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Simoni hatte eine gründliche Abneigung gegen die Sozialisten. Ihnen gab er die Schuld, daß der reine republikanische Gedanke nicht in der wünschenswerten Weise sich weiter entwickelte. Wichtige Elemente des Bürgertums hielten sich nur darum zurück, weil sie glaubten, die Unterscheidung hätte keinen praktischen Wert, schließlich werde doch dieser sogenannte reine Republikanismus vom Sozialismus aufgefressen. Wenn das vielleicht in anderen Verhältnissen richtig gedacht war, so war es hierzulande eine falsche Auffassung der Lage. Die große Niederlage, die ja nur von der Dynastie verschuldet worden war, durfte nicht länger das Volk entnerven, wie dieses unter König Arthur jetzt so lange schon der herrschende Zustand war, und sie durfte erst recht nicht zu Revancheabenteuern führen, die dem Kronprinzen Golo zuzutrauen waren. Da Golo noch sehr jung war und reichlich Zeit hatte einen Thronerben zu zeugen, war der Kultus, den liberal-monarchische Kreise mit dem Prinzen Roger trieben, nur eine Spielerei ohne tieferen Wert. Abgesehen davon war ein gewisser Prinzenliberalismus, der überdies unter weiblichem Einfluß stand, etwas sehr Unzuverlässiges, wenn die Dinge je einmal ernst werden sollten. Zu irgendwelchen kriegerischen Tendenzen war das Land nicht mehr stark genug. Sobald aber diese in einem Lande wegfallen, fällt die Notwendigkeit weg, den Autoritätsbegriff übermäßig hoch zu spannen und damit die einzige vernünftige Begründung der Monarchie. Historisierende Empfindeleien romantischer Theaterillusionen haben keinen Wert für die Aufgaben der Gegenwart. Für diese kann auch ein Monarch seiner Erziehung, seinen Überlieferungen nach kein volles Verständnis haben, selbst wenn er sich darum bemüht, und erst recht nicht der ihn umgebende Hofadel, der nur reaktionär wirkt und den König eher hemmend beeinflußt. Solche Aufgaben eines modernen Staatswesens können nur erfüllt werden, wenn die an der Spitze stehenden Männer aus dem Bürgertum und dessen Zeitgefühl herausgewachsen sind. Simoni war es um eine Realisierung des republikanischen Gedankens gerade so ernst, wie gewissen Fanatikern seiner Partei, aber er sah die Stunde noch nicht gekommen, und darum arbeitete er leise mit weitausholenden Vorbereitungen. Die monarchisch Liberalen mußten Vorspanndienste leisten und mit ihnen Prinz Roger. Er gab daher jetzt den Führern dieser Partei, die ihn wegen eines Wahlbündnisses sondierten, zu verstehen, daß er sich auf nichts einlassen könne, wenn er nicht sichere Bürgschaften dafür bekomme, daß man wenigstens für die Wahl den prinzlichen Einfluß ausschalte. Eine solche Bürgschaft konnte die liberal-monarchische Partei kaum übernehmen, denn sie war viel zu abhängig von dem Rogerkultus in ihren Kreisen. Eines mußte dann geschehen. Der Prinz selber mußte mit ihm, dem Demagogen, in Verhandlung treten. Freilich wagte er dabei, daß die Prinzipienreiter der eigenen Partei Verrat witterten, wenn die Sache nicht in das tiefste Geheimnis gehüllt wurde. Da er aber klug genug war zu wissen, daß über allen noch so sorglich vorbereiteten Geheimnissen die Gefahr der Entdeckung schwebt, so wollte er sich wenigstens in der Weise sicher stellen, daß der Vorschlag einer solchen Beziehung von der anderen Partei ausgehen mußte. Einem Rechtsanwalt konnte es nicht schwer werden, die Dinge so zu schieben.
»Das ist ganz ausgeschlossen,« sagte Prinz Roger, als ein bei ihm besonders in Gunst stehender Liberaler vorsichtig eine solche Begegnung mit Simoni andeutete. So von oben herab, eisig kühl zurückweisend klang das, daß der Gegenstand wohl nicht mehr weiter berührt werden konnte. Aber man kannte ja Prinz Roger. Sprach ihn seine Gemahlin in derselben Angelegenheit an, dann bekam die Sache ein anderes Gesicht. Clara Eugenie sah darin ein politisches Manöver, bei dem es sich nach ihrer Ansicht darum handelte, die Eitelkeit des jüdischen Rechtsanwalts, der ihr auch nicht gerade sympathisch war, zu überlisten.
»Der Händedruck eines Prinzen verfehlt nie seine Wirkung,« meinte sie. »Diese Leute sind nur aus der Entfernung unsere Feinde.«
Der Prinz antwortete:
»Ein königlicher Prinz darf sich nicht so weit in das Parteileben einlassen. Das bekommt bei mir ein ganz anderes Gesicht, mir würde kein Mensch glauben, daß ich nur Wahlziele im Auge habe. Auch der ganze äußere Apparat gäbe der Sache den Anstrich einer Verschwörung.«
Clara Eugenie zögerte ein wenig, dann stieß sie entschlossen hervor:
»Und wenn es Verschwörung wäre? Wer schon vor einem Wortklang erschrickt, der mag Briefmarken sammeln, den Ehrenpräsidenten eines Hundezüchtervereins spielen, aber er muß sich still zu Hause halten, wenn es um ernste Dinge geht. Warum mischt du dich denn überhaupt in die Politik? Aus Begeisterung für liberale Ideen? Für Unsereinen gibt es doch nur zwei Gedanken: Herrschen, oder demütig entsagen. Und wenn wir uns in der Politik vorwagen, so ist ein Ziel dabei, oder es ist auch nur Prinzendilettantismus, den man gelegentlich mißbraucht, aber nie ernst nimmt. Hörst du wohl: nie ernst nimmt.«
»Ich wünsche in der Zukunft sogar sehr ernst genommen zu werden,« antwortete der Prinz.
»Es wird da sehr zweckmäßig sein, daß Prinzen des königlichen Hauses sich mehr mit der Landespolitik befassen, als es gewöhnlich geschieht. Prinzen sind ja politisch rechtlos,« sagte Clara Eugenie darauf mit einem Klang von Bitterkeit. »Du kannst nicht offen in den Kampf treten, bleibst immer nur Intrigant, Verschwörer. Das ist Prinzenlos.«
»Wenn du recht hättest, wäre es umso unklarer, was ich mit dem Juden soll.«
»Du sollst ihn kennen lernen, ihm die Hand drücken, damit du später einmal ernst genommen wirst. Es ist der erste Schritt dazu.«
Der Prinz sah seine Gattin scharf an und sagte langsam, mit Nachdruck:
»Der erste Schritt zum Hochverrat.«
Sie zuckte die Achseln und versetzte:
»Der Ausgang ist es immer, der den Ereignissen den Namen gibt.«
Dann näherte sie sich ihm liebkosend und sagte:
»Dieser Kopf würde sich gut machen auf den Goldstücken.« –
Daß an dem stattlichen Hause des Antiquitätenhändlers Isidor Moissi eine Hofequipage hielt, war keine auffallende Erscheinung. Hinter dem Hause lag ein ummauerter Garten, von dem ein schmales Pförtchen in eine schmale, ganz von solchen Gartenmauern gebildete Gasse führte, die im Laufe des Tages wohl mehr von Hunden und Katzen, als von Menschen betreten wurde. Von dort aus hatte Rechtsanwalt Simoni das Moissische Haus eine halbe Stunde vor Ankunft des Prinzen Roger betreten und ihn dann in einem aus Gobelins, geschnitzten, mit Brokatseide belegten Möbeln, bunten Fenstern, Figuren und Vasen des französischen Renaissancestiles zusammengestellten Prunkraum, der etwas muffig roch, erwartet mit dem alten Moissi, der nach der Vorstellung sich zurückzog. Als sie allein waren, winkte der Prinz Simoni sich zu setzen und sagte in einem leisen kühlen Ton:
»Es interessiert mich, Sie kennen zu lernen, Herr Rechtsanwalt. Sie sind ja eine markante Persönlichkeit unseres öffentlichen Lebens.«
Simoni verneigte sich stumm, und der Prinz fuhr fort:
»Ich halte es jedenfalls für achtungswert, wenn sich jemand selbstlos den öffentlichen Interessen widmet, nicht bloß seine Privatvorteile verfolgt und die Verdrießlichkeiten des Meinungskampfes auf sich nimmt. Sie riskieren noch Verdrießlichkeiten besonderer Art. Sind Sie eigentlich schon einmal mit der Staatsgewalt in Konflikt gekommen?«
Der Prinz lächelte, und lächelnd antwortete Simoni:
»Ich bin noch unbestraft, königliche Hoheit.«
»Na, da läßt's sich unter unserer Sonne doch schon ziemlich frei leben,« sagte der Prinz scherzend. »Vor hundert Jahren war das noch anders. Sie müssen also zugeben, daß auch unter der Monarchie Fortschritt und Aufklärung möglich sind.«
»Aber doch nicht ohne gewisse Vorbilder und ohne die Triebkraft gewisser Ideale,« warf Simoni ein.
»Und Sie glauben nicht, daß die Intelligenz der Monarchie auch ohne dem an der allgemeinen Aufklärung teilgenommen hätte?«
»Die Geschichte liefert dafür gerade keine Beweise.«
»Gewaltsamkeit hat eben wieder Gewalt erzeugt. Die Zügellosigkeit schuf die Reaktion, was mir immer sehr erklärlich war, wenn ich es auch nicht billigen will, und, was auch früher gefehlt worden sein mag, das werden Sie wohl zugestehen müssen, daß heute im Verfassungsstaat dem Liberalismus ausreichender Spielraum gegeben ist. Man sagt von der Monarchie, sie sei ein historisches Überbleibsel, mir aber kommt die Republik vor, wie eine Ausgrabung. Ich denke dabei immer an meine Unterrichtsstunden im Lateinischen und Griechischen. Das mag vielleicht ein Erziehungsfehler sein. Welchen Vorteil soll die Republik vor einer wirklich liberalen Monarchie haben? Ich wäre dankbar für eine Aufklärung.«
»Eine wirklich liberale Monarchie ist entweder etwas Unmögliches,« antwortete Simoni, »oder aber etwas Überflüssiges.«
»Ja,« meinte der Prinz, »überflüssig, wenn man den Wert leugnet, den eine fortlaufende Tradition, wie sie eine Dynastie darstellt, für die Vaterlandsliebe hat.«
»Königliche Hoheit, ich bin nach keiner Richtung Romantiker, und moderne Staatsideen können sich nicht auf romantischen Grundlagen entwickeln,« antwortete Simoni. »Wir Republikaner sind nüchterne Politiker.«
»Na, na!« rief der Prinz lächelnd aus. »Auf Maskerade und Komödie habt ihr euch auch immer ganz gut verstanden. Wir arbeiten mehr mit der Pose, ihr mehr mit der Deklamation. In beiden Fällen soll das Volk was zu gaffen haben. Halten wir aber den Blick auf die Tatsachen gerichtet, auf die Dinge, die zu tun sind, dann habe ich vorläufig noch nichts entdecken können, was nicht eine Monarchie so gut wie eine Republik schaffen, also was nicht gemeinsam von liberalen Monarchisten und Republikanern geleistet werden könnte.«
»Ich verstehe, königliche Hoheit wollen das Gebiet abstrakter Politik verlassen und zur Tagesordnung übergehen,« bemerkte Simoni mit leichter Ironie.
Der Prinz fuhr einigermaßen zeremoniös fort:
»Ich betone ausdrücklich, daß ich hier keine Unterhändlerrolle zu spielen die Absicht habe. Wenn diese Zusammenkunft, die man von mir erwünscht hat, einen Sinn haben soll, so kann das nicht der sein, daß wir uns über die beste Staatsform unterhalten. Um die Berührung aktueller Fragen dürfte es sich vielmehr vor allem handeln, und da bin ich allerdings gern bereit, Ihnen die Erklärung abzugeben, daß ich keinen Anstoß an einem Wahlbündnis zwischen den mir nahestehenden politischen Kreisen und Ihrer Partei nehmen würde, daß also Bedenken, die sich etwa an meinen persönlichen Einfluß knüpfen könnten, grundlos sind.«
Simoni verneigte sich leicht und sagte:
»Ihre Erklärung, königliche Hoheit, weiß ich nach dem hohen Werte, den sie in der Tat besitzt, zu schätzen, aber dieser Wert würde noch ein ganz anderer sein, wenn diesen Zusammenkünften nicht der Zwang strengsten Geheimnisses auferlegt wäre. So wird es mir kaum möglich, daraus den praktischen Nutzen zu ziehen, auf den es ankommt, das heißt, das Mißtrauen meiner Genossen gegen den prinzlichen Einfluß auf die Partei, mit der wir uns verbinden sollen, zu beseitigen.«
»An der Bedingung der strengsten Diskretion muß ich allerdings festhalten,« sagte der Prinz und wurde nachdenklich. Nach einer kleinen Weile fuhr er fort:
»Die Bedingung bezieht sich auf die Tatsache unserer persönlichen Zusammenkunft. Wenn Sie einen Weg finden, davon abgesehen meine Anschauung über das Wahlbündnis kundzugeben, hindere ich Sie nicht. Wohlgemerkt von einem vorübergehenden Wahlbündnis war die Rede, von nichts anderem.«
»Da sind wir allerdings um einen erheblichen Schritt weiter,« sagte Simoni. »Daß königliche Hoheit unser Gesinnungsgenosse geworden sind, würde mir ja doch niemand glauben,« fügte er scherzend hinzu.
»Ich sehe eben keinen anderen Weg zu den dringenden nötigen Reformen zu kommen,« sagte der Prinz, als wolle er sich besonders rechtfertigen, und lebhaft fuhr er fort:
»Glauben Sie aber ja nicht, daß ich mir in der Rolle eines frondierenden Prinzen gefalle. Das ist durchaus nicht der Fall. Mir nur nichts unterschieben! Da könnte ich böse werden!«
Simoni machte eine lebhaft abwehrende Gebärde. Dabei hatte er den Gedanken, daß auch ein ganz kluger Prinz sehr naiv sein kann, wenn er unter die Leute kommt.
»Haben wir uns also verstanden, Herr Rechtsanwalt?« sagte der Prinz und machte Miene sich zu erheben.
»Vollkommen, königliche Hoheit!« lautete die von einer Verneigung begleitete Antwort.
Beide Herren erhoben sich, der Prinz streckte Simoni die Hand entgegen und sagte:
»Leben Sie wohl, Herr Rechtsanwalt. Vielleicht sehen wir uns noch einmal wieder.«
Da der Prinz stehen blieb, merkte Simoni, daß er entlassen sei und sich zu entfernen habe. Er benachrichtigte noch den Hausherrn, damit er dem Prinzen die Ehren erweise und zog sich auf demselben Wege zurück, den er gekommen war.
Was da drüben bei den liberalen Monarchisten sich öffentlich an der Spitze zeigte, das war gerade nicht allzu Bedeutendes. Hatte man nun den Prinzen als heimlichen Führer aufzufassen, und wie war er als solcher einzuschätzen? Diese Leute sind nicht leicht zu fassen, sie geben sich nicht ganz aus, wenn sie mit gewöhnlichen Sterblichen reden, und das war noch ein besonders gearteter Fall. Man machte vielleicht eine große Dummheit, wenn man einen solchen Prinzen unterschätzte und nur als Dilettanten nahm. Das war doch gar nicht ungeschickt gewesen, wie er so freimütig auf die Situation einging. Dann freilich packte ihn die Zaghaftigkeit des Mannes, der sich nicht kompromittieren darf. Die wird ihm schließlich auch das Spiel verderben. Und eben darum kann man es wagen, sich mit ihm auf die Frage einzulassen, wer am Ende den Gewinn einstreichen wird. Simoni entdeckte einen ganz neuen Reiz in dem politischen Geschäfte. Er arbeitete jetzt im unmittelbaren Intrigenspiel mit dem Königshause selber. Nur ein Wahlbündnis sollte es sein? Das wird sich finden. Einen Prinzen, den man gefangen hat, läßt man so schnell nicht wieder aus. So weit taxiert auch ein Republikaner die Romantik dynastischer Tradition.
Was auch an der Verwaltung des Landes zu tadeln sein mochte, die Polizei funktionierte wenigstens auf dem Gebiete des Spitzeldienstes sehr gut. Der Minister des Innern war bald unterrichtet von der heimlichen Zusammenkunft des Prinzen Roger mit dem Führer der republikanischen Partei. Das war, wie sich der Herr Minister ausdrückte, eine starke Sache, die in den Ministerialbureaus heftige Aufregung verursachte. Der junge Assessor Graf Coriolani, der dem Minister die Dienste eines Geheimsekretärs leistete, bekam zu hören:
»Da haben Sie es mit Ihrer Begeisterung für den Prinzen. Wenn Sie noch als loyaler Staatsbürger angesehen sein wollen, dann müssen Sie jetzt Ihren Glauben ändern. Oder haben Sie eine besondere Erklärung für diese geheimnisvolle Zusammenkunft? Auf die wäre ich sehr begierig.«
»Der Inhalt der Unterredung ist ja unbekannt,« wendete Leander Coriolani ein. »Ich möchte glauben, es wird sich um die bevorstehenden Wahlen gehandelt haben. Freilich finde ich auch den Schritt des Prinzen bedenklich.«
»Der Wahlen wegen gibt kein königlicher Prinz einem Herrn Simoni eine Zusammenkunft! Das glauben Sie ja selber nicht ernstlich. Und wenn es so wäre, was hielten Sie dann von einem Prinzen, der mit den Republikanern paktiert? Das allein bedeutet ja schon eine völlige Demoralisation der Politik.«
»Ich habe bereits meinem Bedenken Ausdruck gegeben,« bemerkte Leander Coriolani bescheiden.
»Wir müssen uns ja nach der persönlichen Seite ganz still verhalten und nur wachsam auf dem Beobachterposten stehen,« sagte der Minister. »Aber eine liberal-radikale Verbindung bei den Wahlen brauche ich mir doch nicht kurzweg gefallen zu lassen. Da möchte ich doch so ein bißchen in die Suppe spucken. Bestellen Sie mir einmal auf morgen elf Uhr den Gallo.«
Doktor Gallo war der hervorragendste journalistische Vertrauensmann der Regierung, dem in allen Ministerien die Türen weit offen standen und der für die Verarbeitung der verschiedensten Pläne und Absichten der Regierung, für die man in der Öffentlichkeit Stimmung machen wollte, herangezogen wurde. Leander Coriolani ging in nachdenklicher Stimmung nach Hause. Prinz Roger war ihm bisher als ein Fürstenideal erschienen, und mit der intelligenten Jugend der höheren Stände hatte er nicht bloß mit dem ziemlich unfruchtbaren Gedanken gespielt, daß dieser König werden möchte, sondern vor allem daran gedacht, daß er in kommenden schlimmen Zeiten mit Mannesstolz vor seinem königlichen Bruder die Rechte des Volkes vertreten und dadurch den Gegensatz zwischen Fürst und Volk überbrücken und den Bruch mit der Dynastie verhindern würde. Von der jüdischen Republik des Herrn Simoni wollte man in diesen Kreisen gar nichts wissen. Nun ließ sich dieser ritterliche Prinz selbst zu einem Simoni herab, zu einem Zweck, der, wie man sann und wie man's drehte, nie und nimmer ein guter sein konnte. Demoralisierung der Politik hatte es der Minister mit Recht genannt. Wie es fallen mochte, was die geheime Absicht war, Verwirrung mußte angestiftet werden, die politisch unreife Mehrheit mußte irre gemacht werden. Wär's nicht Geheimnis, würde es bekannt in den Kreisen von Rogers Anhängern, sie würden sich rasch und erheblich mindern. Im weiteren Grübeln kam er darauf, daß solche Prinzen, mochten sie auch sehr klug sein, doch immer an Weltfremdheit krankten, weil sie über die Hofkreise nicht hinauszusehen vermögen. Da war es recht wohl möglich, daß man Prinz Roger etwas vorgespiegelt hatte, was eine solche Zusammenkunft mit Simoni als ein edles Werk der Volksfreundschaft erscheinen ließ.
Als am anderen Morgen der Minister kurz vor elf Uhr die Amtsräume betrat, fragte er sofort Assessor Coriolani:
»Haben Sie Gallo bestellt?«
Leander Coriolani bejahte und fügte hinzu:
»Ohne mit den Anweisungen, die Exzellenz Doktor Gallo zu erteilen gedenken, kollidieren zu wollen, habe ich einen Versuch gemacht, wie nach meiner bescheidenen Meinung die Angelegenheit in der Presse behandelt werden könnte.«
Er überreichte dem Minister einige Manuskriptblätter.
»Ei, ei, Sie wollen doch nicht etwa Journalist werden, Graf?« sagte der Minister freundlich und nahm das Schriftstück entgegen.
Im selben Augenblick meldete der Diener den Doktor Gallo.
»Bitte den Herrn Doktor, ein paar Minuten zu warten,« lautete der Bescheid des Ministers, der sich sofort an die Lektüre des Schriftstückes machte.
»Nehmen Sie sich doch einen Stuhl, Graf,« warf er dazwischen hin. Dann nickte er mehrmals beifällig mit dem Kopf, und schließlich sagte er:
»Ganz ausgezeichnet, Graf Coriolani, wirklich ganz ausgezeichnet. Sie haben Talent, augenscheinlich Talent, und es steckt noch Frische, Wärme darin, nicht das bloße Handwerk wie bei diesem Gallo! Sie können uns damit bedeutende Dienste leisten. Das soll auch gleich in die Wege geleitet werden. Ich werde Gallo sagen, er müsse auch Artikel zu den Wahlen, die bei uns verfaßt werden, in der Presse unterbringen, nicht bloß seine eigenen Elaborate. Sind Sie damit einverstanden?«
»Ich werde mich bemühen, den gütigen Intentionen Eurer Exzellenz zu entsprechen,« antwortete der junge Coriolani und entfernte sich.
Als in der nächsten Zeit die Wahlagitation immer intensiver wurde, erregten einige Artikel des offiziösen ›Landesboten‹, der sonst wegen der Langeweile seines Inhalts bespöttelt wurde, erst in engeren Kreisen Aufsehen, und sehr schnell wurde auch ein weiteres Publikum darauf aufmerksam gemacht. Sie beschäftigten sich fast ausschließlich mit der liberal-monarchischen Partei und deren Stellung zwischen den Konservativen und Radikalen, die von ausschlaggebender Bedeutung werden konnte, und warnten davor, durch einseitige Betonung des Liberalismus die monarchische Gesinnung in den Gemütern der Wähler zu schwächen. Dabei klangen Anspielungen durch, die vor allem den Gegenstand der öffentlichen Aufmerksamkeit bildeten. Das führende radikale Organ mischte sich mit besonderem Eifer ein und ließ es auch nicht an solchen Anspielungen fehlen. Man wußte bald allenthalben, daß es Prinz Rogers Einfluß war, um den man auf beiden Seiten rang, und diese persönliche Zuspitzung der Dinge, die durch die durchsichtigen Verschleierungen noch pikanter gemacht wurden, kitzelte auch die politisch Trägen und führte sie zur Teilnahme an den regen Diskussionen, die man in den Salons gerade so hören konnte, wie in den Klubs und Wirtsstuben. Wer war der Verfasser dieser Artikel des Landesboten? So fragte man überall. Daß das nicht Gallo, der trockne Geselle, sein konnte, war von den journalistischen Fachleuten im ersten Augenblick festgestellt worden. Aber aus den Artikeln klang überhaupt etwas heraus, was so gar nicht mit berufsmäßiger Journalistik zusammenhing. Bestimmte Wendungen feiner Ironie ließen mit Sicherheit erkennen, daß der Verfasser höheren Kreisen angehörte, und die Frische, die gelegentliche Überschwenglichkeit deuteten auf einen jungen Mann.
Auch in den gemischten Kreisen, in denen Carlo Coriolani verkehrte und wo sich jetzt Rechtsanwalt Simoni ziemlich häufig, wenn auch nur auf kurze Stündchen, sehen ließ, war natürlich von diesen Dingen viel die Rede. Carlo Coriolani ging zu Simonis großem Interesse sehr temperamentvoll aus sich heraus und griff jene Artikel des Landesboten heftig an, als hinterlistige Fallstricke der Reaktion, die dazu dienen sollten, den Prinzen Roger lahm zu legen, ihm die vorschriftsmäßige Neutralität, an die er sich nicht kehre, aufzuzwingen. Er kam mit diesen Meinungen sehr häufig in die Lage, Simoni wertvolle Sekundantendienste zu leisten, so daß dieser sich dem jungen Grafen ganz vertraulich näherte mit Anweisungen, wie er unter jungen Leuten für die liberale Sache Stimmung machen könnte. Waren diese auch zum großen Teil noch nicht wahlberechtigt, so konnten sie doch in das öffentliche Leben der Großstadt eine geistige Strömung bringen, die einen wertvollen Antrieb für die Älteren zu schaffen geeignet war. Auf einmal zeigte der Graf seinen überraschten Freunden ein ganz anderes Gesicht. Er wollte von dem ganzen Wahlrummel nichts mehr wissen, man sollte nicht gar so viel Aufhebens von diesem Prinzen Roger machen, man gerate dadurch nur in eine andere Färbung der Servilität, die königlichen Prinzen hätten sich überhaupt nicht in die Wahlen einzumischen. Mürrisch, in kurz hingeworfenen Bemerkungen kam das heraus, und im übrigen saß er stumm da und überließ es den anderen, sich politisch zu ereifern. Simoni meinte aber nach kurzer Beobachtung:
»Auch da steckt wieder einmal ein Weib dahinter.«
Leander Coriolani hatte wiederholt die anmutige Labana, mit der er einen so schönen Abend verlebt hatte, auf der Straße begrüßt und sie eine Strecke weit plaudernd begleitet, bis er endlich den Entschluß wagte, mit der Zusendung eines wertvollen Armbandes ihr näher zu treten. Das Armband kam an den freigebigen Spender zurück mit der trockenen Bemerkung: ›Irrtümlich an mich adressierte Sendung folgt anbei zurück.‹
Jetzt mußte natürlich eine Entschuldigungsvisite gemacht werden, und diese führte zu einem allerliebsten kameradschaftlichen Verhältnis der beiden jungen Leute.
Auf einmal zog sich die Liebliche unter verschiedenen, sehr durchsichtigen Vorwänden davon zurück. Der unglückliche Verehrer wendete sich um Rat an die Ocorni, die häufig bei den Zusammenkünften als Vertraute zugegen war. Er fand ein Achselzucken, einige Worte der Beschwichtigung und endlich die Aufklärung, daß, wenn die Tugend einer Schauspielerin auch gegen einen Grafen stand halte, sie dem Ansturme eines königlichen Prinzen doch nicht lange Widerstand leisten könne. Die Labana war die Geliebte des Prinzen Adolar geworden. Als des Grafen erste Erregung erschöpft war, sagte die Ocorni:
»Was haben Sie denn eigentlich mit dem Armband gemacht, das die Kleine damals abgelehnt hat? Ich wollte schon lange danach fragen, habe aber keine Mißverständnisse verursachen wollen.«
»Das liegt noch bei mir in irgend einem Schubfach,« lautete die mürrische Antwort.
»Schenken Sie's mir!« sagte darauf die Ocorni ganz trocken.
»Meinetwegen! Ich werde es Ihnen sofort schicken,« lautete die Antwort.
»Bah, wie unartig!« entgegnete jetzt die Schauspielerin. »So macht man einer Dame doch keine Geschenke. Da verzichte ich lieber darauf.«
»Dann bringe ich es Ihnen,« sagte Coriolani darauf.
Die Ocorni erwies sich sehr dankbar für das wertvolle Geschenk. Aber die pretiöse Schamlosigkeit der reifen Schönheit gab ihm nur die betäubende Ekstase einer wollüstigen Nacht, nach deren Wiederholung er gar keine Sehnsucht empfand, denn viel stärker als die Rückerinnerung an die durch ein Armband erkauften Freuden im Bette der Ocorni bohrte sich in sein Gehirn der Zorn gegen den prinzlichen Mädchenräuber, der da wohl glaubte, ein Königssohn habe das Recht, die Hauptstadt als einen Jagdpark anzusehen, in dem jedes Weib ein Wild ist, auf das er pürschen kann. Zu nichts anderem taugen diese nachgeborenen Prinzen, als zu solcher Weiberjagd. Das können sie auch, das ist ihr wahrer Beruf.