Silvio Pellico
Meine Gefängnisse
Silvio Pellico

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63.

Wir hatten die Hoffnung – und diese erfüllte sich wirklich – einander verstehen zu können, auch wenn wir leiser sprächen, und daß hin und wieder mitleidige Wachen da sein würden, die so täten, als ob sie unser Sprechen nicht bemerkten. Nachdem wir es verschiedentlich ausgeprobt, lernten wir eine Art, die Worte so gedämpft auszusprechen, daß sie unseren Ohren wohl vernehmbar waren, anderen aber entweder ganz entgingen oder ihnen wie eine Täuschung erschienen. Gleichwohl traf es sich manchmal, daß wir Zuhörer von feinerem Gehör hatten, oder daß wir vergaßen, mit der Stimme vorsichtig zu sein. Dann hörten wir sogleich wieder das Geschrei und die Kolbenstöße an den Türen und, was schlimmer war, wir erfuhren dann den Zorn des alten Schiller und des Oberinspektors.

Allmählich brachten wir es mit allen Vorsichtsmaßregeln zu einer Vollkommenheit, das heißt, wir sprachen miteinander nur in gewissen Viertelstunden, lieber, wenn die bestimmten Wachen da waren, als wenn wir andere hatten, und stets mit ganz gemäßigter Stimme. Ob wir es nun der Vortrefflichkeit unserer Kunst zu verdanken hatten, oder ob es die Folge einer allmählich zur Gewohnheit werdenden Nachsicht anderer war, kurz, zuletzt konnten wir jeden Tag genug miteinander reden, ohne daß uns je wieder einer der Vorgesetzten ausgescholten hätte.

Wir schlossen eine innige Freundschaft miteinander. Oroboni erzählte mir den Gang seines Lebens, ich ihm den meinigen; der Kummer und die Tröstungen des einen wurden Kummer und Tröstungen für den anderen. Ach, wie richteten wir uns gegenseitig auf! Wie oft traten wir, nach einer schlaflosen Nacht, beide an das Fenster, jeder begrüßte den Freund, und wenn wir des Teuren Worte vernahmen, dann fühlten wir unsere Traurigkeit gemildert und unseren Mut verdoppelt! Jeder war überzeugt, daß er dem anderen von Nutzen sei, und diese Gewißheit erweckte in uns einen süßen Wetteifer in liebreichen Gesinnungen und jene Zufriedenheit, welche der Mensch selbst im Unglück hat, wenn er seinem Nächsten nützen kann.

Jedes Gespräch ließ das Bedürfnis nach einer Fortsetzung unserer Besprechungen, nach neuen Aufklärungen zurück; es war eine lebhafte, beständige Anregung für die Einsicht, für das Gedächtnis, die Phantasie, das Herz.

Anfangs erinnerte ich mich an Giuliano und hegte gegen die Beständigkeit dieses neuen Freundes Mißtrauen. Meine Betrachtungen waren: – bis jetzt ist zwischen uns noch nichts vorgekommen, wobei wir uns uneinig gefunden; den einen oder den anderen Tag kann ich ihm irgendworin mißfallen, und dann wird er sich von mir zurückziehen.

Diese Befürchtung verschwand jedoch sehr schnell. Unsere Ansichten stimmten über alle wesentlichen Punkte überein; nur daß er mit einer edlen, von trefflichen Gefühlen durchglühten Sinnesart, die nicht vom Mißgeschick überwältigt worden, den aufrichtigsten und vollsten Glauben an das Christentum vereinigte, während dieser Glaube in mir seit einiger Zeit ins Schwanken geraten war und mir bisweilen gänzlich erloschen zu sein schien.

Er bestritt meine Zweifel mit sehr richtigen Erwägungen und mit vieler Hingebung; ich fühlte, daß er recht hatte, und gestand es ihm ein, aber die Zweifel kehrten wieder. Dies ist allen so ergangen, denen das Evangelium nicht das Herz durchdringt, allen, die andere hassen und sich überheben. Der Verstand sieht einen Augenblick das Wahre, aber sobald ihm dies nicht gefällt, bezweifelt er es im Augenblick danach und zwingt sich, anderswohin zu blicken.

Oroboni verstand es trefflich, meine Aufmerksamkeit auf die Gründe zu lenken, welche der Mensch hat, gegen seine Feinde nachsichtig zu sein. Ich sprach ihm von keiner mir verhaßten Person, ohne daß er es geschickt unternommen hätte, sie zu verteidigen; und dies geschah nicht bloß mit Worten, sondern er ging mir auch mit gutem Beispiele voran. Einige hatten ihm Schaden zugefügt. Er beklagte das, aber verzieh allen, und wenn er mir irgendeinen lobenswerten Zug von einem derselben erzählen konnte, tat er es gern.

Die Gereiztheit, die mich von meiner Verurteilung an beherrschte und mich von der Religion abgewendet hatte, dauerte nur noch einige Wochen; dann wich sie gänzlich von mir. Die Tugend Orobonis hatte mich hingerissen. Indem ich mich bemühte, ihr gleichzukommen, trat ich wenigstens in seine Fußstapfen. Von da ab konnte ich wieder aufrichtig für alle beten und haßte niemand mehr, meine Glaubenszweifel schwanden. Wo Treue und Liebe walten, da ist Gott.


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