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Es ist hier der Boden der ältesten Kolonie der dorischen Griechen auf italienischem Boden. Dieser Boden war dem Poseidon geweiht, die Stadt trug seinen Namen, aber ihr Sinnbild war Sirene, die Tochter des Meergottes und der Erdmutter. Die Stadt ist verschwunden, sie war älter als Rom, sie versammelte früher als Neapel in ihrer weiten blauen Bucht die Segel des südlichen Mittelmeeres; ihr Reichtum und ihre Schönheit blühten vor mehr als zweitausend Jahren und wurden ihr zum Verderben als Sarazenen und Normannen nacheinander mit den geraubten Schätzen niedergebrannter Städte ihre Herrschaft aufrichteten. Man ahnt die Reste der Stadt unter den Buckeln, die der Pflug des Landmannes vermeidet. Man sieht am Ende einer Reihe verstümmelter Säulenreste eine einzige unzerbrochene Säule, Erinnerung an das Forum. An den abgetragenen und zerbrochenen Mauern haften versteinerte Reste schwarzer und roter Bemalung. Marmorbruchstücke glitzern kristallisch in der Sonne, eine Eidechse grün wie ein Schilfblatt lugt hervor und verschwindet. Weißblühende Dornenhecken senden ihre Bogen wie Strahlen eines Springbrunnens in die Luft.
Keine Menschenseele weit und breit. Ich gehe den Weg durch die Äcker dem Meere zu und atme die kühle Salzluft. Ein paar Bäume stehen da, jeder Zweig ein Glanzstrich; nun erscheint über Gebüsch und Sandhebung der Düne das Meer mit seinem leicht gewölbten Horizont. Der Boden wird sumpfig; weiß gehörnte Büffel weiden, die Wachtel ruft, ein Schwarm Enten steigt auf, die Straße wird felsenfest, in den Stein gegraben sind die Gleisspuren, auf denen sich in antiker Zeit der Karrenverkehr zwischen Westtor und Schiffen bewegte. Drei starkbrüstige Bauernmädchen, blumenpflückend, klettern über den Abhang der Stadtmauer und verschwinden durch das Schilf raschelnd in den schwärzlichen Schatten eines Gebüsches. Die Wiesen sind ein von winzigen Sternblumen und glänzenden Kräutern übersäter Teppich, der eine meerwärts streichende Felsplatte bedeckt. Eine Zikade funkelt mit schnarrenden Flügeln über den Weg. Am Ende des Pfades erhebt sich neben einer Pinie, durch einen Wald von Binsen geschützt, der Wachtturm; er ist das Wahrzeichen eines Dorfes, das des Fiebers wegen von den Bewohnern verlassen wurde. Das Innere des Turmes diente als Stall. Ich besteige seine Galerie von außen über eine Steintreppe, die halb Pfeiler, halb Brücke ist. Dem Meere zu bilden Kakteen ein undurchdringliches Dickicht. Diese Pflanzen, die im Sommer zerreißen und zu stacheligem Holz vertrocknen, stehen jetzt in ihrem Saft. Sie gleichen einer im Getümmel erstarrten Herde mit übereinander hinwegdrängenden Köpfen, Tatzen und Flügeln, sie erscheinen wie aus lauter kuchenartigen Scheiben zusammengesetzte Schildkröten, wie künstlich zusammengeleimte Vogelmodelle. Diese fürchterlich bewehrte Pflanze, die aus Mexiko stammt, aber heute in allen südlichen Ländern verbreitet ist und noch um den ärmlichen Acker des arabischen Fellachen Mauern wie von Stacheldraht bildet, gedeiht hier üppig; ich durchstoße mit dem Stocke ihre fleischigen Blätter; es sind rinnende Gefäße, sie strömen Wasser aus, sie zerbrechen, ihr Zellgewebe ist strähnig wie das der Wassermelone und duftet fade. Jenseits dieser Hecke betritt der Fuß die zarte elastisch saubere Düne. Das Meer liegt ohne Segel da, doch wie zart ist der Sand, der Schaum, die ewig bewegte äußerste Grenzlinie der Elemente. An diesem einsamen Strande, vor dem kein Boot sich zeigt, ruht ein Tier, das aus der Ferne einem Steinblock gleicht; nun erhebt sich das Ungeheuer und trabt landeinwärts. Es war ein Büffel, der sich sonnte; eines der dem Helios geweihten Rinder, für deren Ermordung der Sonnenbeherrscher an den Gefährten des Odysseus Rache nahm.
Die Griechentempel von Pästum liegen, von hier gesehen, in der Ferne. Sie sind vor der Sturmflut sicher aufs Land zurückgezogen wie Archen und auf grobe Stufen gesetzt, oder Pfahlbauten ähnlich. Der Poseidontempel und die sogenannte Basilika, die vielleicht ein Tempel des Weingottes war, stehen nebeinander; in einem Abstand von ihnen, doch dem Meere nicht näher, erhebt sich der zierlichere Tempel der Erdmutter. Die Tempel sind aufs Meer gerichtet wie Schiffe, sie schauen nach Westen. Erbaut vor zweitausendsechshundert Jahren, stehen sie noch immer, und ich denke sie mir in ihrer prächtigen Bemalung von Rot, Blau und Gold über die niedere Stadt hinleuchtend, ein Gruß dem Schiffer, der sich dem Hafen näherte, Verlockung zum festlichen Dankopfer, Aufforderung zur Lebensfreude, die den Seefahrer mit den Bewohnern des Landes versöhnt. Ein Volk, das in dieser Landschaft zwischen Meer und Bergen solche Tempel wie kostbare Truhen niedersetzte, konnte nicht wuchtiger seinem Willen zum Bleiben Ausdruck geben. Mitten in der unendlichen Wildnis, die noch jenseits der Berge war, weihte es sie den Gottheiten, die uns als ein Inbegriff aller Schöpfung erscheinen und denen wir Jetztgeborenen in unserem heftigen Erleben durch Reisen, Kriege, Seeschlacht und Hungersnot wieder nahe kommen. Sie waren nicht für die Nacht gebaut, diese Tempel, wie unsere gotischen Türme, sie heiligten den Tag. Sie gaben dem Leben zu Wasser und zu Lande den Inhalt, den wir aus den Gebräuchen der Alten herausspüren.
Ich gehe den Weg zurück. Das weite Geviert der Stadtmauer hat Raum für Reben und Ölbaumwälder, für Äcker und ein vielverstreutes Dorf. An der staubigen Landstraße, die den Feldweg kreuzt, stehen Gehöfte. Die Tore sind ganz offen, auf der Landstraße geht eine junge Frau, einen Säugling im Arm, auf dem Kopfe einen gefüllten Wasserkrug, vor ihr ein Kind, das achtsam ein Krüglein auf dem Kopfe trägt; das Kind stolpert, der Krug fällt zur Erde und zerbricht, das Kind bricht in Tränen aus. Die Frau geht in den Bauernhof, spricht mit einer Alten, die auf dem mit Reisig bedeckten Stalldache steht, hält ihr Kind im Arm, dreht den Kopf, der Henkelkrug steht wie angewachsen. Durch das Mißgeschick der Kleinen wird die Ruhe der Frau noch überlegener. In dem Bauernhof wird ein mit silbergrauen Büffeln bespannter Karren voll Grünfutter von einem Knaben entladen. Nebenan ist die schattige Wölbung einer ländlichen Schenke.
An den hölzernen Tischen sitzen alte Landleute, ein Bettler, ein Telegraphist von einem ländlichen Postamt, beim Wein; es ist dunkler Landwein, der das Herz fröhlich macht, er färbt die Trichter und die Fässer schwarz wie Tinte, köstlich schmeckt dazu das reine Brot, der trockene Käse; die Zecher rücken zusammen, spielen Karten und geben einander fröhliche Anreden: Oberhaupt der königlichen Kastelle des Südens, Oberhaupt der Telegraphen von Italien, Oberhaupt aller Weinfässer von Pästum. Der Schafhirt, der vielleicht nichts als eine ärmliche Hütte sein eigen nennt, erntet den Titel: Oberhaupt seines eigenen Hauses. Die Menschen sind heiter wie die Sonne, die Welt mit ihren vielen Regierungen ist weit entfernt. Steht die Erde solange sie schon hier in Pästum steht, so wird sie auch noch länger stehen. Ist sie so schön wie hier, so wird sie auch künftig schön sein; auch den Enkeln wird das goldene Taggestirn herniederleuchten.
Über die Landstraße fährt ein Automobil wie eine Mehlschaufel. Es verschwindet, und keine fremden Besucher entsteigen der weißen Wolke, nichts stört die Einsamkeit der Tempel. Ich breche einen Weg durch starkes Dorngesträuch; die Stufen dieser Tempel sind hoch. Die mit Gras bewachsenen Steinplatten des Heiligtums der Demeter dienen einer Schafherde zur Weide. Ich berühre die mächtigen und strengen Säulen; sie sind im Regen und Sonnenglanz der Jahrtausende so hart geworden, daß ich sie kaum noch als ein Werk von Menschenhand empfinden kann. Die rauhe, doch gleichmäßige Kannelierung der Säulen erinnert an die vergänglichen, ewig wiederkehrenden Rillen im Sande des Meerufers. Die Schäfte sind Muschelkalk, voll tiefer Höhlen, voll harter Kiesel und steingewordener Schnecken, ein poröser Zement, der an Tropfstein erinnert. Das Meer selbst hat dieses Gestein geschaffen, ehe aus ihm diese Säulen gebildet wurden, und es ist, als habe es in Jahrtausenden immer seine Arbeit fortgesetzt. Die Kapitelle, den Kapseln der Mohnpflanze nachgebildet, sind rauh wie Gebirge; die Steinplatten des Bodens sind zersprungen, von Flechten überzogen, durch die Macht der Erdbeben von der Stelle gerückt; kein Mörtel bindet die behauenen Blöcke, sie ruhen nur in ihrem Gewicht und in ihrem wohlberechneten Schnitt. In den Ritzen der Säulen, auf den Simsen des Daches, die weder Schmuck noch Denkspruch tragen, beben Grashalme, deren Samen der Wind hinauftrug. Wer wollte die Zartheit dieser Gräser missen, diese Narben und diese Rauheit der Tempelgebäude, deren vom Wind umspülte Säulen Räume schaffen, die verschlossener und zugleich offener als Räume mit Fenstern und Türen sind? Man schreitet zwischen diesen steinernen Stämmen und empfindet wie im Walde den jähen Wechsel von grellem Licht und tiefen Schatten in ihren Abständen körperlich. Das über dem Heiligtum offene Dach läßt das Blau des Himmels doppelt tief erscheinen. Diese Bauwerke wurzeln wie unsere Kreuzeskirchen im Weltall.
Der Tempel des Poseidon, an einer verlorenen Straße gelegen, deren Steinboden eine Strecke weit aufgedeckt zwischen den Wiesen liegt, erhebt sich mit der Vollzahl seiner sechsunddreißig Säulen als der wuchtigste. Riesigen Baumstämmen gleich stehen diese Schäfte eng gedrängt. Sie tragen auf dem gleichsam plattgedrückten Kissen den lastenden Rahmen und das flache Dreieck des Giebels mit einem Rest des Daches. In die nach oben breiteren Ausschnitte zwischen den verjüngten Säulen schmiegt sich das Meer mit seiner reinen Silberlinie. Zu Füßen der Tempelstufen, wo die Stadt mit niederen Dächern lag, wogt grauschimmernd das Laub der Ölbäume, wogen die Felder, aus denen am Abend schön geflochtene Dohlenschwärme schwarz gen Himmel steigen. Die Sonne steht tief über dem Meere. Klägliches Eselgeschrei dringt aus einem Bauernhof, dazu das sanfte Geläut heimkehrender Herden und aus einer Ferne die Glocke des Ave, neunzehn leise Schläge, dann zweimal sieben Schläge, dann zwölf; das war die Mahnung der anderen Götter. Siebenhundert Jahre vor Christus standen diese Tempel hier. Als sie errichtet wurden, hatte Jesaias noch nicht geweissagt. Es ist, als stünden sie da, um alle Weissagungen zu überdauern, unberührt von geschichtlichen Abläufen.