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Während der Nacht blieben wir an Bord und wurden von einem schwarzen Feldwebel und seinen Polizeisoldaten bewacht. Wir erfuhren jetzt, weshalb uns der Kreuzer so schnell gefunden hatte: Der Ort, den unsere Neger geplündert hatten, war ein Dorf in der Nähe von Pram-Pram. Von dort waren die überfallenen Eingeborenen nach Accra geeilt und hatten gemeldet, ein deutsches Schiff habe einen Angriff auf die Küste gemacht. Darauf war der Kreuzer ausgelaufen und hatte sich uns mit aller Vorsicht genähert.
Ich schlief die Nacht auf den Polsterbänken der Messe.
Als ich am Morgen erwachte, sah ich unsere schwarzen Wächter todkrank an Deck liegen. Sie hatten ihre Waffen beiseite gestellt und sahen im Gesicht aschgrau aus. Die unruhigen Bewegungen des Schiffes, das auf der Dünung schaukelte, hatte ihnen alle Kraft genommen.
Ich dachte sofort: Wir überwältigen die Wächter und gehen in See, auch ohne Kompaß! Als ich Brun in der Messe begegnete, platzte der gleich mit demselben Gedanken heraus, und wir stahlen uns zum Kapitän hinauf, um den Plan mit ihm zu besprechen. Bei dem Kapitän saß der weiße Beamte, der ebenfalls seekrank war.
Während wir überlegten, kamen schon Boote von Land, und wir konnten nichts unternehmen.
Gegen Abend wurden wir in der Dunkelheit an Land gesetzt. Die eingeborenen Ruderer ruderten das Brandungsboot mit ihren kurzen Paddeln auf die laute Brandung zu.
Aufregend war die Fahrt um die Mole herum. Die Neger fachten ihre Kraft aufs höchste an und sangen immer lauter. Man merkte, daß die geschickten und kräftigen Männer sich der Gefahr wohl bewußt waren. Die Dünung warf das Boot hoch und bespritzte uns mit Wasser. Dann glitt das Boot in ruhiges Fahrwasser, und wir stiegen an Land.
Es ist mir immer als eins der größten Wunder der Westküste Afrikas erschienen, daß die Neger, die hier wohnen, den Mut gehabt haben, ihre schwachen Menschenkräfte an diese gewaltige Brandung zu wagen. Wer zum erstenmal sieht, wie die Dünung des Ozeans auf die Küste losstürmt und wie sich Woge auf Woge bricht, der sagt wohl: Unmöglich! Unmöglich kann hier je ein Verkehr entstehen; nie werden Menschen diese Naturkraft überwinden. Und dann kamen nackte Neger in einfachen Holzbooten und zeigen, daß der Mensch sogar dieser Gefahr ihre Schwächen abgelauscht hat: Auf soundsoviele hohe Brecher folgt ein schwächerer, folgt eine kurze Spanne Zeit, in der vereinte Kräfte starker Menschen hinreichen, den Strand zu erreichen, ohne Schiffbruch zu erleiden. Der Ozean, der gewaltige Riese ist überlistet. Freilich, nicht immer glückt es. Und in unserer Zeit hat die eindringende europäische Betriebsamkeit neben vielem anderen auch dieses Wunder der Menschenkraft schon zerstört. Der Schnaps hat die Völker der Küste so entkräftet, daß sie die Männer, die zu solcher Leistung befähigt sind, kaum noch aufbringen können.
Wir wurden in das Haus einer österreichischen Handelsgesellschaft gebracht, wo wir zu Abend essen durften. Die Herren des Hauses Jäckel & Co, die auf ihr Ehrenwort bisher auf freiem Fuß geblieben waren, empfingen uns sehr herzlich. Zwei Engländer aßen mit uns.
Spät am Abend wurden wir in das Krankenhaus gebracht, wo wir übernachten sollten. Als wir vor unseren Zimmern saßen, gingen zwei »Nurses«, »barmherzige« Schwestern auf dem Gang. Wir sagten höflich »Guten Abend«. Die törichten Geschöpfe aber sahen verächtlich an uns vorbei.
Brun, der schon vorher eine englische Zeitung erwischt gehabt und gesehen hatte, daß darin alles, was deutsch war, in blödester Einseitigkeit verächtlich gemacht wurde, sagte: »Seht ihr, das sind die Richtigen, so sieht der Pöbel aus, der dazu da ist, den Lügen der englischen Presse zu glauben. Herrschaften, ist das ekelhaft an diesem Kriege!«
Wir fühlten es alle: Jetzt galten Menschen untereinander nichts mehr und der Völkerhaß brachte in einfältigen Köpfen abstoßende Wirkungen hervor.
Am Nachmittag erschien ein englischer Polizeibeamter und forderte uns auf, mitzukommen. Unser Weg führte durch die Negerstadt zu einzeln stehenden schlichten Gebäuden, die mit Mauern umgeben waren. Es war die Handwerkerschule für Schwarze.
In einem Raum mit kahlen Wänden und Zementboden, mit Feldbetten und Bänken wurden wir untergebracht. Der Raum hatte viele Fenster und Türen, und wir sprachen deshalb nur von unserem »luftigen Gefängnis«. Als Nebengebäude war da eine Küche.
Die Engländer ließen uns unsere schwarzen Diener. Auch ich behielt meinen »Freitag«. Diesen Neger hatte ich in Lagos unmittelbar aus der Wildnis bekommen. Alles Europäische war ihm damals fremd gewesen, und er hatte, als er zu mir kam, noch nicht einmal mit Gabeln essen sehen. Mit viel Geduld hatte ich ihn dann für mich erzogen, und er war ein vorzüglicher Diener geworden. Wenn ich an ihn denke, fällt mir eine kostbare Geschichte ein:
In Lagos hatte ich im Wörmannhaus ein Fach für meine Postsachen. Als ich einmal dorthin fuhr und meinen Diener mitnahm, ging ich an die Wand und drehte das elektrische Licht an. Da hörte ich einen Schrei hinter mir und sah, als ich mich umdrehte, meinen Freitag aus der Tür verschwinden. Ich mußte meine Pakete allein nach Hause schleppen. Am nächsten Morgen sagte mir Freitag als Entschuldigung: » Massa, i fear too much dem light«. (Ich fürchte mich so vor dem Licht.)
In einem Nebenraum unseres luftigen Gefängnisses stand ein Bücherschrank mit englischen Büchern und Schriften. Da hing auch eine Karte der englischen Kolonie und des benachbarten Togo und daneben eine Weltkarte. Der Polizeibeamte, der uns oft besuchte, belehrte uns gerne über den Untergang Deutschlands, er zeigte auf die Landkarte und sagte: »Sehen Sie, jetzt wird das alles englisch, es ist jammervoll, was aus Deutschland wird! Von beiden Seiten wird Deutschland erdrückt, sehen Sie: hier Frankreich, hier Rußland«, dabei machte er Handbewegungen in der Richtung auf Berlin. Wir nahmen diese politisch-geographischen Belehrungen schweigend hin.
Die Deutschen der Stadt waren noch auf freiem Fuß. Sie mußten nur zu bestimmter Zeit zu Hause sein und durften nicht in das Eingeborenenviertel hineingehen. Jeden Morgen und Abend mußten sie sich auf dem Usher-Fort melden.
Accra war eine alte Ansiedlung der Portugiesen. Das Fort bestand aus einer großen Mauer mit Schießscharten und einem festen Gebäude, in dem die Schreibstuben des obersten Polizeibeamten waren. Die übrigen Räume waren zu Kasernen umgebaut. Die ganze Stadt war eine Art Befestigung.
In den ersten Tagen durften wir uns frei bewegen und den Einladungen der Deutschen Folge leisten. Mehrmals war ich Gast der Baseler Mission.
An Straßenecken hatte die Regierung in Englisch und in Negersprache Anschläge angebracht, auf denen zu lesen stand: »Im Namen Seiner Majestät des Königs von Großbritannien. Der Kaiser von Deutschland, ein mächtiger Mann, hat sich seit langen Jahren vorbereitet, um dem Häuptling von Frankreich Krieg zu bringen. Dabei hat er mordend und plündernd ein kleines Land überfallen, dessen Häuptling mit dem König von England befreundet ist. Deshalb mußten die Engländer gegen die Deutschen in den Krieg ziehen. Diese Deutschen sind ein sehr gefährliches und kriegerisches Volk und sind zu fürchten, weil sie viele Soldaten haben. England fordert alle Kidda auf, zu helfen, diesen Feind zu vernichten. Alles, was die Deutschen des Nachbarlandes Togo Schlechtes anrichten können, muß gemeldet werden. Es sind nun auch einige Deutsche in unserem Lande. Die kann man nicht verantwortlich machen für die Schandtaten des Kaisers, und sie müssen geschont werden. Wenn aber Schlechtes von ihrer Seite geschieht, muß auch gegen sie Gewalt angewendet werden.« Brun stand mit mir vor einem solchen Anschlag und schimpfte mordsmäßig über die Tonart.
Die deutschen Handelshäuser waren geschlossen und der Besitz zum Teil beschlagnahmt worden. Als wir vor dem Hause einer französischen Gesellschaft vorbeikamen und die Franzosen hämisch lachend an der Tür standen, hatte Brun große Lust, eine Keilerei anzufangen. Die schwarzen Angestellten machten mit der Hand Zeichen, die bedeuteten, den Deutschen werde der Hals abgeschnitten, und eines Tages wurden wir von dem Negerpöbel gar mit Schmutz beworfen. Deshalb mußten die Spaziergänge leider unterbleiben. Der Negermob war gegen Deutschland aufgehetzt worden und hielt an diesem Haß mit der ganzen Borniertheit ungebildeter Menschen fest.
Als wir uns von den Anstrengungen der Seefahrt erholt hatten, begannen wir unsere Lage zu überdenken und uns zu fragen, ob ein Entkommen aus der Gefangenschaft möglich sei. Ich hatte den festen Entschluß, in dieser Gefangenschaft nicht das Ende des Krieges abzuwarten, sondern irgendeinen noch so verwegenen Ausweg zu suchen. Fürs erste aber kam es darauf an, Kenntnisse zu sammeln und alle Möglichkeiten der Flucht zu überdenken.
Eines Tages gab es eine Überraschung. Wir bekamen Zuwachs: Deutsche Gefangene aus Togo. In jämmerlicher Verfassung, zum Teil ohne Hosen, mit zerrissenen Kleidern, mit langen Bärten kamen sie an. Einige trugen Schutztruppenmützen mit der Kokarde. Sie waren bei einem Ausfall aus dem belagerten Kamina gefangengenommen worden. Unter ihnen befand sich ein Bezirksamtmann, ein Ingenieur und viele andere bekannte Afrikaner. Ihr oberster Führer war gefallen.
Sie wurden in den Nebenraum gebracht und erhielten von den Engländern neue Kleider. Ich machte mich gleich an unsere Landsleute hinan und ließ mir viel von den Zuständen in Togo erzählen. Der Ingenieur erzählte begeistert von seiner Arbeit und glaubte, daß der Norden der Kolonie sich gegen die Engländer und Franzosen halten werde.
Als ich den trefflichen Mann öfter ausfragte, hörten auch andere zu, und es bildete sich unter den Gefangenen ein kleiner Kreis, in dem allerlei koloniale und soziale Fragen besprochen wurden. Die geistige Führung hatte hier der Ingenieur, nicht nur wegen seiner großen Allgemeinbildung, sondern auch vor allem weil er es verstand, seine Zuhörer für einen Gedanken zu erwärmen, der mir und den meisten ganz neu war. Er sagte, nach dem Kriege könnte in Afrika noch manches besser gemacht werden als bisher. Ein gutes Vorbild sei in der britischen Kolonie Nigeria gegeben, und das müsse jedem Afrikaner zu denken geben. Dort sei ein Gesetz geschaffen worden, das jeden Handel mit dem Grund und Boden verbiete; die Folge davon sei, daß die Eingeborenen eine feste Heimat und Arbeitsstätte hätten, gesund und arbeitswillig blieben. Die Kolonialfrage sei eine Bodenfrage. Natürlich erhoben sich unter uns Stimmen, die allerlei einwendeten. Man sagte, der Ingenieur habe einen Bodenfimmel. Der Mann aber wußte in der Frage so gut Bescheid und kannte so nahe Beziehungen der Frage zu allen anderen Gebieten des menschlichen Lebens, daß aller Spott verstummte und mancher den Entschluß faßte, sich mehr um diese Dinge zu kümmern. Uns Deutschen wußte der Ingenieur die Frage noch besonders schmackhaft zu machen, indem er sagte, das Verdienst, eine weitschauende Bodenpolitik zum ersten Male in die Tat umgesetzt zu haben, habe die deutsche Marine; sie habe in Kiautschou den Boden gleich nach der Erwerbung des Landes unter ein Recht gestellt, das jeden Mißbrauch ausschloß. Von dieser Kulturtat werde die Welt wissen, auch wenn die Kolonie vielleicht nicht deutsch bleiben sollte.
Nach einigen Tagen wurden wir auffallend schroffer angefaßt als zuerst. Offenbar wurde der Haß gegen die Deutschen in England heftig gesteigert.
Lebensmittel bekamen wir geliefert. Bananen, Jams, Konserven, Ziegenfleisch, Tabak und Zigaretten, und in der ersten Zeit auch Whisky. Mitunter auch Fische. Wir ließen sie braten; sie schmeckten aber nicht gut. Da halfen wir uns mit einer kleinen Fischräucherei. Der Erste Offizier, der ja aus einem Fischerort an der Nordsee stammte, wußte aus einer einfachen Tonne eine Einrichtung zu machen, mit der wir die frischen Fische räucherten. Die Fische wurden aufgeschnitten, gesalzen, einige Stunden luftig aufgehängt und dann starkem Rauch ausgesetzt. Die Engländer bewunderten unsere Räucherkunst.
Als uns die Zeit lang wurde, machten wir uns aus Pappdeckeln ein Schachspiel und schnitzten aus einem Besenstiel Puppen dazu. In dem Bücherschrank fand ich manches, was meine Kenntnisse bereicherte. Besonders ein Buch »Walden« von dem Amerikaner Henry David Thoreau, trug dazu bei, mir die Zeit zu kürzen, mir Hoffnung und Kraft zu geben. Der Ingenieur hatte ein anderes Buch beschlagnahmt. Es hieß: » Progress and Poverty« (Fortschritt und Armut) und war ebenfalls von einem Amerikaner verfaßt, von Henry George. In diesem Buch fand der Ingenieur offenbar die besten Bestätigungen für seine Ansichten und las mir oft ganze Sätze mit Begeisterung vor.
Ich beschäftigte mich auch viel mit den Pflanzen und Tieren, die rundum zu sehen waren. Es war da eine besondere Art Eidechsen. Der Kopf war rot, der mittlere Teil gelb und der Schwanz schwarz. Das Weibchen schillerte grün. Diese drolligen Tiere trieben sich in der Sonne umher, und die Männchen stritten sich um die Weibchen. Wenn man langsam auf eine Eidechse zuging, »pumpte« sie; sie richtete sich auf den Vorderbeinen auf, hob und senkte den Kopf und blähte sich auf. Wenn zwei Männchen kämpften, schlugen sie sich mit den Hinterteilen. Hunderte von Ameisenlöwen hatten ihre Trichter im Sand. Ich war von klein auf ein großer Tierfreund gewesen und kann viel Zeit damit zubringen, Tiere zu beobachten.
Wir hörten von den Ereignissen des Krieges nur das, was uns der »Commissioner« mitzuteilen für gut fand. Es ist möglich, daß er selber den Krieg so sah, wahrscheinlicher aber ist, daß er log, wenn er uns mit geheucheltem Bedauern mitteilte, daß es für Deutschland sehr schlecht stehe. Die englischen Zeitungen, die wir zu lesen bekamen, wußten nur von Niederlagen der Deutschen zu berichten, von Unzufriedenheit und Uneinigkeit im deutschen Volk und von dem einmütigen Willen der ganzen Welt, Deutschland zu vernichten. Mitunter aber bekamen wir von der Baseler Mission Schweizer Zeitungen, nach denen die Lage Deutschlands ganz anders aussah. Als der Beamte merkte, daß wir diese Zeitungen bekamen, verbot er das. So kam es, daß die Sorge um unser Vaterland immer als Gespenst bei uns stand, obwohl wir genug mutige und erfahrene Männer unter uns hatten.
Es war aber auch besonders schwer, an deutsches Waffenglück zu glauben, wo wir sehen mußten, daß Togo von der Übermacht erdrückt wurde. Vielleicht dachte es sich der Herr Commissioner ebenso leicht, Deutschland zu überwinden. In seinem Gehirn ging das so vor: Togo; rechts Französisch-Dahome, links die britische Goldküste: Togo kaputt. Deutschland; rechts Rußland, links Frankreich und England, also Deutschland kaputt. Ich möchte sein Gesicht jetzt einmal sehen, wenn er die deutschen, österreichischen, bulgarischen und türkischen Fähnchen auf seiner Landkarte weit nach rechts und links stecken muß. Aber vielleicht muß er das gar nicht, und die englischen Zeitungen verschonen ihn mit Nachrichten über die Waffenerfolge der Deutschen und ihrer Verbündeten.
Eine Beruhigung war es für uns, daß wir Briefe nach Hause schreiben durften. Ich schrieb meinen Eltern, daß ich gesund in Accra sei.
Getrennt von den andern hielt sich der Rechtsanwalt. Er saß meist auf seiner Koje und grübelte. Aber auch ich hielt mich viel allein und spazierte stundenlang im Hof umher, wobei ich überlegte, wie ich wohl von hier wegkommen könnte.
Meine Kameraden merkten bald, daß ich an Flucht dachte, und erklärten mich für verrückt: »Wo willst du denn hin?« sagten sie, von ihrem Skatspiel aufsehend. »Es geht dir nur schlechter, wenn du irgend etwas versuchst.« »Bis dieser Krieg aus ist,« sagte einer scherzhaft, »müssen wir Skat spielen, nachher werden wir's den Engländern schon zeigen.« Wir dachten damals noch nicht daran, daß der Krieg eine Zeit dauern würde, die kein Mensch mit Skatspielen ausfüllen möchte.
Eines Tages ging der Rechtsanwalt auf mich zu, sagte, auch er wolle weg, und teilte mir einen absonderlichen Plan mit: Er wollte sich in einem Reisekorb auf ein Schiff bringen lassen. Ich sagte ihm, daß das Unsinn sei, da jetzt alle Dampfer englische seien und er dann doch gefaßt werden würde. – Ich verriet ihm meine Pläne nicht, weil ich ihn nicht gut genug kannte. Schon wenn die Möglichkeit meiner Pläne bekannt war, konnte man mir auf die Spur kommen, und an eine gemeinsame Flucht durfte ich nur denken, wenn ich einen Menschen fand, der gut zu mir paßte und großen Anstrengungen gewachsen war.
Es gab zwei Wege zur Flucht: an der Küste entlang nach Osten oder Westen oder ins Innere. An der Küste wäre man wahrscheinlich sofort aufgebracht worden, denn die Küste war gut von der Eingeborenenpolizei bewacht. Nach dem Innern aber schien mir eine Möglichkeit zu sein, weil kein Mensch darauf gefaßt war, daß ein Weißer ohne Hilfsmittel in den Busch und in afrikanische Steppen hineinlaufen könnte. Ich aber gewöhnte mich gerade an diese Gedanken, erinnerte mich an meine Wandertage im Hinterlande von Kamerun, nahm mir Thoreaus Bedürfnislosigkeit zum Vorbild und dachte daran, daß Livingstone und viele andere Missionare jahrelang ohne Gepäck durch Afrika gezogen sind. Ich mußte eben wie ein Eingeborener leben, mußte bedürfnislos sein. Das schreckte mich nicht; denn ich war von keiner Gewohnheit abhängig. Schon daß ich Nichtraucher bin, machte mich freier. Alkoholische Getränke waren mir längst verdächtig, und ich hatte in Kamerun beobachtet, daß völlige Enthaltung von Bier, Wein und Whisky zu ungeahnten Anstrengungen befähigt. Was aber das Essen angeht, da hatte ich schon in Deutschland gelernt, daß für den Wanderer nichts erfrischender ist als gute Früchte, Körner und Knollen. Was brauchte ich Kaffee, wenn Bananen am Wege standen, Zucker, wenn mir ein Stengel Zuckerrohr oder wilder Honig geboten wurde! Mixed Pickles, Kaviar, Wurst, Schinken, Sardinen, Neunaugen und all die anderen toten Dinge, die dem Europäer in die Wildnis folgen, mußte ich entbehren und wollte dafür Reis, Negerkorn und Mais, Bataten und Bananen essen, Mangofrüchte und Ananas lutschen, Apfelsinen und Kokosnüsse genießen. Ich mußte jetzt beinahe lachen, wenn ich an den Reichtum von Früchten dachte, den dies Land bot, und an die Umstände, die der Europäer mit seiner Ernährung macht!
Erst wollte ich sehen, ob ich nicht in Togo noch Deutsche träfe, die dem Feinde noch standhielten. Nach Togo konnte es nicht weit sein; denn von Accra konnte man der Küste entlang nach Kidda, von da nach Lome, das waren nur 100 Kilometer. Diese Entfernung mußte man auch im Innern in einigen Tagen zurücklegen können, selbst wenn der Weg Sümpfe und Gebirge umging. Ein »Unmöglich«, wie es meine Landsleute mir entgegenhielten, konnte es für mich nicht geben, obwohl sich bei einem Ausblick aus der Festung dem Auge nur ödes Steppenland bot.
Die einzige Sorge war, einen Ausweg zu finden, wenn in Togo keine unbesiegten Deutschen mehr wären! Das wollte ich mir überlegen, wenn es so weit war, und der erste Schritt schien mir der wichtigste zu sein.
Der deutsche Ingenieur sagte immer wieder: »Im Norden müssen wir uns noch halten.«
Also dachte ich, sollte mein Weg erst nach Nordosten gehen, um den Engländern zu entgehen, und dann nach Osten, zu den Deutschen. Die Wildnis reizte mich mehr, als sie mich schreckte.
Der Kapitän war der einzige Mann, dem ich mich anvertraute. Ich sagte ihm: »Mich sieht der Commissioner nicht mehr lange.« Der alte Herr warnte mich, so wie die andern es taten; aber das schien er nicht ganz aus Überzeugung zu tun, denn er hörte mich stets so nachdenklich und aufmerksam an, und als ich eines Abends mit ihm allein war, sagte er mir mit einer Wärme, die mir noch lange wohl tat: »Kirsch, Sie sind ein wackrer Kerl, ich kann Sie nicht nur warnen und muß Ihnen mal Mut zusprechen. Es ist doch fein, daß Sie an solchem Plan festhalten, und wenn's Ihnen gelingen sollte, alle Ehre, und ich möchte Sie später mal wiedersehen. Ich bin ein alter Mann, aber ich war früher ebenso wie Sie.« Ich fühlte, daß seine Wünsche mich fortan begleiteten.
Eines Tages kam ein Zwischenfall. Der schwarze Koch wurde einem unserer Landsleute frech, und der warf ihn hinaus. Der Kontrolleur aber hatte die Stirn, meinen Landsmann zur Strafe dafür zu verurteilen und ihn acht Tage mit Schwarzen zusammen einzusperren. Wir waren außer uns vor Wut.
Auch ich kam bald mit diesem unverschämten Engländer zusammen. Ich hatte eine Bitte, die er mir in häßlicher Weise ablehnte, wobei er sagte: » Go to hell« ... (Fahre zur Hölle). In meinem Ärger entfuhr mir die Äußerung: »Sie sind ja ein feiner Kerl.«
Am nächsten Morgen kamen zwei Aschantisoldaten mit aufgepflanztem Bajonett und brachten mir ein Schreiben, in dem mit höhnischer Höflichkeit geschrieben stand:
»With the Commissioners of Police compliments. Will you kindly call here this morning at nine o'clock. (9 a.m.)
D. Hamilton Venow
A.C.P. «
(Eine Empfehlung vom Polizeivorstand! – Habt die Güte, hier heute früh um neun Uhr vorzusprechen – – –)
Das war die Rache des Beamten.
Ich mußte mich also aufmachen.
Meine Sachen wurden mitgenommen. Ich brauchte aber nicht zu gehen, denn als mich die Neger bis zum Tor gebracht hatten, kam ein Offizier mit einem Auto und rief » Come here«. (Kommt hierher.) Ich mußte neben dem Lenker Platz nehmen und wurde entführt.
Ich wußte nicht, was mit mir geschehen sollte, und meine Kameraden wußten es auch nicht. Zum Glück hatte ich allen noch die Hand gegeben, weil ich eine Ahnung hatte, daß ich sie nicht wiedersehen sollte, und sie halten mich seitdem für verschollen.
Ich saß vorn auf dem Auto, das mich bis zu dem Usher-Fort brachte. Hier wurde ich einem höheren Beamten vorgeführt, der mich in einem unverständlichen Englisch anfuhr, so daß ich nur heraushörte, daß jetzt » war time« (Kriegszeit) sei und Kriegsrecht herrsche. Dann wurde ich zwei schwarzen Soldaten übergeben und wußte nicht, wohin mich die bringen würden. Wie einen Verbrecher nahmen sie mich in die Mitte, und ich mußte zu Fuß durch die Straßen von Accra gehen, wo sich der Neger-Pöbel so benahm, wie Pöbel das überall tut.
Der Weg war weit, und die Sonne brannte heiß, als ich zwischen den beiden Soldaten auf dem Wege entlangschritt. der der Meeresküste nach Osten folgte. Der Staub pulverte, verkrüppelte Bäume standen zu beiden Seiten der Landstraße und streckten, vom Seewind gepeitscht, ihre Äste nach Land zu. Unterhalb brandete der Ozean. Sehnsüchtig sah ich nach einem Dampfer hinaus, der weit draußen auf dem Meere fuhr.
In der Ferne sah ich das Fort Christiansborg, ein altes Schloß, das auf einem Felsenvorsprung liegt. Dorthin sollte ich also gebracht werden. Ich fühlte mich in meinem Recht und war im Innern sehr ruhig.
Ich schritt durch das große Tor an alten Bronzegeschützen vorbei, die noch aus der Portugiesenzeit stammen mochten. Da saßen schwarze Soldaten. Es ging in den Hof hinab und durch eine Umfassungsmauer in einen anderen Hof, der von einem hohen Pfahlzaun umgeben war. In einem Gefängnis mit vergitterten Fenstern wurde ich eingesperrt.
In dem engen Raum, der mich umgab, fand ich eine neue Beschäftigung: Ich sah Spinnen, die in großen Spinngeweben Fliegen fingen, und beobachtete viele kleine, metallisch glänzende Eidechsen, die an der Wand kletterten. Ich fing eine und ließ sie ruhig auf der Hand liegen, band sie mit einem Bindfaden schonend fest und betrachtete sie als meinen Pflegling, für den ich sorgen mußte, indem ich Fliegen fing.
Ich bekam hier kein Bett und mußte auf dem Fußboden auf Stroh schlafen. Alle Entbehrungen aber trug ich gern; denn seltsam: Es war ein erhebendes Gefühl für mich, gegen die Engländer heftig aufgetreten zu sein. So lernte ich, daß Strafe keine Strafe zu sein braucht, und daß Unrecht leiden den Menschen innerlich heben kann.
Nur über die schwarzen Soldaten mußte ich mich ärgern. Wenn sie das Essen brachten, benahmen sie sich gegen den » prisoner of war« (Kriegsgefangenen) so verächtlich wie nur irgend möglich.
Am zweiten Tage kam der höhere Beamte wieder und fragte mich in seiner unverständlichen Sprache: »Ist Ihnen die Lust nun vergangen?« Ich antwortete: »Macht mit mir, was ihr wollt, ich bin in eurer Gewalt.« Es schien mir aber, als ob dieser Mann mir nicht viel Schlechtes zutraute. Vielleicht fühlte er, daß der andere im Zorn gehandelt hatte, als er mich anklagte, vielleicht kannte er den Kontrolleur selbst und wußte, wes Geistes Kind der war.
Am Nachmittag kam ein Weißer, der sehr freundlich war und mir den Hof zeigte, in dem ich spazierengehen durfte.
Ich besah mir nun die Zelle von außen und sah, daß außen an der Tür ein schwerer Riegel angebracht war, der nachts vorgeschoben wurde.
Gleich in der kommenden Nacht versuchte ich, ob ich diesen Riegel von innen zur Seite schieben könne, führte mein Messer in den Türspalt und bemerkte zu meiner Freude, daß der Riegel folgte, wenn ich die Messerspitze fest gegen das Metall setzte und von der Türkante einen Hebeldruck gab.
Am folgenden Tage benutzte ich die Zeit, in der ich unbewacht außerhalb der Zelle war, den Riegel gut gangbar zu machen, so daß ich ihn von innen leicht hin und her schieben konnte.
Der Hof war mit Gras bewachsen; an dem Pfahlzaun standen einige Sträucher. Dort fand ich große, grüne Raupen. Als ich mich mit denen beschäftigte, trat ein eingeborener Soldat an mich heran und wunderte sich, daß ich mich mit solch »häßlichen« Tieren abgab. Die Raupen hatten einen Sporn und breite Haftfüße. Ich wollte sehen, ob sich in der Zeit meiner Gefangenschaft Schmetterlinge daraus entwickelten und bettete die Tiere in einer Blechbüchse auf Blätter, wie ich das oft als Schuljunge getan hatte. Der Neger wollte mir nicht glauben, daß aus diesen Tieren später solch schöne Schmetterlinge werden würden, wie sie in großer Zahl hier umherflogen.
An einer Stelle des Hofes war das Gras auffallend grün. Dort staute sich das abfließende Wasser, und eine Rinne ging unter der äußeren Mauer durch. Hier beobachtete ich eine Salamanderart und war auch eines Tages damit beschäftigt, als ein Weißer auf mich zukam und fragte: »Sind Sie auch ein Deutscher, auch hier in diesem engen Loch eingesperrt?« Er sah sehr klapprig aus, hatte dunkle Ringe um die Augen und trug einen struppigen, ungepflegten Stoppelbart. Die Begegnung überraschte mich, ich sagte aber gelassen: »Ich habe das Vergnügen, hier eingesperrt zu sein.« Der kranke Mann war ein Schiffsheizer und hieß Bracht. Er war bei Kriegsausbruch zufällig im Krankenhaus und wurde als Kriegsgefangener festgehalten. Er litt offenbar an alkoholischen Anfällen und hatte in Erregung um sich gehauen; deshalb war er hier eingesperrt worden.
Als ich ihm beiläufig sagte, ich hätte schon an Flucht gedacht, sagte er: »Fliehen? Das ist von hier aus ein Klax, das ist leicht zu machen.«