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In einem der großen Durchhäuser der Stadt Wien saß Tag für Tag während der guten Jahreszeit unter einem grauen breiten Pfeiler auf einem Klappsessel ein weißlockiger Greis. Seine Augen waren weitgeöffnet, aber an dem Ausdrucke derselben erkannte man, daß sie ohne Licht seien, der arme Alte war blind. Auf dem einen seiner Beine – das zweite fehlende war durch ein hölzernes ersetzt, lag eine Harfe, der seine welken Finger wehmütige Töne entlockten. Teils auf Nägeln am Pfeiler hängend, teils neben ihm aufgeschichtet, befanden sich bunte Teppiche und Deckchen, geschickt und nett aus Tuchstreifen ineinandergeflochten, die Arbeit des durch äußerst feines Gefühl in den Fingerspitzen ausgezeichneten Blinden.
Paul, ein gutmütiger Knabe der Nachbarschaft, begleitete allmorgendlich den blinden Greis aus dessen Stübchen nach dem Platze neben dem Pfeiler. Dann half er ihm, sich hier häuslich einzurichten, gab den zum Verkauf bestimmten Teppichen eine möglichst gefällige Anordnung und wünschte Vater Martin einen »guten Tag« d. h. nicht nur so gedankenlos den landläufigen Gruß hingesprochen, sondern in der herzlichen Meinung, er möge einen guten Tag haben, recht viel von seiner Arbeit anbringen und auch durch sein Harfenspiel zu milden Gaben zu kommen.
So saß Vater Martin wieder eines Morgens am gewohnten Platze und stimmte die Saiten seiner Harfe. Da tönte ein leises Schluchzen in die zitternden Klänge. Vater Martin horchte teilnahmsvoll und war bald überzeugt, daß das Schluchzen von einem Wesen ausging, das sich ganz nahe bei ihm befinden mußte. Der gute Alte dachte: »Der arme Mensch! Ich will gleich ein Stücklein aufspielen, vielleicht wird ihm dann das Herz leichter.«
Er spielte und die Klänge wurden zu unsichtbaren Banden, die das schluchzende Menschenkind in die unmittelbare Nähe des Harfenisten zogen. Jetzt fühlte Vater Martin, daß ein Kind neben ihm stehen mußte, der Atem seines Mundes drang zu ihm und auf seine runzlige Hand fiel eine heiße Thräne.
»Wer ist hier?« frug mit väterlichem Wohlwollen der Alte, als er das Stücklein zu Ende gespielt. Thränen zitterten in dem Kinderstimmchen, das darauf antwortete:
»Ich, Jettchen, aber warum frägst du so sonderbar und machst so eigene Augen?«
»Ich seh' dich nicht, mein Kind,« entgegnete lächelnd Vater Martin, »denn ich bin blind.«
»Blind,« schrie Jettchen auf, »ach Gott, wie schrecklich muß das sein. Da mußt du wohl sehr unglücklich sein, aber siehst du, ich bin nicht blind und bin doch sehr unglücklich, o so sehr.« Und das Kind brach von neuem in Schluchzen aus. »Mein Mütterlein, mein bestes Mütterlein ist tot!«
»Armes Kind!« sprach Vater Martin und strich über des Mägdleins seidenweichen Scheitel, »wie lang denn schon?«
»Ach, gestern haben sie sie begraben, und jetzt hab' ich niemand mehr auf der Welt, der mich lieb hat, der mir zu essen giebt und bei dem ich schlafen kann. Die Leute haben mich aus der Kammer gewiesen, wo Mütterlein und ich gewohnt und wo sie gestorben ist. Und da bin ich gelaufen, gelaufen in den langen Straßen herum und als ich hier herein kam und Euch spielen hörte, da mußte ich wieder weinen, denn so ganz ähnlich hat's geklungen, wenn die liebe Mutter auf ihrer Zither spielte.«
Die Kleine schmiegte sich an den Greis und konnte vor Weinen kein Wort hervorbringen. Er breitete einen Teppich neben sich aus und drückte das Kind sanft darauf nieder. Dann zog er ein Fläschchen voll Milch und ein Stück Brot aus der Rocktasche und reichte es dem Mädchen. »Da iß und trink, Jettchen, jetzt mußt du dich erst stärken, ich hör's an deiner Stimme, daß du recht erschöpft bist. Nimm nur Kind, der alte Vater Martin giebt's dir gern.«
Jettchen schluckte die Thränen hinunter und gehorchte. Sie schien einen Ungehorsam älteren Personen gegenüber nicht zu kennen. Als sie sich gestärkt und beruhigt hatte, sprach Vater Martin freundlich:
»Nun, Jettchen, versprich mir, daß du mein tapferes, kleines Mädchen sein willst und nicht mehr weinen, sondern schön ruhig erzählen wirst, wie die ganze Sache gewesen ist, bevor deine Mutter krank wurde, die es nun so gut beim lieben Gott im Himmel hat.«
»O ja, das weiß ich,« versicherte Jettchen und wenn der Alte sie gesehen hätte, er würde sich gefreut haben über den Trostesschimmer, der in des Mägdleins großen Blauaugen aufleuchtete, »und wenn ich daran denke, dann könnt' ich fast wieder fröhlich werden und das, wißt Ihr, Ihr« – »Sag', Vater Martin.«
»Vater Martin, das war ich immer. Es war auch so schön bei uns. Wir wohnten nicht hier in der großen und doch so engen Stadt, die kenne ich erst seit ein paar Monaten. Ich bin in der Schweiz, in dem schönen, schönen Lande mit den lieben Bergen geboren. Vater hatte ein Häuschen außer dem Dorfe auf einer grünen Matte und vor uns und hinter uns waren überall hohe, hohe weiße Zuckerhüte, das sind die Eisberge, die Gletscher, die Sommer und Winter ihre starren Eismäntel nicht ausziehen. Und in unserem Stall, da hatten wir fünf blanke Kühe stehen, – die Scheck, die war mein Liebling, – und Böcklein und Geißlein und Schwyz, unseren treuen Schwyz, der wie ein Löwe aussah mit seinem prachtvollen gelben Seidenpelz. Ich ging schon zur Schule, denn ich bin jetzt schon bald elf Jahre alt und es ist noch nicht so lange her, als die schreckliche Nacht kam, o Gott, die Nacht war schauerlich. Gegen Abend kam ein Sturmwind über die Berge her, so ein recht wilder, der nichts an seinem Platze lassen will, und der riß und pfiff an allen Häusern herum, als wollte er die Dächer wegheben und die Mauern zerreißen. Ich betete noch mit der Mutter wie jeden Abend für alle Menschen, für unser liebes Vaterland und damals noch besonders, daß Gott alle Menschen bewahren möge vor Unglück und Ungewitter. Dann schlief ich ein. Auf einmal in der Nacht hör' ich, wie Schwyz laut aufbellt im Hofe, der Vater schreit ›Feuer!‹ und die Mutter springt auf. Beim Fenster schlagen die Flammen herein, und im Stübchen wird's taghell. Dann trug mich der Vater aus dem Bette und wie ich draußen zum Dorfe hinsah, brannten alle Häuser, und ein furchtbarer Sturm trieb die Flammen himmelhoch. Der Knecht lief zum Brunnen und warf mit Kübeln Wasser umher. Der Vater rief: ›S' ist Gottes Wille. An unserer Hütte ist nichts zu retten, die verbrennt wie Stroh. Bleibt in Sicherheit hier, ich muß ins Dorf.‹
Und als die Mutter bittend die Hände erhob und ich des Vaters Arm umklammerte, rief er: ›Was denkt ihr, ich werd' die Nachbarn im Stiche lassen in höchster Not! Das thut ein Schweizer nicht.‹ O, ich weiß, was der Vater damit meinte. Die Schweizer sind brave Leute und solche helfen einander immer.
Am Morgen war unsere Hütte mit allem darin ein schwarzer, rauchender Haufen, auch die Kühlein, die Scheck, die Geißlein, alles, alles verbrannt, denkt alles – alles – auch der Vater im Dorfe, wie er ein Kind aus einem brennenden Hause retten will, stürzt es ein.«
Jettchen senkte den Kopf und bittere Thränen rannen ihr die Wänglein hinab.
»Armes, armes Kind!« sprach Vater Martin und wischte sich verstohlen die nassen, blinden Augen.
»Ich habe die Mutter solange gefragt, warum denn der Vater nicht komme. Nein, er kommt nicht, sagte sie, denn er ist zum lieben Gott gegangen. Ein Schweizer stirbt für seine Pflicht, das hat der Vater gethan und das ist der schönste Tod. Über einen solchen dürfen wir nicht trauern. O, das hab' ich mir gut gemerkt und werd' es nie, nie vergessen. Wo gehen wir denn nun hin? hab' ich die Mutter gefragt. Gott meint's gut mit uns, Jettchen, sprach die Mutter. Er hat uns das große Unglück nur geschickt, damit wir dadurch gewiß gut würden, denn in Glück und Freuden gut sein, ist nicht schwer. Ganz verlassen hat er uns nicht, denn ich konnte noch so viel Geld retten, daß wir damit bis nach Wien zu deiner reichen Großtante reisen können. Und wir reisten fort aus der lieben Heimat in einem raschen Wagen, den der Dampf zieht, was ich nie früher in unserem Dörfchen gesehen hatte. Und dann kamen wir nach Wien. Ach, alles war so flach wie ein Blatt Papier und alles so eng, so laut und so viele Straßen, so viele Menschen – und unter allen nicht ein einzig Faltenröckchen, Miederschnällchen und gescheitelt Haar. Und die Luft so dick, wie zum Schneiden, daß ich ganz behutsam atmen mußte und mir so bang wurde und bang ist mir geblieben bis heute wie am ersten Tage, an welchem die Mutter und ich die Großtante suchten, und die war nicht zu finden, ja, wo wir auch fragten und wieder fragten, nirgends. Endlich erfuhr die Mutter in dem Hause, wo sie zuletzt gewohnt, daß sie schon vor zwei Jahren gestorben sei und daß die Armen der Stadt ihr ganzes Vermögen bekommen hatten. Nun, Jettchen, sprach die gute Mutter, die immer so sanft war, sind wir noch nicht ganz verlassen, der liebe Gott ist auch hier mit uns ebenso wie in unseren lieben, freien Bergen und zweitens haben wir unsere Stickrahmen mit. Ja, mein Stickrähmchen,« sprach Jettchen und sah liebkosend auf das kleine polierte Ding in ihrer Hand. »Schade, daß Ihr es nicht sehen könnt, Vater Martin, sehr schade, das ist noch so ein liebes Stück aus der Heimat, hatten uns dort die Scheck und die anderen Milch gegeben, so gaben uns die Rahmen jetzt Brot, ja wirklich, die Mutter und ich stickten für die großen Geschäfte in der Stadt und alle wunderten sich, daß ich, kleines Ding, es schon so gut könne, da giebt's nichts zu wundern, bei uns kann das fast jedes sechsjährige Kind. Wir wohnten in einem kleinen Stübchen ganz unter dem Dache eines großen Hauses, da sahen wir wenigstens den Himmel, wenn schon keine lieben, hohen Zuckerhüte. Es ging uns ganz gut und es war alles recht hübsch. Da wurde die Mutter krank, sie hatte zu viel in der Nacht gearbeitet, sagte der Doktor, und soviel Geld, wie die teueren Medizinen kosten, hatten wir doch nicht, und die Mutter wurde nicht mehr gesund, die gute, gute Mutter. O, hätte ich nur mehr arbeiten können, dann wär' sie vielleicht nicht gestorben,« klagte Jettchen, ganz trostlos und legte den Kopf auf des Greises Kniee.
»Mein Kind,« sprach dieser liebevoll, »deswegen kränke dich nicht. Du bist ein gutes, fleißiges Mädchen gewesen und wenn Gott deine Mutter zu sich rief, so war es nur darum, daß sie es besser bei ihm habe, als es auf Erden sein kann. Und siehst du, dich hat der liebe Gott hierher zu mir geführt, zu dem alten Vater Martin, der Kinder so gern hat, und der so glücklich ist, dich als sein kleines, liebes Töchterchen bei sich behalten zu können.«
»Ach, Vater Martin, wirklich!« rief die Kleine, »das wolltest du thun! Mütterchen, das hast gewiß du mir beim lieben Gott erbeten. O Vater Martin, wenn ich bei dir sein darf, werd' ich mich nimmer fürchten in der großen, fremden Stadt. Aber ich bitt' dich, sag' mir nun auch, wie bist du denn blind geworden, und – und – da«
»Du meinst den Stelzfuß, Kind, sprich nur ungescheut, ich schäme mich der beiden Gebrechen nicht und ständen alle Kaiser der Welt vor mir und fragten danach, dann erst recht nicht, denn ich kann allen sagen: Ich hab' sie erhalten im Kampf fürs Vaterland und leid' es gern fürs Vaterland. Glaubst nur du, kleines Dirnchen, liebst dein Vaterland? Ich liebe das Meinige nicht weniger, wie alle Menschen das gemeinsame, himmlische Vaterland.
›Gott erhalte, Gott beschütze unseren Kaiser, unser Land,‹ hab' ich schon gesungen, als ich zu lallen begann, und als ich ein Mann war, hab' ich an dem Kampfe fürs Vaterland teilgenommen mit Hand und Herz und blieb lang ohne gefährliche Wunde. Doch wie ich einmal dastand mitten im Kugelregen, pfiff's an meinen Augen vorbei. Ich verlor das Bewußtsein und als ich wieder erwachte, war alles vor mir in Schleier gehüllt, nur das merkte ich genau, daß mir der rechte Fuß bis zum Schenkel hinauf fehle. Ich war lange krank; als ich aufstand, stelzten Holz und Bein ganz leidlich miteinander, aber in den Augen war nur ganz wenig Lichtschimmer. Und wie die Jahre kamen und vergingen, erlosch auch dieser. Ich stand blind und allein auf der Welt. Aber ich kann ja Harfe spielen und Teppiche flechten, darum halte ich mich noch für zu gut, um dem Invalidenhause, dem kaiserlichen Versorgungshause für verwundete Krieger, zur Last zu fallen. Wäre das edel, einem noch viel Elenderen den Platz zu rauben? Nein, gewiß nicht, Jettchen sagt auch, das thäte ein Schweizer nicht und ein guter Österreicher auch nicht, gelt, und du wirst mir nun schön haushalten helfen?«
* * *
Die Sache hatte sich ganz hübsch eingerichtet. Jettchen war in die kleine Kammer des Invaliden gezogen und mit ihr ein freundlicher Sonnenstrahl, der den dürftigen Hausrat verklärte und in die Nacht des Blinden wunderbares Licht warf. Des Morgens bereitete das anstellige Mädchen flink das Frühstück, räumte auf, und dann ging's mit Vater Martin, einem Bündel Teppichen, Klappstühlchen und Stickrahmen nach dem Durchhause. Paul, höchst erstaunt über die plötzlichen Neuerungen, war eine gerngesehene, aber eigentlich überflüssige Begleitung nach dem Pfeilerplätzchen. Dort wurde Vater Martin behaglich niedergesetzt und Jettchen eilte zur Schule. Wenn sie dann wiederkam, spannte sie ihre Arbeit in den Rahmen und der Tag ging unter Harfenspiel, Teppichflechten, Sticken und heiterem Geplauder für Kind und Greis recht schnell dahin. Glücklicherweise war der Hofraum hell und luftig, sonst wäre es der kleinen Schweizerin bald recht bang darin geworden. Wenige der Vorübergehenden setzten ihren Weg fort, ohne zu halten, wenn ihr Blick auf das blonde Mägdlein fiel, das entweder bewunderungswürdig fleißig oder rührend sanft und lieb um den Greis besorgt war. Die Teppichkäufe und die milden Gaben mehrten sich ganz außerordentlich, und die Bestellungen auf Stickereien waren so zahlreich, daß die kleinen, geschickten Fingerchen nicht schnell genug sein konnten. War man dann abends zu Hause, bereitete Jettchen ein bescheidenes warmes Mahl und las nachher mit ihrem hellen, lieben Stimmchen dem ruhenden Greise aus einem Buche vor oder sie lernte ihre Aufgaben für den nächsten Tag. Sie war immer so fleißig und eifrig, daß ihr guter Pflegevater ihr oft mit sanfter Strenge gebieten mußte, sich nicht zu überanstrengen, auszuruhen oder sich an den ihrem Alter angemessenen Spielen zu ergötzen. Vater Martin hatte wirklich allen Grund, sein Pflegetöchterchen ein gutes Kind zu nennen. Sie war so freundlich, so geduldig. Niemals zuckte auch nur ein Funke von Neid in ihrem Herzen auf, wenn sie sah, wie die anderen Kinder spielen und sich vergnügen konnten, während sie von früh bis spät schaffen mußte und immer in Gesellschaft des guten, aber so stillen, blinden Alten sein. O, sie war immer heiter, nur wenn sie an den Vater dachte, der ohne Abschied von den Seinen den Tod in den Flammen gefunden, dann an die Mutter, die so viel gelitten hatte, da senkte sie stets ihr Lockenköpfchen auf die Schulter Vater Martins nieder, und ihre heißen Thränen flossen in seinen langen, weißen Bart. Liebkosend strich er dann über des Kindes heiße Stirn. Er verstand und würdigte ihren edlen, kindlichen Schmerz und bedauerte so sehr, Jettchen nicht hinaus auf den Friedhof zum Grabe ihrer Mutter begleiten zu können. Jettchen war es wohl stets bang durch das Gelärm und Gedränge der großen Stadt den weiten Weg hinaus zu wandern, aber sie ging gern zu ihrem lieben Mütterlein und schmückte deren schlichten Grabhügel, so schön sie konnte, mit Blumen, die sie um fleißig erarbeitetes Geld am Markte kaufte.
Nun war es Herbst geworden. Das merkte man auch in der Stadt. Die Bäume der Alleen und Anlagen verstreuten ihre welken Blätter im kühlen Winde, und über den Himmel zogen Wolken schwer und grau von Schnee. Allerseelen, das Fest der Liebe für die Verstorbenen, war gekommen. Es war ein Tag, an dem die Sonne zu versuchen schien, sich noch einmal vor Wintersanbruch den Menschen in ihrem schönsten Glanz und in ihrer wohlthuendsten Wärme zu zeigen.
Jettchen setzte sich zu Füßen Vater Martins auf ein Schemelchen, nahm seine welken Hände zwischen ihre warmen Fingerchen und sprach:
»Lieber Vater Martin, ich möchte dich um etwas bitten – ich habe mir's so schön ausgedacht – darf ich's dir sagen, ja? – Also siehst du, ich möchte gar so gern, daß du, guter Vater Martin heute auf dem Grabe von meinem süßen Mutterl betetest, o, das möchte sie, die vom Himmel auf uns herabschaut, die alles sieht, was du Gutes an ihrem Kinde thust, so freuen.«
»Wie gern, Jettchen, mein gutes Kind, das wäre selbst mein innigster Wunsch,« war des Greises teilnehmende Antwort. »Aber der lange Weg, Jettchen, ich käme nicht hinaus, leider nein, armes Kind, leider kann ich deinen Wunsch nicht erfüllen.«
»O, doch, doch,« fiel Jettchen eifrig ein, »ich – ich – – Väterchen wirst du gewiß nicht böse sein, daß ich mir so ganz selbständig etwas ausgedacht habe – – – ich arbeitete seit zwei Wochen immer noch einige Stunden, während du schon schliefst, ja, Vater Martin, ich war sehr ungehorsam, denn du sagst immer, ich soll mich schonen. Aber schau', Väterchen, für diesmal mußte es sein, ich wollte ja nebenbei so viel verdienen, daß du und ich heute zur Mutter hinausfahren können. Und ich hab's, Vater, das Geld, da im Beutel ist's gut aufgehoben; hörst du's klingen, da fühl', und es reicht auch ganz gewiß, ich habe mich in den letzten Tagen bei mehreren Lohnkutschern erkundigt, wie viel es kostet hinaus nach dem stillen Gärtlein, wo die Mutter schläft. O, ich habe mich schon so drauf gefreut, ich mußte mir ordentlich die Lippen zuhalten, um dir nichts zu verraten, und gebetet hab' ich immer so innig, daß der liebe Gott schönes Wetter sein lasse an diesem Tage. Und nun ist's so herrlich. O, wie gut wird dir die Fahrt thun in der schönen, warmen Luft, bitte sag' ja!«
Nun schwieg sie erwartungsvoll.
»Jettchen, mein gutes, braves Jettchen,« sagte gerührt der Greis, »also so gefreut hast du dich darauf, daß ich alter, blinder Mann auch einmal weiter hinauskomme in Gottes schöne, freie Luft und hast ein Opfer für mich gebracht. Gott segne dich, mein Kind für deinen guten, frommen Sinn.«
»Ich hab' schon deinen guten Rock ausgebürstet, und deine Tapferkeitsmedaille hängt blitzblank im Knopfloch. Darf ich jetzt einen Wagen holen?«
Vater Martin nickte, und glückselig sprang Jettchen davon. Bald kam sie, ganz verklärt auf den verblichenen Polstern eines schlichten Einspänners sitzend, vorgefahren. Geschickt und sanft von Jettchen unterstützt, nahm jetzt Vater Martin in dem Wagen Platz.
»Was rauscht denn neben mir, Jettchen?« fragte er.
»Ein Papierblumenkranz, Väterchen, ja, der war mühsam zu machen, aber lebende Blumen kann ich ja nicht kaufen. Er ist ganz hübsch; ach, wenn ich nur ein Laternchen dazu hätte! Auf den Gräbern werden gewiß überall Lichter brennen. Nun, Vater,« fuhr sie gleich darauf heiter fort, »fühlst du dich wohl, nicht wahr? Die Luft ist so gut, fast so klar und rein wie in der Schweiz. Das wird dich kräftigen.«
Vater Martin ruhte behaglich im Rücksitze und richtete friedvoll seine lichtlosen Augen auf das freundlich plaudernde Mägdlein neben sich, das liebevoll bemüht war, seinem Gehör durch Beschreibung zu vermitteln, was seinem Gesichte nicht vergönnt war aufzufassen, und so langten sie endlich draußen vor der hohen Mauer an, hinter welcher die stillsten aller Schläfer ruhen.
Jettchen half dem Greise aus dem Wagen, und dem Kutscher wurde geboten, auf ihre Rückkunft zu warten. Vor dem Eingange des Friedhofes waren Blumentöpfe, Kränze und Glaslaternchen zum Verkaufe aufgestellt.
Unwillkürlich blieb Jettchen stehen und musterte die schönen Laternen. O, sie hätte so gern eine für das Grab der Mutter gehabt, das kleine Laternchen mit dem zierlichen Zackenaufsatz und den tiefroten Scheiben.
»Was hast du, Jettchen?« frug Vater Martin.
»Ach,« kam's zögernd über des Kindes Lippen, »da sind so viel schöne Laternchen.«
»Führ' mich hin, Jettchen,« sprach Vater Martin und zog sein abgeschabtes Geldbeutelchen. »Wähle dir eines aus.«
Das Mädchen griff schnell entschlossen nach dem zierlich Gekrönten. Es war das kleinste, gefiel ihr am besten und würde gewiß am wenigsten kosten. Der Greis zahlte, und strahlenden Blickes, Laternchen und Kranz sorgfältig haltend, ging Jettchen an seiner Seite weiter.
»O du guter, guter Großvater! Nun wird es Mütterchen so schön haben,« sprach sie und ihre Stimme sank zum Flüstern herab, denn die weihevolle Stille des Friedensgartens umgab sie bereits. Dunkle, unbewegliche Cypressen und lichte Trauerweiden mit leiswehenden Zweigen standen ringsum, und dem Auge des frommen Kindes erschien es, als sähe sie hinter jedem Kreuz einen Engel mit der Friedenspalme hervorgrüßen. Und sie gingen weiter, an kostbaren Marmorkreuzen, wundervollen Blumengruppen und strahlenden Lichtern vorbei, hinaus zur stilleren, schmucklosen Abteilung der Armengräber.
Da, da war nun das Grab der Mutter. Ein schlichtes Holzkreuz bezeichnete die Stelle, wo das dem Kinde teuerste Wesen ruhte. Immergrün umschlang es, von zahlreichen, tiefblauen Blumen strahlend.
Jettchen warf sich nieder auf den grünen Hügel, netzte die Erde mit ihren Thränen und betete, betete aus innerstem Herzensgrund. Dann erhob sie sich, umarmte den Greis, dem auch Thränen der Rührung über die gefurchten Wangen perlten.
»Mein Mütterlein wird beim lieben Gott für dich bitten, daß er dir alles lohne, was du für mich thust, du einzig guter Großvater.«
Sie wand hierauf den mitgebrachten Kranz um das Kreuz, steckte das Laternchen in die Erde, und feierlich schimmerte bald ein sanftes Flämmchen daraus hervor.
Nachdem sie ihr ganzes Herz vor dem lieben Gott und der teuren Mutter ausgeschüttet hatte, wandten sie sich heimwärts.
Vor der Friedhofspforte angelangt, schaute Jettchen nach dem Kutscher aus, dieser war jedoch nicht zu sehen.
»Bleib' einen Augenblick hier, Großvater,« bat Jettchen und führte den hilflosen Blinden in eine geschützte Ecke, »ich laufe nur, unseren Kutscher zu suchen.«
Und sie eilte von dannen.
Einige Buben, die sich an der Friedhofsmauer einen kleinen schwarzen Kreis mit Kohle abgegrenzt und, ihn als Zielscheibe benützend, mit selbstgefertigten Schleudern danach warfen, hatten Jettchens kindlich sorgsames Thun mit spöttischen Blicken verfolgt.
Kaum hatte sie den Rücken gewendet, als einer der Schützen den Umstehenden zuflüsterte: »Gebt acht, jetzt werde ich ein Kunststück leisten. Ihr seht den Alten dort in der Ecke, er ist blind, auf seinen Stelzfuß will ich zielen und ihn treffen, das sollt ihr sehen!«
»Rupert, denke doch!« fiel schüchtern ein sanfter blickender Genosse ein. »Der arme Alte.«
»Willst du schweigen, Spaßverderber!« herrschte ihn der Ermahnte an und hatte auch schon die Schleuder gespannt, zielte, und – fort flog der Stein. Vergebens aber wartete der Schütze auf das Geräusch des Anpralles gegen das Holz. Das Geschoß traf höher, blutbefleckt sprang es von dem Antlitz des Greises ab, der mit einem gellen Aufschrei von Schmerz betäubt zu Boden sank.
Jettchen bog gerade mit dem Kutscher um die Ecke, sie sah noch, wie der Knabe davonlief, und eilte entsetzt zu dem Sinkenden, als könnte sie ihn noch vor dem Falle auffangen. Als sie hinkam, lag er da starr und regungslos, das milde Antlitz schmerzverzerrt.
Das Blut rieselte ihm in hellroten Bächlein von Wangen und Nase in den schneeweißen Bart hinab. Mit Hilfe des Kutschers trug Jettchen, an allen Gliedern bebend, den Bewußtlosen nach dem Wagen, ließ denselben schließen und bettete des Greises Haupt sanft in ihrem Schoß. So angenehm die Fahrt hinaus gewesen, so traurig war nun die Heimkehr. Doch Jettchen wandte sich mit innigstem Flehen vertrauensvoll zu ihrem himmlischen Vater, er möge weiteres Unglück verhüten und Vater Martin nicht viel leiden lassen. Bangigkeit und Unruhe schwanden damit aus ihrem Herzen. Die endlos scheinende Fahrt kam auch ans Ziel. Jettchen zahlte dem Kutscher das mühsam erworbene Geld aus und gab ihm noch ein Trinkgeld, damit er so gut sei und ihr die teure Last ins Stübchen tragen helfe.
Nun lag er da der arme, alte Mann, das Gesicht verbunden, totenblaß und regungslos. Ach, der Anblick schnitt dem Kinde tief ins Herz, es wäre am liebsten vor dem Bette niedergesunken und hätte geweint ohne Aufhören. Aber sie fühlte, jetzt hieß es handeln, nicht müßig trauern und vor allem einen Arzt holen. Als dieser erschien, untersuchte er die Wunden, lobte Jettchens Umsicht, mit der sie dieselben ausgewaschen und mit Umschlägen gekühlt hatte, und ließ sich die Entstehung derselben berichten.
»Fleißig Umschläge machen, Kind,« sprach er, »die ganze Nacht hindurch, warm sollen sie nicht werden, hörst du? Ist niemand da, der das besorgen könnte? Du wirst wohl nicht –«
»O, Herr Doktor, ich bleibe gern auf für den Großvater und werde gewiß nichts versäumen.«
»Brav, Kind, das läßt sich hören. Damit durch den argen Schreck, der die Betäubung verursachte, kein ärgeres Fieber entstehe, will ich ein Pulver verschreiben. Morgen komm' ich wieder,« sprach freundlich der vielbeschäftigte Mann und eilte bald von dannen.
Nun saß Jettchen da ganz still und allein in dem matterhellten Stübchen und blickte ängstlich auf das Gesicht des lieben Kranken, ob er denn noch immer nicht die Augen aufschlage.
Ach, sie machte sich die bittersten Vorwürfe, den Großvater allein gelassen zu haben. Und dann zog ihr das tiefste Weh ins Herz, darüber, daß es so böse Kinder gebe, wie jener Knabe, der absichtlich auf einen hilflosen Blinden gezielt. Und Jettchen faltete die Hände und betete: »Lieber Gott, verzeihe dem Knaben und laß ihn einsehen und herzlich bereuen, was er gethan hat.«
Nun war es Zeit, den Umschlag zu wechseln, und wie sie das frische, kalte Tuch auf des Leidenden heiße Stirn legte, da schlug er plötzlich die Augen auf und sah angstvoll um sich.
»Großvater, dein Jettchen ist da,« flüsterte das Mädchen mit freudezitternder Stimme.
»Jettchen,« lispelte der Kranke zurück, und ein leises Lächeln glättete den Schmerzenszug seines Gesichtes. Dann griff er nach den Wangen, o, wie mußten ihn die Wunden brennen!
»Gieb mir deine Hand,« bat sie herzlich, »sie ist so kalt, ich will sie wärmen.«
Und sie nahm des Greises kalte Finger in ihre warmen und fuhr ihm sanft über die Augen, bis sie an seinen lauten Atemzügen hörte, daß er eingeschlummert sei. Doch ihre Hand, die über seinen Augen lag, fühlte, daß diese heißer und heißer wurden, die Brust des Greises hob und senkte sich mit unheimlicher Schnelligkeit, und glühende Tropfen perlten von seiner Stirn. Stöhnend warf er sich hin und her, und als der Arzt des Morgens kam, schüttelte er mit traurigen Mienen den Kopf.
»Es hat sich ein heftiges Fieber entwickelt, wie ich befürchtete. Der Schreck war zu arg für den armen, blinden Mann.«
Und er verschrieb wieder ein Pulver und eine kühlende Salbe für die Wunden. Da mußte Jettchen Heller um Heller aus dem Geldlädchen nehmen, und mit dem Arbeiten ging's schwer. Der Kranke war so unruhig; bald stöhnte er: »Wasser!« dann wollte er nicht ruhig bleiben und jammerte in seinen geängstigten Phantasien: »Fort, fort, sie treffen mich!« und Jettchen mußte stundenlang an seinem Lager sitzen, um ihn zu beschwichtigen.
Auch wurden ihre Hände von dem kalten Wasser der Umschläge ganz rauh und starr und fast untauglich für die feinen Stickereien. Zudem war es ihr unmöglich zur Ablieferung derselben aus dem Hause zu gehen. Das arme Kind wußte vor Sorge nicht aus noch ein, und doch verlor sie keinen Augenblick das innigste Vertrauen auf Gottes Vaterhuld und sie bat ihn von Herzensgrund, er möge nicht zulassen, daß die Kunden ungeduldig und ungehalten über die Verzögerung der Arbeit würden, und daß sie ihre Erwerbsquelle verliere.
Es war am fünften Tage nach jenem unglücklichen Ereignis, der Kranke quälte sich noch im heftigsten Fieber, da klopfte es leise an die Thür draußen. Wer mochte es sein? Der Arzt war schon des Morgens dagewesen. Jettchen öffnete. Eine hohe, schwarzgekleidete Dame stand vor ihr, in der Jettchen schnell die Baronin v. Hohenheim, eine ihrer Kunden, erkannte.
»Mein Kind, du kommst solange nicht mit meinen Taschentüchern. Dorette, meine Jungfer, sagte mir, wo du wohnest und so komme ich nachzusehen, ob du, liebes Kind nicht krank geworden seiest. Trotzdem du auf bist, scheint es mir, als sei meine Befürchtung berechtigt, du bist recht blaß, gutes Mädchen, fehlt dir etwas?«
Jettchen hatte die Dame artig in den kleinen Vorraum geführt, der an die Kammer stieß, wo der Großvater lag, wischte einen der reingescheuerten Stühle mit dem Schürzchen ab und bat die Dame, Platz zu nehmen. Dann sagte sie, indem glänzende Thränen in ihren Augen aufstiegen:
»Ach, Gott, mir fehlt nichts, aber mein armer, armer Großvater ist so krank.«
Und sie erzählte mit rührender Wärme den Unfall, der den armen Blinden betroffen.
Auf ihre teilnehmenden Fragen erfuhr die Dame auch Jettchens und ihres Pflegevaters ganze Geschichte.
»Du sagst, er sei Invalide. Ja, liebes Kind, warum suchte er nicht schon im Invalidenhaus um Aufnahme an. Er als im Krieg Beschädigter und Blinder hat ein doppeltes Anrecht auf kaiserliche Unterstützung.«
»Nein, liebe Dame, Großvater spricht anders. Er meint, durch Teppichflechten und Harfenspiel könne er sich ja noch immer selbst erhalten und wolle nicht anderen Bedürftigeren den Platz in dem Unterstützungshause fortnehmen. Eine kleine jährliche Summe bekommt er von dort.«
»Mein Gatte ist im Obersthofmeisteramte Seiner kaiserlichen Majestät; er wird sich, wenn ich ihn darum bitte, gern für euch bei unserem gnädigen Kaiser verwenden. An die Taschentücher denke ich nicht mehr, Kind, die haben Zeit. Hier hast du den Betrag dafür und dann werde ich dir heute noch meinen Arzt herschicken. Um die Beschaffung dessen, was er verschreibt, darfst du dich nicht kümmern, das wird alles von mir aus besorgt werden.«
Und der Arzt kam noch desselben Tages, ein vornehmer Herr im schwarzen Salonrock, mit weißen Händen voll funkelnder Ringe, aber mit einem so freundlichen Antlitz und leutseliger Sprache, daß Jettchen ihn sonder Scheu an das Bett des Großvaters führte. Er verschrieb auch etwas und tröstete das bleiche, besorgte Mädchen.
Dank der vereinten Bemühungen der Ärzte, der heilsamen Medizinen und der ausgezeichneten Stärkungsmittel, welche die Baronin schickte, gelang es endlich, die erlöschenden Kräfte des Leidenden zu beleben und ihn dem Tode zu entreißen. Sehr schwach und matt noch, aber mit friedlichem Lächeln ruhte Vater Martin auf seinem Lager, das die Baronin mit ganz neuem, warmem Bettzeuge ausgestattet.
Sie sorgte für die Heizung des Stübchens, für kräftige, reichliche Nahrung des Genesenden, und des bleichen, durch Sorge und Nachtwachen erschöpften Kindes. Endlich erlaubte der Arzt das Aufstehen. Vier Monate war Vater Martin gelegen. Die hellen Sonnenaugen des aus den Wolken guckenden Monates März sahen mit Befriedigung den sanften, blinden Dulder mit heiterem Antlitz und gefalteten Händen an dem Fenster sitzen, nicht etwa auf einem der wenig bequemen Sitzmöbel des Armenstübchens, nein – da stand ein schöner, blaugepolsterter Lehnstuhl. Dieser war eines Tages auf den Befehl einer Dame, deren Namen der Überbringer nicht nannte, hereingebracht worden. Doch Jettchen und der Großvater hatten die engelsgute Frau Baronin sehr im Verdachte, wiewohl sie lächelnd versicherte, der ihr gezollte Dank sei entschieden an die unrichtige Adresse gerichtet.
Also der Großvater saß am Fenster und Jettchen an seiner Seite eifrig über den Strickrahmen gebeugt, denn sie hatte jetzt viel nachzuholen. Da klopfte es und herein trat der Briefbote, der ein großes Couvert mit glänzend roten Siegeln überreichte. Ein genauer Blick darauf belehrte Jettchen, daß sie das kaiserliche Wappen enthielten, eine selige Ahnung durchzuckte sie und mit zitternden Händen öffnete sie den Brief. Kaum aber fand ihr sonst so beredtes Zünglein Laute, den freudigen Inhalt des kostbaren Blattes vorzulesen – und dieser lautete dahin, daß Seine Majestät, der allergnädigste Kaiser geruhe, dem verdienstvollen und edlen Vaterlandsverteidiger Martin Zacharias Werner und seinem Pflegekinde eine jährliche Summe auszusetzen, die ihnen ein sorgenfreies Leben sicherte.
Kaum hatte sie die Lesung beendet, da fiel sie, lachend und schluchzend zugleich dem mächtig bewegten Greise um den Hals.
»Großi, Großi, nun ist alles gut. Gott hat mein Flehen doch erhört, und die Ausfahrt, auf die ich mich damals so gefreut und die ein so trauriges Ende fand, hat nun zum Schlusse doch so schöne Folgen. Die gute Frau Baronin, sie hat das zustande gebracht. Du solltest nichts davon erfahren, bis es nicht ganz sicher wäre. Der Herr Baron hat uns das große Glück bei Seiner Majestät erwirkt.«
Nun brachen schöne Tage für Vater Martin und seine Pflegetochter an. Das Pfeilerplätzchen war natürlich ganz vereinsamt, denn abgesehen davon, daß es nun nicht mehr nötig war, die Barmherzigkeit der Vorübergehenden durch Harfenspiel zu erflehen, hieß es nun, sich schonen nach der schweren, überstandenen Krankheit. Auch Jettchen konnte sich schonen. Gleich einem Röschen blühte sie auf in der neuen, nach der Sonnenseite gelegenen Wohnung, die aus zwei Zimmern und einer Küche bestand.
»Ja, bei uns geht's ganz kaiserlich her!« sagte voll innigster Zufriedenheit gar oft der gute Alte. Harfe spielte er nur mehr zu seinem und Jettchens Vergnügen, und sie stickte bloß einige Stunden im Tage, die übrige Zeit brachte sie mit regelmäßigem Schulbesuch und fleißigem Lernen zu, von dessen Fortschritten sich die Baronin überzeugte. Jettchen hatte schöne Gaben von Gott erhalten und diese entwickelten sich bei Jettchens Strebsamkeit wunderbar. Mit Freude und Stolz lauschte Vater Martin seinem Liebling, wenn sie ihr Herz voll schöner, tiefer Gedanken vor ihm aufthat. – – – –
Sechs Jahre gingen so dahin. Aus dem Kinde war ein sanftes, liebliches Mädchen geworden, das durch die mütterlich gütige Unterstützung seiner Wohlthäterin und durch eigenen unermüdlichen Fleiß in den Besitz einer tüchtigen Ausbildung gelangt war.
Vater Martin stand im Alter eines Jubelgreises und seine friedlich himmelanstrebenden Wünsche beschäftigten sich viel mit dem Ausspruche der Heiligen Schrift: Des Menschen Leben währet siebzig Jahre und wenn es hoch kommt achtzig Jahre.
»Nicht wahr, Jettchen, mein Kind,« pflegte er zu sagen, »wenn Gottes Engel zu mir kommt und spricht: Nun geht es heimwärts, Vater Martin, heim! Dann weißt du, wo mein Platz ist, an deines Mütterleins Seite und eine Weide soll beide Gräber überschatten, denn eine Liebe hat in ihrem und in meinem Herzen zu unserem Jettchen gelebt.«
Da konnte Jettchen vor Bewegung nicht sprechen und sie drückte das goldblonde Lockenköpfchen zärtlich wehmütig auf des Großvaters Knie. Vater Martin war schon zweiundneunzig Jahre alt und jeder Tag konnte seine lichtlosen Augen zum ewigen Schlummer schließen. Sie hatten oft sehr ernste Gespräche miteinander.
»Erinnerst du dich noch mein Jettchen, als du in meine Kammer zogst, wie du da immer sagtest – Blindsein, das könntest du nicht ertragen, dabei könntest du nimmer sanft bleiben. Denkst du heut' auch noch so?«
»O Väterchen, du hast mich anders denken gelehrt. Nun muß ich dir's sagen, ich habe dich all die Jahre hindurch bewundert. Dein Zustand erschien mir so schrecklich, so entsetzlich und manchmal – o Gott, das war eine Sünde – als eine Ungerechtigkeit vom lieben Gott, dich, der du so tapfer, so edel für das Vaterland gekämpft mit einem solch großen Unglück zu strafen.«
»Und nun, mein Jettchen?«
»Jetzt, o, wenn ich's nur recht sagen könnte, wie. Weißt du, so ist's: Gott läßt seine Kinder viele Freuden erleben, aber die, welche er besonders liebt, nur solche, die aus Trauer und Unglück stammen, ich meine einen schönen Frieden –«
»Ja, das sind innerliche Freuden, die in das Herz kommen, das des Lebens Ungemach und Prüfungen mit Festigkeit und Ergebung in Gottes Willen überdauern, das sind unvergängliche Freuden. Denn sieh', mein Kind, Schönheit, Reichtum, Vergnügungen, das alles kann uns freuen, aber wie lange dauert es und es ist vorbei, Den inneren Frieden eines in Gott fröhlichen Herzens kann kein Schicksalsschlag zerstören und das zunehmende Alter kann ihn nicht vermindern. Keine Ungerechtigkeit in Bezug auf mein von Begeisterung durchglühtes Mannesstreben fürs Vaterland ist mein Invalidentum, das fehlende Bein und das fehlende Augenlicht, nein, eine Gnade, eine Belohnung, wie sie nicht schöner und reicher gedacht werden kann, denn siehe, durch dasselbe bin ich zu jenem Herzensfrieden gelangt, der meine armseligsten Jahre durchstrahlt hat mit Himmelslicht. Weil ich nicht um mich sehen konnte, hab' ich in mich geschaut und ich danke meinem Schöpfer aus ganzer Seele, daß er mich zu dieser Lebenspflicht und ersten Notwendigkeit strenger angehalten hat, als tausend und abertausend, die mit lichtvollen Augen alles sehen – nur nicht, wie's in ihrem Herzen aussieht.«
»O, Großvater, glaubst du, daß alle Blinden daran denken? Wenn du so sprichst, da kommt der herzliche Wunsch über mich, die vielen, vielen Blinden zu trösten mit den Gedanken, die dich so heiter und zufrieden stimmen.«
»Du gutes Kind, denke nur immer daran, andere zu beglücken, dann wird dein Leben reich und schön sein, und ich werde unbesorgt zur Ruhe eingehen, denn Gottes Segen wird auf dir ruhen immerdar.«
Und Vater Martin ging zur Ruhe ein. Baronin Hohenheim hatte alle Vorbereitungen getroffen, um ihre Schützlinge für einige Wochen zur Erholung auf ihren Landsitz kommen zu lassen. Die Koffer waren gepackt und Jettchen war noch geschäftig, im Hause alles zu ordnen vor der Abfahrt am nächsten Morgen. Dann ging sie wieder zu Großväterchen ins Zimmer hinein. Still im Lehnstuhl zurückgelehnt, mit wunderbar lichtem, friedvollem Antlitz, die Hände regungslos auf die Harfe niedergesenkt, die ihm noch auf den Knieen lag, nachdem er noch kurz vorher darauf gespielt – so sah ihn Jettchen und, obgleich sie auf den ersten Blick wußte, daß der Engel des Herrn bereits gewunken hatte: Nun geht es heimwärts, Vater Martin, heim, so kam doch weder Schreck noch Bestürzung über sie. Sie küßte seine marmorweiße Stirn und seine kalten Hände und kniete bei ihm nieder.
»Nun ist er auf der besten Erholung, im Lande des ewigen Frühlings, Gott wird ihm lohnen, für alles, was er an mir armer, hilfloser Waise gethan.«
Und still und reichlich flossen ihre Thränen.
»Jettchen!« rief da die freundliche Stimme der Baronin herein.
Sie erblickte die vom Abendrot übergossene Gruppe, das weinende Mädchen zu Füßen des friedlich entschlafenen Greises. Sie kniete nieder an der Seite Jettchens, die zum zweitenmal den Vater verloren hatte und suchte durch sanfte Liebkosungen die Glut ihres kindlichen Schmerzes zu lindern.
Auf dem Gottesacker lagen zwei schöne Grabhügel nebeneinander. Wie es Vater Martin gewünscht, breitete eine Weide ihre wehmutsvoll gesenkten Zweige über beide Gräber aus und ein Gitter, ein kunstvoll getriebenes, gußeisernes umschloß sie, wie sie auch im Leben das Gleiche gewirkt, als er mit väterlichem Walten angeschlossen an das Liebeswerk der Mutter, und es ergänzt hatte zu einem goldenen Sicherheitsreif um ein junges Leben.
Nach innigem Abschied von diesen beiden teuren Stätten war Jettchen mit der Baronin auf das Land gezogen. Die schöne, freie Natur hier bot den besten Ruhe- und Erholungsplatz für ein schmerzbewegtes, junges Herz. Durch den steten erquickenden Anblick tausend stiller Schönheiten wurden ihre erregten Gefühle sanft in ruhigere Bahnen gelenkt, die thränennassen Augen getrocknet, und das schmerzlich geschlossene Korallenmündchen öffnete sich wieder zu heiterem Lächeln.
Baron Hohenheim, der nur auf Besuch herauskommen konnte, da ihn seine Berufsgeschäfte in der Stadt zurückhielten, liebte Jettchen wie sein eigenes Töchterlein und brachte ihr, so oft er herausfuhr, artige Überraschungen mit.
Nachdem sich Jettchen während eines Monats erholt und beruhigt hatte, trat die Baronin eines Morgens in des Mädchens Zimmer, um mit ihr den Plan einer Reise in die Schweiz zu besprechen.
»O, nach meinen lieben, lieben Bergen, wo die Mutter und der Vater so glücklich gewesen,« rief das Mädchen entzückt, »nach den Matten, wo ich als Kind gejodelt, nach den Gießbächen, deren Sprühregen ich auffing mit den Händen wie funkelnde Perlen!«
Die Reisevorbereitungen waren bald getroffen und Jettchen sah das Land wieder, das sie als junges Kind verlassen und an dem sie heute noch wie damals mit jener begeisterten Liebe hing, die jeder gute Mensch für sein Vaterland empfinden soll. Die gute Baronin führte ihren Schützling auch an jene Stätte, wo das häusliche Glück ihrer Eltern so schön geblüht und dann so plötzlich vernichtet worden war, ein Thalkessel, auf dem einsame Bäumchen sproßten und vielfarbige Blumen. Jettchen kniete hier nieder und betete unter sanftströmenden Thränen, hatte sie doch das Grab ihres Vaters unter den Füßen. Leichteren, getrösteten Herzens ging sie von dannen und sah dann auf der Weiterreise so viel Schönes und Neues, daß sie Gottes Güte und Allmacht täglich inniger bewundern und preisen und einsehen lernte, wie wunderbar der Schöpfer so zahlloser Herrlichkeiten auch ihr Geschick unter den schwersten Trübsalen zum Besten hingelenkt und wie er sie nie verlassen hatte.
Nun war die Baronin mit ihrem Pflegetöchterchen wieder auf Schloß Hohenheim zurückgekehrt. Die gute Dame hatte sich schon während der Reise innig an das gemütvolle Mädchen angeschlossen, und wenn sie jetzt zusammen durch die schattigen Alleen des Parkes schritten oder am Rande ausgedehnter, saftiggrüner Rasenflächen, im Schutze uralter Bäume saßen und Jettchen von innigsten Dankgefühlen übermannt die Hände ihrer Wohlthäterin küßte und in beredten Worten dem Glücke, hier sein zu können, Ausdruck gab, da sah Baronin Hohenheim dem jungen Mädchen mit thränenfeuchten Blicken in die Augen und sprach:
»Du gutes, gutes Kind, ich muß dir danken, nicht du mir. Invalidenjettchen wurdest du genannt, als du, so selbstlos für den edlen Vater Martin wirkend, den Lebensabend eines einsamen, alten Invaliden verschönertest. Ich stand in der Blüte der Jahre und doch war ich mehr invalid als er, der immer fröhliche, sanft Ergebene. Wohl nicht in einem so ehrenvollen Kampfe wie er, hatte ich mir die Wunden geholt, die Schäden, die an meinem Herzen nagten.
Ich besaß ein Kind, fromm und süß wie ein Engel, ich liebte es, wie nur eine Mutter lieben kann, und dieses Kind, mein Licht, mein Alles, mußte sterben. Wie es so dalag weiß und still im Scheine feierlicher Kerzen, von Blumenduft umweht und ich mit furchtbarer Gewißheit wußte, ich würde nimmer hier auf Erden das süße Wort »Mama« von seinen Lippen hören, nimmermehr in seine holden Blauäuglein sehen, da fiel aller Mut und alle Freude von meinem Herzen ab und ich vergaß Tage und tagelang, dem lieben Gott für die Gnade meines Lebens zu danken. Dumpf und traurig lebte ich dahin und legte die Trauerkleider nicht mehr ab. Ich dachte nur an mein Kind, trauerte und weinte um mein Kind und glaubte, ich hätte nun nichts mehr auf Erden zu thun. Da führte Gott dich mir vor die Augen, du sahst meiner süßen Felicitas so ähnlich, und wie neues Leben kam es über mich, da ich für dich und den guten Vater Martin sorgen konnte. Und seit du bei mir bist, fühl' ich mich so reich, so froh, liebes Kind, und ich weiß es, meine Fee blickt glücklich vom Himmel herab auf ihr Schwesterchen. Nicht wahr, Jettchen, du nennst mich von heute ab Mama?«
Jettchen zog sanft die Hand ihrer teuren Wohlthäterin zu sich herab und küßte sie.
»O, ich habe dich so lieb, gute Mama!« – – –
* * *
– – »Für heute, Jettchen,« sprach die Baronin nach einigen Tagen, habe ich einen Ausflug nach W. vor, mit der Bahn in einer Stunde von hier zu erreichen. Dort hat unsere städtische Blindenanstalt für Kinder ein Erholungsheim. Dahin wird mein Jettchen mich gern begleiten, nicht wahr?«
»O, von Herzen,« antwortete die Gefragte und flog nur so hin und her, um die Mama und sich selbst rasch zur Abfahrt bereit zu machen.
In W. angelangt, betraten sie einen schönen, schattigen Park, in dem zahlreiche Ruhebänke zum Sitzen einluden. Einen eigentümlichen Eindruck machten die längst der Wiesenränder gespannten Seile, an denen sich da und dort Kinder des verschiedensten Alters entlang tasteten.
Die Vorsteherin empfing die Baronin als Gönnerin des Blindenheims mit großer Ehrerbietung und führte sie und ihre junge Begleiterin durch alle Räume, indem sie erklärte:
»Hier in unserer Erholungsstation sind der Arbeitsräume nur wenige; die Kinder sollen sich soviel als möglich im Freien aufhalten und ausruhen. Darum haben wir nur einen kleinen Saal für Korbflechterei.«
Sie öffnete die Thür desselben, und Jettchen sah mit großem Interesse auf das Bild der Geschäftigkeit, das sich daselbst darbot. Hier flocht, auf einem Schemelchen sitzend, ein blasser Jüngling, die lichtlosen Augen friedlich vor sich hingerichtet, mit behenden Fingern einen großen Wäschekorb; da arbeitete ein jüngerer Knabe langsamer, aber doch mit staunenswerter Geschicklichkeit an einer Blumentopfhülle aus mattgrünen Binsen und glänzendem Rohr. Dort tastete ein Anfänger unsicher nach den Arbeitswerkzeugen auf dem Tischchen vor ihm und so fort auf die mannigfaltigste Weise.
Nebenan befand sich die Bürstenbinderei und in dem oberen Stockwerk war die Abteilung für die Mädchen, die gerade in einem mäßig großen Saale teils strickend um einen langen Tisch herumsaßen, teils vor kleinen Maschinen stehend Wirkerei betrieben und andere Arten Handarbeit. Die Strickenden, blasse, schwächliche Kinder, deren manches mitten in die hell bei den Fenstern hereinleuchtende Abendsonne blickte, sangen mit klaren, melodisch zusammenklingenden Stimmen ein einfaches Lied. Weiterschreitend befand man sich in dem Lehrsaal, dessen Mitte ein langer Tisch einnahm, um den die blinden Schüler anstatt auf Bänken zur Lehrzeit saßen, damit der Lehrer oder die Lehrerin, besonders beim Leseunterricht besser von einem zum anderen gehen könne, denn diese armen Kinder haben es nicht so leicht wie ihre glücklicheren sehenden Altersgenossen. Mit den Fingerspitzen über die erhabenen Schriftzüge gleitend, müssen sie sich mühsam eine Kenntnis erwerben, die andere Kinder mit etwas Fleiß und Ausdauer bald erlernt haben.
Im Musiksaale befanden sich Zithern, Harfen, Flöten, Violinen, ein Klavier und vor dem Harmonium saß eben ein Kind und spielte mit wunderschönem Vortrag.
Als Fräulein Karola ihren Besuch hinausführte, sprach sie:
»Ja, das wäre ein Segen, wenn alle unsere Schützlinge so ergeben und sanft wären wie dieser Knabe. Aber leider haben wir auch recht unglückliche und namentlich in der ersten Zeit ihres Hierseins störrische Kinder, die nicht blindgeboren, sondern erst blind geworden, sich gar nicht in den Zustand hineinfinden wollen, jammern und verzweifeln von früh bis spät.«
Sie hatte unter diesem Gespräche die Besucher wieder in den Garten hinausgeführt.
»Der Knabe, der dort auf der Bank sitzt, ist einer der ärgsten,« fuhr sie fort. »Er hat sich die beiden Augen im wilden Kampfe mit einem Kameraden ausgestoßen, ist also unheilbar. Nun ist er schon vier Monate hier, aber wir konnten ihn bisher noch nicht besänftigen. Er ist zu keiner Arbeit zu bewegen, zu keiner Gemeinschaft mit den übrigen. Entweder tobt und schreit er und schlägt um sich, daß ihm niemand nahe kommen kann, oder er sitzt trotzig und finster in einem Winkel.«
»Wie traurig!« rief Jettchen aus, und vor ihr stieg mit überwältigender Erinnerung das Bild des friedlich geduldigen Vaters Martin auf. Ja, wenn er noch lebte, dachte sie, er könnte den Knaben gewiß geduldig machen.
Nun verabschiedete sich Fräulein Karola mit bestem Dank von dem Besuche, der den Inhalt der Sammelbüchse für ihre Schützlinge um ein hübsches Sümmchen vergrößert, und lud sie herzlich ein, doch gewiß auch ihr städtisches Haus einmal zu besuchen.
Auf der Heimfahrt war Jettchen sehr nachdenklich und aus ihren offenen Zügen las Mama eine große Herzensbewegung heraus.
»O Mütterchen,« hob Jette an, »ich muß immer wieder an den unglücklichen Knaben denken, er thut mir so leid und dann sieht er jenem Jungen so ähnlich, der, der« – eine schmerzliche Erinnerung machte ihre Stimme zittern, »der seine Schleuder auf mein armes Großi gerichtet. Wenn ich nicht so gern, so unendlich gern bei dir wäre, Mama, ich möchte bei den armen Blinden sein, sie lehren und trösten und ihnen von allem sprechen, was Vater Martin mir Schönes gesagt. Ich möchte die armen Kinder so gern glücklich machen!«
Während der folgenden Wochen ging die Baronin häufig mit Jettchen nach dem Blindenhause hinüber und das junge Mädchen wurde nach und nach mit den Kindern ganz vertraut. Diese kannten sie schon am Schritte und spielten mit niemand so gern wie mit ihr. Und zu Hause übte sie die Blindenschrift und suchte überall nach neuen Liedern für ihre Schützlinge.
Darüber verging der Sommer. Auf Schloß Hohenheim herrschte tiefe Einsamkeit; die Fenster waren verhängt, die Balkone verschalt, der entlaubte Park, über dem vereinzelte Schneeflocken schwebten, still und verlassen. Auch das Blindenhaus draußen umfing bereits winterliche Ruhe. Dafür ging es desto lebhafter zu in dem Palais Hohenheim drinnen in der Stadt, wo glänzende Gesellschaften abgehalten wurden. Jettchen bewegte sich in den eleganten Räumen, wo alles von Samt und Spiegeln glänzte, so ungezwungen und behaglich, als hätte ihre Wiege dagestanden und nicht in einem schlichten Bauernhäuschen auf einer Schweizer Matte. Sie war ungemein beschäftigt, das gute, fleißige Mädchen, denn seit Herbst war ihre Tageseinteilung eine sehr reichhaltige geworden. Sie hatte erreicht, wonach sie sich so sehr gesehnt, sie konnte den blinden Kindern eine Lehrerin und Trösterin sein. O, welchen Jubel hatte es in ihrem Herzen erregt, als die gute Mama bald nach Übersiedlung in die Stadt ihr ankündigte, es sei alles mit Fräulein Karola abgemacht, sie könne morgen die halbjährige Vorbereitung auf ein Lehrerinnenamt im Blindeninstitut antreten.
»Natürlich,« setzte die Baronin hinzu, »bleibt unser gutes Töchterchen nach wie vor bei uns. Die zehn Minuten zur Blindenanstalt hinüber sind kaum ein Weg zu nennen. Vormittags und nachmittags einige Stunden im Verkehre mit deinen trost- und unterrichtsbedürftigen Lieblingen, die übrige Zeit mit uns in Freud' und Lieb' und Traulichkeit, ist's so recht, Jettchen?«
Jettchen fand vor Glück und Dankbarkeit keine Worte. Es brauchte kein halbes Jahr, bis sie auf ihren schönen Beruf vorbereitet war, nach vier Monaten wirkte sie schon als Lehrerin unter der blinden Schar.
Rupert, der Störrische, kannte sie nun genauer. Durch beharrliche, sanfte Einsprache auf den unglücklichen Knaben hatte sie es schon im Sommer so weit gebracht, daß er sie an seiner Seite duldete und ihr sogar ruhig Gehör schenkte. Als sie am ersten Tage ihres Lehrerinnenamtes eine herzliche, schöne Anrede an die ihr zugewiesene Schar gehalten, befand sich auch Rupert dabei, und seit jenem Tage hatte niemand mehr über seine Wildheit zu klagen. Unglücklich sah er noch immer drein, aber es war ein stilles Insichgekehrtsein, das zu Mitleid stimmte, und als Jettchen, seine junge Lehrerin, ihm sagte, wie sehr sie sich freue, daß er so aufmerksam dem Unterrichte lausche, da brach er plötzlich in Thränen aus und schluchzte:
»Ja, Sie loben mich; doch wenn Sie etwas von mir wüßten, thäten Sie es nicht, o nein, Fräulein, dann nicht. Mich hat ohnedies schon niemand lieb, weil ich immer so wild bin, aber wenn man erst wüßte – –«
Jettchen legte den Arm um des schluchzenden Knaben Hals. Sie drang nicht in ihn, weiterzusprechen und er sagte auch nichts mehr. Als aber Jettchen bald darauf wieder mit ihm allein war, trat er zu ihr hin und sprach ganz, ganz leise die furchtbaren Worte:
»Ich bin – ein Mörder!«
Die junge Lehrerin schrak zurück und Rupert fuhr fort:
»Es war vor sieben Jahren, ich war noch nicht acht Jahre alt, da spielten wir einst, vier andere Knaben und ich an der Friedhofsmauer vor der Stadt. Wir hatten uns mit Kohle eine Zielscheibe darauf gezeichnet und warfen mit unseren Schleudern danach. Da trat aus dem Friedhofsthore ein Mädchen, das einen blinden, alten Mann führte. Sie ließ ihn in einer Ecke stehen und ging davon, um den Kutscher zu holen, mit dem sie herausgefahren waren. Da kam mir plötzlich die Lust, mit meiner Schleuder nach dem Holzfuß des Alten – es muß ein Invalide gewesen sein – zu zielen. Ich that's, aber – aber – der Stein ging höher und traf seinen Kopf. Er sank um, und als das Mädchen wieder hinkam, schrie sie laut auf und warf sich verzweifelt über ihn. Gewiß war sein Kopf zerschmettert. Ich lief davon, und seit jener Stunde habe ich keine Ruhe mehr. Aber zeigen wollt' ich's niemand und war noch unbändiger als vorher.
Und dann bin ich blind geworden. Sie wissen es ja schon, ein Knabe, mit dem ich in Streit geraten war, stieß mich nieder und mit den Ellbogen gerade mitten in die Augen hinein, so daß beide ausflossen.«
Der Knabe verbarg den Kopf in seine Hände und schluchzte bitterlich. Jettchen strich ihm sanft über die Locken und sprach:
»Nein, nein, Rupert, beruhige dich, du hast den armen, alten Invaliden nicht getötet. Ich weiß es ganz gewiß, denn ich bin ja das Mädchen, das ihn damals führte.«
»Sie, Sie, Fräulein, wirklich!«
»Ja, Rupert. So wunderbar hat es der liebe Gott gefügt, daß ich dich hier wiedertreffe. Mein Pflegevater wurde damals sehr krank durch den überstandenen Schreck. Dann aber erholte er sich und lebte noch glücklich und zufrieden einige Jahre lang. Und ich habe jeden Abend, bevor ich einschlief, für den armen, bösen Knaben – wie ich dich immer nannte – gebetet, daß Gott ihn zur Reue und Besserung führe, und der himmlische Vater hat es gethan, wenn auch sehr streng, Rupert, durch den Verlust deines Augenlichtes.«
Der Knabe seufzte erleichtert auf und hob das Antlitz mit den armen, blinden Augen von einem Ausdrucke inniger Dankbarkeit verklärt zu der Sprecherin empor.
»Schau', der gute Vater Martin war auch blind, und ich will dir nun erzählen, was er immer sagte: Mein Jettchen, sprach er, es ist wohl ein unendliches Glück, mit gesunden hellen Augen alles sehen und bewundern zu können, was der liebe Gott Herrliches geschaffen, aber die Menschen nehmen es nur zu leicht als etwas Selbstverständliches hin und vergessen, ihrem himmlischen Vater dafür zu danken. Wie viele Kinder giebt's, die mürrisch und verdrossen sind beim Lernen und bei anderen Beschäftigungen, zu denen sie doch nur durch die Gnade des Augenlichtes befähigt sind. Es kommt ihnen vieles mühsam vor wie eine lästige Plage, denn sie bedenken nicht, wie leicht und angenehm es ihnen gemacht ist im Vergleiche zu jenen, die nicht sehen und doch so gern ihre Hände regen möchten. Und gerade diese obliegen dem Wenigen, was sie arbeiten und lernen können, mit freudiger Anstrengung, und sind auch ihre Augen dunkel, in ihren Herzen wird's hell, sie leben dankbar in Erinnerung dessen, was sie einst gesehen oder – wenn sie blind geboren sind – dankbar für das, was sie aus den Erzählungen Sehender als Wunderwerke Gottes erkennen. Und ein solch glücklicher Blinder wirst auch du, Rupert, werden. Gott verzeiht dir, da du innig alles bereust, was du bisher gefehlt, und er wird dir helfen, ein neues Leben zu beginnen.«
Rupert weinte heftiger als zuvor, aber diese Thränen waren nicht die bitterlichen Thränen des Schmerzes, sondern friedlich glückliche Thränen der Freude und des Dankes.
Jettchen sah in diesem Augenblicke, sowie in der darauffolgenden Zeit ihren jahrelangen innigsten Wunsch erfüllt, nämlich den, Rupert, den Missethäter, als sanften reumütigen Knaben, ein schönes Beispiel für seine Altersgenossen und ein mahnendes Vorbild für alle anderen Kinder, die im Besitze ihres kostbaren Augenlichtes bei weitem nicht so dankbar, so geduldig und eifrig sind, wie er es war.
Jettchen beglückte auch die übrigen Kinder mit Trost und Belehrung. Liebe und Verehrung leben für sie nicht nur in der Anstalt, auch in ihr schönes Daheim brachte sie Licht und Freude.
Und wenn sie hinausgeht an die zwei teuren Gräber im Gärtlein des Friedens, um dort zu beten in treuer Erinnerung der lieben Heimgegangenen, dann ist sie sich bewußt, zu leben und zu wirken im Geiste ihres Mütterleins und des guten, seligen Vaters Martin.