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In den nächsten Tagen fanden die Wahlen statt Das ganze Land war von den Erregungen des Parteikampfes aufgewühlt, und vor allem in der Hauptstadt war allabendlich jeder größere Saal von Versammlungen gefüllt, in denen die Parteiführer mit einem nervösen Eifer den Kriegszustand schürten, in dem sich die ganze Bürgerschaft befand. In allen Kreisen war man sich der Wichtigkeit dieser Wahlen, die für fünf Jahre den Charakter der Regierungsführung bestimmten, bewußt.
Abgesehen von den einschneidenden Fragen, die zur Entscheidung gebracht werden sollten, ersehnte man im stillen einen Thronwechsel, und die Gestalt des verhaßten Kronprinzen Golo stand im Hintergrund. Man wußte auch, daß er sich bereits auf der Heimkehr befand und diese nur verlangsamt wurde, damit er erst nach den Wahlen eintreffe. Das war noch ein weiterer Stachel. Man wollte ihn offenbar etwaigen Demonstrationen der durch den Wahllärm aufgeregten, in den Gassen sich ansammelnden Volksmengen entziehen. So sollte er eine vollendete Tatsache finden, mit der das Volk ihn begrüßte.
Die Sozialisten richteten weitere Angriffe gegen die Bourgeoisrepublikaner und ihren verräterischen Führer Simoni, der sie dem schlauen Maskenspiele eines Prinzen ausgeliefert habe, und folgerten daraus, daß ein Bourgeois eben nie ein rechter Freiheitsmann sein könne. Simoni antwortete darauf, daß die Zeit dazu dränge, praktische Politik zu treiben und den Liberalismus vorerst zu einigen gegen die Reaktion, dabei stellte er seine gelegentlichen Beziehungen zu einem königlichen Prinzen als Privatsache dar. Da dieser keine Stellung im Wahlkampfe einnehme, sei es feige ihn anzugreifen. Auf seinen Agitationsreisen in der Provinz hatte er sich freilich deutlicher ausgesprochen, daß man sogar in der nächsten Nähe des Thrones das Heil der Zukunft nur noch in den liberalen Ideen erkenne. Was die republikanische Staatsform angehe, so eigne er sich das zu anderem Zweck gebrauchte Wort Gambettas an, man solle nicht davon sprechen, aber immer daran denken.
In einer der sozialistischen Versammlungen hatte sich während der Diskussion ein ärmlich gekleideter Mann mit bleichem Gesicht und langem Haar erhoben und mit dünner, schriller Stimme verkündet, auch Sozialismus sei Mumpitz, denn auch er enthalte die Voraussetzung der Tyrannei der Führer, und es sei ganz einerlei, ob man von einem König oder von einigen gewählten Oberhäuptern geknechtet werde. Die Freiheit des Individuums, auf die es allein ankomme, könne nur durch die Anarchie erreicht werden. Der Redner wurde mit Gewalt zum Schweigen gebracht und unter nicht wenigen Püffen an die Luft gesetzt.
Darüber berichtete der Polizeipräsident dem König unter anderen Vorgängen im hauptstädtischen Leben, wie er es allwöchentlich zu tun pflegte. Er fügte noch bei, es handele sich um einen Literaten namens Damanio. Man habe ihn in Haft genommen, es sei aber dem Manne nicht viel zu machen, da er schon als nicht normal bekannt sei.
Der König unterbrach ihn und sagte:
»Nicht normal, höchst klug finde ich den Menschen. Er hat ganz recht. Wenn schon – denn schon. Gar keine Obrigkeit, das ist ein Standpunkt. Die Könige abschaffen und sich statt ihrer von Philistern im Bratenrock schulmeistern lassen, ist abgeschmackt. Das ist ja das Ganze bei diesem Republikanismus, die Philister möchten auch einmal kommandieren. Die Könige, sagt man, wollen die Wahrheit nicht hören. Die anderen Leute auch nicht. Darum hat der arme Schelm Prügel bekommen.«
»Es handelte sich um eine sozialistische Versammlung, Majestät,« bemerkte der Polizeipräsident. »Sozialismus und Anarchismus sind zwei verschiedene Spielarten des modernen Radikalismus, die sich sehr scharf befehden.«
»Weiß schon, weiß schon! Ich wäre aber lieber Anarchist. Ich bin eben viel moderner als man glaubt. Ich halte auch eine Dynamitbombe für viel zweckmäßiger als den großen Apparat einer Revolution. Die ist ja freilich stilvoller, poetischer, aber zeitgemäßer ist die tückische Niederträchtigkeit. Fahren Sie fort. Auch ein König braucht Humor zu seinem Geschäft.«
Der Polizeipräsident berichtete jetzt von einer anderen Wahlversammlung der konservativen Partei. Der Hauptredner, ein Parlamentarier, hatte in recht matten Wendungen das bekannte Parteiprogramm erörtert, und die meist älteren Zuhörer waren durch die Wiederholung oft gehörter Phrasen nicht in wärmere Stimmung gebracht worden, so daß der Verlauf sehr flau zu werden drohte. Nachdem noch zwei andere ältere Redner nicht mehr Leben in die Sache zu bringen vermocht hatten, meldete sich der Ministerialassessor Graf Coriolani zum Wort und hielt nun, wie der Polizeipräsident berichtete, eine glänzende und eindringlich mahnende Rede, keine Zeit mit Erwägungen über diese und jene Einzelheiten des Parteiprogramms zu verlieren, sondern einzig und allein in einem dringlichen Appell an die Nation für die legitime Thronfolge und für den inneren Frieden einzutreten, die beide in Gefahr stünden. Er habe das Lager der Monarchisch-Liberalen verlassen, weil nur noch die konservative Partei die genügenden Bürgschaften für die Wahrung der Verfassung böte. Die Rede des jungen Beamten wirkte erst ganz verblüffend, dann aber erfolgte eine begeisterte Kundgebung.
»Ein Sohn Coriolanis. Das freut mich, freut mich sehr,« sagte der König vor sich hin und wurde dann sehr nachdenklich.
Das erzählte er noch am selben Tage seiner Freundin und fügte bei:
»Den jungen Mann muß Golo sich wohl merken. Ich kann ihm nicht mehr viel bieten.«
Die Gräfin Zerpa wollte schmeichelnd des Königs dunkle Gedanken abwehren. Dieser aber fuhr fort:
»Es ist nicht recht von Roger. So darf man nicht anfangen, wenn man es besser machen will. Ich aber kann nicht einmal ruhig sterben. Eigentlich müßte ich jetzt, während der eine Sohn heimkehrt, den anderen in die Verbannung schicken. Es ist doch gar nichts so Schönes, König zu sein. Die Leute glauben auch heutzutage daran nicht mehr. Solche Schwärmer, wie dieser Coriolani, gibt's nicht mehr viele. Freilich, der Adel muß zum König halten, will er selber noch am Leben bleiben. Aber die vielen, vielen andern möchten das Geld sparen, das so ein König kostet.«
Als die Gräfin sich weiter bemühte, ihn aus dieser Stimmung zu bringen, sagte er schließlich:
»Eigentlich ist es allerdings notwendig, daß ich noch ein bißchen am Leben bleibe. Ich habe noch Bedeutung als Hemmschuh kommender Dinge.«
Die Wahlen vollzogen sich im ganzen Lande unter großer Beteiligung und mit dem höchsten Aufwand aller Lockmittel, die Wählermassen einzufangen. Am Spätabend drängten sich die Menschen in den Straßen, namentlich vor den Gebäuden der Zeitungen, um das Ergebnis zu erfahren. In der Hauptstadt bedeutete dieses einen entschiedenen Sieg der monarchisch-liberalen und republikanischen Parteivereinigung, und auch aus der Provinz kamen überwiegend günstige Nachrichten für diese. Die Sozialisten schnitten mit mehreren Siegen so gut ab, daß sie ihren Bestand im Parlamente zu vermehren in der Lage waren. Die Konservativen waren die Geschlagenen und mit ihnen die Regierung. Als diese Nachrichten den Weg durch die Massen gefunden hatten, bildete sich ein Zug von Tausenden, der unter dem Gesang der Nationalhymne den Weg zum Palast des Prinzen Roger einschlug. Aber die Polizei hatte in Verbindung mit der Militärbehörde Vorsichtsmaßregeln ergriffen, und ehe der Zug das Palais erreichen konnte, war er schon von seinem Ziele abgeschnitten und konnte ohne sonderliche Schwierigkeiten zerstreut werden.
Der Minister des Innern weilte beim König im Schloß und meldete diesem von Zeit zu Zeit die an ihn gelangten telephonischen Nachrichten. Er hörte diese Meldungen anscheinend ganz apathisch an. Als er aber von dem Marsche gegen Prinz Rogers Palast hörte, da fuhr er in die Höhe und schrie wild auf:
»Militär vor, schonungslos auseinanderjagen, schießen, wenn nicht sofort gehorcht wird.«
Der Minister hatte einige Mühe ihn dahin zu beruhigen, daß alles Nötige im Gange sei.
»Aber das Palais des Prinzen bleibt die Nacht hindurch militärisch bewacht,« befahl er dann.
In der selben Nacht fand noch ein Ministerrat statt, in dem das Demissionsgesuch sämtlicher Minister vorbereitet wurde, das dem König andern Morgens überreicht und von ihm unter der Bedingung angenommen wurde, daß die Minister ihre Posten noch wenige Tage beibehalten sollten, da er sich vor Bildung eines neuen Ministeriums mit dem heimkehrenden Kronprinzen beraten wolle.
Diese Nachricht fiel als bitterer Tropfen in den überschäumenden Siegesjubel der Liberalen, den wenige Stunden darauf die weitere Mitteilung noch empfindlicher trübte, daß es zwischen dem König und Prinz Roger zu einem heftigen Konflikt gekommen und der Prinz völlig in Ungnade gefallen sei. Das ließ die Möglichkeit des baldigen Eintritts einer Situation erkennen, die man erst für später befürchtet hatte. Ganz bestürzt wurde dadurch Simoni, dessen Taktik sich infolgedessen zu einem schweren Mißgriff zu gestalten drohte. Freilich hatten die Republikaner mehrere Sitze gewonnen, aber, wenn sich die Lage jetzt schon so sehr zuspitzte, dann war die Unzufriedenheit noch nicht so weit gediehen, daß man auf jene Förderung der Revolutionsidee in den monarchisch-liberalen Kreisen rechnen konnte, die für seine Taktik den Beweggrund gegeben hatte. Dem alten König trat man nicht zu nahe, wenn er sich auch noch auf einmal zum reaktionären Tyrannen entwickeln sollte. Und zu dergleichen war der äußerlich ganz apathisch scheinende, vor sich hinbrütende König entschlossen. Die Wahlen hatten ihm die Erkenntnis aufgezwungen, daß er selbst noch im dynastischen Sinne Ordnung schaffen mußte und nicht Golo dem Haß des Volkes und dem Verrate des eigenen Bruders allein überlassen durfte. Freilich mußte er im Sinne der Verfassung jetzt mit einem liberalen Ministerium regieren, aber Golo würde ihm schon helfen damit fertig zu werden. Voll Zorn war er darüber, daß sie jetzt schon mit seinem Tode rechneten und ihm ihre Vorbereitungen darauf zeigten, so daß etwas in seinem Blute aufstieg, wie ein bisher verborgen gebliebener, von den ältesten Ahnen her ererbter Stoff, ein tückisches Grausamkeitsgelüste. Und was man ihm berichtete, gesellte dazu eine vermehrte Menschenverachtung. Da man sah, daß Golo, der Verhaßte, schon jetzt die Macht erhalten würde, Roger aber in Ungnade war, fingen die liberalen Monarchisten alsbald an von ihren Verbündeten bei den Wahlen abzurücken, und auch in den Salons des Prinzen Roger ließen sich die Politiker nicht mehr sehen. Das hatte sich innerhalb einer Woche entwickelt, nach deren Ablauf Kronprinz Golo mit reicher Jagdbeute wieder in der Heimat eintraf. Eine ziemlich große Menschenmenge hatte sich vor dem Bahnhof angesammelt, die ihn lautlos empfing, und eine schwüle Spannung herrschte in der ganzen Stadt. Die Zeitungen aber zählten genau all das Getiere auf, das der Kronprinz erlegt hatte, und berichteten weiter, er sei am Zuge von der Gemahlin und den beiden Brüdern mit Kuß und Umarmung empfangen worden, nach kurzem Aufenthalt in seinen eigenen Gemächern habe er sich zu Seiner Majestät begeben.
Nach der Zwiesprache mit dem königlichen Vater, die länger als eine Stunde gedauert hatte, schickte der Kronprinz sofort zu seinem Reisebegleiter Baron Avia, der in einem Hotel abgestiegen war. Der Baron fand seinen Gönner in mühsam verhaltener, fast nervöser Erregung.
»Ich bin mit meinem Vater völlig ausgesöhnt und – viel mehr als das – viel mehr,« stieß er lebhaft hervor. »Sie bleiben an meiner Seite, das ist abgemacht. Die Form nur muß überlegt werden.«
Dann hielt er inne, warf sich in einen Stuhl und bot Avia mit lebhafter Bewegung Platz.
»Das war eine Schicksalsstunde,« sagte er, den Blick in den Parkettboden bohrend und dann die Lippen aufeinanderpressend, daß sie ganz schmal wurden. »Es geht schon los, ich muß gleich die Zähne zeigen,« fuhr er fort. »Es ist inzwischen so gründlich daran gearbeitet worden, mir das Erbe zu vergiften, daß ich womöglich den Tod dabei schlucken sollte. Das ist dem König doch zu viel geworden. Er selber will noch dafür sorgen, daß Recht bleibt, und er tut jetzt schon, was er früher hätte tun sollen, und nimmt mich zu seinem Gehilfen an. Und mein Gehilfe müssen Sie sein, Baron Avia!« Er streckte mit heftigem Rucke den Zeigefinger gegen Avia aus.
Der Baron antwortete:
»Königliche Hoheit wissen, daß meine Dankbarkeit keine Grenzen kennt.«
»Sie sollen mein Freund sein, wie in der Wildnis,« sagte der Kronprinz. »Wie in der Wildnis,« wiederholte er zwischen den Zähnen und ballte die Faust. Dann fuhr er unvermittelt in gelassenem Tone fort:
»Da fällt mir der alte Graf Coriolani ein, meines Vaters treuester Diener. Er ist verabschiedet. Weswegen konnte ich nicht herausbringen. Es kann nichts Unbedeutendes gewesen sein. Einen bestimmten Gedanken, den ich sofort hegte, wies der König entschieden zurück. Ich werde den Alten nächster Tage aufsuchen.«
Als der Kronprinz den Baron Avia noch vor seiner Ausreise mit dem ganzen Gefolge zu sich an die Riviera hatte kommen lassen, hatte er noch nichts gewußt von den Beziehungen, in denen der Baron zur Gräfin Zerpa stand. Nachdem er dies gleich in den ersten Tagen von diesem selber gesprächsweise erfahren hatte, wurde er mißtrauisch. Einen Abenteurer hatte er in ihm ja erwartet, mit dem er der ganzen ihm aufgezwungenen Gefolgschaft zu spotten gedachte. Jetzt aber vermutete er fremde dunkle Absichten. Er wußte ja nicht, wie die Zerpa über ihn dachte, ob sie nicht im Lager seiner Feinde stand, und auf einem solchen afrikanischen Jagdausflug konnten allerlei Unfälle geschehen. Man brauchte gar nicht von einem Löwen gefressen zu werden, es konnte Erkrankungen geben, mit denen ein europäischer Arzt nicht Bescheid wußte. Und eine Biedermannserscheinung von überzeugender Harmlosigkeit war der vierzigjährige Baron gerade nicht. Der kahle, von bereits stark melierten schwarzen Haaren umkränzte Kopf, dessen gelbliche Gesichtsfarbe Spuren des Tropenfiebers aufwies, war stark durchfurcht, die Augen blieben auch beim Sprechen von den großen Lidern halb bedeckt, ein noch vollkommen schwarzer Schnurrbart hing in langen Enden herab und war an der Oberlippe so stark, daß er sich über diese völlig wölbte. Unter ihm kamen die Töne der Stimme leise und weich hervor, was mit der gern sich neigenden hohen Gestalt eine gewisse Harmonie bildete. Der Baron merkte wohl, daß ihm der Kronprinz nicht sonderlich günstig gesinnt sei, aber er machte keinen Versuch ihn umzustimmen, sondern hielt sich bescheiden zurück und ließ es geduldig über sich ergehen, daß der hohe Gebieter ihn manchmal geradezu unhöflich behandelte. Der Kronprinz empfand aber das Bedürfnis, sich über Verschiedenes, was die Expedition anging, im voraus zu orientieren, und da fiel es ihm auf, daß der Baron eine gründliche Sachkenntnis ohne jeden Beigeschmack von Prahlerei oder Wichtigtuerei zur Geltung brachte. Es war ein sehr ernster Mann, etwas ganz anderes, als er erwartet hatte. Das interessierte ihn mehr und mehr, so daß er die ursprüngliche Absicht, die er mit diesem Abenteurer gehabt hatte, ganz vergaß. Auf dem Schiff wurde der Baron vom Gefolge sehr von oben herab behandelt und geflissentlich von dem Kronprinzen fern gehalten. Das setzte sich auf der Landreise fort. Der Baron wurde angewiesen, nur mit dem Expeditionschef dienstlich zu verkehren und blieb im übrigen selbst im Lager von dem Kreise, der den Kronprinzen zunächst umgab, ganz ausgeschlossen. Als der Kronprinz endlich sich darüber befremdet zeigte, bekam er die kühl entschieden lautende Antwort, man handele aus wohlerwogenen Gründen und müsse die königliche Hoheit bitten, in die für die Expedition getroffene Ordnung nicht einzugreifen. Das sah nach einer Art Gefangenschaft aus, und es mehrten sich allmählich die Anzeichen, die diese Auffassung bestätigten. Erst nahm er die unerwartete Strafverschärfung mit verbissenem Groll hin, endlich aber, als der Führer Graf Mario mehrere grobe Fehler gemacht hatte und er erfuhr, daß diese eben dadurch entstanden seien, daß Baron Avias Meinung nicht berücksichtigt worden war, und als auch noch in seiner Gegenwart der Baron, den man seiner bestimmten Forderung sich fügend zur Vernehmung berufen hatte, unartig behandelt wurde, kam es zu einer heftigen Szene, in der er, die Flinte in der Hand, erklärte, er sei der Chef der Expedition und schieße jeden nieder, der sich ihm widersetze. Man war mitten in der Wildnis, und niemand zweifelte, daß er seine Drohung auch ausführen würde. So ergab man sich unter Achselzucken, und er nahm Avia an seine Seite. Dieser trieb keinerlei Mißbrauch mit seiner völlig veränderten Stellung, aber es ging nun ein tiefer Zwiespalt durch die Gesellschaft. Der Graf nahm an einer für die Rückkehr zur Küste günstigen Stelle seine Entlassung. Die anderen glaubten sich verpflichtet auszuharren. Sie bildeten so viel als möglich eine Gruppe für sich, die aber Avia mit größter Aufmerksamkeit versorgte, während der Kronprinz sich fast ausschließlich an ihn hielt. Da ergab sich in vertraulichen Gesprächen, daß Avia wohl ein Abenteurer war, aber ein solcher, der sich innig danach sehnte, wieder zurückzufinden in eine Welt, für die er erzogen war und die ihm durch Schuld und Unglück verloren gegangen war. Auch der Kronprinz wurde offenherzig und ließ den Baron erkennen, daß er ein vom Leben Verirrter sei. Dabei sah der menschenkundige, vielgeprüfte Abenteurer zwischen wilden Zynismen und zornmütiger Menschenverachtung eine Mannesseele aufleuchten, die wohl die Kraft zur Größe besäße. Er war dem verwirrten Königssohn, der ihn aufgehoben hatte aus der Erniedrigung, so dankbar, daß er gerne dessen Geist frei machen wollte, und er versuchte es durch die aus den eigenen Wirrnissen gewonnene Weisheit: ›Nichts bereuen, nicht büßen, die Vergangenheit begraben unter einer besseren Zukunft.‹ Ein bewegtes Leben voll Schmerz und Not, die Erfahrungen des Kampfes zwischen Gut und Böse in seiner ganzen Schwere, sie bilden keine weichliche Moralität aus. Da kam die andere Weisheit als Waffe im Kampfe zu Hilfe: ›Fürchte dich nicht vor deiner Kraft.‹ Derlei besprachen die beiden Männer, die keine Schulphilosophen oder Literaten waren, auf dem Marsche und im Zelte in der Art von Weltleuten, die nachdenklich geworden sind unter dem Drucke der Erlebnisse. Zu Hause wäre es dem Kronprinzen gar nicht eingefallen, sich irgend einem Menschen so vertraulich anzuschließen, aber lange Märsche, Sternennächte in weiter Landschaft, die Abneigung gegen seine Umgebung, die ihn zum Gefangenen hatte machen wollen, und die jetzt mit mürrischem Anstande, unter Wahrung einer gewissen Distanz, das Geleite gab, trieben ihn mit einem drückenden Verlassenheitsgefühl zu dem Abenteurer hin, der wohl ein größerer Sünder als er war, mit dem man also reden konnte. –
Der Kronprinz machte noch am Tage der Ankunft Besuche bei seinen Verwandten, zunächst bei seinem Bruder Roger. Er begrüßte ihn und Clara Eugenie mit herzlicher Unbefangenheit. Erst ganz zuletzt sagte er:
»Der König ist sehr böse auf euch zwei. Ihr habt euch aber auch arg in die Nesseln gesetzt. Ist denn das so ein Vergnügen, Politik zu treiben? Ihr habt es doch nicht nötig gehabt.«
Clara Eugenie bekam einen roten Kopf. Sie hörte deutlich den ironischen Ton des Schwagers heraus.
Roger antwortete dem Bruder:
»Ich habe getan, was ich für Pflicht und Recht hielt.«
»Du verstehst von Staatsgeschäften mehr als ich,« sagte der Kronprinz darauf. »Du hättest dem König, dessen Liebling du immer warst, gute Dienste in dieser schwierigen Zeit leisten können. Jetzt wollen Majestät, daß ich daran glauben soll. Hast mir keinen Gefallen damit getan, denn beliebter werde ich mich damit nicht machen.«
Das prinzliche Ehepaar sah ihn befangen, verwundert an, und Clara Eugenie stellte etwas zaghaft die Frage:
»Majestät wollen dich an den Geschäften teilnehmen lassen?«
»Das wollen Majestät in der Tat. Sonst zwar nicht üblich, aber es soll noch unter dem jetzigen Regime Ordnung geschafft werden.«
Ganz im leichten Gesprächston war das gesagt, aber es klang doch eine gewisse Schärfe durch.
»Was hat man denn eigentlich vor?« fragte jetzt Prinz Roger.
»Es soll nur das monarchische Bewußtsein ein wenig aufgefrischt werden, weiter nichts,« antwortete der Kronprinz und fügte, sich von seinem Sitze erhebend, hinzu:
»Wir sehen uns ja heute abend beim Familiensouper.«
Beim Abschied machte der Kronprinz eine ganz heitere Miene, als merkte er die leise Spannung gar nicht, die im Raume schwebte.
Von da begab er sich zu Prinz Achilles. Er sah es seiner Cousine Constanze an, daß sie Mühe hatte, ihre Erregung in das Maß verwandtschaftlicher Liebenswürdigkeit zu zwingen. Ein ganz kurzer Blitz seiner Augen war ein besonderer Gruß, den sie im Blute spürte. Man sprach von Beatens Verlobung mit dem deutschen Herzog, die in den nächsten Tagen unter Anwesenheit des Bräutigams offiziell gemacht werden sollte.
»Sie sind niedlich, diese deutschen Herzogtümer, ich kenne ein paar davon,« sagte der Kronprinz. »Das ist so was für die milde Beate, spricht alle Schulmädel auf der Straße an, inspiziert die Babies der Lakaienfrauen, schenkt, stiftet, ist dutzendfache Protektorin und bekommt einmal ein Brunnendenkmal im Schloßpark.
»Für dich wäre das nichts, he?« wendete er sich an die lustig lachende Constanze.
Da erfuhr er von der etwas gereizt sprechenden Prinzessin-Mutter, daß der Herzog eigentlich seine Blicke zuerst auf Constanze gelenkt habe. Prinz Achilles fügte humoristischer Laune hinzu:
»Sie redete ihm, wie mir scheint, zu viel Sport, und wahrhaftig trieb sie's so, als wäre eine Absicht dabei gewesen.«
Der Kronprinz wendete lebhaft den Kopf nach ihr. Sie bemerkte ganz ruhig:
»Beate ist besser.«
»Es wird sogar sehr guter Sport getrieben an diesen kleinen deutschen Höfen,« sagte der Kronprinz. »Aber für Constanze war das wirklich nichts.«
Nun stellte Prinz Achilles neugierige Fragen über die afrikanischen Jagdzustände. Der Kronprinz erzählte, und Constanze nahm mit Bemerkungen und Fragen lebhaften Anteil am Gespräche.
Bei der Familientafel am Abend war der König sehr guter Laune und trank sehr viel. Der Kronprinz sah häufig zu Constanze hinüber, die, wie immer in Abendtoilette, sehr gut aussah. Sie fühlte die Blicke, wich ihnen aber immer aus und unterhielt sich krampfhaft mit ihrem Nachbar, dem Prinzen Adolar.
Nach aufgehobener Tafel, zu deren Beginn der König nur mit einem ganz kurzen Trinkspruch den heimkehrenden Sohn begrüßt hatte, hielt er an die Familie eine, mehrfach von Husten begleitete Ansprache, in der er verkündete, daß er in seinem lieben Sohn und Thronerben die Stütze seines Alters erkenne, der die königliche Familie gegebenen Falles dasselbe Vertrauen und denselben Gehorsam entgegenzubringen habe, wie ihm selber. Dann nahm er Sohn und Schwiegertochter bei den Händen und sagte zu Eudoxia:
»Von dir vor allem erwarte ich, daß du meine Worte richtig würdigst.«
Die Kronprinzessin machte ein Hofkompliment und reichte dann ihrem Gatten die Hand, der sie auf die Stirne küßte. Die älteren Herrschaften schüttelten dem Paare in intimer Form die Hände. Als dies Clara Eugenie tat, nahm die Kronprinzessin denselben inhaltsvollen Blick neuerdings gewahr. Das brachte ihr eine Unruhe, die immer höher stieg, bis sie im Schlafzimmer ihre Kammerzofe entlassen hatte. Und dann lag sie mit klopfendem Herzen lange wach, bis sie endlich merkte, daß ihre Furcht vergebens war. Da weinte sie voll Zorn.
»Sie kann warten,« murmelte der Kronprinz vor sich hin, als er zur Ruhe ging. Er hatte Constanze im Sinn. Die ersten Träume in der Heimat sollten ihr gelten, und heiße Träume sollten es sein.