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Die Pei-Han-Eisenbahn verbindet die Reichshauptstadt wie ein durch die Landkarte Chinas nach Süden gezogener Strich mit Hankou. Das ist die Stadt, die auf dem Wege ist, die unbestrittene wirtschaftliche Hauptstadt der achtzehn Provinzen zu werden. Das ist der Mittelpunkt, wo sich einmal die Schicksale des ganzen großen China entscheiden müssen; denn um diese Stadt, mehr als um jede andere, häufen sich die Ansprüche und die Machtmittel jenes Europäertums, das nach dem Osten gegangen ist, um China in ein anderes Indien zu verwandeln.
Es ist ein warmer Junimorgen. Zwei Rickschawagen bringen mich und mein Gepäck aus dem Gesandtschaftsviertel durch das Kaisertor. Der feierlich leere, mit weißem Marmor gepflasterte Vorhof, in dessen Hintergrund das verschlossene Tor mit dem gelbglänzenden Dach und die karmoisinroten Mauern des Kaiserpalastes sich erheben, ist ein See von faulig riechendem Regenwasser. Zu beiden Seiten vor dem Durchgang der Stadtmauer stehen mit ihren niederen Dächern und ihrem dunkelfarbig goldenen Innern zwei vielbesuchte Tempel. Mächtig ragt das breite steinerne Turmgebäude mit den auf seine Fensterläden gemalten Kanonenöffnungen über die graue, mit Grasbüscheln besetzte Stadtmauer; fast zu Füßen dieses nutzlosen Riesen liegt ärmlich und nüchtern das Bahnhofsgebäude.
Der Zug mit den braunen, holzverkleideten Wagen steht unter freiem Himmel. Vornehme Chinesen steigen ein. Eine Gesellschaft Franzosen gibt einem jungen Paare das Abschiedsgeleit. Ich bekomme ein Abteil mit weichen Bänken und einem Tischchen, mit doppelten Jalousien im Fenster. Wir fahren geschwind zwischen den Lehmhäusern, den brüchigen Mauern, den Gärten und Tümpeln der Vorstadt hinaus, lassen eine graue Pagode zurück und erreichen das flache Land, auf das die Sonne brennt. Nur vereinzelt stehen schattenspendende Baumgruppen. Nach dem Regen bilden die frisch gepflügten Felder eine endlose, tief samtbraune Fläche. Auf wankenden Eisenbrücken fährt der Zug über die Flüsse. Nicht nur die große Brücke über den Gelben Fluß ist ein Meisterwerk der europäischen Technik, das erst nach vielen vergeblichen Versuchen gelang. Auch im Schlamm der schmäleren Flüsse stecken Pfahlroste. Zusammengebrochene Eisenkonstruktionen verraten die ewige Gefahr, die diese Verbindungen bedroht. Blaugekleidete Bauern mit großen groben Strohhüten arbeiten auf den Äckern. Meist zieht ein kleines Grautier den Pflug, der durch einen sinnreichen Mechanismus die zweite Aussaat dieses Jahres gleich in die frische Furche streut. Zwischen den Äckern liegen grüne, gut bebaute Felder, sorgsam gepflegt, durch Schöpfräder bewässert. Bis in die späte Abenddämmerung hinein arbeiten die fleißigen Bauern.
Auf den Stationen drängt sich neugieriges Volk an den Zug. Frauen bringen stark duftende weiße Kamelien, Kinder und Krüppel betteln, Männer bieten rundgeschliffene Marmorkugeln an, die so schmierig sind, daß man nicht wagen kann, sie anzufassen. Die Passagiere sitzen im Speisewagen; ein paar rüstige amerikanische Damen mit weißem Haar und weißen Blusen, ein paar feiste, hellblau und schwarz gekleidete chinesische Kaufleute. Goldgelbe Blumen stehen auf den gedeckten Tischen, und das alles, vom hellen elektrischen Licht bestrahlt, erscheint reich und sauber.
Wir halten auf einer Station. Vor den Scheiben versammelt sich eine Schar gaffender Gesichter. Runde blasse Köpfe starren mit ruhigen Augen, wie hypnotisiert, auf unsere Teller. Der Zug setzt sich wieder in Bewegung, es folgt ihm ein Schwarm schreiender Menschen, ein Wettlauf bis zur Erschöpfung. Ein paar in Seide gekleidete Chinesenjünglinge beugen sich aus den Fenstern, werfen Centstücke hinaus, die Leute stolpern und fallen übereinander. Minutenlang begleitet uns diese Jagd mit bittenden, klagenden Stimmen, geisterhaft.
Der leuchtende Zug entflieht wackelnd und stampfend in die Nacht. Seine feurige Rauchwolke, seine hellen Fenster mögen den Bauern im dunklen Lande vorüberbrausen wie ein Höllendrache mit lodernder Flammenzunge und glühenden Schuppen.
Man durchquert am folgenden Tag die fruchtbare Provinz Honan und das Hwai-Gebirge mit waldigen Tälern. An einer kleinen Station steigt eine Gesellschaft weißgekleideter Amerikaner in Sänften mit einem Troß von Kulis von der Anhöhe herab. Die Landschaft ebnet sich wieder, überschwemmte Reisfelder blinken am Fuß der mit saftigen Saaten besetzten Bodenwellen, ein See leuchtet mit gewaltigem Blau gen Himmel. Gehöfte, Dörfer, kleine Städte werden häufiger, bis in der grünen Ferne die Vorboten der Großstadt auftauchen: Petroleumtanks, Fabrikschlote, eisengewölbte Werkstätten, die über eine Menge kleiner Chinesenhäuser ragen.
Wir halten auf der Station der französischen Konzession. Hotelkulis stürzen in die Wagen; aber im Gedränge steht auch der Besitzer des deutschen Gasthofes und winkt seinen Leuten. Dann fahren wir in der bequemen niederen Rickscha mit Gummirädern durch halbeuropäische, rotgraue Straßen, biegen in eine Allee, erblicken die majestätische Wasserbreite des Jangtse-Stromes. Hier liegt das Hotel, ein einstöckiger, weißer Bau mit Veranden, Korridoren, hohen kühlen Zimmern, bequemen Liegestühlen. Im Hintergrund des Zimmers das mit dem Moskitonetz verhangene Bett, durch das große Fenster ein Blick auf das buschige Gefieder der Akazien. Hinter den runden Wipfeln schimmert die milchkaffeefarbene Fläche des Stromes mit einem ankernden Kanonenboot. Ein paar Seedampfer liegen mitten im Strom, oberhalb ein Flußdampfer, schwefelgelb gestrichen, breit, mit zwei Stockwerken wie ein Nilboot. Dschunken und runde Nachen treiben in der raschen Strömung, Chinesen sind an Deck, deren zackige, glänzend rotbraune Sonnenschirme wie gedörrte Häute glänzen. Drüben am fernen flachen bäumigen Ufer liegt eine Fabrik mit Rauchsäulen im freien Felde neben dem grauen Häuserhügel von Wutschang. Schön abgesetzte blaue Berggruppen ziehen ihre Linien in den Horizont.
Der Europäer fühlt sich heimisch in der Niederlassung von Hankou. Die Uferstraße gleicht einer vergrößerten Rheinallee an einem um das Dreifache verbreiterten Rhein. Ein paar Tagereisen stromaufwärts führen mitten in das rauhe Szetschwan, die verschlossenste Provinz des Landes, zum Übergang in das noch rauhere Tibet. Die gelben Menschen, die stromauf und stromab an beiden Ufern in uralten Städten wohnen und ihre phantastischen Pagoden auf den Hügeln errichteten, sind uns fremd wie die Bevölkerung eines anderen Planeten. Die Niederlassung von Hankou ist eine kleine, mächtige Enklave der weißen Rasse. Noch nicht tausend Europäer und Amerikaner, von denen viele ihre Frauen und Kinder bei sich haben, bilden diesen Fremdkörper in dem ungeheuren Organismus Chinas. Ihr Leben schwebt hier gleichsam in der Luft. Ihre Gegenwart bedeutet Geldverdienen, und damit haben sie in diesem Boden, den sie in einem steten eifersüchtigen Ringen behaupten, Wurzeln geschlagen. Mitten in einer eingeborenen Bevölkerung von beinahe zwei Millionen erbauten sie an einem Uferabschnitt von höchstens vier Kilometer Länge das Viertel. Der Grund mußte erst hinter den Quadern der Uferböschung aufgeschüttet werden. Die Häuser und Höfe sind europäisch und kehren sich nicht im geringsten an chinesische Formen. Das Straßennetz ist regelmäßig wie ein Schachbrett. Die Gebäude der Firmen wetteifern mit denen der Konsulate an Stattlichkeit. Die Unterschiede der Nationen bleiben gewahrt. Jede Niederlassung hat ihren eigenen Stadtrat, ihr Rathaus, ihre Kirchen und Klubs, ihre eigene Polizei, ihre bewaffneten Freiwilligen, ihre Schulen und Missionen. Steuern und Abgaben werden in jeder Niederlassung anders erhoben. Im Hintergrunde der Europäerstadt liegen die Missionshospitäler und ein von italienischen Nonnen verwaltetes Kloster. Die Fremden haben sich in den Handel hineingearbeitet, stehen durch ihre Kompradores mit den chinesischen Geschäftshäusern in Verbindung, die sich mehr und mehr den fremden Methoden anbequemen, führen den ewigen stillen fruchtbaren Kampf des Handelsverkehrs mit Menschen, die man niemals ganz kennenlernt, und beschäftigen Tausende gelber Arbeiter an den Schiffen, die Maschinen, Baumwollwaren, Farbstoffe, Waffen, Kurzwaren, Papier und Glas den Strom heraufbringen und die Erzeugnisse des Landes mitnehmen. Sie trotzen der feuchten ungesunden Schwüle des Sommers mit den schlaflosen Nächten, der ihre Reihen lichtet, trotzen dem Ärger und den Enttäuschungen, die ihnen der stumme Widerstand chinesischer Richter bereitet, die sich bei Streitigkeiten nicht selten unter allen erdenklichen Ausflüchten weigern, Recht zu sprechen; trotzen den ewig schwankenden Konjunkturen, die jede Berechnung zunichte machen, vergrößern ihren Einfluß mit dem gewaltigen Ernst, den ihnen das Gesetz des Kapitals auferlegt, sie träumen von einem chinesischen Chicago.
Mitten in der Allee bei den Landungsbrücken tönt unaufhörlich der monotone Gesang der hart arbeitenden Kulis, knarren die Boote an den Steintreppen. In dieser vornehmen monumentalen Häuserreihe scheinen die hageren, gerösteten Menschen, die in plärrenden Prozessionen Steine, Fässer, Säcke und Ballen über die Straße schleppen, nur zufällig vorhanden. Die Großhandelshäuser tragen ihre Stattlichkeit in deutschen, französischen und englischen Bauformen zur Schau. Blumige Rasengärten sind den hohen nüchternen Mauern der Fabrikhöfe benachbart, die nach gesottenem Tee, nach Gerberlohe oder Chemikalien riechen und von Arbeitern wimmeln. Festungsähnliche Bankgebäude mit vergitterten Fenstern wechseln mit weißen, grünbewachsenen Häusern, denen haushohe Gerüste mit hängenden Bastmatten Schatten geben. Leicht wie Gummiballen schwirren die nackten Füße der Rickschaläufer über die sorgfältig gesprengte Straße. An den Ecken stehen Polizisten in sauberen Khakiuniformen; hochgewachsene Inder mit rosenfarbenem Turban und schwarzem Bart oder geschmeidige bartlose Anamiten mit kreisrundem Strohhut, der bei den Deutschen mit einem schwarzweißroten Haarbusch geschmückt ist. Wohldressierte braune Polizei, bestimmt, die Weißen gegen die Gelben zu schützen! Man möchte auf diese Menschen zugehen und sie auf die Stirn tupfen, fragen, warum sie das eigentlich tun. Denn der Augenblick wird kommen, wo diese Inder, diese Sepoys, diese Sikhs, diese gelben kleinen Leute von Annam mit den Kulis sprechen werden, die man ihnen heute noch als Mob hinstellt, als eine Menschenklasse weit unter ihnen. Die Gesichter dieser Menschenklasse verraten ja schon die heißen Gedanken, die jene fremden Diener ins Herz treffen werden. Dann ist ihre Unerschütterlichkeit hin, alle die Medaillen, Rangstreifen, Geldbelohnungen und Pensionen haben keine Kraft mehr. Was dann? Was für Träume am hellen Tage! In den Nachmittagsstunden bewegen sich hier elegante Reiter, Privatrickschas, Dogcarts und Staatskutschen mit Dienern hintenauf, die in gelbe, blau gesäumte Staubmäntel gehüllt sind. Die weißgekleidete Welt der Europäer versammelt sich an der Rennbahn, trifft sich abends in großer Gesellschaft auf den Tennisplätzen, in den Billardsälen, auf den Kegelbahnen und vor den Schanktischen der Klubs.
Die Europäerstadt besteht aus fünf Niederlassungen. Der englische Stadtteil ist der älteste. Er stammt aus dem Jahre 1861 und war der Dank der chinesischen Regierung für die englische Hilfe bei der Niederwerfung des Taipingaufstandes, der Hankou nach dreimaliger Belagerung in Ruinen zurückließ. Die anderen Konzessionen, außer der japanischen, die erst spät erteilt wurde, wurden 1896 gegründet. Damals räumte die Regierung den drei Staaten, die ihr im Frieden von Schimonoseki gegen Japan zu Hilfe kamen, in Hankou und Tientsin das Recht eigener Niederlassungen ein. Tausende von chinesischen Kaufleuten und Handwerkern betreiben jetzt ihre Geschäfte in den rückwärtigen Straßen der Europäerstadt. Ihre Läden und Werkstätten liegen in Steingebäuden, der klirrende Lärm ihres Arbeitslebens umwogt die eng aneinander gedrückten Häuser der Taiping Road, an deren Ende das chinesische Theater sich wie ein riesiger Zirkus erhebt. Aber die Europäer fühlen sich in diesem kleinen Umkreis als die Herren. Manche wohnen hier seit Jahrzehnten, ohne je ihren Fuß in die dunklen stinkigen Gassen gesetzt zu haben, deren friedliches Gedränge das Leben der breiten Straßen verwirrend fortsetzt. Die Schwesterstädte Hankou und Hanyang säumen mit ihren Gassen beide Ufer des kurzen Bogens, den der Hanfluß vor seiner Mündung in den Jangtse beschreibt. Bis zu dem braunen, von gefährlichen Wirbeln erfüllten Brackwasser dieser Flußmündung reicht die Fahrstraße der Ozeandampfer, die vor der Europäerstadt auf offener Reede Anker werfen.
Man wird nicht müde, hier am Ufer das Schauspiel der Schiffe und der arbeitenden Kulis zu betrachten. Bei einer Gruppe von Dschunken, die mit durcheinander wankenden Masten im Blendspiegel des Wassers schaukeln, liegt ein kleiner Schleppdampfer, blau wie der Kittel eines Maschinisten. Eine Brise geht über den Fluß. Der Himmel ist blau, mit einer durchsichtigen weißseidenen Decke darüber. Ein weißer Heckraddampfer kommt den Strom herauf, die Flagge weht über den Sturzbächen, zwischen denen die das Wasser peitschenden Schaufeln wie optische Signale blitzen. Eine Ameisenschar von kakaobraunen Menschen macht sich am Kai an den Leichterbooten zu schaffen. Die dünnen grauleinenen Jacken kleben auf den schmalen knochigen Schultern. Scheibenförmige Strohhüte, die mit einem breiten Band unterm Kinn befestigt sind, schützen die Gesichter gegen die Sonne. Oft ist es nur ein Stück Zeitung oder ein billiger Fächer, der unter dem Zopf festgebunden ist, und der Zopf ist wie eine Krone um den kahlen Schädel geschlungen. Kulis tragen schwere, blumig bemalte Teekisten über die Straße. Kulis ziehen schwere, eisenharte Baumstämme an Land. Fünf Mann tragen einen dieser eisengrauen Stämme auf ihren fast brechenden Rücken. Sie gehen mit gebogenen Knien nach dem Kommando ihrer eigenen gepreßten Stimmen, stützen sich tastend mit einem Knüppel auf die Erde, jeden Träger führt ein anderer Kuli an der Hand. Roh behauene Steinplatten schwanken an Land, mit Stricken an einer Bambusstange aufgehängt, die sich zwei Mann auf ihre Schultern laden. Mit wie sparsamer Bewegung werden die Lasten aufgeladen, mit wie sicherem Schritt getragen. Das Ächzen formt sich in langgezogene grell einsetzende Kehltöne. Vielleicht sind die Leistungen des chinesischen Theaters nichts anderes als das verklärte Abbild dieser rhythmischen Arbeitsgänge, und die Kulis fühlen das, wenn sie des Abends in Scharen die Theater besuchen, ihre übelduftenden Zigaretten rauchen und die Ledigkeit ihrer Schultern im Anschauen prächtig kostümierter Schauspieler genießen. Die Lasten, die täglich am Bund von Hankou durch stöhnende Menschen ausgeladen werden, wären leichter durch ein paar solide Dampfkrane zu bewältigen. Aber die Lastträgergilden widersetzen sich der Maschine.
In den heißen Fabrikräumen der russischen Faktoreien wird Tee gereinigt und getrocknet. Es gibt Sorten, von denen schon in Hankou das Pfund fünf Rubel kostet, so der berühmte Kaisertee aus dem Distrikt von Ningtschou am Poyangsee in der Provinz Kiangsi und die Sorten Kimun und Oonfa aus Hunan. Selbst die Abfälle des Teestrauches, holzige Zweige, zu Staub verkrümelte Blätter werden noch verwendet. Dampfpressen formen den sogenannten Ziegeltee, der in einer immer gleich bleibenden Form bei den Völkern Asiens in den Handel kommt. Er dient den Eingeborenen Tibets wie den Nomadenvölkern, den Bauern und Kosaken Sibiriens als Zusatz ihrer aus Wasser, Salz und Schafsfett bereiteten Suppen, der Teeziegel ist bei diesen Völkern zugleich ein Tauschmittel. Die guten Sorten des schwarzen Tees gelangen nach Rußland. Früher führten die Teekarawanen über Peking durch die Mongolische Wüste bis nach Irkutsk. Seit einem Jahrzehnt werden diese Teefrachten von Hankou auf Dampfern nach Wladiwostok gebracht und gehen dann mit der sibirischen Bahn. Die im Bau begriffenen Bahnen durch die Mongolei werden diese großen Transporte wieder über Land führen.
Das Heiligtum einer jeden Teefaktorei in Hankou ist die Probierstube: Ein Raum mit kahlen geschwärzten Wänden, mit Verschlagen vor den Fenstern, die das grelle Licht abblenden, eine Art Laboratorium, auf dessen Tischen in langen Reihen peinlich saubere Schalen, Kännchen und Tassen aus weißem Porzellan aufgestellt sind. Die Prüfer entnehmen den Zinndosen die Proben auf weißen Papiertabletten, um den trockenen Tee zu beriechen. Den Schluß macht die Kostprobe. Über jede Sorte wird Journal geführt. Sechs große russische Teefirmen haben ihre Niederlassungen in Hankou, ihre Saison dauert nur zwei Monate. Die Prüfer sind ihre wichtigsten Beamten. Sie feiern fast zehn Monate im Jahr und bilden sich von Berufswegen auch in kulinarischen Dingen zu Feinschmeckern aus. Aber die zwei Monate sind hart, denn obwohl der junge Tee beim Probieren kaum getrunken, sondern meist wieder ausgespien wird, wirkt er doch auf Herz und Magen wie ein Gift.
Es gibt noch andere Industrien in Hankou, die in der ganzen Welt nicht ihresgleichen finden. Viele der großen Ostasienfirmen besitzen mehrere Faktoreien. Große Hallen dienen der Lagerung und Verladung des Sesams, dessen linsengleiche Körnchen in rasselnden Strömen die von Staub umwölkten, von Schwalben umflogenen Reinigungsmaschinen durchlaufen. Englische Firmen betreiben in der Hauptsache Reedereigeschäfte und Versicherungen. Deutsche Firmen suchen ihren Gewinn an Holzöl, Daunenfedern und Schweinsborsten. Es gibt mehrere Albuminfabriken. In der größten werden während der Sommermonate bis zu zweihunderttausend Enteneier täglich verarbeitet. Ein paar hundert chinesische Weiber und Kinder sind nur mit dem Aufschlagen der Eier beschäftigt; das Weiße und Gelbe wird in besonderen Bottichen gesammelt. Das Weiße wird mit chemischen Zusätzen in Europa für industrielle Zwecke verwendet, das Eigelb wird in Pfannen eingetrocknet, um in Pulverform versandt zu werden, oder es wird dickflüssig in zinnerne Büchsen gefüllt. Dann findet es in photographischen Fabriken oder als duftende Biskuitsubstanz in Konditoreien Verwendung. Diese Arbeiten geschehen unter Aufsicht von Europäern. Eine amerikanische Firma schlachtet Schweine und versendet das gefrorene Fleisch in Massen. Andere Firmen füllen Fässer mit dem vegetabilischen Talg, der aus den knollenförmigen Früchten des Stillingiabaumes gewonnen wird, versenden Schiffsladungen von rohzubereiteten Büffelhäuten, Ladungen von Baumwolle oder Gallnüssen oder Jute, Hanf und Chinagras. Die Britisch-Amerikanische Tobacco-Company erzeugt in ihrer Faktorei zwei Millionen Zigaretten täglich. Angestellte der Gesellschaft predigen auf den Marktplätzen der Dörfer den Tabakanbau, verteilen Flugschriften und geben Tabaksaat umsonst. Außer den Fabriken der Europäer bestehen in Hankou auch große chinesische Unternehmungen, an ihrer Spitze das Stahlwerk von Hanyang und die Yangtse Engineering Works, die Schiffe und Stahlkonstruktionen bauen. Die Regierung hat eine Papiermühle, eine Nadel- und Nagelfabrik, ein Zementwerk, ein Wasserwerk und eine elektrische Kraftstation errichtet. Getreidemühlen, Ölpressen, Erzschmelzen erstehen auf beiden Seiten des Stromes.
Hankou hat die Eisenbahn und direkte Schiffsverbindung mit dem Meer. Dieser Platz wird einst durch die nach Kwantung, Jünan und Szetschwan ausstrahlenden Bahnen zum Knotenpunkt des gesamten chinesischen Verkehrsnetzes werden. Noch immer schicken die benachbarten Provinzen, deren Bevölkerung sich den Bahnbauten widersetzt, ihre Erzeugnisse auf hölzernen Karren, deren Karawanen wochenlang unterwegs sind. Die Bodenschätze der Provinz Hunan sind noch unberührt, nur in geringen Mengen werden Antimon, Arsen, Blei und Zinn von dort in Hankou verhüttet.
Eine Dampfbarkasse fährt mich stromaufwärts nach Hanyang. Wir verlassen die Ozeandampfer, die von Booten umrudert daliegen wie die Hennen inmitten ihrer Küchlein. Wir fahren nach der chinesischen Stadt, entlang den italienisch schmalen, schmutzigweißen Fronten mit ihren Baikonen und Treppen, ihren aufwärtsgeschnäbelten Dächern, den im Schlamm endenden Torbogen, den zum Fluß hinabstürzenden Gassen. Kähne mit blauen Sänften beladen, gleiten vorüber, hastige Dampfbarkassen vermitteln den Verkehr mit dem gegenüberliegenden Wutschang. Dschunken mit fleckigen Segeln kommen still den Strom herab, fast mit Schnellzugsgeschwindigkeit, manche von ihnen sind Jahrhunderte alt. Sie gleichen schwimmenden Kommoden. Andere, mit fächerförmigem Steuerruder, mit dem von Bastsegeln beschatteten Hinterkastell und mit Rudern, die ausgestreckt sind wie Klauen, schwimmen hornartig emporgekrümmt wie die Karavellen des Kolumbus. Einige tragen am Heck einen wedelnden Schweif wie eine Pfauenfeder, das Mandarinabzeichen des Besitzers, oder führen eine Art Kontorflagge. Die leeren Masten der Hausboote ziehen sich in den Hanfluß hinein wie ein gigantisches Röhricht. Leute kauern da am Rand der Boote und essen Reis aus kleinen roten Schüsselchen oder sitzen mit aufgelöster schwarzer Mähne unter der Hand der Barbiere. An den Masten über ihnen züngeln die Wimpel wie rote Schmetterlingsflügel. Eine merkwürdige Monotonie geht durch das alles. Die Welt, die einem im Europäerviertel noch so neu und unerschöpft erschien, hier erscheint sie plötzlich in lauter verbrauchten Formen, die es sich nicht lohnt, vor dem Schmutz und dem Verfall zu retten.
Und doch beginnt nach der Landung am sandigen Ufer eine neue Entdeckungsreise. Wir sind am Fuße des Hügels, den ein vom Hauch der Hochöfen geschwärzter Tempel krönt. Hinter einer Schiffswerft beginnen die Schlackenhalden, die Bahngeleise, die dröhnenden Bezirke des Stahlwerks mit seinen lodernden Hochöfen, seinen Wolken emporsendenden Kühltürmen, seinen finsteren, von rotglühenden Eisenfäden durchzischten Hallen mit Walzwerk und Dampfhammer. Scharen schwarzbrauner nackter Kulis verrichten mit der ihnen eigenen Ruhe und Genauigkeit die schwere Arbeit. Mitten im Durcheinander der Werke liegt das Verwaltungsgebäude, ein altes Gehöft mit Staatssänften und symbolischen Waffen vor der Tür, daneben der übliche Empfangsraum, dann die Zeichensäle und Schreibstuben und ein großes Maschinenhaus mit dem geräumigen, schlecht belichteten, von einem riesigen Zeichentisch fast ausgefüllten Bureau des Chefingenieurs. Elektrische Fächer bewegen die heiße Luft. Neben wenigen Europäern arbeitet schon eine ganze Anzahl junger chinesischer Ingenieure im Stahlwerk, die ersten, die von den Hochschulen Europas und Amerikas nach China heimkehrten. Die Hanyangwerke, eine der großen Schöpfungen des einstigen Generalgouverneurs Tschang Tschi-Tung, haben innerhalb eines Jahrzehntes den ungeheuren Aufschwung genommen, der sie bereits den großen Werken der Niederrhein- und Saargegend an die Seite stellt. Eisenerz von vorzüglicher Beschaffenheit steht zur Verfügung. Es wird auf dem Wasserwege von Tayeh am rechten Jangtseufer etwa siebzig Kilometer unterhalb heraufgebracht. Die Kohlen stammen aus den Bergwerken von Pinghsiang. Die Gegend zwischen Han und Jangtse ist vorbestimmt, ein zweites Essen zu werden. Hinter dem Stahlwerk erheben sich die Schlote des Arsenals von Hupe mit der Waffenfabrik, einer chemischen und Pulverfabrik und mehreren Mühlen und Ziegeleien.
Am frühen Morgen nimmt mich dann eines der Trajektboote nach Wutschang hinüber. Das ist die Schwesterstadt von Hankau und Hanyang am anderen Ufer des Stromes, man vereinigt schon ihren Namen mit dem ihrer Nachbarinnen zu dem Großstadtbegriff Wuhan. Eine ganz andere Stadt ist das da drüben, altertümlich und abweisend, von einer dicken hohen Mauer umgeben, deren nach allen Regeln antiker Befestigungskunst gebaute Torgänge abends geschlossen werden. Dort drüben wird heute eine Truppenparade stattfinden. Ich besteige eine der wenigen schmutzigen Rickschas, die am Ufer warten; der Kuli bringt mich nach dem Amtsgebäude, das an einem Platz der unteren Stadt gelegen ist. Die Hallen sind aus Holz und Lehm gebaut und um drei hintereinanderliegende Höfe vereinigt. Das mit bunten Göttergestalten beklebte Tor wird von einem modern uniformierten Soldaten gehütet. Hier wohnte der alte Gelehrte und Staatsmann Tschang Tschi-Tung, der Millionen zur Gründung europäischer Schulen und Industrieunternehmungen in seiner Provinz ausgab, aber persönlich so bescheiden lebte, daß einer seiner Sekretäre, der später Minister des Auswärtigen wurde, sich schämte, vornehme Besucher in diesen Amtsräumen zu empfangen.
Man weist mich von hier zu der etwas höher am Hügel gelegenen Akademie für europäische Wissenschaften. Die Schule befindet sich in einem alten Tempel; uralte Bäume stehen im Garten. Im Hofe spazieren hellblau gekleidete Schüler, die im Internat leben. Der Landsmann, den ich hier mitten im Klassenunterricht störe, läßt mich nicht los. Ich muß mit ihm in sein hübsches kleines Wohnhaus mitten in dem gepflegten, fast tropischen Garten, wo sich auch am Morgen fröhlich Whisky mit Soda trinken läßt. So komme ich schließlich zur Parade schon zu spät. Die heimkehrenden Mannschaften begegnen mir in den mit Steinplatten gepflasterten Gassen, schlanke sehnige Gestalten in Khakiuniformen, mit neuen Gewehren und Spaten ausgerüstet, in der Mitte die Gebirgsgeschütze, bespannt mit Maultieren, dann ein Troß von Wasserträgern und Reiskulis und ein paar Marode. Der Hintermann jedes Zuges trägt nach russischem Vorbild eine Signalflagge am aufgepflanzten Bajonett.
Draußen vor den Stadtmauern, am Pavillon des Generalgouverneurs, ist das militärische Schauspiel beendet. Auch die Kavallerie rückt ab. Die Offiziere versammeln sich um den Provinzgewaltigen. Fünf höhere Offiziere sind unter ihnen, die ihre militärische Ausbildung in Deutschland empfangen haben, man macht mich mit einem kleingewachsenen Major bekannt, der bei den Düsseldorfer Husaren stand; in Haltung und Sprache verrät er noch das preußische Muster. Der Generalgouverneur nimmt Platz an der Spitze einer der langen Tafeln, an denen ein Frühstück aufgetragen wird: er ist ein kleiner, hagerer Mann im schmucklosen langen Militärmantel und schilfgrünem Waffenrock, über dem scharfen Vogelgesicht die Militärmütze mit dem roten Rangknopf, im Nacken das winzige Zöpfchen. Jui Tschen steht im Ruf einer rücksichtslosen Strenge; man sagt, daß er es nicht verschmähe, sich nachts wie ein Harun al Raschid unter das Volk zu mischen, um dessen Stimmung kennenzulernen. Eine Herrennatur und ein Mandschu, das genügt, um ihn mehr gehaßt und gefürchtet zu machen als irgendeinen seiner Vorgänger. Er spricht mit dem kommandierenden General Tschang Piao, einem stark beleibten Offizier, von dem das Gerücht behauptet, daß er seine Karriere als Pferdeknecht begonnen habe und es vortrefflich verstehe, seine Taschen zu füllen. Sein Chef soll ihn eines Tages vor die Wahl gestellt haben, wegen seiner Durchstechereien sofort seinen Abschied zu nehmen, oder den in Wutschang liegenden Regimentern einen vollen Monatssold aus seiner Tasche zu bezahlen. Tschang Piao wählte den letzteren Ausweg. Bannersoldaten in weißen weibischen Kleidern, schwarzseidenen Reitjacken und federgeschmückten Pelzmützen stehen im Hintergrund als Wache, ein aufgeregter Schwarm von Amtsdienern besorgt die Aufwartung. Vor dem Pavillon hat sich eine Militärkapelle aufgestellt, sie spielt fortwährend die neue chinesische Nationalhymne, ein seltsames Stück Musik, das gleichsam mit einem Komma endet.
Es wird später Mittag, als ich mich wieder bei dem Landsmann in seinem Gartenhause einfinde. Ich habe während des festlichen Frühstücks der Offiziere Gelegenheit gehabt, die in der Nähe des Übungsplatzes gelegenen Kasernen bis unter das Dach zu inspizieren. Zwar steht ein Doppelposten vor dem von einer Mauer geschützten Grundstück, aber man läßt mich ohne weiteres hinein. Ich betrete die Kaserne, gehe die breiten, aus Eisenbeton gebauten Treppen hinauf, schaue in die einfach ausgestatteten, doch sauberen Stuben. Ein paar Mannschaften, die sich hier aufhalten, stehen stramm, zeigen ihre aus Kuhhaut hergestellten Tornister nebst dem vorschriftsmäßigen Inhalt und führen mich dann durch das Gebäude. Hier ist eine Instruktionsstube mit Schulbänken und einer mit Kreidezeichnungen bedeckten Schultafel. An den Wänden billige Abbildungen von Festungsgeschützen, Schanzen, Sturmkolonnen, Minen und Minenbooten. Die Bilder sind japanischer Herkunft. Auch die Zeugkammer, die Apotheke, sogar die Waschküche öffnen sich. Ich verabschiede mich und mache mich auf den Weg zur Stadt zurück.
Noch ein paar Stunden bleibe ich bei dem deutschen Philologen, den sein Schicksal in diesen Teil der Welt verschlagen hat. Er erzählt von den ewigen Unruhen dieser Stadt. Freunde haben ihm schon vor Wochen geraten, auf ein paar Monate zu verreisen, gefährliche Ausbrüche stünden bevor. Er ist zu Hause geblieben. Bereits seit fünf Jahren wohnt er dort oben und kein Haar wird ihm gekrümmt. Zuweilen besuchen ihn Landsleute aus Hankou, um in seinem Baumgarten eine kühle Nacht zu durchzechen; er ladet mich ein, zu bleiben, doch morgen will ich abreisen. Der Himmel hat sich verdunkelt. Ein Sturmwind hat sich aufgemacht; Zeit, daß ich ans Ufer hinunterkomme. Schon verkehren Dampfboote und Nachen nicht mehr, die Wogen gehen hoch. Da bleibt nichts übrig, als eine Dschunke zu mieten. Ich verspreche den Bootsleuten einen Dollar, sie stoßen ab und weisen mich in die Kajüte hinunter. Aber lieber als in diesem schmutzigen dumpfen Loch bleibe ich im Platzregen an Deck. An den knarrenden Mastbaum der schweren alten Dschunke geklammert, lasse ich mich hinüberfahren auf den kräftig schaukelnden Wellen, die braun sind wie flüssiger Schlamm. Wir kreuzen zur Hanmündung hinüber, zurück zum rechten Ufer und dann nochmals quer über den von Schiffen verlassenen aufgeregten Strom.