Silvio Pellico
Meine Gefängnisse
Silvio Pellico

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21.

Noch einer anderen unwürdigen Rücksicht, die ich aus menschlicher Schwäche genommen, habe ich mich anzuklagen. Mein Nachbar war kein Atheist, vielmehr sprach er bisweilen von religiösen Empfindungen, wie ein Mann, der sie hochachtet, und dem sie nicht fremd sind: aber doch hegte er viele unvernünftige Vorurteile gegen das Christentum, das er mehr nach seinen Mißbräuchen, als nach seinem wahren Wesen betrachtete. Die oberflächliche Philosophie, welche in Frankreich der Revolution vorausging und folgte, hatte ihn verblendet. Ihm schien es möglich, daß man Gott mit größerer Reinheit verehren könne, wenn man auch nicht der Lehre des Evangeliums folge. Ohne eine genauere Kenntnis von Condillac und Tracy zu haben, verehrte er sie doch als die tiefsten Denker und bildete sich ein, daß der letztere alle möglichen metaphysischen Untersuchungen zum Abschlusse gebracht habe.

Ich, der ich in meinen philosophischen Studien weiter vorgedrungen, der ich die Schwäche des Empirismus fühlte, die groben Irrtümer der Kritik kannte, mit welcher das Zeitalter Voltaires es unternommen, das Christentum in Mißkredit zu bringen; ich, der ich Guénée und andere gewaltige Geister gelesen hatte, von denen diese falsche Kritik entlarvt worden; ich, der überzeugt war, daß man mit der Härte der Logik Gottes Dasein nicht annehmen und dabei das Evangelium verwerfen könne; ich, der es so gemein fand, dem Strome der antichristlichen Meinung zu folgen, ohne sich zu der Erkenntnis erheben zu können, wie einfach und erhaben der Katholizismus sei, sobald man ihn nicht in der Verzerrung anschaut; ich besaß die Feigheit, menschlicher Rücksicht Rechnung zu tragen. Die leicht hingeworfenen Äußerungen meines Nachbars verwirrten mich, obwohl mir ihre Haltlosigkeit nicht entgehen konnte. Ich hielt mit meinem Glauben zurück, schwankte, überlegte, ob es am rechten Orte sei oder nicht, Widerspruch zu erheben, ich sagte mir, daß es unnütz wäre, und wollte mich überreden, auf diese Weise gerechtfertigt zu sein.

Schändliche Feigheit! Welchen Wert hat es, sich auf allgemein geltende Ansichten selbstgefällig etwas zugute zu tun, wenn ihnen die Begründung fehlt? Wahr ist es, daß ein unzeitiger Eifer unklug ist, und daß er den Ungläubigen nur noch mehr aufreizen kann. Aber mit Freimut und Bescheidenheit zugleich das zu bekennen, was man fest für eine gewichtige Wahrheit hält, es selbst da zu bekennen, wo man voraussichtlich keine Zustimmung findet, und selbst einigen Spott nicht zu scheuen, das ist ausdrücklich vorgeschriebene Pflicht. Und ein solch edles Bekenntnis darf man überall ablegen, ohne sich zu ungelegener Zeit den Charakter eines Missionärs anzumaßen.

Es ist Pflicht, eine gewichtige Wahrheit zu bekennen, und zwar zu jeder Zeit; denn in dem Falle selbst, wo man auch nicht hoffen darf, daß sie augenblicklich Anerkennung finde, so vermag sie doch vorbereitend der Seele eines anderen eine solche Richtung zu geben, in der er eines Tages zu größerer Unparteilichkeit des Urteils und zum schließlichen Siege des Lichtes gelangt.


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