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IV.

Bernhard hatte damals von der Fischerhütte aus richtig gesehen, der Mars der ›Columbia‹ war wirklich leer, d. h. er war vor wenigen Stunden von der Bemannung eines Fischerbootes geleert worden, welches von einem der vielen benachbarten Eilande gekommen war, um, nachdem sich die See einigermaßen beruhigt, nach den Trümmern des unglückseligen Schiffes zu fahnden, dessen Notsignale man dort die ganze Nacht hindurch bei dem Sturme wohl gehört hatte.

Die Leute waren nichts weniger als erfreut über ihre Ausbeute: eine im Mars hängende männliche Leiche. Der übrige Teil des Schiffes war nicht mehr zugänglich. Schon wollten sie fluchend wieder umkehren, als einer von der Mannschaft den Vorschlag machte, wenigstens die Leiche zu untersuchen; wenn der Mann auch nicht danach aussehe, als ob er viel Wertvolles bei sich trage, so sei es doch am Ende angezeigt, nachzusehen, denn für die Fische sei selbst die Wolljacke zu gut, die jener anhabe.

Das leuchtete auch allgemein ein. Man holte den Mann über, und als man sich eingehend mit ihm beschäftigte, erkannte man, daß man es mit einem noch lebenden Menschen und nicht mit einer Leiche zu tun hatte.

Das änderte die Sache. Diese Männer, unter Gefahren und Entbehrungen aufgewachsen, hatten ein sehr weites Gewissen, so lange es totes Seegut galt, denn das hielten sie nun einmal seit undenklicher Zeit für ihr Eigentum; handelte es sich aber um ein Menschenleben, dann waren sie auch jederzeit bereit, das ihrige dafür einzusetzen. Das bringt die gemeinsame Gefahr mit sich, der trotzige Bund, welchen sie geschlossen gegen das feindselige, sie stets bedrohende Meer.

So taten sie alles für den Schiffbrüchigen, der in den letzten Zügen zu liegen schien, aber es gelang ihnen nicht, ihn zum Bewußtsein zu bringen.

Der Kapitän eines englischen Segelbootes, das auf einer der Inseln Wasser faßte, erklärte sich bereit, den Mann, der ja doch nach Europa wollte, an Bord zu nehmen; erwachte er nicht mehr, so war ja die Arbeit auch nicht groß, und ein Schiffbrüchiger hatte einmal Anspruch auf Unterstützung.

Nach dreitägiger Fahrt erwachte indes Henry Smidt wieder zum Leben, nur sein Gedächtnis war völlig erloschen; er wußte nicht einmal den Namen des Schiffes zu nennen, auf welchem er nach Aeußerung seiner Umgebung Schiffbruch gelitten haben sollte, seine Erinnerung schloß sonderbarerweise mit dem blutigen Ereignis auf Crosby Ranch plötzlich ab. Die Folge davon war, daß dieses ihm mit seiner ganzen Wucht, mit all' seinen Einzelheiten nur um deutlicher vor Augen stand. Er fuhr wieder mit Tom Crosby durch den Wald, es dunkelte schon, er lenkte die Pferde, Crosby war angetrunken in seiner Freude über den guten Verkauf seines Gutes und verhöhnte ihn mit seiner Werbung um Bessy, – ihren Stiefelputzer könne er jetzt machen in New-York. – Smidt schlug ihm mit dem Peitschenstiel in das Gesicht, – da zog Crosby den Revolver, – jener kam ihm zuvor und schoß ihn nieder. – Es galt nur einen Augenblick, – Crosby hätte keine Umstände gemacht, und wäre er nüchtern gewesen, so war es um Smidt geschehen.

Crosby war aus dem Wagen gestürzt, die Pferde gingen, erschreckt von dem Schuß, durch. Smidt sprang hinaus, vielleicht war dem Verwundeten noch zu helfen. Er hätte ihn gewiß nicht hilflos liegen lassen, war er ja doch der Vater Bessys; doch der Mann, er regte sich nicht mehr, die Kugel war ihm durch das Hirn gegangen. – Smidt wollte fliehen; wenn der Wagen leer ankommt, dachte er, wird man suchen, die Leiche finden, ihn verfolgen, – da fiel ihm ein, daß der Tote die Kaufsumme bei sich trug, 50 000 Dollar, er hatte selbst gesehen, wie jener sie zu sich steckte. Wer weiß, wer ihn findet, wer zuerst zu ihm kommt? Sie könnten gestohlen werden, dachte er, das durfte nicht sein, es war ja Bessys ganzes Hab und Gut, man kann es ihr ja schicken. Er steckte das Paket ein, es war wohl versiegelt, und –

Da war es aus, von da an wußte er nichts mehr, so sehr er sich auch anstrengte. Von seinem Weg durch das Land, auf das Schiff, von dessen Untergang, seiner Rettung, – nichts, gar nichts, als was die Leute ihm erzählten.

›Ich steckte das Paket ein,‹ sagte er sich immer wieder, das letzte Bild seiner Phantasie festhaltend und bemüht, sich das, was nun folgte, ins Gedächtnis zurückzurufen. ›Ich steckte das Paket ein!‹ – Da griff er nach seiner Brust, er hatte ein anderes Gewand an, er rieb sich die Stirn.

›Und was tat ich dann damit? Habe ich es Bessy zurückgesandt, ehe ich aufs Schiff ging? Oder hatte ich es dort noch? – Habe ich es noch?‹

Er war allein in einer engen Koje. Er rief. Der Kapitän selbst kam herunter.

»Nun, kommt Euch allmählich alles?« fragte ihn dieser.

Henry hörte nicht darauf.

»Nur eins, Herr Kapitän, haben Sie die Kleider untersucht, in welchen ich aufgefunden wurde?«

»Nein, mein Junge, das habe ich nicht, wäre auch ganz überflüssig gewesen, da sie jedenfalls schon von anderen Händen ausgesucht waren. Das geht für Finderlohn, ein Taschenmesser, eine Tombak-Uhr, ein paar Dollar vielleicht, wer wird danach fragen, wenn's so gut abgegangen ist!«

Henri wollte in seinem Schreck schon mit der Wahrheit herausplatzen, doch besann er sich noch eines besseren und bat inständig um seine Kleider. Der Kapitän ließ sie ihm lachend bringen.

Henry durchwühlte vergeblich die Taschen, sie waren leer. Also hatte er entweder das Geld schon an Bessy abgesandt oder die anderen Hände hatten es gefunden, von denen der Kapitän sprach. Das wäre entsetzlich, dann war er ein Raubmörder in Bessys Augen, Bessy eine Bettlerin durch ihn.

Er strengte sein Gehirn bis zum äußersten an. Solch' einer Tatsache, wie der Rücksendung des Geldes an Bessy, hätte er sich doch erinnern müssen. Warum behielt er aber das Geld so lange in Händen? Warum nahm er es mit sich auf das Meer? – Weil er Entdeckung fürchtete, ganz natürlich, – oder war nur einen Augenblick der Gedanke in ihm aufgestiegen, es zu behalten, nachdem es einmal in seine Hände gefallen war? Er dachte doch nicht im Augenblick des Mordes an das Geld in der Tasche seines Opfers. In diesem Augenblicke nicht, aber dann, was er dann dachte, – sich auch an Bessy rächen, – Unsinn! Er liebte sie ja noch immer, er bereute auch sofort die Tat, zunächst nur deshalb, weil sie ihn auf immer von ihr trennte. Was sollte er mit dem Geld? Sein Leben war jetzt ja doch verpfuscht. Und warum war denn jetzt sein erster Gedanke die Rückgabe der Summe? Doch das alles war ja gleichgültig, wo war das Geld hingekommen? – Darum handelte es sich jetzt vor allem.

Um diese Frage zu lösen, galt es den Zusammenhang der Ereignisse wieder zu finden. – Dem Kapitän waren solche Fälle schon mehrere begegnet gerade bei Schiffbrüchigen, die lange entsetzlichen Qualen ausgesetzt waren; nach seiner Ansicht war das schlechteste Mittel, den geistigen Defekt zu heilen, das Grübeln. Einfach sich gehen lassen, möglichst wenig denken, von Zeit und Zufall alles erwarten.

Das war leicht gesagt, für jeden andern auch leicht zu tun, nur für Henry Smidt nicht, – den Mörder, für den, je rascher er wieder zu seinen Kräften kam, die Untätigkeit eine Seelenmarter, das Nichtdenken unmöglich war.

Das eine Gute hatte sein sonderbarer Zustand, er verriet sich nicht, weder in seinen Fieberphantasieen, noch bei seinem jähen Erwachen. Nur als man ihn nach seinem Namen fragte, besann er sich etwas zu spät.

›Henri,‹ sagte er; dann dachte er der Gefahr.

›Müller,‹ fügte er bei statt Smidt.

Er gewann jetzt Zeit, für alle Fälle sich ein System auszubauen, nach dem er seine Worte zu richten hatte.

Ja, am Ende war der ganze Schiffbruch für ihn ein Glücksfall, vielleicht war die Polizei drüben schon in Kenntnis gesetzt von seiner Anwesenheit auf dem Dampfer, dessen Namen ihm nicht einmal einfiel, den er sicher in seiner Unvorsichtigkeit genannt, wenn er ihn gewußt hätte.

Als Mörder aber ergriffen zu werden, war ihm der fürchterlichste Gedanke, noch dazu unter diesen Umständen als gemeiner Raubmörder.

Er war es in seinen eigenen Augen nicht, er hatte nur sein Leben gegen einen Mann verteidigt, der ihn bis aufs äußerste gereizt hatte. Tat dasselbe nicht jeder in diesem Lande? Gewiß, er fühlte Reue, er hätte viel darum gegeben, die Tat ungeschehen zu machen, aber für einen Sträfling fühlte er sich trotzdem noch viel zu gut. Bessy war für ihn unwiederbringlich verloren, das war ihm die furchtbarste Strafe für seine blutige Tat, die er sich denken konnte; er hatte ja noch immer gehofft, – und jetzt mußte sie ihn gar für einen gemeinen Dieb halten, der ihren Vater des Geldes wegen umgebracht, der sie zur Bettlerin gemacht. – Immer klarer wurde es ihm, daß er das Geld nicht an sie zurückgesandt. Allmählich erhellte sich der Weg von dem Tatort bis zur See, einzelne unbedeutende Vorfälle kamen ihm ins Gedächtnis zurück; da mußte er sich doch auch an das erinnern können!

Drei Wochen waren vergangen, er bot sich dem Kapitän freiwillig zum Dienst an, Müßiggang war gefährlich für ihn.

Eines Abends sprang der Wind um, es versprach eine stürmische Nacht zu werden, er bat den Kapitän, einen Matrosen Namens Willi Carper, an den er sich am meisten angeschlossen hatte, auf den Mars hinauf begleiten zu dürfen, wo dieser gerade die Nachtwache hatte.

Bis die Nacht einfiel, schwatzten sie, dann galt es Vorsicht, der Wind preßte arg von der Seeseite her; die Matrosen refften die Segel ein, dann wurde es ruhig unten, alles ging unter Deck. Sie standen beide an den Mast gelehnt, die Wache spähte angestrengt in die Runde, man segelte mitten im Dampferkurs und konnte leicht einem begegnen, da hatte Henry wieder Zeit zum Denken. Der Mast, den er umfaßt hielt, um nicht auszugleiten, neigte sich knarrend, Carper lehnte mit der Schulter an ihm.

Wieder begann Henry für sich: Wir fuhren durch den großen Wald, er war betrunken, er verhöhnte mich, da packte mich die Wut –«

In die tosende Sturmnacht starrend, wiederholte er sich Wort für Wort die traurige Geschichte. Plötzlich stieg es ihm heiß zu Kopf, trotz der empfindlichen Kälte. – ›Habe ich denn das alles nicht schon jemand erzählt?‹ Er mußte lachen. ›Das erzählt man doch niemand,‹ fuhr er in seinem stummen Gespräche fort, ›weiß Gott, wer ihn findet mit dem vielen Geld, und Bessy soll es nicht verlieren. – Ich wollt ihr's schicken, und so nahm ich es mit. – Ja, heiliger Gott, wo sagt' ich denn das alles schon einmal? Da unten, in der Koje zu mir selbst? Nein, nein, hier auf dem Mars an den Mast gelehnt wie jetzt, – eine Sturzwelle warf bis herauf ihren Gischt, – der andere lehnte sich fest an mich, wie jetzt der Matrose. – In einer solchen Nacht.‹ – Jetzt öffnete sich der Schleier der Vergangenheit. Er fühlte und drückte sein pochendes Hirn.

›Zu wem sagte ich das nur? Und wo? Wo? Doch hier nicht?‹

Der Mast beugte sich tief hinab, klatschend peitschte eine Woge sein Gesicht, dann ging's wieder in die Höhe, – wie ein Blitzstrahl zuckte es auf in ihm: ›Im Mars der – der Columbia!‹

Er schrie das Wort laut, daß sein Gefährte sich erstaunt zu ihm kehrte. –

›Seinem Unglücksgefährten, einem großen, starken Mann, hatte er das alles erzählt. – Weiter, weiter!‹ Wie ein ermatteter Schwimmer das rettende Ziel unverrückt im Auge behält, so steuerte er mit seinen Gedanken immer auf denselben Punkt zu.

Schon hatte er das Bild des Mannes erfaßt, er hörte seine Stimme wie aus weiter Ferne, – »lassen Sie das dumme Zeug, eine Flasche Schnaps wäre jetzt wertvoller.‹ – Wie kam ihm nur das gerade in den Sinn? Was für dummes Zeug soll er lassen? – Er horchte immerfort in den Sturm, – wenn ihn nur der Matrose an seiner Seite nicht störte und den Ideengang zerriß, dann mußte er darauf kommen.

›Sprechen Sie, wenn Sie etwas auf dem Herzen haben,‹ tönte von neuem die fremde Stimme durch den Sturm. Er sprach nochmals die ganze Erzählung vor sich hin, – ›wir fuhren durch den Wald – –‹

›Und ich soll der Bessy Crosby dieses Geld zurückbringen?‹ klang die Stimme klar und deutlich, als er fertig war.

»Und wenn Sie es nicht tun, dann sind Sie der Mitmörder des Crosby,« sagte er laut und fest.

»Was schwätzt du denn da von einem Mörder in solch wüster Nacht?« fragte der Matrose.

Er hörte ihn nicht, starrte immer noch in die Finsternis. ›Dann gab ich ihm das Paket, er nahm es, – dann, – weiß ich nichts mehr.‹

Henry war so ermattet von diesem geistigen Ringen, daß ihn Schwindel erfaßte. Der Schlaf habe ihn übermannt, entschuldigte er sich und ging hinab in die Koje.

Hier prägte er erst die flüchtigen Bilder aus, sie kamen ihm immer klarer, deutlicher zum Bewußtsein, – es war der völlige photographische Prozeß in der Camera obscura.

Also ist Bessy schon im Besitz des Geldes, sie weiß, daß er kein Dieb ist, daß er nur im Zorn getötet, um sich zu verteidigen. Das war für ihn das glücklichste Resultat des Experimentes, d. h., wenn jener Mann nicht selbst auf dem Grund des Meeres lag, oder –? Was oder?

Es gab kein oder! doch halt! Wenn dieser Mensch ein Schurke und – pfui, das war erbärmlich gedacht, ganz eines Mörders würdig. Ein solches Vermächtnis, in solcher Stunde übergeben, einem, der selbst am Rande des Todes stand! Und er erinnerte sich jetzt an das Aussehen seines Unglücksgefährten, eines schönen, kräftigen Mannes mit treuen, blauen Augen, an seine herzlichen Worte, seine Fürsorge für ihn, und der sollte – – –

Hätte er ihm überhaupt so etwas anvertraut, wenn er nicht Zutrauen zu ihm gehabt? Und gerade in solchen Augenblicken sieht man scharf.

Nur zu früh verlassen hatte jener ihn, das war nicht recht, er hätte sich zuerst von seinem wirklichen Tode überzeugen müssen und dann erst sich retten. Wenn er das doch absichtlich getan hätte, des Geldes halber? Maschinist, sagte er, ja, das war er auch, er hatte ihn selbst früher bei der Maschine gesehen. – Leicht gewonnen, mit voller Sicherheit, nicht entdeckt zu werden, ohne Verbrechen!

Ohne Verbrechen? Wäre denn das nicht das gemeinste Verbrechen, das man sich denken kann? – Nein, nein, es ist ja nicht möglich! Schon längst wird jener das Geld abgeliefert haben, natürlich persönlich, das wird er nicht versäumt haben, es mußte ja auch für ihn etwas abfallen dabei, ohne klingenden Dank entläßt man keinen solchen Boten. Die stolze Bessy gewiß nicht, sie ist ihm wirklich zu Dank verpflichtet, – dem schönen Mann mit den treuen, blauen Augen. Er sah ihn hintreten vor sie, das Paket übergeben, – ›einen Gruß von Henry Smidt und er läßt um Verzeihung bitten, er ist tot, der Schurke.‹ – Sie hört auf alles das nicht, sieht nur den Boten, drückt ihm die Hand, lacht und weint vor Freude, – wie soll ich Ihnen danken? – Wie? Das fragen Sie, holde Bessy? Der schöne Mann glüht vor Verlangen und Hoffnung. O, o! Das ist fürchterlich, ich versperre mir den Rückweg für immer und sende einen andern, rüste ihn noch aus mit den kräftigsten Waffen – –

Das war ja eine qualvolle Nacht in der Koje, von teuflischen Blitzen erhellt, die ihr fahles Licht über entsetzliche Scenen warfen.

Des andern Morgens war Henry Smidt fest entschlossen, seiner Umgebung gegenüber von seiner geistigen Genesung nichts merken zu lassen. Er ersparte sich damit alle peinlichen Fragen; er war ja noch immer auf der Flucht als Mörder, das durfte er nicht vergessen, und wurde er verfolgt, war vielleicht seine Einschiffung auf der ›Columbia‹ irgendwie bekannt geworden, so galt er ja am besten für untergegangen mit ihr.

Die Gewißheit, daß Bessy das Geld erhalten habe und er in ihren Augen wenigstens vom schlechten Verdacht befreit sei, wuchs in ihm. Gewiß hatte sich der Mann irgendwie ans Land gerettet; ohne festes Vertrauen auf seine Schwimmkunst und ohne die Gewißheit des nahen Landes hätte er den verhältnismäßig sichern Ort gewiß nicht verlassen. Seiner anderen häßlichen Gedanken schämte sich Smidt selbst, – aber das beunruhigende letzte Bild blieb, die dankerfüllte Bessy vor dem schönen Boten! Die Eifersucht fraß an ihm.

Hundertmal sagte er sich: Und wenn es so wäre, wenn sie ihn aus Dankbarkeit heiratet, was ist dann? Für mich ist sie ja doch verloren. Daß er selbst die indirekte Ursache davon war, das ließ ihm keine Ruhe.

Der Kapitän war ärgerlich, daß ihm der Name des Steamers noch immer nicht einfiel, ja nicht einmal die Gesellschaft, zu welcher das Schiff gehörte; er hätte von derselben die Passage des verunglückten Mannes erhoben und gewiß auch ohne Widerrede erhalten. – Doch gab Smidt die Gesellschaft an, so wußte man auch den Namen des Schiffes, welches in der Zeit verloren gegangen, und das konnte gefährlich werden.

Auf dem Seegericht in Liverpool, wo man nach vierwöchentlicher günstiger Fahrt landete, behielt er sein System unentwegt trotz aller ungläubigen Mienen bei. Man vermutete, daß er Passagier der ›Columbia‹gewesen, deren Untergang bereits gemeldet war, konnte es aber nicht bestimmt behaupten; es waren verschiedene Schiffsunfälle gerade in der fraglichen Zeit vorgekommen. So stand er entblößt von allen Mitteln auf englischem Boden. An sein Fortkommen hatte er während der Fahrt wenig gedacht, diese Frage war vor den andern ihn erfüllenden ganz in den Hintergrund getreten; jetzt drängte sie sich ihm jedoch um so energischer auf. Er war ein gewandter Mensch und nach amerikanischer Sitte nicht verlegen im Ergreifen von irgend einer Tätigkeit. In einer Hafenstadt wie Liverpool interessierte wenigstens der Schiffbrüchige, als den er sich von dem Kapitän dokumentieren ließ. Das nützte er aus und kam im Bureau eines Reeders unter. Er hatte in seiner Jugend gute Bildung genossen, widrige Umstände hatten ihn nach Crosby Ranch verschlagen.

Seine neue Tätigkeit fesselte ihn an den Hafen, seine Gesellschaft war das Schiffsvolk; da spielten die dreitausend Seemeilen zwischen der alten und neuen Welt keine Rolle für ihn, er blieb in stetem Konnex mit drüben, wie mit einem Nachbarlande. Die Folge davon war, daß seine Wunden nicht verheilten, sondern immer wieder aufgerissen wurden, sein Gewissen nicht zur Ruhe kam. Die Ideenverbindung, welche ihm einst im Mastkorb des Seglers zu seinen vollen Verstandskräften wieder verholfen hatte, wurde ihm jetzt gefährlich. Er hörte von dem Untergange der ›Columbia‹, nur ein Boot mit dem Kapitän hatte sich gerettet, von dem Schicksal der übrigen war nichts bekannt, also auch von seinem Gefährten nichts; das war kein Beweis, verursachte ihm aber neue Unruhe.

Kam ihm einer aus dem Westen oder gar aus Illinois unter die Finger, so forschte er vorsichtig nach Nachrichten aus Pèoria, doch nie hörte er ein auf seinen Fall bezügliches Wort. Was galt ein Mord in dem unermeßlichen Land, was waren Crosby und Bessy!

Trotzdem bot diese Umgebung seinen quälerischen Gedanken stets neue Nahrung. Was ist dort geschehen? Wie hat sie seine Botschaft, sein letztes Vermächtnis an sie ausgenommen? Denkt sie erbittert oder versöhnt des Toten, für den sie ihn ja wohl halten muß? Mit jedem absegelnden Schiffe fuhr er selbst in Gedanken hinüber, nur die Angst vor Entdeckung hielt ihn zurück, die Reise in Wirklichkeit zu wagen. Wenigstens zwei Jahre mußte er warten, dann war in diesem schnelllebigen Lande wohl alles vergessen. – Aber schreiben konnte er ja an Bessy, anfragen, ob sie das Geld richtig erhalten, – ja, das könnte er.

Er schrieb unzähligemal und sandte die Briefe nie ab; denn auch das wäre gefährlich gewesen. Henry Smidt galt für tot, das war ja ein ungeheurer Vorteil; wozu ihn wieder in das Leben rufen, die Verfolger von neuem auf seine Fersen locken? Und sie, wird sie schweigen, wenn er sie darum bittet? Wird nicht der Haß gegen den lebenden Mörder wieder in ihr von neuem erwachen, wenn sie dem toten schon verziehen hat? –

Ein Jahr verging, er arbeitete sich tüchtig in sein neues Geschäft hinein und verdiente sein gutes Brot; er war unbedingt jetzt besser daran als auf Crosby Ranch, und doch drängte es ihn hinüber. Es war ein Wahnsinn, er setzte sich auf's neue der Gefahr einer Entdeckung aus, ohne jeglichen Vorteil, aber er konnte nichts dafür; er hatte gehört oder gelesen, es ziehe den Mörder immer wieder zurück zu dem Ort der Tat. Ob es das war? Nein! Er war kein Mörder, für den dieser Satz galt. Er war überhaupt kein Mörder im gewöhnlichen Sinne, er fühlte auch keine besonderen Gewissensbisse in dieser Beziehung, nein, es war etwas ganz anderes, was ihn hinübertrieb. Die Furcht, sein Genosse auf der ›Columbia‹ könne doch ertrunken sein, Bessy das Geld nicht zurückerhalten haben, das war's! Und was half in diesem Falle sein Kommen? Wird sie ihm die abenteuerliche Geschichte glauben? Nein. Ausliefern wird sie ihn. Hatte aber jener Mann seinen Auftrag wirklich erfüllt, was wollte er selbst dann drüben? Ihr Glück mit ansehen, das sie an der Seite eines andern, vielleicht eben jenes Mannes genoß, dem er durch sein Vermächtnis dazu verholfen. – Ja, das war's! Diese grausame, wollüstige Neugierde stachelte ihn immer wieder auf. Er fühlte, daß er eines Tages reisen werde, unbekümmert um das andere.

Ein Vollbart umrahmte jetzt sein Gesicht, er war bedeutend gealtert, man würde ihn schwerlich noch erkennen. Dann könnte er ja von Missouri aus seine Nachforschungen anstellen; die Tat war in Illinois begangen, das genügte bei den verschrobenen, kleinlichen Rechtsverhältnissen völlig zu seiner Sicherheit.

So verging wieder ein zweites Jahr. Es gehörte auch ein Entschluß dazu, auf die erworbene Stellung zu verzichten, die sorgfältig zu diesem Zweck gemachten Ersparnisse reichten noch lange nicht hin. Dabei wuchs der Drang einer schmerzhaften Sehnsucht, von der er selbst nicht wußte, galt sie Bessy oder der Gewißheit über die Erfüllung seines Auftrages durch jenen Unbekannten.

Da, mitten in dieser Stimmung, die ihn so weit führte, daß ihm Bessy selbst, trotz des Blutes, das an seinen Händen klebte, nicht unerreichbar schien, erhielt er von seinem Reeder den Auftrag, eine Warensendung nach Philadelphia, an deren Ausladung sehr viel gelegen war, zu begleiten. Er erschrak vor der plötzlichen Entscheidung, er hätte sich vielleicht noch jahrelang entschlußlos herumgedrückt, nun aber stand sein Entschluß fest, die Gelegenheit nicht unbenutzt zu lassen. Das dritte Jahr seit seiner Flucht war bereits zur Hälfte verstrichen, als er die Reise antrat. Während derselben hatte er Muße, den Plan zu schmieden, nach welchem er vorgehen wollte.

Der Spiegel sagte ihm, daß es schwer sein werde, in Henry Müller den Henry Smidt wieder zu erkennen, die Stunden auf dem Mars der ›Columbia‹ hatten ihn allein um zehn Jahre älter gemacht; doch war Vorsicht nötig.

Unzweifelhaft hatte Bessy alles getan, mit dem wiedergewonnenen Gelde Crosby Ranch zurückzukaufen, also dort mußte er sie suchen.

War sie noch allein, unverheiratet, so war er fest entschlossen, ihr selbst gegenüberzutreten, ihr alles zu erzählen, wie es gekommen; sie mußte ihm Glauben schenken, ihn nicht für einen gemeinen Mörder halten, – sie liebte ihn ja doch einmal, das ließ er sich nicht nehmen, er selbst war schuld an allem Unglück mit seinem wilden Drauflosgehen, er hätte abwarten sollen. War sie aber verheiratet, dann war die Sache gefährlicher. Ihr Gatte hatte keine Rücksicht auf ihn zu nehmen, wenn er nicht gerade der Mann war, dem er sie unbegreiflicherweise am wenigsten gönnte, jener Unbekannte, sein Bote.

Der mußte ihn ja empfangen als seinen Wohltäter, als den Begründer seines Glückes; doch das war sehr unwahrscheinlich, eine Erfindung seiner Phantasie. Hatte sie das Geld aber nicht erhalten, sei es, daß dieser Mann überhaupt nicht mit dem Leben davongekommen, oder – woran er noch immer nicht glauben wollte – mit dem Gelde spurlos verschwunden war, dann war sie auch nicht auf Crosby Ranch, das würde ihr Stolz nimmer zugeben, dann war sie Gott weiß wo, in Not und Elend, eine Dienerin, die stolze Bessy! Dann galt es, um jeden Preis ihre Spur zu finden und, wenn sie gefunden war, für sie zu arbeiten sein ganzes Leben lang. – Es war nichts Festes zu bestimmen, ehe er nicht die Verhältnisse kannte.

Sein Schiff hatte drei Wochen Aufenthalt in Philadelphia. Nach der ersten Woche war seine Anwesenheit dort nicht mehr nötig; er nahm Urlaub, angeblich um Verwandte in New-York zu besuchen, und fuhr mit dem nächsten Zuge nach Davenport-Missouri, zwei Bahnstationen von Pèoria. Diese Stadt schien ihm der günstigste und sicherste Punkt, von dem aus er seine Forschungen anstellen konnte.


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