses Mannes gesehen? Hast du gehört, was er sagte?«

Er wich nicht zurück, sondern hielt meinen Blick furchtlos aus.

»Ja«, erwiderte er ernst.

»Warst du es – zu dem er sprach?« rief ich.

»Auf diese Frage kann ich dir nicht antworten, Kate.«

Ich ergriff seine Hand in fieberhafter Angst.

»Vater, soll ich den Verstand verlieren?« stöhnte ich. »Du kennst den Mann – du wußtest, wer er war! Und du wußtest auch, was er in dem Gelben Hause wollte!«

»Das ist wahr.«

»Er stand mir in der Kirche so nahe, daß ich ihn hätte berühren können. Ich sah sein schmerzverzerrtes Gesicht – seine flammenden Blicke klagten dich an. Er schien plötzlich alle Zusammenhänge zu verstehen. Er rief ›Judas!‹, und er zeigte auf – dich!«

»Er war nicht bei Sinnen«, antwortete mein Vater mit fürchterlicher Ruhe. »Alle Leute sahen, daß er nicht bei Verstand war. Ich möchte nicht länger als nötig über dieses traurige Erlebnis sprechen, Kate. Aber ich brauche dein Versprechen. Du mußt mir auf mein Wort hin glauben.«

Ich sah ihn lange und durchdringend an. Wenn der Gesichtsausdruck ein Spiegelbild des Charakters ist, so war mein Vater sehr hoch einzuschätzen. Ich konnte nicht einmal einen Schatten von Furcht oder Gewissensqualen in seinen Zügen entdecken. Ich umklammerte leidenschaftlich seine Hand.

»Vater, schenke mir dein volles Vertrauen! Ich will alles versprechen, aber sage mir auch alles! Entsetzliche Gedanken quälen mich jetzt – und sie werden mich immer quälen. Ich weiß schon soviel, erzähle mir noch ein wenig mehr. Kein Laut soll über meine Lippen kommen, aber –«

Er hob langsam die Hand, und ich verstummte.

»Ich habe dir nichts zu sagen, mein Kind«, entgegnete er ruhig. »Mache dich von diesem Gedanken für immer frei. Die Last, die ich zu tragen habe, muß auf meinen Schultern allein ruhen. Gott möge verhüten, daß auch nur ein Schatten dein junges Leben verdunkeln möge.«

»Ich fürchte mich nicht, alles zu erfahren, aber die Ungewißheit fürchte ich, gegen die ich mich nicht wehren kann. Warum vertraust du mir nicht? Ich bin alt und verständig genug. Deine Worte werden mir teurer sein als alles andere.«

Als er den Kopf schüttelte, traten Tränen in meine Augen.

»Es ist ein großes Geheimnis«, rief ich. »Wir alle sind damit verbunden. Was hat es zu bedeuten? Warum sind wir eigentlich hierher gekommen?«

»Durch reinen Zufall. Diese Pfarrstelle wurde mir angeboten, und ich nahm sie dankbar an, weil ich dadurch meiner Pflichten in Belchester enthoben wurde.«

»Dann war es also Schicksal – grausames Schicksal!« stöhnte ich.

»Es war Gottes Wille.«

Wir schwiegen minutenlang. Mein Vater saß an meiner Seite und wartete – wartete auf meine Antwort. Die Verzweiflung in meinem Herzen wuchs.

»Ich kann hier nicht in Unkenntnis weiterleben«, sagte ich schließlich.

»Du mußt mir dein Versprechen geben, Kind. Es liegt nicht in meiner Macht, dir etwas zu sagen. Du bist jung und wirst dieses schreckliche Erlebnis bald vergessen haben.«

»Ich verspreche es dir«, sagte ich unendlich traurig. »Aber ich muß fortgehen, hier kann ich nicht bleiben. Ich würde wahnsinnig werden.«

Seine kühlen Lippen berührten die meinen, als er sich erhob.

»Du mußt tun, was dir am besten erscheint«, entgegnete er ernst. »Du bist alt genug, um dein Leben selbst zu gestalten. Wenn es deine Seelenruhe und dein Glück verlangen, dann mußt du gehen. Ich kann wohl verstehen, daß dir dieser Ort unangenehm geworden ist, aber denke daran, daß wir nicht mehr lange hier wohnen. Das Leben in Exchester wird dir mehr zusagen. Es ist interessanter, und ich werde mehr für dich tun können als bisher.«

»Das ist es nicht«, unterbrach ich ihn müde. »Du weißt, daß das nicht der Grund ist. Es ist das Verhältnis zwischen uns.«

Er schwieg, aber ein schmerzlicher Ausdruck trat in sein Gesicht. Seine Lippen zitterten, und er senkte den Kopf. Ich glaubte Tränen in seinen Augen zu sehen.

Sanft nahm ich seine Hand und streichelte sie.

»Vater, du wirst es mir sagen«, bat ich leise. »Ich will es tapfer tragen, so furchtbar es auch sein mag. Laß mich deinen Kummer und deine Sorgen teilen.«

Einen Augenblick schien er nachgeben zu wollen. Er bedeckte sein Gesicht mit den Händen und schwieg. Aber als er wieder aufschaute, hatte er die Schwäche überwunden. Er erhob sich.

»Gute Nacht, Kate. Ich danke dir für dein Versprechen.«

Meine Hoffnung hatte mich getäuscht. Kühl erwiderte ich seinen Kuß, und er verließ mich ohne ein weiteres Wort.

 


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