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Große rheinische Stadt

Über der Braunkohle

Die Elektrische fährt aus der Vorstadt über das Ackerland und durch die Heide. In der Ferne ruht hinter einem Saum von Fabrikschornsteinen der Höhenzug, die Ville, mit tausend Beerengärten und Veilchenpflanzungen. Die Landschaft trägt noch die Spuren einer trockengelegten Küste; die schwachen Bodenwellen des Geländes bedeuten mancherlei Wege eines Flußbetts, das nur dem Indianerauge des Gelehrten noch erkennbar ist. Die Wasserbäche der Eifel sickern in diese Ebene hinab und kommen klar und gesund in die große Stadt, gereinigt in dem Sand und Kies, den der Strom aus zermalmten Gebirgen mit sich führt.

An einzelnen Bauernhöfen ist Haltestelle. Der Blick schweift zurück über die Ebene; dort drüben, an den lebendigen Strom geklammert, der hier nicht sichtbar ist, leuchteten einst die strengen Giebel der Römerstadt, Kapitol, Palatium, Statio, die Tempel und die Brunnen im Schutz der Türme um das Forum, der ganze steingebaute Militärhof, Sitz der Kolonisatoren, die von den Alpen her dem Lauf des Flusses folgten und dem nebelnden Meer immer näher kamen. Es war der Kern des zweitausendjährigen Kölns, das heute Großstadt ist.

Das langgestreckte Dorf ist wie verloren in der Öde. Zwischen den Kramläden, den Arbeiterwohnungen und den verbrauchten Bauernhäusern dieser Dorfstraßen ragen eifrig und kunstlos gebaute Kirchen; das Herbergshaus des katholischen Gesellenvereins hat Wirtschaften zu Nachbarn, die neben der Goldschrift ihrer Bierreklamen die Zettel der Sportvereine, der Tanzveranstaltungen und Kegelabende an ihren Türen tragen. In den Gassen spielen Arbeiterkinder mit fröhlichem Geschrei. Hier wohnten in vergangenen Jahrhunderten die Kannenbäcker, die ihre hübschen Krüge mit dem aufgeprägten bärtigen Mannsgesicht in das weintrinkende Rheinland lieferten und zuletzt den Kölner Frauen die glasierten Kaffeetöpfe buken. Auf dem Untergrund desselben Bodens stehen jetzt die Schuppen und Glutöfen der Tonröhrenfabriken, die Gitter der Braunkohlengruben. Noch findet man hier an verlassenen Arbeitsstellen uralte Scherben verbogener, fortgeworfener Krüge. Die schönsten erhaltenen Exemplare findet der Reisende erstaunt in den Glasschränken des Museums der Stadt London; Bartmannskrüge aus den alten Wirtschaften der Fleet-Street, das Trinkgerät der Falstaffs von damals und jener Kölner Kaufleute im Stahlhof, denen einst englische Könige ihre Krone verpfändeten.

Der Lehm dieser Landschaft vor Köln ist nur die dünne Decke der Braunkohle. Mitten im bunten und künstlichen Laubgemisch des Brühler Parks ruht der Weiher, braun und moorig, Anzeichen des Kohlenflözes, das einst ein einziger Wald von Sumpfbäumen war. Es geht unter dem Rhein nach Westfalen und in die Steinkohle über, es setzt sich nach der andern Seite durch Belgien und unterm Ärmelmeer bis in die Finsternisse der englischen Kohlengruben fort, die wie die nächtlichen Straßen einer Großstadt beleuchtet und von Zehntausenden hackender Männer befahren sind. Hier ist das offene Braunkohlenbergwerk mit seinen Fußpfaden an schmalen Geleisen hin, auf denen unaufhörlich die Eisenkarren poltern. Die Sonne scheint auf die schwarze angeschnittene Fläche. Dünenähnliche Hügel tragen arme Gehölze. Dazwischen liegt die Fläche treppenartig ausgehoben, menschenleer. Das Grundwasser bedeckt einzelne ihrer Wannen. Karrenzüge fahren, Steinbrocken poltern aus den Eimern nieder, die Bagger stehen als rasselnde Türme am Rand der Böschungen. Ihre aus Schienen bestehenden Arme sind gesenkt. Ihre mit Krallen besetzten Löffel graben das dunkle Brenngestein. Im mürben Boden stecken hölzerne Knollen, Wurzelstöcke und Fasern der Zypressenwälder. Dieses durch den Prozeß der Pflanzlichkeit gegangene Erdreich ist die Urkunde früherer Jahrtausende. Das Land ist weithin in Höfe eingeteilt wie ein Schachbrett. Überall in den Grenzen der Markscheiden arbeitet derselbe Mechanismus der Eimerketten, der Seilbahnen, der Kippvorrichtungen. Wie ein Gewürm, das glänzende Fäden hinter sich läßt, rücken die ganz in sich bewegten Werkzeuge, die kaum Bedienung brauchen, beharrlich auf ihren Schienen vorwärts und reißen die Kohlendecke vom Leib der Erde bis auf den seifenähnlichen blaßgrünen Untergrund der Tonschicht. Die Güterzüge entführen das dunkelfeuchte, wertlos scheinende Erdgekrümel, sie bringen es, zu Ziegeln von metallischem Glanz geformt, vor die winterlichen Feuer ferner Städte. In den schwarzen halboffenen Hallengebäuden der Brikettfabrik überdeckt das Geprassel der Mahlgänge, der Kohlensiebe und der Pressen die laute Sprache der Arbeiter. Das staub- und dampfgeschwärzte Tageslicht verhüllt die Männer, die aus den Dörfern der Pfalz, des Hunsrücks und der Eifel zu dieser Arbeit hergewandert sind. Der Obersteiger erzählt von Angeboten der Engländer, die für große australische Braunkohlenunternehmen Ingenieure aus aller Welt zusammensuchen, aber auch von dem Mißtrauen, das gegen ein Land wie Australien aus dem Weltkrieg noch übrig ist.

Es ist, als gehöre diese Landschaft schon zum Weltmeer. Sie ist nicht wie jene sandigen Becken des Binnenlandes, die ihre ungewisse Herkunft verbergen. Das hier einsetzende Tiefland sinkt in der Ferne unter die Wasserdecke der Nordsee, endlich steigt aus ihr die Felsenküste von Schottland jäh hervor. Mit der britischen Insel verbindet diese Ebene dasselbe Klima. Die Gebirgszüge, die den Rhein begleiten, steigen in den Grund hinab. Die in die Erdkruste hinabgestoßenen hohlen Lanzen der Bohrmaschine bringen von unten kleine Proben des Urgesteins zutage, ganz tief unten ist Kalk, darüber die körnige Schicht der Korallen. Die versteckten Mulden des Bergischen Landes sind vollgestopft mit dem weißen Waschsand, mit den winzigen, Nußschalen, Hörnchen und Pfeilspitzen ähnlichen Muscheln.

Auch der See- und Hafencharakter des heutigen Kölner Rheines läßt schon das Meer erraten. Die Themsemündung und der Rhein, beide zusammen bilden den meistbenutzten Strom der Welt, sie stehen ja wirklich in einer uralten Beziehung zueinander. Petrarca, der einst den Rhein besuchte, sah hier die Schiffe abfahren, um auf der Themse zu ankern. Er sah am Johannistage, wie sich die Frauen von Köln nach altem Brauch im Rheine wuschen und hörte die Legende: Sie schicken ihre Leiden den Britanniern. Der Dichter bemerkte dazu: Gern würden wir, die wir am Po und Tiber wohnen, was uns bedrückt, den Illyriern und Afrikanern senden, doch unsre Flüsse scheinen träger zu sein.

Für den Schnellzugreisenden, der von London, von den Niederlanden kommt, ist Köln die erste große Stadt auf deutschem Boden. Er tritt aus dem hochgewölbten Bahnhof und atmet noch die ozeanische Luft. Ihn überfällt der nasse Wind vor dem Dom, er spürt das flandrische Schmutzwetter in den Straßen, auf den grauen Dächern den feinen Regen. Er geht ohne Fremdheit durch die enge graue und belebte City, er hört das melodramatische Geschrei der Leierkästen über der von Automobilen aufgestoßenen Menge. Die Hohe Straße, letztes und winziges Teilchen des großen Weges, der von Rom bis zu den batavischen Niederungen führte, brodelt unter dem Gedränge der grell beleuchteten gläsernen Schaufenster, der Reklamen, der Lichtbuchstaben, der senkrecht hängenden Schilder und Fahnen. Sie ist wie ein Stück Hafenstadt, eng, verwirrend, fremd, an chinesische Straßen erinnernd. Das Bankenviertel stadteinwärts, die Kontore und Speicherhallen der Reedereien am Ufer, alles ist ein Abbild von London. Die Anlage des Volksgartens und des Stadtwaldes ist im englischen Stil. Wer aus der trockenen Luft von Berlin, aus der herben Frische von München in diese Stadt kommt, den drückt die Atmosphäre; der schwüle Sommer und der feuchte Winter dieser Ebene machen ihn müde. Doch die späten Aprilabende hier sind schön mit ihren blühenden Büschen und dem Gesang der Nachtigallen, die von den Gärten der Marienburg bis nach Godesberg hinauf sich nirgends unterbrechen; es ist eine einzige schmelzende und süße Klage aus den Strauchverstecken des Ufers am beglänzten und schweigsamen Strom.

Selbstbehauptung

Ist auch diese Stadt, wie die meisten des linken Rheinufers, nur ein verkümmertes Abbild der Vergangenheit? Vielleicht sind Speyer und Straßburg die älteren Städte. Aber keine ist merkwürdiger, keine in ihrem Wesen so ungebeugt wie das heiliggesprochene Köln. Das enge Worms in seinen Mauern hatte den flachen Umriß eines Brotlaibes. Das mittelalterliche Mainz ist aus hoher Blüte und schrecklichster Verheerung als die befestigte und stolze Stadt hervorgegangen, die auf den Plänen des alten Merian am Rhein liegt wie eine von Stacheln besetzte Eisenhaube. Köln, von Memlings Hand im Johanneshospital von Brügge auf den berühmten Ursulaschrein gemalt und von den Meistern des Marienlebens verherrlicht, liegt als der stolzeste Hintergrund im Rücken der prächtig gekleideten Heiligen: das Gedränge seiner Gassen und seiner Türme um den Domkran ist in die klare Form eines Halbmondes eingefüllt; am andern Ufer des Flusses liegt wie ein Stern die Deutzer Festung, dazwischen auf dem Strom vor den Stadtmauern die Schiffbrücke, die Gruppe der festgebundenen Mühlen, die Herde der bewimpelten Güterschiffe. Diese Stadt ist nicht wie andere in Deutschland vom Dreißigjährigen Krieg oder von französischen Marschällen verwüstet worden. Sie war von einer wehrhaften und weitreichenden Selbstbehauptung. Sie hieß im Volksmund bis nun die »Kölsche Jungfer«. Jetzt sind die schweren Kasematten ihres Gürtels in die Luft geflogen, eine nach der anderen, mit einem dumpfen Donner, der seine Sprengstücke bis in die Fensterscheiben der Landhäuser jagte. Von dieser Wehrlosigkeit, die keiner vorausgesehen hatte, war nur in jenen alten Prophezeiungen die Rede, die noch sagen, daß einmal auch die Ebene um die Stadt zum Raum einer Feldschlacht werde, der letzten aller; vielleicht war es das stille Ringen der vergangenen Jahre, die uns fast den Atem nahmen. Dieses Innere einer Stadt! Ihre schmalen Althäuser mit den zurückgenommenen kleinen Dächern stehen bleich, streng und vereinsamt in den nichtssagenden Fronten. Über verschwundenen Gärten und Klostergängen erheben sich jetzt die Massenquartiere, die Warenhäuser, die Fabriken, die Bahnbogen, die von Trambahnen durchrasselten Straßen. Die letzten Söller, die runden, festen Römertürme verstecken sich in entlegenen Winkeln. Die Basalte und die grauen Tuffsteine der Stadtmauer sind bis auf wenige Reste abgetragen, die glatte Steinhaut asphaltierter Straßen verbirgt die hingestampften Trümmer. Von den Pfuhlen und Wassergräben, an denen nicht weit vom Stapelplatz des Rheinufers die Walkmühlen, die Lohstöcke und die Färberbottiche standen, von den Arbeitsstätten der Wappensticker und der Taschenmacher, von den alten Klöstern und Begräbnisplätzen und den Stadttoren sind nur die Namen geblieben. Der Dom, zuletzt von niederen Häusern und schmalen Fronten der Empirezeit eingefaßt, ragt frei wie ein Stock in die Höhe und ohne Vorgebirge. Die heutige Stadt ist ein Gemisch von alten und neuen Dingen. Sie ist offen und gesellig, doch unentwirrbar, unergründlich. Ihre Sprache lebt ein eigenes Leben voll fremder Wendungen, von Witz und Derbheit funkelnd, sie ist wie ein mit Quarzen und Achaten durchsetztes Gestein.

Noch leuchtet die alte Stadt mit sonniger Größe in den holdselig klugen Gesichtern der Kölner Madonnen, in den majestätischen Goldgründen des Stefan Lochner am Altar der Domkapelle. Diese Frauen sind geblieben. Kleine Augen mit großen Augendeckeln, anmutig geschwungene, ein wenig abwärts gebogene Lippe, rundliche Formen, flinke Zungen, verliebte Naturen, ein wenig berechnend, schwer bezähmbar und leicht zu verderben, in ihrer Natürlichkeit den Wienerinnen nah verwandt. Im Oberflächlichen kühl und ein wenig wie jene blonden und beliebten Weinspeisen, die mehr Creme als Wein sind. Doch derb und burschikos in der Reife, im Alter besonnen und dann oft den Männern an Ernst und Reinheit nonnenhaft überlegen.

Dieser Boden wäre fähig, Wolkenkratzer hervorzutreiben, und noch bringt jede Baustelle Sarkophage, Götterbilder, zarte Irisgläser, Knochen, Münzen, Siegelringe an das Licht. Nur der Dom, die schwarzen alten Kirchen trotzen der Veränderung. Sicher stehen allein die Fassaden und Gartenmauern des Kirchenbesitzes. Die Gebäude der alten Universität sind verschwunden, nur die Turmkrone von St. Ursula schwebt königlich wie immer, bewahrt in düsteren Grabkammern die vergilbten, in Purpursamt gehüllten, mit Edelsteinen besetzten Totenschädel. In Gewölben aus Karolingertagen hallen wie immer die Litaneien und die Glocken der Gebetzeiten; die jupiterhaften Aufzüge der Geistlichkeit erhöhen die Feiertage, und ins Gewühl der Straßen mischt sich die klassische und verschwiegene Strenge der Schwarzröcke.

Seit Blücher über den Rhein ging, nannte man das Land um den Rhein die Westmark; das Trennende eines strategischen Gedankens siegte über die umfassende, wiegende Breite dieses Landes, in dem sich von jeher Kelten, Germanen und römische Reste zu einem Volke verschmolzen, das wie in einer metallischen Retorte immer neue Strahlungen an das Licht kehrt. Die Stadt war lang vom Gedanken der Verteidigung umwittert. Die Kriegsmöglichkeit, sofern auch immer, war doch in ihrer Wirkung zuletzt dem Geschehen des Krieges ähnlich, sie war wie eine stille Kanonade. Die Stadt war in der Gefangenschaft der Festungswerke. Ihr Eintritt in die Neuzeit bedeutete nicht die Ausdehnung, sondern ein grausames Handgemenge des Jugendlichen mit dem Alten. Jeder ihrer Fortschritte ging nach innen, jeder wurde bezahlt mit einem Verlust, einem Niederreißen, einem Vergessen. Gewaltiges Schauspiel dieser Stadt, deren Leib jetzt im Begriff ist, sich auszudehnen. Der Knall der Sprengungen, unter dem Zwang von Verträgen, die Knechtschaft und Schutzlosigkeit bedeuten, bedeutet zugleich auch Freiheit. Mitten in den Lähmungen des Erdteils spürte Köln die immer fließende und bauende Kraft des Stromes. Mitten in den Problemen einer wogenden und wachsenden Bevölkerung regen sich Pläne, deren Sinn es ist, das Versäumte nachzuholen. Mitten in der Trauer des verstümmelten Reiches erwachte in dieser Stadt die Erinnerung an die Hansa. Mitten in der fremden Besetzung wurden vergessene Beziehungen zu London und zur See lebendig. Die Stadt ist ein einziger Rangierbahnhof geworden. Ihre Begegnungen, ihre Möglichkeiten sind nur denen eines neuen Wiens im Raum der Donaulandschaft vergleichbar. Von einem Jahr auf das andere verändert sich die Stadt. Das alte Haus mit der Wirtschaft zur Ewigen Lampe war zur Wechselstube geworden, es trug in ehernen Lettern die Firma einer schottischen Bank. Jetzt ist es wieder Bierwirtschaft wie vor Jahrhunderten. Ganz ruhig geht das alles. Vor dem Dom halten die großen, 50 Personen fassenden, von Trompetenbläsern begleiteten Automobile und zeigen neugierigen Reisenden die Stadt.

Zuerst diese eleganten schwebenden Brücken über den Fluß; plötzlich fällt ein Schatten des gewaltigen, viereckigen Turmes in den Eisenbahnzug und gibt den Reisenden den jähen Vergleich mit Rotterdam. Es sind viele Leute in Köln, die aus alten Stichen, aus kolorierten Abbildungen und strahlenden Kirchenbildern die längst verschwundenen Häuser um den Dom, die Rheinseite mit der Stadtmauer, vielleicht auch die romanisch-gotisch-barocken Gassen und Märkte, wie sie noch vor hundert Jahren standen, im Kopf haben und mit geschlossenen Augen die fast niederländische Stadt hinzeichnen könnten, die nicht mehr ist. Dafür erlebt man jetzt die stolze, viel versprechende Straßenflucht, die neben dem Gürzenich zur Hängebrücke ausläuft, liebt das neuartige Lagunenbild des mit Dampfern und Kähnen gefüllten Flußhafens, der, vom Bayenturm aus gesehen, mit Häuserzeilen zu beiden Händen, die Spitzen des Domes, die Brücke, die Türme von St. Martin und St. Kunibert im Hintergrunde faßt. Im Kopf trägt man den neuen von Schumacher gezeichneten, zwar etwas kalten, doch in aller seiner Sorglichkeit imponierenden Entwurf zur Bebauung des Festungsgeländes im großen Halbbogen. Und dann der Blick von der Plattform über dem sechzehnten Stockwerk des Hochhauses durch das Backsteinfiligran auf die Schollen der Dächer hinunter, auf den unübertrefflichen Dom mit seinen emporflatternden weißen Taubenschwärmen, mit den riesigen Glashallen des Bahnhofs in der Nähe, den engen Höfen und den eisernen Brauen der Brücken über den unsichtbaren Fluß bis zu den weißen Wänden der Messehalle hinüber, deren schlanker Turm wie ein Leuchtturm über die Ebene des Rheines blickt.

Stromland und Meer

Einst trug Meister Stefan Lochner in diese Stadt von seiner Bodenseeheimat die Überlieferungen einer großen und frommen Kunst. Thomas von Aquino und Duns Scotus begegneten einander hier von beiden Enden Europas. Diese Stadt war groß gewesen und hatte alles verloren, Reichtum, Lehre, Freiheit. Ihre bedeutendsten Zünfte, die Schwertfeger, die Harnischmacher, die Wappensticker und die Leinenweber, die ihren Handel groß gemacht, ließen aus Trotz gegen ein allzu starres Stadtregiment ihre Häuser, ihre alten Gassen leer stehen und gingen »über die Wupper«. Sie gründeten im protestantischen Rheinland die modernen Industrien von Barmen und Remscheid, von Solingen, Mülheim und Krefeld. Die alte Kölner Universität wurde nach Bonn verlegt, die Werke der Kölner Malerschule verloren sich in alle Galerien Europas; von den Überlieferungen der Kölner Kunst lebt in Düsseldorf nur ein letzter, höchst bürgerlicher Nachklang. Dieser Stadtstaat, der einmal der Mittelpunkt eines großen Flandern war und bis nach Westfalen herrschte, verlor zuletzt noch die Selbständigkeit seiner Entwicklung. Selbst die Provinzbehörden wurden ihm weggenommen und anderen Städten gegeben; er stand in der Franzosenzeit fast abgestorben, in der preußischen Zeit von neu aufstrebenden Kräften fast zerrieben den unbebauten Feldern des anderen Ufers gegenüber. Wie, wenn der Bahnhof, wenn die Brücke, statt die Achse des Domes fortzusetzen, auch nur ein paar hundert Meter rheinab lägen, wo sie mehr Raum gefunden haben würden? Wenn die neuen Brücken, jede einzelne ein Meisterwerk in ihrer stählernen Schönheit, doch unbelebt, gebaut worden wären, um die alte Stadt mit einer großen Neustadt zu verbinden, dort, wo noch immer wie seit Jahrhunderten die Netze der Poller Fischer an den Büschen trocknen? Wenn dort drüben die Wohnungen, die Theater, die Volkshäuser und die Bäder der Weltstadt aufgewachsen wären? Dann wären längst die beiden Ufer ihres Canale Grande durch die Fähren, die flinken Motorboote miteinander verbunden wie die Wasserseiten von Hamburg, Rotterdam und Zürich. Im Augenblick des schmerzlichsten Rückganges und der Verarmung traten in die altertümlichen Säle des Rathauses, in die Sitzungszimmer der Banken die Pläne des Industriehafens, der engeren Handelsbeziehungen zu Antwerpen durch den Kanal vom Rhein zur Schelde, die Bauentwürfe neuer Wohnungsviertel, großer Industrien. In den Häusern der Reichgewesenen, als seien es indische Paläste, trieben die Familien englischer Offiziere unbedenklichste Verschwendung; die Bevölkerungen ganzer wallonischer Dörfer begaben sich nach Köln, um einzukaufen. Unterdessen wanderten durch die Straßen die Umzüge anklagender Menschen, die nach Brot und Kohle schrien. Von den Taubenschwärmen, die heute wie einst die gotischen Figuren des Doms umflattern und arglos auf dem Platz die hingeworfenen Körner picken, war eine Zeitlang nichts mehr am Leben. Auf den Geleisen des Hafenbahnhofes krochen zerlumpte Kinder unter den Güterzügen und stahlen mit Kännchen und Löffeln aus den Stopfbüchsen der Radgestelle das schmutzige Öl. In der Tat, diese Stadt, die sich anschickt, das Versäumte nachzuholen und das Verlorene wiederzusuchen, stöhnt in den Problemen des Städtebaues, die in die Frage des Staatenbaues münden; ihre Wohnungsfrage rührt an die Frage der Siedlung, die grundsätzlich für alle gilt. Die Frage des schöpferischen Zusammenwirkens von Sparsamkeit, Technik und verantwortlicher Planung bedrängt auch hier das Gewissen, sie fordert Antwort, wie denn die Unternehmen kommender Industrien zu tragen seien, ohne daß die Großstadt durch ihr Wesen dazu diene, jenes ewige kranke Gemisch von Arbeitslosigkeit und billiger Arbeit in sich zu tragen, das Angst und Mißgunst unter den Menschen verbreitet. Eine junge Kölnische Kunst will erwachen: wo wird sie anders ihr eigentümliches Wesen finden als in der aus Nordseeluft und Hauch des Mittelmeers gemischten Atmosphäre dieser Landschaft?

Warum hat diese Stadt, die wie ein Brunnen an Sagen unerschöpflich ist und deren Boden, wie der von Rom oder von Damaskus, ein Blätterteig der wechselvollsten, farbigsten Geschichte – niemals den Gestalter hervorgebracht, der aus dem schlummernd Regsamen ihres Innern dem europäischen Antlitz einen Zug aufprägte? Es ist als hielte sie noch immer in ihrem heiteren und verschwiegenen Wesen den letzten gültigen Ausdruck ihrer Selbstoffenbarung zurück. Sie ist frauenhaft, ihre Träume sind noch tief in der Zukunft. Diese Stadt der Tenöre, der zu Herzen dringenden Stimmen, der fröhlichen angewandten Musik und der ironischen Blitzschläge lebt und ist noch immer mächtig. Sie spricht aus dem Hänneschen, das der Bäcker in der Altstadt und der Gärtner der Vorstadt seinen Kindern und Verwandten nach Feierabend daheim bei dünnem Kaffee vorspielt. Selbst in der Verbannung hatte sich ihr Karneval seine heimliche und rührende Wiederkehr geschaffen in jenem aus Dialekt und Lyrismus, aus Gassenwitz und bürgerlichem Weltglauben, aus Derbheit, Anmut und bissiger Allegorie zusammengeflossenen Singspiel, das im Schauspielhaus Stürme von Beifall erntete, als die Behandlung der Deutschen draußen die hoffnungsloseste war. Das unterweltliche Köln verstand es, sich Kraft zu holen, es zerdrückte im Lachen seine Tränen. Über dem alltäglichen dichten Strom der Fußgänger, der die Hochstraße durchwandert, mitten im Geschäftsleben, auf dem Boden, wo das Palatium stand, liegt irgendwo das Collofineum Tabacologicum, kleine Insel der blauen Wölkchen in einer Zeit, die für die königlichen Genüsse des Witzes, des Weines und des Tabaks wie ein großes Staubtreiben war.

Und der Boden am älteren Stadtrand, einst von den Wallgräben durchzogen, trägt die Kostbarkeit der Ostasiatischen Sammlungen. An den Wänden dort hängt die Rolle des Chao Tsien-Li aus dem sechzehnten Jahrhundert, die an ein Bild des alten Chu-Yan »Der Jangtsekiang« erinnert. Es ist die aus Bergspitzen, Pfeilern, Massiven, aus einer Unendlichkeit von Schneebergen, Frühlingsbergen, Sommerhügeln und rotbelaubten Felsen gebildete Heimat des Weltstroms. So kann man sich auch ein Gesamtbild Europas und der Alpen denken. Der ferne geistgewordene Meister stellte als ein Ganzes dar, was der Reisende immer nur als einen Ausschnitt zu fassen vermag. Der Maler verteilt die Klippen des Berglandes, die kleinen Wasserfälle, die halbinselförmigen Flußufer mit den zierlichen Dörfern in das lockende Bild des einzigen Augenblicks. Er wölbt die runden Spangen der Brücken, ruft die Boote zum Eintritt ins Gebirge, läßt die wartenden Segel vor der Flußmündung. Er malt den Fluß in seinem Vergehen an Erde, Meer und Luftraum; er sieht den dunstenden Umsatz des Meeres gegen das Feuer der majestätisch verborgenen Sonne. Er zeigt alles Feuchte als dem Wesen des Meeres zugehörig und das Meer in seinem Warten neben dem brodelnden Wesen der Erde. Er zeigt die Landschaften von den Spuren des menschlichen Wohnens ein wenig angemalt, ein wenig zerkratzt. Draußen in den Straßen der Vorstadt rumpelten fremde Militärwagen über das Pflaster. Aber die Schulkinder in ihren dünnen und geflickten Kleidern sangen hell wie immer. Mitten in der Atmosphäre trüber und zweifelhafter Tage stand vor dem inneren Auge das allumfassende, aus Märchenländern hierhergetragene köstliche Werk des Malers wie ein Hinweis auf den ewigen Reichtum des von den Schneebergen herniederrinnenden, von vielen Bergen umsäumten und dem Meer sich nähernden Rheins, dieses Flusses, an dem die Dome stehen wie Wegweiser, um Trost und Größe auszuströmen.


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