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Ich war fest entschlossen, das Versprechen zu halten, das ich Olive Berdenstein gegeben hatte. Fast eine Woche lang blieb ich zu Hause und machte nur frühmorgens einen Spaziergang. Dreimal ließ sich Bruce Deville melden, aber ich gab ihm durch das Mädchen stets eine absagende Antwort. Ich beobachtete, daß er häufig an unserem Zaun entlang ritt. Dann blickte er ungeduldig und stirnrunzelnd nach dem Hause. Einmal sah ich ihn mit Olive Berdenstein. Sie schien ihm irgendwo begegnet zu sein. Er war nicht in rosiger Stimmung, hatte die Schultern hochgezogen und ging so schnell, daß sie laufen mußte, um mit ihm Schritt zu halten. Ich schaute mit einem Seufzer weg – und doch war ich herzlos, denn ich dachte mit Genugtuung daran, daß er ganz anders ausgesehen hatte, als er mit mir gegangen war.
Nach dieser einsamen Woche konnte ich es nicht länger ertragen. Ich hatte nur Alices Gesellschaft gehabt, die über ihre Arbeit im Pfarramt und über unsere Zukunft in Exchester sprach. An einem regnerischen, windigen Nachmittag zog ich Mantel und Hut an, und ging hinunter zu dem Gelben Hause. Ich fand Adelaide Fortreß allein. Sie saß an ihrem Schreibtisch und arbeitete. Als ich eintrat, sah sie mich einen Augenblick an, ohne zu grüßen. Es war mir, als ob ihre Haare grauer geworden waren und ihre feinen, intelligenten Züge einen Ausdruck hoffnungsloser Leere zeigten. Aber dann begrüßte sie mich liebenswürdig und ohne Vorwurf, obwohl ich wußte, daß mein langes Fernbleiben sie bedrückt hatte.
»Es ist lieb von dir, daß du mich besuchst. Hast du wieder Nachricht von deinem Vater?«
Ich nickte.
»Wir hörten am letzten Mittwoch von ihm. Er ist an demselben Nachmittag an die Südküste gefahren. Er schrieb zuversichtlich und erklärte, daß er sich bedeutend besser fühle.«
»Das freut mich«, sagte sie leise.
Wir schwiegen einige Augenblicke.
»Mr. Deville hat nach dir gefragt«, sagte sie schließlich. »Er meinte, du seist vollständig unsichtbar. Warst du krank?«
Ich schüttelte den Kopf. Gern hätte ich ihr von dem Besuch Olive Berdensteins und von unserem Vertrag erzählt. Einen Augenblick zögerte ich. Sie bemerkte es und zog sicher ihre eigenen Schlüsse daraus.
»Ich hatte keinen besonderen Grund, zu Hause zu bleiben. Ich wollte nur niemand sehen. Hast du nicht manchmal auch das Bedürfnis, allein zu sein?«
»Sehr oft«, pflichtete sie bei. »Der Wunsch nach Einsamkeit kommt wohl jedem Menschen zu gewissen Zeiten.«
Dann schwiegen wir wieder. Ich wußte wohl, worauf sie wartete, und doch war ich still und bedrückt. Fast wünschte ich, daß ich nicht gekommen wäre.
»Hast du über alles nachgedacht, was ich dir damals erzählte?« fragte sie leise. »Sicher hast du daran denken müssen.«
»Ja, woran hätte ich sonst denken können?«
»Ist dir auch zum Bewußtsein gekommen, daß du meine Tochter bist?« Ihre Stimme zitterte ein wenig.
»Ja.«
Ich blickte auf den Boden, und sie seufzte.
»Du bist sehr hart«, sagte sie tonlos.
»Das glaube ich kaum – und ich will es auch nicht sein. Ich habe mich ja nicht selbst geschaffen, ich habe keine Gewalt über meine Gefühle. Und ich möchte dir nichts sagen, bevor es mir nicht wirklich von Herzen kommt.«
»Du bist meine Tochter«, sagte sie leise und zärtlich.
»Das ist wahr. Aber bedenke, daß ich es erst seit wenigen Tagen weiß. Ich kann mich nicht so schnell als dein Kind fühlen. Das ist unmöglich. Noch vor einigen Wochen waren wir uns Fremde. Das kann ich nicht vergessen. Und es bleibt immer eine Schande«, fügte ich bitter hinzu.
Sie schrak zurück, als ob ich ihr einen Schlag versetzt hätte. Ich wußte, daß ich sie tief verwundet hatte, aber ich mußte es sagen.
»Schande«, wiederholte sie leise, »Schande. Es ist seltsam, daß ich dieses Wort hören muß. Aber es ist wahr, und ich muß lernen, es zu tragen. Das ist meine Strafe.«
»Du kannst es nicht leugnen. Wie konntest du überhaupt nur anders denken? Aus voller Überzeugung hast du mit meinem Vater zusammengelebt, ohne ihn zu heiraten. Du hast selbst zugegeben, daß dich nichts an einer Heirat hinderte. Du hattest damals die Genugtuung, nach deinen Theorien zu leben – und ich muß nun die Strafe dafür bezahlen.«
Sie neigte ihren Kopf.
»Du hast recht.«
Sie bedeckte das Gesicht mit den Händen, und wir schwiegen beide lange Zeit. Die Uhr schien plötzlich lauter zu ticken; draußen flatterten die gelben Blätter langsam nieder, und der Wind stöhnte in den Baumkronen. Der Regen klatschte gegen die beschlagenen Fensterscheiben. Ich sah von der gebeugten Gestalt fort und blickte hinaus auf die einsame Straße. Meine Gedanken wanderten. Wo mochten Bruce Deville und Olive Berdenstein sein? Waren sie jetzt wohl zusammen, und hatte sie mehr Erfolg? Aber was hatte das auch alles jetzt noch für mich zu bedeuten? Ich war ein armes, namenloses Mädchen mit einer dunklen Vergangenheit und einer aussichtslosen Zukunft. Ich seufzte und sah wieder in das Zimmer zurück. Ihre Stimme unterbrach endlich das Schweigen, das unerträglich zu werden begann.
»Ich will mich nicht entschuldigen«, sagte sie leise. »Nichts kann mich entschuldigen. Aber als ich jung und für meine Ideen begeistert war, erschien es mir, daß ich nur voranzugehen brauchte, damit mir alle anderen folgen würden. Ich dachte, daß das Wort Illegitimität bedeutungslos sein würde, wenn meine Kinder – falls ich Kinder haben sollte – erwachsen sein würden. Kurze Zeit habe ich in diesem süßen Wahn gelebt. Nicht du allein hast daran zu tragen, der größte Teil der Strafe lastet auf meinen Schultern, denn es hat mir das Herz gebrochen.«
Ich hatte Mitleid mit ihr und nahm ihre Hände. Aber noch war es, als ob uns ein Schleier trennte.
»Ich will es glauben«, sagte ich zärtlich, »und immer daran denken, wie schwer du darunter zu leiden hast. Ich urteile nicht hart über dich. Meine Liebe zu dir muß nach und nach erwachen. Aber eines Tages werde ich ganz deine Tochter sein.«
Sie sah mich dankbar an, und wir sprachen dann nicht mehr darüber.
»Ich kam heute nachmittag mit einer ganz bestimmten Absicht zu dir. Ich wollte etwas mit dir besprechen, dich um deinen Rat fragen. Wenn diese unangenehme Geschichte mit Olive Berdenstein vorüber ist, möchte ich von Hause fortgehen und meinen Lebensunterhalt selbst verdienen. Das heißt, ich möchte unabhängig sein, möchte mein Leben nach meinen eigenen Wünschen gestalten.«
Sie sah mich ernst und nachdenklich an.
»Unabhängig möchtest du werden? Ja, daran erkenne ich dich wieder«, sagte sie liebevoll.
»Ich finde keinen Gefallen an diesem Leben hier. Und nach all diesen Ereignissen ist es mir unerträglich geworden. Ich möchte positive Arbeit leisten, und ich scheue nicht vor harten Anstrengungen zurück.«
»Das kann ich gut verstehen und dir nachfühlen.«
Ich lächelte schwach. Ganz konnte sie sich wohl doch nicht in meine Lage versetzen, denn sie wußte nicht alles.
»Am liebsten liefe ich gleich von hier fort. Ich möchte nach London gehen. Ich weiß zwar noch nicht, womit ich meinen Unterhalt verdienen könnte, aber das wird sich finden. Ich dachte, du könntest mir vielleicht bei der Wahl einer Tätigkeit raten.«
Während ich sprach, leuchteten ihre Augen plötzlich auf. Scheinbar war ihr ein Gedanke gekommen, aber sie zögerte noch, ihn auszusprechen. Als ich schwieg, sah sie mich halb nervös und halb zweifelnd an.
»Wenn dir etwas eingefallen ist, so sage es mir bitte. Ich scheue wirklich vor keiner Arbeit zurück. Und ich bin nicht wählerisch, solange ich mein eigener Herr bleibe.«
Sie schaute mich durchdringend an, und eine leichte Röte stieg in ihre Wangen.
»Ich überlegte mir, ob du wohl meine Sekretärin werden möchtest. Ich brauche wirklich eine Hilfe«, fügte sie schnell hinzu. »Ich habe letzte Woche eine Anzeige in die Zeitung gesetzt.«
»Deine Sekretärin?« wiederholte ich langsam.
»Du müßtest allerdings lernen, eine Schreibmaschine zu bedienen. Und deine Arbeit wird zuweilen trocken und uninteressant sein. Aber auf der anderen Seite hättest du reichlich Zeit für dich selbst und könntest nach deinem eigenen Ermessen leben.«
Ich wußte kaum, was ich antworten sollte, aber der Vorschlag gefiel mir. Sie sah mein Zögern, aber sie erkannte auch, daß ich mich nicht abgestoßen fühlte. Bevor ich Worte fand, sprach sie weiter.
»Überlege es dir einmal. Du brauchst dich ja nicht sofort zu entscheiden. Natürlich würdest du bei mir wohnen, und ich könnte dir hundertzwanzig Pfund im Jahr geben. Das ist zwar nicht viel, aber du würdest sonst kaum soviel bekommen. Höre einmal, kommt dort nicht Mr. Deville?«
Ich sprang auf und eilte zur Türe.
»Möchtest du ihn denn nicht sehen?« fragte sie erstaunt.
»Nein!« rief ich atemlos. »Er kommt gerade über den Rasen. Ich werde auf der anderen Seite hinausgehen. Leb wohl.«
»Aber womit hat dich denn der arme Bruce so beleidigt?« erwiderte sie betroffen. »Ich dachte, ihr wärt Freunde geworden.«
»Er hat mich nicht beleidigt«, antwortete ich schnell. »Nur möchte ich ihn heute nicht sehen. Leb wohl.«
Ich verließ sie an der Haustür und eilte den Pfad entlang. Als ich mich umwandte, sah ich, daß Bruce Deville durch eine der Fenstertüren ins Haus trat. Ich hoffte, daß er mich nicht gesehen hatte, und daß ich ihm entkommen war. Aber bevor ich halbwegs durch die kleine Schonung gegangen war, hörte ich Schritte hinter mir.
»Guten Tag, Miß Ffolliot.«
Ich erwiderte seinen Gruß, ohne mich umzuschauen.
Der Weg war so schmal, daß nur einer darauf gehen konnte. Aber er hatte mich bald überholt. Rücksichtslos ging er durch das Gebüsch an der Seite, stand plötzlich vor mir und vertrat mir den Weg.
»Was ist denn geschehen?« fragte er schnell. »Was habe ich Ihnen denn getan? Warum gehen Sie mir dauernd aus dem Wege?«
»Ich verstehe Sie nicht, Mr. Deville«, log ich, aber meine Wangen brannten. »Bitte, lassen Sie mich vorbeigehen.«
»Erst müssen Sie mir sagen, was ich Ihnen getan habe«, erwiderte er kurz. »Ich habe letzte Woche dreimal im Pfarrhaus vorgesprochen. Ich erfuhr, daß Sie zu Hause waren, aber Sie wollten mich nicht empfangen. Jedesmal erhielt ich dieselbe Antwort. Und heute nachmittag sind Sie direkt fortgegangen, um mir nicht zu begegnen. Ich möchte jetzt den Grund Ihres Verhaltens wissen.«
Der Ton seiner Stimme und seine Haltung waren in gleicher Weise unfreundlich. Vergeblich sah ich mich nach einer Fluchtmöglichkeit um. Aber nach allem war dies ja schließlich kein Bruch meines Versprechens. Ich war einfach machtlos.
»Sie haben mir nichts zuleide getan – bis jetzt noch nicht«, sagte ich mit Nachdruck. »Wenn Sie mich aber hier gegen meinen Willen noch länger aufhalten, dann beleidigen Sie mich allerdings. Bitte, lassen Sie mich gehen. Ich muß nach Hause.«
»Gut, dann werde ich Sie begleiten«, erklärte er und trat zur Seite.
»Es ist aber kein Platz für uns beide auf diesem Weg!«
»Oh, das werde ich schon einrichten.« Er überließ mir die ganze Breite des Pfades und ging selbst durch das Gestrüpp. Ich schritt rasch voran, aber er hielt Schritt mit mir. Er schien keine Worte zu finden. Wir hatten schon beinahe das Gartentor des Pfarrhauses erreicht, ehe er den Mund öffnete.
»Sie wollen mir also wirklich nicht sagen, warum Sie mir in den letzten Tagen immer aus dem Weg gegangen sind? Wodurch habe ich Ihre Achtung verloren?«
Er hatte merkwürdig ernst gesprochen, und ich fühlte, daß ich rot wurde. Vielleicht hätte ich ihm anders geantwortet, wenn ich nicht plötzlich Olive Berdenstein gesehen hätte. Mit gezierten Schritten kam sie die schmutzige Straße entlang auf uns zu. Ihr Cape und ihr großer Hut waren selbst auf weite Entfernung leicht zu erkennen. Hastig schritt ich vorwärts, und bevor er mich daran hindern konnte, war ich in den Garten gegangen.
»Bitte warten Sie nicht auf mich, Mr. Deville«, sagte ich und sah mich nach ihm um. »Dort kommt Ihre Freundin. Gehen Sie bitte zu ihr, aber sagen Sie ihr nichts davon, daß Sie mich getroffen haben.«
Er fluchte und gab Olive Berdenstein einen bösen Namen. Ich eilte ins Haus.
»Miß Ffolliot«, rief er mir nach, »einen Augenblick. Es tut mir sehr leid, bitte entschuldigen Sie.«
Ich wandte mich um und winkte ihm mit der Hand zu, um ihn loszuwerden.
»Es ist schon gut. Aber gehen Sie jetzt bitte zu Miß Berdenstein.«
Wahrscheinlich fluchte er weiter über sie, aber auf jeden Fall wandte er sich von dem Tor ab. Kurz darauf sah ich vom Fenster meines Schlafzimmers aus, daß er sie grüßte. Sie gingen zusammen weiter. Ich beobachtete sie seufzend.