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An die ernsten Wälder des reichen Böhmerlandes schließen sich grüne, wasserdurchzogene Ebenen wie ein heller Gürtel an dunkles Gewand. Zahlreiche Schlote ragen auf denselben himmelwärts, von Fabriksgebäuden ausgehend, die mit ihren vielen Haupt- und Nebenteilen einer kleinen Stadt gleichen. So still und einförmig sie äußerlich aussehen, so viel thätiges Leben bergen sie in ihrem Inneren, so viel Regsamkeit, so viel Geräusch.
Die aufsteigende und sinkende Sonne verleiht diesen Nutzbauten oft auch äußeren Reiz, indem sie den Fenstergläsern goldenen Schimmer entlockt und den Flammen, die wie Künder eines Brandes oft aus den Essen schlagen, einen goldblitzenden Hintergrund verleiht.
Solch eine Fabrik stand auch im Laufe der Eger, festgefügt, mit hohen Essen, an ihrer Stirn den Namen des Besitzers in großen schwarzen Lettern tragend. Es war eine im besten Betriebe stehende Glasfabrik. Der Zugang zu ihr heran war durch eine Allee lichtblättriger Akazien bezeichnet, und durch ein hübsches Vorgärtchen, dessen Blumenbeete mit buntfarbigen Glasschlacken umrandet waren, gelangte man in einen kleinen Vorbau, der, durch einen Gang mit den eigentlichen Arbeitsräumen verbunden, teils als Kanzlei, teils als Verkaufshalle diente. Jeder, der hier eintrat, war, besonders bei sonnigem Wetter, geblendet von dem Schimmer, dem Blitzen und der leuchtenden Vielfarbigkeit der auf Wandbrettern und langen Tischen aufgestellten Glaswaren.
Da gab's geschliffene und bemalte Gefäße, Gläser und Krüge aus gesponnenem und aus Sprungglas, dort wieder das hellste, feinste Krystallglas in so zarten, schönen Formen, als hätten Feenhände aus Tauglanz sie geschaffen.
Aus diesem hellen Raum gelangte man in den vorhererwähnten dunklen Gang. Am Ende desselben öffnete sich ein weites, ausgemauertes Gewölbe, dessen Mitte eine Erhöhung in großer Kreisform zeigte. Der Mittelpunkt dieses Kreises war von dem Hochofen eingenommen, einem großen, oben zugemauerten Würfel, aus dessen Seiten Glut und Flammen leuchteten. Dunkle Gestalten mit blassen Gesichtern standen dort oben auf der Rundung um den Hochofen. Sie hatten alle lange Stäbe, hohle Blasrohre in der Hand. Mit diesen fuhren sie in das Innere des Hochofens, der die geschmolzene, glühende Glasmasse enthält, holten sich ein Klümpchen davon an der Rohrspitze heraus, dann ward geblasen, geschwenkt, den erkaltenden Formen mit Zwickzangen die nötigen Spitzen verliehen, wie bei Vasen oder Lampenglocken aufgeschlagene Zipfel, oder es wurden mit anderen Werkzeugen lange Flaschenhälse gezogen, dann wieder platte Untersätze und Ränder gepreßt. Wunderbar schnell, mit einem Geschick und einer Leichtigkeit, die nur durch lange Übung erreicht werden kann, erzeugten die Arbeiter die gewünschten Formen, die dann zur gänzlichen Erstarrung und Abkühlung, noch immer am Blasrohre hängend, in Holzformen versenkt wurden, die in immer kaltem Wasser um die Rundung des erhöhten Hochofens herumstehen. Wieder herausgezogen, werden sie vom Blasrohre abgetrennt. Geschickt fangen halbwüchsige Jungen, die ihnen zugeworfenen Glasformen auf und ordnen sie haufenweise in den gegen die Wände zu vertieften Kammern, wo sie nochmals geglüht werden. Es ist ein schweres Tagewerk, vom Morgen bis zum Abend in dieser Gluthitze unter hastender Geschäftigkeit zu arbeiten. Mühsamer noch ist jedoch die Aufgabe jener, die in den über dem Hochofen gelegenen Sälen die durch andere Arbeiter bereits geklärten, polierten und einfach geschliffenen Gläser bemalen oder ihnen Verzierungen einschleifen.
In dem Saale der Glasmaler saßen ungefähr fünfzig Personen an langen, dem hellen Lichte zugekehrten Tischen und führten eifrig Pinsel und Feder. Der jüngste unter ihnen war ein schmächtiger, blasser Knabe, der kaum älter sein konnte, als zwölf Jahre. Der Lehrer des Dörfchens, dessen Liebling der fleißige und gescheite Klaus war, hatte den Knaben ausnahmsweise vor dem gesetzmäßigen Alter von der Schule freigegeben, da er, vaterlos, eine leidende Mutter daheim hatte, die, unfähig, etwas zu erwerben, auf die jungen Arbeitskräfte ihres Sohnes angewiesen war. Klaus hatte in der Schule ein ungewöhnliches Talent fürs Zeichnen, besonders für Ornamente an den Tag gelegt, so daß der gute Lehrer dem talentvollen Knaben bei Herrn von Göllert, dem reichsten, aber auch gütigsten Fabrikherrn der Umgegend, eine Anstellung in der Glasmalerei erwirkte.
Nun arbeitete Klaus schon ein halbes Jahr in der Fabrik. Schnell und geschickt hatte er das Hantieren mit Stift und Farben erlernt, ja, er erfand daheim in seinen Mußestunden immer neue Muster, und zwar von solcher Zartheit und Formvollendung, daß Herr von Göllert auf die Schönheit der neuen Zeichnungen auf Vasen und Gläsern aufmerksam wurde und sich den Urheber derselben vorstellen ließ. Es war nach Arbeitsschluß. In seinem ärmlichen, aber sauberen Röcklein stand Klaus in der Kanzlei seines Arbeitsherrn, das Käppchen bescheiden an die Brust gedrückt und hob offen und treuherzig die braunen Augen empor, als Herr von Göllert freundlich fragte:
»Also du bist es, der die Zeichnungen für die große Biergarnitur und die Krystallvasen entworfen hat?«
»Ja, Herr,« gab Klaus zurück, »wenn ich so einsam daheim sitze am Sonntag oder abends, und die arme Mutter schläft ganz schwach vor Schmerzen und Fieber, dann kommen mir allerlei Formen in den Sinn. Ach, wenn sie dem gnädigen Herrn nur nicht zu gering sind. Ich möchte so gern zeigen, wie dankbar ich bin, denn wenn ich hier nicht arbeiten dürfte, dann wäre meine arme Mutter gar schlecht daran. Ich hab' sie so lieb, und es thut mir so weh, wenn sie leidet.«
»Du gutes Kind,« sprach der Fabrikherr, »damit du siehst, wie sehr ich mit dir zufrieden bin, will ich, wenn du mir weiter Zeichnungen besorgst, deinen Wochenlohn um das Doppelte aufbessern.«
Klaus raubte der innere Jubel die Worte. Erst als Herr von Göllert nochmals sagte:
»Also es bleibt dabei. Geh' nun heim, mein Kind und sag' deiner Mutter, ich lasse sie schön grüßen und ihr sagen, sie möge wegen der Zukunft unbesorgt sein. Solange du brav und tüchtig bleibst, Klaus, habt ihr mich an euerer Seite.«
»O, Dank, Dank, tausend Dank!« stammelte nun das Kind, beugte sich über die Hand seines Wohlthäters und küßte sie mit zitternden Lippen. Mehr konnte er nicht sagen, dann wandte er sich leichten Schrittes heimwärts.
Draußen in der Akazienallee erwartete ihn ein etwa vierzehnjähriger Bursch, Michael, der Zulangerjunge vom Hochofen, dessen Tagewerk es war, die Glaserzeugnisse in die Glühkammern zu schaffen.
»He, Klaus, was hat's gegeben?« frug er neugierig und richtete die kleinen, wasserblauen Augen lauernd auf des Kommenden strahlende Mienen. »Das muß schon 'was Außerordentliches sein, wenn der Herr einen rufen läßt. Ich möcht',« fuhr er boshaft lächelnd fort, »an einen Verweis glauben, wenn nicht dein Gesicht –«
»O nein, Michael, Gott sei Dank, Unangenehmes war es nicht, – im Gegenteil, o, ich bin so glücklich!« vertraute arglos der gute Knabe dem anderen. »Ich glaube, du weißt schon, ich habe einigemal Zeichnungen, die ich daheim entwarf, mitgebracht, und die wurden dann zu Verzierungen in unserer Werkstatt verwendet. Denk' dir nur, der gute Herr hat davon erfahren, und nun eben versprach er mir, meinen Wochenlohn zu verdoppeln. O, wie freu' ich mich wegen meinem armen Mutterl! Jetzt werd' ich ihr doch etwas Stärkendes kaufen können, damit sie gesund wird.«
Mit verstecktem Hohn und innerlicher Böswilligkeit lauschte Michael auf die freudigen Worte seines Gefährten und tückisch blitzte es in seinen Augen auf, als er rief:
»Viel Glück, Junker Vorzug! Unsereins läuft Hochofen hin und Hochofen her und nicht weiter – –«
»Nein, Michael!« rief Klaus erschrocken über den schneidenden Neid in des anderen Stimme, »nicht so, geh', sei nicht so bös und mißmutig. Wenn du fleißig bist, wirst du gewiß bald Bläser am Hochofen, oder lern' das Malen, wie ich; es ist nicht so schwer, man muß nur sehr genau und fleißig sein.«
»Ja, fleißig, fleißig, fleißig!« höhnte rauh der andere, »sei du nur fleißig, dummer Junge, und laß die anderen ungeschoren. Glaubst du, ich brauch' dich, um zu wissen, was ich thun soll!«
Und er wandte ihm barsch den Rücken und stiefelte querfeldein.
Die Freude, die Klaus erfüllt hatte, war nun bedeutend gedämpft. Es that ihm so leid, daß Michael böse, unzufrieden und neidisch war.
»'S ist ein armer Junge!« dachte Klaus im Weitergehen bei sich selbst, »hat Vater und Mutter gar nicht gekannt. Immer bei einer alten, tauben Großmutter sein, die nichts thut, als schelten und schreien, ist gewiß schrecklich. – – O Gott,« betete das Kind mit plötzlich hervorbrechendem Gefühl, »ich danke dir, daß du so gut und liebreich gegen mich bist, daß du mir ein so sanftes Mutterl gegeben und daß du mir heute eine so große Freude geschickt hast. Ich bitte dich, mache den armen Michael gut und auch glücklich!«
Jetzt war Klaus ruhiger; heiter schritt er der kleinen Hütte zu, in der die kranke Mutter in sehnsüchtiger Erwartung ihres Kindes lag. Es war viel später als gewöhnlich, als er dort anlangte. Strahlenden Blickes umarmte er die Teure und erzählte ihr seine Begegnung mit dem Fabrikherrn.
Einige Wochen nachher betrat Klaus, wie gewöhnlich des Morgens als erster die Glasmalerei. Da stand Michael und schob, als er den Eintretenden erblickte, schnell den Sessel, den Klaus täglich besetzte, unter den Tisch.
»Guten Morgen, Michael.«
»Ich – ich,« sagte dieser hastig, »ich sollte nur Roderich, dem Bechermaler, etwas ausrichten, aber er ist noch nicht hier.«
Er hatte dabei etwas Unruhiges in seinem Wesen, das fiel Klaus auf. Doch als sich Michael entfernte, dachte er nicht mehr darüber nach, rückte seinen Sessel hervor und ging dann zu dem hohen Glasschrank, darin die angefangenen Arbeiten aufbewahrt waren, um sich die seine, einen schöngeformten Krug, dessen eine Hälfte schon mit zierlichen Arabesken bemalt war, zu holen. Eben langte er das Gefäß mit beiden Händen behutsam herab, da fühlte er plötzlich, wie dieses seinen Fingern entglitt – – ein leiser Schrei. In tausend Splittern lag der schöne Krug am Boden. Auf das Geklirre drängten die Glasschleifer im anstoßenden Raum erschreckt die Köpfe zur Thüre herein, von der gegenüberliegenden Seite schob sich ein Trupp eben zur Arbeit anrückender Maler heran, und in der Mitte des Raumes stand Klaus, blaß, zitternd, mit großen, erschreckten Augen auf die Splitter am Boden blickend, unfähig, ein Wort zu sprechen. Mit mitleidigen Blicken umgaben alle den Knaben, der mit stiller Geduld die Überreste mühseliger Arbeit und – er fürchtete – die Trümmer seines Glückes auflas. Dann ging er hinab in die Kanzlei, trat vor Herrn von Göllert hin, hob die großen, feuchten, traurigen Augen zu ihm auf und sprach schüchtern das Bekenntnis seiner Schuld. Herr von Göllert war ein guter, aber heftiger Mann, und als er vernahm, um welch kostbares Stück es sich handle, fühlte er Zorn und Ärger siedend heiß in sich emporwallen.
»Der Krystallkrug zerbrochen, Bube!« brauste er auf; da sah er helle Thränen über des Knaben stilles, blasses Antlitz rollen, und um des Kindes Mund zuckte es so schmerzlich, als es leise stammelte:
»O, gnädiger Herr, ich bitte, verzeihen Sie mir, o verzeihen Sie, ich will ja gern wochenlang ohne Lohn arbeiten, wenn sie nur nicht mehr böse sind.«
»Unsinn, Junge!« fiel noch barsch und schon mit wiederkehrender Gutmütigkeit der Fabrikherr ein. »Es bleibt bei der Erhöhung deines Lohnes. Aber vorkommen darf mir das nicht mehr, unverläßliche und ungeschickte Arbeiter kann ich nicht brauchen. Merk' dir das, Junge, und denke immer daran, daß du für eine kranke Mutter arbeitest.«
Mit innig sprechenden Dankesblicken entfernte sich der Knabe und begab sich wieder in den Malsaal zurück, wo die übrigen bereits emsig beschäftigt waren. Als er die Lehne seines Sessels ergriff, fühlte er, daß seine Hand durch die Berührung mit derselben fett wurde. Dadurch also war das Mißgeschick mit dem Kruge zu erklären! Er hatte fette Hände gehabt und das Gefäß, das er doch so behutsam angefaßt, war aus einer natürlichen Ursache denselben entglitten. »Michael!« zuckte es ihm durch den Sinn. »Hätt' er's gethan? Hab' ihn ja heut' morgen ganz allein hier oben gefunden, wohin er sonst nie kommt. Und er war so unruhig, ging so eilig fort. Doch nein, nein, das wäre zu schlecht. Und es ist auch schlecht von mir,« schalt sich der gute Knabe, »ihm solches zuzumuten.«
Er setzte sich still an seinen Platz, Gott innig dankend, daß er das Herz des Fabrikherrn zur Milde gelenkt und er verdoppelte seinen Eifer, um die Arbeit einzubringen, die in Splitter aufgegangen war.
Eine ganze Woche lang fand Klaus, der nun sehr vorsichtig täglich die Lehne seines Sessels untersuchte, daß sie mit einer Fettschicht überzogen war; er sagte gegen niemand ein Wort davon, obwohl es ihm jetzt schon zur Gewißheit geworden, daß es Absicht und nicht Zufall sei. Bestärkt in seinem Verdachte gegen Michael wurde er noch durch den Umstand, daß jener ihn seit dem verhängnisvollen Tage stets nach Arbeitsschluß in der Akazienallee erwartete, wobei er das Gespräch wie zufällig immer wieder auf das damals geschehene Mißgeschick lenkte und ein großes Interesse an den Tag legte, zu erfahren, was Herr von Göllert dazu gesagt habe. Klaus sagte die volle Wahrheit. Doch blickte er dabei nicht mit forschender Absicht in das Gesicht des anderen, deshalb sah er nicht, welch unmutig enttäuschter Zug sich um den höhnischen Mund seines Gesichtes ausprägte. – –
Einige Wochen gingen nun dahin. Es war an einem Samstage, an dessen Abend die Arbeiter stets ihren Wochenlohn erhielten. Nun waren alle schon ausgezahlt und entlassen worden, nur Klaus, der dem Fabrikherrn auf dessen Wunsch neue Zeichnungen zur Durchsicht gebracht, hatte sich bescheiden im Hintergrund gehalten, um als letzter abgefertigt zu werden. Michael war diesmal auch noch da, und so warteten die beiden Knaben auf ihren Lohn. Klaus bat den auszahlenden Herrn, er möge die Güte haben, Herrn von Göllert hereinzurufen, wegen der Zeichnungen. Jener verließ das Zimmer. Da entstand draußen vor dem Fenster ein großer Lärm. Ein heftiger Windstoß hatte eine tüchtige Masse des frühen Novemberschnees vom Dache des Aufseherhäuschens, unweit der draußen spielenden Kinder des Aufsehers donnernd zur Erde geworfen. Mit lautem Schreien und Weinen liefen die erschreckten Kleinen umher. Klaus war ans Fenster geeilt, sah aber jetzt zu seiner Beruhigung, daß den Kindern nichts geschehen war, sondern daß sie unter Thränen lächelnd in die Arme ihrer Mutter eilten, die mit der russigen Pfanne in der Hand zu Tode erschrocken vor die Thür hinausgelaufen war. Michael hatte sich nun zuletzt ganz dicht neben Klaus hingestellt und schien sehr aufgeregt zu sein, denn seine Augen glühten und Klaus fühlte die Hand Michaels nahe an seiner Tasche heftig zittern.
»Gott sei Dank, daß den Kindern nichts geschah,« rief Klaus, »beruhige dich nur Michael,« sprach er liebreich zu diesem, ganz erfreut, weiche Regungen in ihm zu entdecken.
Nun wandten sich beide ins Zimmer zurück, denn Herr von Göllert trat ein. Klaus begrüßte seinen Herrn ehrerbietig und entfaltete bescheiden die mitgebrachten Blätter. Plötzlich rief Herr Vollmar, der Schreiber, der daran war, den Lohn der Knaben auszuzählen:
»Das geht nicht mit rechten Dingen zu! Ich habe doch vorhin drei Kronen hergelegt und nun sind sie verschwunden. Hat, während ich Herrn von Göllert rief, jemand außer euch das Zimmer betreten?« wandte sich der Schreiber streng an die Knaben.
»Nein,« war die Antwort beider, »niemand.«
Die Stirn des Fabrikherrn furchten tiefe Falten und die Zornesader schwoll hoch an.
»Suchen Sie noch, Herr Vollmar.«
Dieser hob Bücher und Rechnungen, die auf dem Pulte umherlagen, auf, durchstöberte alle Laden, suchte unter dem Tische, ob das Geld nicht zufällig hinabgefallen war, drehte seine Taschen um, er konnte es ja unbewußt eingesteckt haben. Umsonst! Die drei Kronen waren und blieben verschwunden. Da richtete sich Herr von Göllert in seiner ganzen stattlichen Größe auf, trat vor die beiden Knaben, sah ihnen scharf in die Augen und fragte langsam, jedes Wort betonend: »Wißt ihr etwas von dem Gelde?«
»Nein,« sprach Klaus mit offenem, treuherzigem Blick und Michael beeilte sich, dasselbe zu versichern. Herr von Göllert schüttelte den Kopf. Dann trat er auf Michael zu und griff in dessen Taschen. Es fand sich nichts. Nun kam Klaus an die Reihe. In der ersten Tasche nichts – als jedoch der Fabrikherr die zweite Tasche von des Knaben Röcklein umdrehte, da fielen klirrend drei blitzblanke Kronen heraus. Klaus erblaßte – ein heftiges Zittern überlief von Kopf bis zu den Füßen seine schwankende Gestalt. Die Augen des wortlosen Knaben suchten das Antlitz Michaels – eine traurige Ahnung dämmerte in ihm auf. Michael stand etwas abgewendet und schien ganz betroffen.
»Bube, wie konnte dir so etwas einfallen, solch ein plumper, elender Diebstahl! Du bist ein Kind, deshalb will ich dich nicht der Polizei überliefern, aber verdienen würdest du's,« donnerte Herr von Göllert.
Klaus senkte stumm den Kopf, er durfte nicht antworten, das fühlte er, er durfte nicht sagen, daß er ahne, wie das Geld in seine Tasche gekommen war; sein edles, selbstloses Herz gebot ihm, daß er selbst leiden müsse, um nicht zum Angeber an seinem Arbeitsgenossen zu werden. Der Kampf in des Kindes Brust war erschütternd. In seinem Herzen stieg das Bild der kranken Mutter auf, für die er nun nicht mehr erwerben, die er nicht mehr vor Not und Krankheit werde schützen können. Denn seine Entlassung, die härteste Strafe für ihn, war ja gewiß, und dort stand er, der diese Strafe verdiente, der nun schon zweimal so schlecht an ihm gehandelt und den er doch nicht verraten durfte, wollte er nicht wider die untrüglich gerechte Stimme seines Herzens handeln.
Klaus senkte den Kopf noch tiefer, als Herr von Göllert mit harter, kalter Stimme seinem Schreiber gebot: »Zahlen Sie aus, Vollmar. – Laß dich niemals wieder hier blicken,« fuhr er dann zu Klaus gewendet fort, »Diebe gehören nicht in unser ehrliches Haus!«
Mit zitternden Fingern steckte der Knabe das erhaltene Geld ein. Hierauf ging er langsam, müden Schrittes die Akazienallee entlang. Traurig und kahl blickten die Bäume zum grauen Himmel empor. Krächzend flogen schwerfällige Raben über die weite Schneefläche dahin, und der Wind pfiff eisig aus Norden her. Dem Knaben war's, als sause er ihm unaufhörlich das schreckliche Wort »Dieb« in die Ohren. Er war es nicht und doch wurde er für einen solchen gehalten. O, und das schmerzte ihn so sehr; war er doch Herrn von Göllert mit ehrfürchtig kindlicher Liebe ergeben und nun glaubte jener, daß alle die früher von ihm gezeigten guten Regungen und Eigenschaften Heuchelei gewesen seien. Und was sollte er der Mutter sagen? Ach, wie wird seine Erzählung sie erschrecken, wie sehr die Sorge für die Zukunft ihre Krankheit verschlimmern, ja vielleicht ihren Tod herbeiführen!
»Ach, Gott, mein Gott!« schluchzte der Knabe und warf sich in dem kalten Schnee auf die Kniee, »hilf mir, gieb mir einen Ausweg, zeig' mir, was ich thun soll!«
Und wie er so betete, ward sein Herz leichter. Es wurde klar und sicher in ihm, daß er ja vor seiner Mutter keine Heimlichkeit haben dürfe, und daß bei der vollen, traurigen Wahrheit, ihr die Versicherung, ihr Kind sei gut und brav geblieben, ein milder Trost sein werde. Und er betrat gefaßter das ärmliche Stübchen, darin die Mutter ihm entgegenlächelte. O, wie bitter war es, dies Lächeln in Traurigkeit verwandeln zu müssen. Klaus bereitete die Teure durch die stille, wehmütige Innigkeit der Küsse, die er auf Hand und Lippe seines guten Mütterchens drückte, auf etwas Besonderes vor. Und dann den Kopf an ihre Brust drückend, erzählte er ihr so sanft und schonend als möglich das Vorgefallene. Wohl wurde das Gesicht der Zuhörerin immer blasser und ernster; aber als Klaus geendet, da küßte sie ihn und sprach:
»O Gott, ich danke dir, daß du mir mein Kind brav und ehrlich erhalten hast! Alles andere zu ertragen, wirst du, gütiger, himmlischer Vater, uns helfen.«
* * *
Eisiger, starrer Winter panzerte die weite Ebene des Thales und beherrschte mit Frost und Finsternis die kleine Hütte, darin Mutter und Sohn ihr entbehrungsreiches Leben führten.
Die arme Kranke litt sehr durch Kälte, durch Mangel an ärztlicher Pflege und stärkender Nahrung. Klaus war liebreich bemüht, sie durch seine Gegenwart zu erheitern und zu zerstreuen. Verdienst hatte er fast gar keinen. In den benachbarten Fabriken um Arbeit bitten, ging nicht an. Die betreffenden Fabrikherren würden ja alle bei Herrn von Göllert Erkundigungen über ihn einziehen wollen. Nun zeichnete Klaus sehr eifrig die verschiedenen Muster, die ihm in der Stille seiner tagelangen Muße einfielen. Außerdem machte er Botengänge, half da und dort, wo es nur anging, um etwas zu verdienen. Keine Arbeit war ihm zu schwer, er nahm sie an, wo er sie fand, kein Weg war ihm zu weit, er ging ihn froh und unverdrossen, that er doch alles für eine arme, kranke, liebevolle Mutter, die so dankbar, so herzinnig zu ihm aufblickte, wenn sie sah, mit welcher Freude ihr gutes Kind für sie sorgte und mit allen Kräften strebte, ihren Leiden Linderung zu verschaffen.
Klaus begegnete Michael auf seinen Wegen öfter. Es fiel ihm auf, daß dieser sehr blaß und viel stiller war, als früher. Hatte er ehedem höhnisch und boshaft dreingeschaut, so blickte er jetzt entschieden kummervoll, wie von einem geheimen Schmerz gequält, scheu und trüb um sich. Dabei bemerkte Klaus, daß Michael, jedesmal so oft er mit ihm sprach, sich bemühte, sich gleichgültig und auf seine frühere Weise zu benehmen.
»Es wird ihm wohl nicht gut gehen,« dachte der mitleidige Knabe, »ach, und das ist bitter in dieser rauhen Zeit. Wenn er nur selbst besser würde, da gäbe ihm der liebe Gott auch mehr Glück und Segen.«
Dann sah er ihn einen ganzen Monat lang nicht. Wie erschrak er, als er ihn darauf einmal, um die Ecke biegend, in der Straße der kleinen Ortschaft erblickte! Abgemagert, blaß, mit tiefeingesunkenen Augen wankte Michael einher. Klaus erfuhr von ihm, daß er krank gewesen und nun zum erstenmal wieder in die Fabrik gehe. Als er davon gesprochen, seufzte er tief, sah Klaus bittend an, öffnete den Mund, als wollte er etwas sagen, was ihm sehr schwer würde, – doch nein, es war nichts; er sprach hastig etwas von großer Eile und ging dann schnell nach der anderen Seite von dannen.
Als Klaus nach Hause kam und das Fenster des an das Krankenkämmerchen anstoßenden Küchenraumes öffnen wollte, um etwas frische Luft hereinzulassen, sah er zu seinem größten Erstaunen ein Paket am Fenstersimse liegen. Er nahm es herein, wickelte es auseinander und – ein großes Laib Brot mit glänzend brauner Rinde kam zum Vorschein. O, wie appetitlich das Brot duftete!
»Mutter!« rief Klaus und eilte an das Krankenlager, »steh' her, es ist wie ein Wunder. Ich fand's draußen am Fenstersims, aber wer mag es nur dort hingelegt haben, ist doch unser Hüttchen so einsam und abseits gelegen. Wenn wir es nur behalten dürften!«
»Das glaub' ich wohl, mein Kind,« entgegnete die Mutter, »zufällig kam es nicht dahin. Vielleicht hat irgend ein mitleidiger Mensch erfahren, wie sehr du dich abmühst für deine kranke Mutter und schenkt uns dies, um unsere Not zu lindern. Gott segne ihn dafür!«
Und ähnliche Überraschungen kamen nun noch einigemal vor. Es waren nie große Dinge, die Klaus am Fenstersimse fand, eine große Düte mit Kaffee, eine Wurst und dergleichen, aber immer stimmten sie die Herzen der darbenden Hüttenbewohner zu warmer Dankbarkeit gegen den unbekannten Wohlthäter.
Dieser schwere Winter ging auch dahin. Frühlingsbläue lächelte zwischen des Himmels dunklen Winterwolken hervor, Schneeglöckchen blühten im Thale und die lieben Schwalben segelten wieder zwitschernd durch die laueren Lüfte. Doch schwer lastete noch immer der Gedanke an die aussichtslose Zukunft auf Mutter und Sohn. Alles ringsum in Wald und Flur war so frisch, so schön und fröhlich – in der kleinen Hütte war's dunkel und traurig, krank und schwach lag die Mutter noch immer danieder. Selbst des Frühlings balsamische Lüfte konnten ihr nicht Genesung verschaffen. Hier waren Arzt, Medizinen und kräftige Nahrung vonnöten.
* * *
Es war an einem schönen Frühlingstage, ungefähr eine halbe Stunde nach Feierabend, als sich die Gestalt eines halbwüchsigen Jungen in den zwischen der Fabrik und dem Wohngebäude Herrn von Göllerts gelegenem Garten hin und her bewegte. Wer näher hingesehen hätte, würde bemerkt haben, daß der Knabe tief in Gedanken versunken, wie mit einem Entschlusse kämpfend, sich bald dem stattlichen Hause mit den blumengeschmückten Balkonen näherte, bald wieder, sich umwendend, eilig von dannen schreiten wollte. Schließlich machte er seiner Unentschlossenheit ein Ende, indem er die Klingel am Thore ohne Zögern anzog. Ein freundliches Dienstmädchen öffnete ihm, aber nur auf sein inständiges Bitten gestattete sie ihm, einzutreten, denn er sah verstört aus und sprach hastig, abgerissen und höchst erregt.
»Michael!« rief mit einem erstaunten Blick auf des eintretenden Knaben totenblasse Mienen der Fabrikherr, »was führt dich hierher?«
Michael war rasch vorgetreten, und ehe noch Herr von Göllert erfuhr, um was es sich handle, beugte sich der Knabe laut aufschluchzend über die Hand seines Arbeitsherrn und stammelte:
»O Gott, Gott, hätt' ich's nur nie gethan! Ich bin so unglücklich, ich kann's nicht länger mit mir herumtragen, ich –«
»Sprich, Knabe,« ermutigte Herr von Göllert, als er bemerkte, daß eine ihm unbekannte Empfindung des Jungen Zunge lähmte.
»Ich, ich bin allein daran schuld, daß der arme Klaus seine Arbeit hier verloren hat. Ach, es ist so schrecklich, Herr, Sie werden's mir nicht glauben, ich war Klaus immer so neidig, weil alle ihn viel lieber haben, als mich, weil er mehr kann, mehr verdient als ich und weil er immer so fröhlich ist. Als sein Wochenlohn erhöht wurde, erzählte er mir davon, und mein erster Gedanke dabei war: Nein, das wird nicht sein, das werde ich verhindern. Und ich dachte lange darüber nach, was ich denn thun könnte, um ihn in schlechtes Licht zu setzen. Endlich hatt' ich's! Ich schlich mich frühmorgens in die Glasmalerei und bestrich den Sessel des armen Klaus mit Fett. Er wird die Lehne berühren und dann mit fetten Händen das Glas anfassen, und was ich mir dazu dachte, geschah. Er ließ das Gefäß fallen, es zerbrach, aber, was ich gewollt, hatte ich doch nicht erreicht. Er verblieb in der Fabrik und verdiente so viel, viel mehr als ich. Da kam jener Abend, an dem er bei der Auszahlung seine Zeichnungen zeigen wollte. Herr Vollmar ging aus dem Zimmer, Sie zu rufen, Herr von Göllert. Klaus lief auf das Geschrei der Kinder an das Fenster. Ich hatte schon früher die drei Kronen auf dem Schreibpulte bemerkt; wie ein Blitz fuhr es mir durch den Kopf: Wenn ich sie unbemerkt nehmen und in die Tasche des ahnungslosen Klaus könnte verschwinden lassen. Man würde den Abgang gleich bemerken und Klaus würde, stumm und starr vor Schreck, nichts wissen und nichts sagen können.«
Atemlos hielt der Knabe inne und von neuem hob heftiges Schluchzen seine Brust.
»Ich, ich bin der Dieb, ich verdiene Strafe und Entlassung. Klaus ist unschuldig an allem, o, der arme, unglückliche Klaus! Das weiß niemand, niemand, wie unglücklich ich bin, seit ich ihm das angethan. Im Anfang war ich sehr froh, daß der Streich, den ich ihm spielen wollte, so gut gelungen sei. Aber dann begegnete ich Klaus oft, wie er so blaß und traurig, so sorgenvoll nach Arbeit hin und her eilte. Wenn er mich ansah, immer gut und freundlich, aber so traurig, so traurig, da war's mir jedesmal, als schnitte mir jemand ins Herz. Ich hatte keine Rast und Ruh', mich trieb's hinaus zur kleinen Hütte am Abend und da sah ich durch das schwacherleuchtete Fenster die kranke Mutter und Klaus im kalten Stübchen, und beide sahen so kummervoll aus. Nie bemerkte ich eine Speise auf ihrem Tische, selten Feuer im Ofen. Ich konnte nicht mehr essen und schlafen. Endlich wurde ich krank vor Reue und Unglück, und als ich dann wieder aufstehen konnte, legte ich ihnen einigemal Brot und Kaffee und was ich sonst noch kaufen konnte, heimlich auf's Fenster. Aber damit war noch nichts gutgemacht. Ich mußte Ihnen, Herr von Göllert, die volle Wahrheit sagen, und darum bin ich gekommen,« schloß der Knabe, und seine Stimme sank zum Flüstern herab, als er hoffnungslos traurig sagte, »wenn ich auch weiß, daß ich meine Arbeit hier dadurch verliere, aber ich verdien' es nicht besser, ich hab' alles selbst verschuldet. Ach, Gott, Gott, Herr von Göllert, wenn Sie mir nur verzeihen könnten, wenn ich nur erst sähe, daß ein Mensch an meine Reue glaubt, dann wär's mir viel leichter, zu Klaus zu gehen, dem ich ja auch noch alles sagen und den ich um Verzeihung bitten muß!«
»Michael,« hub ernst und eindringlich der Fabrikherr an, »was du mir da gestanden hast, ist alles sehr traurig. Du hast einem braven, strebsamen Knaben, der eine kranke Mutter zu erhalten hat, ein großes Leid zugefügt. Von uns aus, von Herrn Vollmar und mir ist nichts weiter darüber gesprochen worden, hoffentlich hast du auch nichts weitererzählt, denn das wäre schwer oder gar nicht gutzumachen, wenn der Ruf des armen Kindes durch Stempelung zum Diebe in weiteren Kreisen verächtlich gemacht worden wäre.«
»Nein, nein, gottlob, niemand weiß, warum Klaus entlassen wurde. Ich hatte zu sehr Angst, mich zu verraten, deshalb sprach ich mit niemand davon.«
»Klaus will ich sobald als möglich wieder in die Fabrik nehmen, und dir, Michael, verzeihe ich, da du wirklich bereust, dich so schwer vergangen zu haben. Ich will dich unter meinen Leuten behalten, aber mein Vertrauen, Michael,« sprach der Fabrikherr, jedes Wort betonend, »das kannst du dir erst mit der Zeit erwerben.«
Mit Thränen in den Augen küßte Michael die Hände des gütigen Herrn. Er war zu bewegt, um sprechen zu können.
* * *
Der helle Sonnenschein eines schönen Lenzsonntages vergoldete das unscheinbare Hüttchen draußen am Rain und drang schmeichelnd durch das weitgeöffnete Fenster in die Kammer. Klaus saß darin bei der Mutter und zeichnete. Die Kranke schlief. Da hörte der Knabe ein leises Pochen an der Thüre. Er ging sie zu öffnen, doch wie erstaunte er, als er Michael dastehen sah mit der Glut großer Erregung auf den Wangen und in den Augen. Noch seltsamer erschien es ihm, als Michael leise, wehmütig bittend sprach: »Darf ich herein?«
»O ja, Michael, komm' nur herein; aber was ist dir, entweder bist du krank oder es ist dir sonst etwas zugestoßen?«
Michael schüttelte den Kopf.
»Da setz' dich,« lud freundlich Klaus den Beklommenen ein.
»Klaus,« begann leise und mit merklichem Zittern in der Stimme der andere, »Klaus,« und wieder stockte er, »was hast du die ganze Zeit über von mir gedacht? Aber warum frage ich? Ich weiß ja, du konntest dir nichts anderes denken, als daß ich der schlechteste, boshafteste Knabe sei, den es giebt. Erinnerst du dich an jenen Morgen, da dein Unglück begann, als dir der schöne Krug aus den Händen fiel? Ich, ich war daran schuld.«
»Also du!« rief Klaus, »ich sage es dir offen, ich habe gleich an dich gedacht, als ich die Lehne meines Sessels mit Fett bestrichen fand, denn ich hatte dich ja zu ungewöhnlicher Stunde in der Malerei getroffen, aber ich schalt mich gleich aus wegen des Gedankens. O Michael, mir that es so leid, daß du so etwas absichtlich gethan haben solltest, und ich dachte, glaub' mir's, nie bös an dich.«
»Ach, ich glaub's!« versicherte Michael, »weil du so gut bist, Klaus. Ich hab's noch einigemal versucht mit dem Sessel, aber du warst zu vorsichtig, und ich war deshalb bitterböse auf dich. O Klaus, jetzt bin ich entsetzt darüber, aber damals dachte ich nur daran, dir zu schaden bei unserem Herrn, und dann kam das Schrecklichste mit dem Gelde – – du mußtest es ja erraten haben, daß ich es gewesen sei, der es leis in deine Tasche steckte, das fiel mir gleich nachher ein, denn es war ja außer uns zwei niemand im Zimmer. Und du schwiegst, trotzdem du alles wußtest. O Klaus, als du das thatest, um mich nicht zu verraten, den häßlichen Diebstahl auf dich nahmst, so geduldig, so still, da war's mir, als hätt' ich niederknieen müssen vor dir und dich um Verzeihung bitten, ich that's damals nicht, aber heute, heute – –!«
Michael war niedergesunken vor Klaus und barg weinend den Kopf auf dessen Knieen.
»Heute thu' ich's, Klaus, und bitte und beschwöre dich, verzeih' mir, vergieb mir, schau', ich bin krank geworden vor Reu' und Unruhe, o, ich war so elend, so unglücklich die ganze Zeit! Meine einzigen frohen Augenblicke waren die, als ich – – ich wünschte deine arme Mutter und dich ein bißchen zu erfreuen und da legte ich – –«
»Die Überraschungen aufs Fenster,« fiel herzlich Michaels Zuhörer ein. »Wie gut das war von dir und wie sehr es uns freute! Komm', gieb mir die Hand, ich verzeih' dir von Herzen, armer Michael, wie hast du dich gekränkt. Nun sei guten Mutes! Ich verzeihe dir ja so gern, hörst du, weine doch nicht!« beruhigte er, als Michael immer heftiger schluchzend seine Hände umklammerte.
»O Klaus, Klaus, das bin ich nicht wert! Werd' ich jemals so werden können, daß du mich ein bißchen lieb haben kannst?«
»Lieb hab' ich dich jetzt schon,« versicherte Klaus mit vollster Überzeugung, »eine solche Reue wie die deine macht alles wieder gut. Mir ist nun so leicht ums Herz, nicht wahr, wir wollen uns zusammen bemühen, immer besser zu werden.«
Und der freundliche Sprecher drückte einen warmen Kuß auf des anderen Stirn.
»Nun wirst du schnell wieder gesund und lustig werden.«
»Ganz froh werd' ich erst sein, wenn du wieder in der Fabrik arbeitest,« meinte Michael.
»Das kann wohl nimmermehr sein,« entgegnete plötzlich traurig und ernst werdend Klaus.
»Nie mehr?« fiel mit erwachender Lebhaftigkeit Michael ein, »o ja, sogar sehr bald, Herr von Göllert weiß alles, ich habe ihm die volle Wahrheit gesagt, er hat mir geglaubt und mir verziehen, der gute, gute Herr. O, denk' dir, Klaus, er will mich sogar behalten, und dich, o dich, sagte er, will er sobald als möglich in die Fabrik nehmen.«
»Meine Mutter!« war der erste Gedanke und das erste Wort des guten Klaus. »O, die Arme, das kannst du dir gar nicht ausdenken, wie sehr sie sich freuen wird. Doch still! ich glaube, sie ist erwacht.«
»Leb' wohl, Klaus.«
»Leb' wohl, Michael. O, das ist ein glücklicher Tag heute!«
* * *
Und der Tag wurde noch glücklicher. Seine eigene Freudigkeit strahlte Klaus wie aus einem hellen Spiegel doppelt schön aus dem Antlitz der Mutter entgegen, nachdem sie die frohe Wendung der Sache erfuhr, die sie so sehr bedrückt hatte. Ein Stündchen lag sie in stillem, dankbarem Gebete in der Kammer, dann strömte ein Kraft- und Wohlgefühl durch ihre Glieder, wie sie es seit langem nicht mehr empfunden. Sie stand auf und sorglich von Klaus in die wenigen, verblaßten Hüllen, die sich in der Hütte fanden, verwahrt, saß sie an die beste Lehne, an ihr gutes Kind, geschmiegt im vollen Nachmittagssonnenschein draußen auf der Bank vor der Hütte. Innig glücklich schauten ihre Augen auf die stille Pracht der schönen Welt ringsum. Sie sprachen nicht viel miteinander, denn ihre Herzen gingen auf in Dank und Liebe gegen Gott.
Da kam von der jenseitigen Allee herüber ein Wagen in Staubwolken gehüllt heran.
»Mutter,« rief Klaus und sprang auf, »das sind, die Pferde Herrn von Göllerts!«
Und bevor er noch Zeit hatte, etwas hinzuzusetzen, hielt der Wagen auf der Fahrstraße, welche durch einen schmalen Wiesenstreifen von der Hütte getrennt war. In der stattlichen Gestalt des Aussteigenden erkannte Klaus den Fabrikherrn, der den grasbewachsenen Fußpfad zur Hütte einschlug. Ehrerbietig grüßend trat ihm Klaus entgegen.
»Grüß euch Gott!« sprach freundlich der Kommende. »Laßt euch nicht stören, bleibt doch nur sitzen,« und er schüttelte der Leidenden, die sich, ihre Schwäche überwindend, erheben wollte, herzlich die Hand.
»O gnädiger Herr, die große Güte, welche Ehre für uns!«
»Es litt mich nicht mehr daheim, ich mußte anspannen lassen und herausfahren, um nach meinem braven Klaus und seiner guten Mutter zu sehen. Die letzten Monate waren wohl eine schwere Zeit für euch, aber nun denken wir nicht mehr daran. Ich bin nicht gekommen, um von dem zu sprechen, was vergangen ist, sondern von der Zukunft, von einer schönen, freundlichen Zukunft. Ja, meine liebe Frau,« fuhr er fort, den Dankesblick bemerkend, den die bewegte, blasse Mutter in Dankesworte zu verwandeln im Begriffe stand, »eine solche verdient Ihr, die Ihr Euer Kind so gut und brav erzogen habt, und soviel in meiner Macht steht, will ich alles Unglück, das von meinem Hause aus für Euch entstand, wieder gut und ungeschehen machen. Klaus, du erhältst von morgen an deinen Wochenlohn, ich bitte mir aber aus, daß ich dich so lange nicht in den Arbeitsräumen meiner Fabrik sehe, bis deine gute Mutter wieder vollständig hergestellt, deiner Pflege und Gegenwart nicht mehr so dringend bedarf wie jetzt.«
»O, Herr von Göllert!«
»Nichts, nichts, da seht 'mal her, du hast mir doch sonst immer so brav gehorcht.«
Und so leutselig und freundlich sprach der gute Herr weiter über dies und das und fragte Klaus auch, ob er denn wieder etwas gezeichnet habe. Wie glücklich war nun dieser, die langen Monate hindurch so fleißig gewesen zu sein. Ein ganzes, kleines Buch loser Blätter hatte er reinlich und genau vollgezeichnet und legte sie nun mit bescheidener Freude zur Ansicht vor.
Herr von Göllert steckte die Blätter zu sich und dabei kam ein längliches Schächtelchen zum Vorschein, dessen Deckel mit schön gemalten Beerenzweigen geschmückt war. Klaus hatte ein bewunderndes Auge darauf geworfen, was Herr von Göllert sofort bemerkte:
»Wenn du mir das Muster zu hübschen Arabesken für unsere Glaswaren verbinden wolltest, so wäre ich mit dir sehr zufrieden. Die Schachtel lasse ich hier, sie ist dein, mein Kind.«
»Ich will mich sehr bemühen,« versicherte Klaus, »aber wie schwer das Schächtelchen ist, bitte, Herr von Göllert haben vergessen herauszunehmen, was darin ist.«
»Nein, nein,« sprach lächelnd der Fabrikherr, »ich will, daß du es behältst, wie es ist.«
Und mit freundlichem Gruße schritt er von Klaus bis an den Wagen begleitet, über die frischgrüne Wiese.
»Es wird schon kühl, Mutterl,« sprach sorglich der zurückkehrende Knabe, »jetzt gehen wir hinein, und du sollst sehen, wie viel heller und schöner es in unserem Stübchen sein wird.«
»Ja, ja, das macht's, wenn man mit glücklichen Augen um sich sieht.«
Sich liebevoll als Stütze anbietend, führte der Sohn die Mutter ins Haus. Das Schächtelchen wurde für den Augenblick, als er der Mutter niedersetzen half, auf den Tisch gestellt. Da kam Murr, die graue Hauskatze, hereingeschlichen, und da sie das Schälchen Milch, das auf dem Tische stand, witterte, sprang sie unbemerkt auf einen danebenstehenden Sessel und rieb, sehr behaglich nach der Milch ausschauend, ihr glattes Fellchen an der Tischkante. Da stieß sie an die Schachtel, die auch da stand, krach! lag sie unten und klirrend und klingend flog und rollte ihr Inhalt auf den Dielen umher: Erschreckt flüchtete Murr in eine Ecke.
»Großer Gott,« rief die Mutter, »das ist ja eitel Silber!«
Klaus stand da mit großen, weitgeöffneten Augen, erst langsam löste sich des Erstaunens Starrheit von Kopf und Gliedern und er bückte sich, die Silberstücke aufzuheben. Sie wußten sich die Sache nicht zu erklären, die schlichten, bescheidenen Menschen, die nicht daran glauben konnten, es sei ein Geschenk. Da bemerkte Klaus ein zusammengefaltetes Zettelchen halbversteckt unter dem Schemel. Rasch nahm er's auf und las: Dem braven Klaus und seiner guten Mutter!
Gegen Abend klopfte der dritte Besuch dieses Sonntags an die Thür des einsamen Hüttchens. Es war ein freundlicher Herr, der sich als Arzt aus dem nächsten größeren Städtchen zu erkennen gab, und der von dort durch Herrn von Göllert zum Besuche der Leidenden hierher berufen worden. Er sprach sehr gütig, verschrieb etwas und sagte im Weggehen zu Klaus:
»Sieh' nur zu, daß deine Mutter sich kräftige. Große Schwäche und Entkräftung ist ihr Hauptleiden.« Und er versprach, bald wieder zu kommen.
Am nächsten Morgen begab sich Klaus durch das Örtchen nach der Fabrik, um dem gütigen Wohlthäter den wärmsten Dank seiner Mutter und seinen eigenen zu überbringen.
Nachdem er Einlaß in die Wohnung des Fabrikherrn gefunden, führte ihn das Dienstmädchen durch schöne, große, prächtig eingerichtete Zimmer, in deren einem ein blasser, schmächtiger Knabe mit einem Herrn, offenbar seinem Lehrer, an dem Tische saß und dem Vortrage desselben lauschte. – Klaus entschuldigte sich höflich, daß er störe, und als das Mädchen im Nebenzimmer Klaus' Name ihrem Herrn hineinrief, sprang der Knabe, ohne seinen Lehrer um Erlaubnis zu fragen, auf, lief Klaus nach und rief, als er Herrn von Göllert erblickte:
»Papa, Papa, ich will mit Klaus sprechen!«
»Theobald!« sprach jener streng, »du wirst dich sofort in deine Lehrstunde zurückbegeben und Herrn Rippolt um Verzeihung bitten für diese beispiellose Eigenmächtigkeit und Unart, so ohne weiteres vom Unterrichte wegzulaufen. Sofort!«
Theobald senkte unmutig das dunkle Lockenköpfchen und verzog schmollend den Mund. Doch wagte er es nicht, dem Befehle des innig verehrten Vaters entgegenzuhandeln und verschwand, ohne mit Klaus gesprochen zu haben. Als dieser mit seinem Arbeitsherrn allein war, kleidete er das Dankgefühl seines Herzens in die innigsten Worte.
»O, könnte ich nur sagen, wie sehr meine arme, gute Mutter sich freut. Es ist zu viel Glück auf einmal für uns. Tausend, tausend Dank auch, daß Sie so gütig waren, uns den Doktor zu schicken. Mir war immer so bang, sie könnte eine schwere Krankheit haben. Aber der freundliche Herr Doktor versicherte mir, ihre ganze Krankheit sei nur große Schwäche.«
»Und um diese zu beheben,« fiel gütig lächelnd der Fabrikherr ein, »ließ ich einen Korb für deine Mutter mit stärkenden Kleinigkeiten füllen, den wirst du ihr wohl gern heimtragen?«
»O Herr, wie gut Sie sind!« stammelte Klaus und folgte Herrn von Göllert, der ihn in den Flur hinausführte, wo ein vollgepackter Korb stand, unter dessen Deckel die Silberhütchen großer Weinflaschenköpfe hervorlugten. Während Herr von Göllert ihn dem Knaben einhändigte, wurde die gegenüberliegende Thür rasch geöffnet und Theobald erschien wieder.
»Herr Rippolt ist schon fort, Papa,« rechtfertigte sich Theobald auf den streng fragenden Blick seines Vaters. »So, Klaus, jetzt kann ich endlich mit dir sprechen, stell' nur den Korb gleich nieder, du mußt da bleiben, ja, du mußt,« trat er sehr entschieden gegen das Zögern des anderen Knaben auf.
»Klaus hat eine kranke Mutter zu Hause, Theobald, die will er als guter Sohn nicht lange allein lassen. Wenn aber Klaus glaubt, noch ein Viertelstündchen bleiben zu können, so wird er es nur thun, wenn du ihn freundlich bittest. Wann wirst du dir's endlich merken, Theobald, daß ein Kind nie befehlen soll.«
Theobald senkte errötend das Köpfchen.
»Bitte, Klaus, bleibe noch ein bißchen bei mir. Deine Mutter hat dich immer. Ich bin auch fast beständig krank und so einsam. Komm' herein, ich will dir meine Bücher zeigen und alles, was ich habe.«
Und die beiden Knaben setzten sich in dem großen Zimmer, das Theobald ganz allein gehörte, vor einem schönen Schrank, in dem sich Bücher und Spielsachen in Menge befanden. Klaus besah alles mit Bewunderung und großem Gefallen.
»O,« rief Theobald und sein gewöhnlich ernstes Gesicht wurde ganz lustig, die matten, langsamen Bewegungen des kleinen, mageren Körpers lebhaft, »jetzt macht mir erst alles Freude, was ich besitze, weil ich's jemand zeigen kann, dem es gefällt. Aber eigentlich,« fiel ihm plötzlich ein, »ich wollte dich ja genau fragen, wie das alles war zwischen dir und Michael, der mir selbst davon erzählt hat. Ich kann's nimmermehr glauben, daß du wirklich nichts gesagt und dich nicht verteidigt hast, obgleich du wußtest, daß es Michael war, der dir all die bösen Streiche gespielt.«
»Wie hätt' ich ihn denn angeben können,« entgegnete der Gefragte, »das wäre schlecht gewesen, da leid' ich lieber selbst eine Strafe, als daß wegen mir ein anderer gestraft würde.«
»Nein, nein, das könnt' ich nicht,« rief Theobald, »freilich mir sagt auch kein Mensch, daß ich gut bin, und von dir sagt's ein jeder, weißt du, Klaus, ich habe dich deswegen schon sehr beneidet.«
»Ihr könnt ja gut sein, sobald Ihr nur wollt.«
»Geh', sag' du, du mußt,« befahl Theobald nach gewohnter Weise und fuhr dann fort: »Ich kann gar nicht gut und sanft sein. Ich habe keine Mama, die immer bei mir ist. Und dann thut's mir bald im Kopf weh, in der Brust oder es schmerzen mich die Füße und wenn ich möchte, daß mir alle den Willen thun und sie thun's nicht, da werd' ich dann böse. Nicht wahr, wenn man krank ist, kann man nicht freundlich und gut sein?«
»Doch, doch,« erwiderte Klaus mit vollster Überzeugung, »o, wenn du meine Mutter sehen könntest, monatelang mußte sie zu Bette liegen, Tag und Nacht hatte sie Schmerzen und nie spricht sie ein unfreundliches Wort, ist immer so geduldig, so sanft und lieb.«
Theobald schwieg. Dann schoß ihm die Frage durch den Kopf: »Sag', beneidest du mich denn gar nicht wegen der vielen, schönen Sachen, die ich habe? Das muß doch schrecklich sein, in Armut leben, und dann immer arbeiten in der Fabrik – mir ist schon die Stunde zu viel bei Herrn Rippolt.«
»O Theobald, wenn ich nur mehr lernen könnte! Ich dachte schon manchmal daran, ich möchte reich sein, aber hauptsächlich wegen meiner armen Mutter, damit sie's besser habe, und damit ich mehr lernen könnte. Aber unzufrieden bin ich nicht. Ich arbeite so gern, du glaubst gar nicht, wie angenehm dann meine wenigen freien Stunden sind.«
»Also hast du nie Langweile wie ich!« rief Theobald. »Was, du willst schon fort? Aber hörst du, du mußt nun oft zu mir kommen, und wenn du wieder in die Fabrik gehst, mußt du's mir sagen, dann will ich kommen und dir malen zusehen.«
* * *
Als sich Klaus mit seinem Korbe heimwärts gewendet hatte, saß Theobald still am Fenster seines Zimmers. Die Bekanntschaft mit Klaus hatte ihm plötzlich ganz neue Gedanken gegeben. Ihm war, als sei ein helles Licht ihm aufgegangen über das große Unrecht und die Häßlichkeit seines bisherigen Betragens, ein schonungslos helles Licht über seinen herrischen Stolz, seine Unzufriedenheit, sein launenhaftes Wesen, seinen Ungehorsam, über seine Trägheit und seinen Eigenwillen.
»Und wenn die Mama vom Himmel auf mich herabschaut,« dachte er, »ob sie da wohl schon oft geweint hat. O Gott, ja!« mußte er sich gestehen. Er sah sie wieder vor sich liegen, wie an ihrem Sterbetage vor fünf Jahren, so still und so weiß, er hörte ihr letztes Wort: Theobald! So lieb, so sanft hatte es geklungen und nun war der, den die Gute so lieb gehabt, so schlecht geworden. Der Knabe schlug die Hände vors Gesicht und schluchzte bitterlich. So saß er in seinem großen, braunsamtenen Lehnstuhl, in sich zusammengesunken, vor Weh und Reue zitternd, als der Vater eintrat. Besorgt eilte er auf sein Kind zu und umfaßte liebevoll des Schluchzenden gebrechliche Gestalt: »Theo, Kind, was ist dir? Was thut dir denn weh, bist du krank?«
»O, Papa, laß mich!« stöhnte der Knabe und die Thränen flossen reichlicher, »mir thut nichts weh am Körper.«
»Ich kann doch nicht glauben, daß Klaus dich gekränkt hätte, wie?«
»O, nein, nein, Klaus ist so gut und eben weil – weil ich's nicht bin, o Papa, darum muß ich so weinen. Sag', Papa, du hast dich wohl immer sehr gekränkt darüber, daß ich nicht so bin wie die guten Kinder.«
»Ja, mein Theobald,« sprach der Vater sehr ernst, »wenn alle Kinder wüßten, wie viele schlaflose Nächte, wie viele trübe Stunden der Sorge und Kümmernis ihr Ungehorsam und ihr liebloses Betragen ihren Eltern verursacht, sie würden sich gewiß bemühen, besser zu werden.«
»Glaubst du denn, Papa, daß das auch bei mir ginge?« fragte Theobald, und ein leiser Hoffnungsschimmer flog über sein blasses Gesichtchen.
»Gewiß, mein Kind?«
»Dann werd' ich nimmermehr klagen und jammern dürfen, wenn ich krank bin, und nicht unfreundlich sein, ja, ich weiß schon, so wie Klaus sagte, daß seine Mutter ist, und dann, fleißig will ich sein. Wenn aber Herr Rippolt gar nicht mehr kommen wollte, weil ich heute so schlimm gewesen bin?«
»Beruhige dich nur, Theobald, Herr Rippolt wird sehr gern zu dir kommen, wenn du ihm zeigst, daß du eifrig und aufmerksam sein willst. Versuch's nur einmal.«
»Dann werd' ich auch immer so fröhlich sein wie Klaus, nicht wahr, Papa?« rief sich ermutigt aufrichtend Theobald und dann kam's leise, innig von seinen Lippen: »Papa, lieber Papa, verzeih' mir alles!«
* * *
Es war nun lichter, heißer Sommer. In tiefer Bläue leuchtete der Himmel. Die Ährenfelder begannen sich mit Goldglanz zu schmücken, alles blühte und duftete in Wald und Flur.
In dem kleinen Häuschen draußen am Ende des Dorfes schaffte munter mit neugestärkten Kräften Klaus' Mütterlein. O, sie hätte nie zu hoffen gewagt, daß sie sich jemals wieder so wohl, so heiter und zufrieden fühlen würde, wie es jetzt der Fall war. Während Klaus fleißig an dem langen Tische der Maler in der Fabrik arbeitete, besorgte sie den kleinen Hausstand auf das beste. Und da gab's seit Frühling hübsch viel zu thun. In dem Stübchen standen jetzt manch nette Möbelstücke, die Herr von Göllert hatte herüberschaffen lassen, und der kleine, ganz prachtvoll mit neuem Kachelbezug hergerichtete Herd in der Küche wunderte sich über die vielen schmackhaften Speisen, die Klaus' Mütterlein darauf bereitete. Ja, das verdankte man alles Herrn von Göllert. Wie oft kam Klaus mit einem gewichtigen Henkelkorbe heim, in dem eine Menge guter Vorräte enthalten waren, dazu Klaus' hoher Wochenlohn und die gut bezahlten Näharbeiten, die der Fabrikherr der braven Frau zukommen ließ, machten, daß Mutter und Sohn behaglich und sorgenlos in ihrem lieben Hüttchen hausen und sich noch manchen Notpfennig zurücklegen konnten. Über Mittag eilte Klaus immer nach Hause, freilich mußte er tüchtig springen, um der Mutter ein halbes Stündchen Gesellschaft leisten zu können beim Mittagessen und doch wieder pünktlich bei dem Glockenzeichen auf seinem Platze in der Fabrik zu sitzen. Aber er that's so gern, damit sein liebes Mütterchen nicht bis Abend allein sei. Freilich nach Arbeitsschluß, da konnte er meist nicht so schnell heimkommen. Denn da erschien Theobald und verstellte ihm den Weg gar häufig mit den schmeichelnden Worten: »Klaus, auf ein Viertelstündchen, bitte, bitte!« Und Klaus willigte immer ein. War das Wetter gut, so ergingen sich die Knaben in dem schönen Garten rings um das Wohngebäude, spielten und plauderten miteinander. Der Knabe im schlichten Röcklein mußte das vornehme Kind allen Ernstes heut' über dies, morgen über jenes belehren, wie es auf dem Wege des Guten vorwärtskommen sollte.
»Glaub',« versicherte Theobald strahlenden Auges, »der liebe Papa ist jetzt so glücklich, daß ich immer fröhlich und nicht mehr so launenhaft und mürrisch bin, wenn mir etwas fehlt. Aber nicht wahr, Klaus, du betest für mich zum lieben Gott, damit er mich doch auch gesund mache, wie es nun deine Mutter ist. O Klaus, manchmal ist's mir so schwer hier auf der Brust, und alles thut so weh. Doch wenn ich geduldig dabei bin, ist's nie so arg zu ertragen, wie früher, als ich schrie, klagte und trotzte. Und alle sind nun so gut zu mir, auch Frau Bolte, unsere Haushälterin, mit der ich immer auf dem ärgsten Kriegsfuße stand, weil sie so streng und pünktlich auf meine Pflege sieht. Mir war das immer so gräßlich, genau zu thun, was sie anordnete, doch jetzt weiß ich's, daß sie es so gut mit mir meint, wenn sie darauf besteht, daß ich meinen bitteren Eisenwein trinke, kurz alles thue, was der Doktor sagt. Jetzt lass' ich mich nie mehr dazu zwingen. Nicht wahr, Klaus, so ist's recht?«
»Ja freilich, Theobald. Aber willst du mir jetzt nicht zeigen, was du seit letzten Dienstag gemalt hast?«
»O, ich bin sehr fleißig gewesen!« rief der Gefragte und führte Klaus in sein Zimmer, das jetzt hübsch ordentlich aussah, nicht mehr wie früher ungeräumt von umherliegenden Spielsachen. Voll gutmütigen Stolzes suchte Theobald die Blätter hervor, deren Bemalung er unter Anleitung Klaus' in seinen vielen Mußestunden übte.
»Nein, wenn ich noch denke, wie oft ich früher immer Langweile hatte, jetzt giebt's das nicht mehr. Glaubst du, daß ich bald etwas auf Glas werde malen können?«
»Wenn du dich fleißig übst, o ja.«
»Papa ist sehr froh, daß ich's so gern lerne, er meint, wenn ich einmal die Fabrik übernehme, wird es mir sehr zu statten kommen. Aber das sage ich dir gleich, wenn ich einmal der Fabrikherr bin, dann behalte ich dich immer noch lieb und deine Mutter und du mußt sehr oft bei mir essen.«
Klaus lächelte und meinte dann: »Weil du vom Essen sprichst, Theobald, erinnerst du mich daran, daß ich eilends nach Hause muß, sonst wartet die Mutter zu lange mit dem Abendmahl auf mich.«
Und Klaus ging. Theobald stand am Fenster droben, sah dem Freunde liebevoll nach; dabei mußte er in überströmendem Dankgefühl die Hände falten, und er betete in seinem Herzen:
»O mein Gott, wie dank' ich dir, daß du mir den lieben, guten Klaus geschickt hast!«
* * *
Als Klaus auf seinem Heimwege durch das Dörfchen schritt, kam ihm Michael entgegen:
»O Klaus,« rief er, »laß mich mitgehen, ich habe dir viel .zu erzählen. Denke dir, ich soll wegkommen von hier. Darum war ich heute nicht in der Fabrik. Aber so weißt du gar nichts, ich muß ordentlich erzählen. Also, heute morgen kommt ein Brief mit großen Siegeln und einer unbekannten Handschrift an mich. Ich mach' ihn auf und seh' gleich nach der Unterschrift: In inniger Liebe dein alter Onkel Michael Krause. Drauf fang' ich an zu lesen – daß ich dir's nur kurz sage – darin stand, daß mein Vater, der gestorben ist, als ich noch ganz klein war, einen Bruder besessen. Eines Tages hatten sie einen so heftigen Streit miteinander, daß sie sich monatelang nicht sahen und sprachen, und als dann mein Vater Versöhnung anbot, wollte mein Onkel nichts davon wissen, ging unerbittlich fort, und, denke dir, um mit seinem Bruder nicht so leicht wieder zusammenzutreffen – – bis nach Amerika. Nun ist er alt, nachdem er jahrelang dort gelebt und immer mehr und mehr an seinen Bruder dachte, bis er endlich nach Europa herüberkam. Er schrieb gleich von Hamburg aus an die Polizei hier im Dörfchen, um nachzufragen, ob die Großmutter und mein Vater noch hier lebten. Da erfuhr er, daß sein Bruder schon lange und seine alte Mutter vor zwei Monaten gestorben sei und daß ich, sein Neffe, bei fremden Leuten in Armut lebe. Nun teilt er mit, daß er im nächsten Monat kommen werde, um mich mit sich zu nehmen.«
»O weh, nun wird nichts aus dem Plane, daß du mit uns wohnen solltest!« rief Klaus. »Aber es ist ein großes Glück für dich, siehst du, ich hab' den lieben Gott immer so innig gebeten, er möge dich glücklich machen. O, wie freue ich mich mit dir!«
»Ach, ja,« entgegnete Michael, »ich freue mich auch sehr, aber mir wird's doch so schwer, von dir fortzukommen. Und dann weiß ich gar nicht, wie der alte Onkel ist, am Ende recht mürrisch und eigensinnig und da werd' ich dann auch wieder wild.«
»O, nein, das wirst du nicht. Gott wird schon alles gut machen!« rief fröhlich und zuversichtlich Klaus.
* * *
Rauhe Herbststürme entlaubten Baum und Strauch, entblätterten die Blumen und machten des Himmels freundlich Blau erblassen. Während die Dorfkinder trotz der empfindlichen Kühle lustig in ihren dünnen Röcklein im Wirbel welker Blätter umhersprangen, saß, müde und fröstelnd, die großen, fieberglänzenden Augen in die prasselnde Flamme des Kaminfeuers versenkt, Theobald in seinem Lehnstuhl. Von Zeit zu Zeit erschütterte ein Hustenanfall seinen zarten Körper und das Lockenköpfchen des Kindes sank stets nachher matt auf die Lehne zurück. Sanft und geduldig saß nun der einst so launische, heftige Knabe da, und trotzdem er jetzt weit größere körperliche Schmerzen hatte als jemals, so war ihm doch nicht so unglücklich und elend zu Mute, wie damals, als er gefühlt, hatte, daß er, das kranke Kind, dem ganzen Hause eine Last sei.
Nun öffnete sich leise die Thür und eine hohe schlanke Dame mit gütigem Antlitz trat, eine dampfende Schale in der Hand tragend, ein.
»Tausend Dank, liebe Tante Helene!« sprach herzlich Theobald. »Ich trink' den Thee gar nicht gern, aber ich möchte nicht, daß Papa immer so sorgenvoll dreinsieht wegen mir, und da will ich je eher gesund werden. O, es ist zu gut, liebe Tante, daß du zu mir gekommen bist, als dich Papa zu uns lud. Du pflegst mich so lieb und leistest mir immer Gesellschaft. Die anderen, die ich lieb habe, Papa und Klaus, haben so wenig Zeit. Wenn ich nur erst wieder gesund bin, da will ich dich bedienen und dir Liebes thun, sowie du es jetzt mir thust. Und fleißig will ich sein, lernen und malen, damit ich doch dem Papa zum Geburtstag die Glasaschenschale malen kann. Glaubst du, wird's noch lange dauern, Tantchen?«
»So Gott will, nein, mein liebes Kind,« antwortete die Gefragte und lehnte besorgt das schwache Körperchen des Knaben gegen ihre Schultern, als ein neuerlicher Hustenanfall ihm eine purpurne Röte in die eingefallenen Wangen trieb, und leis im stillen betete sie für sich: »O Gott erhalte meinem, Bruder das einzige Kind!«
* * *
Das Weihnachtsfest mit seinem überirdischen Glanz und seiner wunderbaren Weihe war vorübergegangen. Gerade um diese Zeit hatte Klaus den ersten Brief Michaels aus Amerika erhalten. Er schrieb sehr freudig, daß es ihm wohlgehe drüben in der Neuen Welt. »Der Onkel ist sehr gut,« teilte er mit, »ein lieber Herr mit ganz weißem Haar, der, wie er immer sagt, nicht genug thun könne, um an dem Sohne gutzumachen, was er an dem Vater gefehlt.«
Michael mußte fleißig lernen, um die Lücken seiner mangelhaften Schulbildung auszufüllen, und da er auch das Englische leicht auffaßte, fühlte er sich schon ganz heimisch in dem großen Handelshause des Onkels, in dem er auch bald eine Stelle zu bekleiden hoffte.
So sehr Klaus sich über das Wohlergehen dieses seines Freundes freute, so inniges Mitleid empfand er für den anderen, seinen eigentlichen Freund, für den kranken Theobald. O, wie schnitt es ihm ins Herz, wenn er den lieben Knaben, mit dem er vergangenen Sommer so fröhlich im Garten gespielt, nun an den Lehnstuhl gefesselt sah, immer blaß und müde. Klaus war ein ernster, nachdenklicher und für sein Alter sehr gereifter Knabe, traurige Ahnungen stiegen in ihm auf, und er sprach sich oft mit der guten Mutter darüber aus, die den armen, reichen Knaben gleichfalls herzlich bemitleidete. Als sein Bangen um den Freund wuchs mit der zunehmenden Schwäche desselben, sprach er eines Tages den freundlichen Arzt an, der seine Mutter gesund gemacht, und der nun auch Theobald behandelte, mit der Bitte, ihm die vollkommene Wahrheit über den Zustand Theobalds zu sagen. Der alte Herr versuchte es, ihn zu vertrösten, da er wußte, wie sehr Klaus an seinem jungen Patienten hing. Der Knabe aber sprach:
»Herr Doktor, ich weiß es, Sie verschweigen mir etwas. Aus ihren Augen spricht etwas sehr Trauriges, aber ich werde den Mut haben, es zu hören. Wenn auch Theobald sterben müßte, so ganz trostlos werde ich nie darüber sein, denn ich weiß ja, er kommt zum lieben Gott hinauf, und dort ist's gut sein.«
»Braves, starkes Kind,« entgegnete gerührt der Arzt und setzte sehr ernst hinzu: »Wenn das Frühjahr kommt, wird Theobald nicht mehr im Lehnstuhl leiden, dann wird er dort ruhen, wo's gut ist sein.« – –
So krank und müde der Körper Theobalds, so frisch und thätig war sein Geist. Der Unterricht bei Herrn Rippolt, den er schon seit Sommer in den Abendstunden nach Schluß der Fabrikarbeit mit Klaus teilte, wurde auf sein inständiges Bitten auch jetzt fortgesetzt. Klaus mußte regelmäßig zur Stunde erscheinen, und Theobald bemühte sich mit all seiner Willenskraft zum Guten, Schritt halten zu können mit dem Kameraden, dem er gleich war an Begabung und Fleiß, aber ach, so ungleich an Körperkraft und Wohlsein. – – –
Es schmolz der Schnee in Wald und Flur, und die starren Eiszapfen brachen knackend von Dächern und Sparren. Die Stare begannen die noch kahlen Bäume mit ihrem munteren Treiben zu beleben, und gleich schimmernden Segeln auf blauer Flut flatterten die Wölkchen am freundlichen Himmel.
Theobald lag seit Wochen in seinem blühweißen, spitzenbesetzten Bett. Klaus kam nicht mehr an den Lehrtisch, sondern an das Krankenlager des Freundes, so oft er konnte. Wenn es anging und die Arbeit nicht unbedingt drängte, gab Herr von Göllert dem guten Knaben ganze Tage frei, welche dieser mit Freuden benützte, um Theobald Gesellschaft zu leisten und die gute Tante Helene in ihrem anstrengenden Pflegeramte abzulösen.
»O Klaus,« sprach Theobald eines Tages, »du weißt gar nicht, was du mir thust. Für dich ist es wohl ein großes Opfer, still hier in der Stube zu sitzen, während es draußen schon so herrlich ist, aber mich machst du so glücklich damit.«
Tante Helene hatte das Zimmer verlassen, und Theobald setzte wehmütig lächelnd hinzu:
»Ich glaub', es wird nicht mehr lange dauern.«
Klaus gab es einen Stich ins Herz, doch er versuchte fröhlich zu lächeln und sprach:
»O gewiß wirst du auch bald hinauskönnen.«
»Nein, nein,« erwiderte Theobald sanft, »so meint' ich's nicht, nicht hinaus, nein, hinauf, siehst du, dort hinauf,« und er deutete mit der schmalen, weißen Hand durchs Fenster nach dem schönen, klaren Himmel. Da hatte Klaus keine Macht mehr über sich, sank weinend am Bettrand nieder und drückte den Kopf in die Decke.
»Aber, Klaus,« sprach Theobald, »warum bist du so traurig? Der liebe Gott weiß es ja, daß ich den besten Willen hatte, besser zu werden. Klaus, höre, ich muß dir noch etwas sagen,« fuhr er dann hastig fort, und Klaus trocknete seine Thränen und neigte den Kopf hinab zu des Freundes Mund, denn seine Stimme war gar schwach.
»Weißt du, als ich mich niederlegen mußte bald nach Weihnachten, als ich dann so große Schmerzen hatte und so krank wurde, lag ich in einer Nacht wach. Es war alles so still umher, und da kam es plötzlich mit einer furchtbaren Angst über mich, die Angst vor dem Sterben. Mir war, als müßt' ich rufen: Nein, nein, ich will nicht sterben, ich will leben, und wenn mich Gott sterben läßt, kann ich ihn nicht mehr lieb haben. Ich wollte gut werden und nun hab' ich keine Zeit mehr dazu, ich wollt' noch so viel thun und noch so glücklich sein mit euch allen, und nun soll ich alles lassen und fortgehen. O, diese Gedanken waren böse, Klaus. Als der Morgen kam und die Sonne schien mit ihrem hellen Strahl durchs Fenster, da war's mir wie ein Kuß vom lieben Gott, und ich versteckte meinen Kopf in die Kissen und weinte über mich, daß ich hatte so verzagt und trotzig sein können. Seit jenem Morgen, Klaus, habe ich keine Furcht mehr vor dem Tode, und weiß, daß es kein Mensch haben darf, der Gott wirklich lieb hat. Wenn ich so darüber nachdenke, sehe ich ein, daß ich dem Papa nie eine rechte Hilfe werden oder gar die Fabrik hätte übernehmen können, dazu war ich zu kränklich.«
In diesem Augenblicke öffnete sich die Thür, und Herr von Göllert, von Tante Helene gefolgt, trat ein mit den liebevollen Worten: »Grüß Gott, mein Theobald.«
Das kranke Kind ergriff des geliebten Vaters Hand und küßte sie. Dann sprach er laut, daß alle es hören konnten:
»Nicht wahr, Papa, wenn, – wenn – – du versprichst mir, daß du Klaus, meinem lieben, guten Klaus einmal die Fabrik übergiebst und ihn als Sohn betrachtest, wenn – wenn ich zur Mama hinaufgehe.«
Die hohe, kräftige Gestalt des Vaters zitterte, als er diese Worte hörte und fast rauh stieß er hervor:
»Wer hat es gewagt –«
»Niemand, Papa,« sprach Theobald, »hat mir gesagt, daß ich sterben werde, aber ich fühle es. Bitte, bitte, lieber Papa, versprich mir, um was ich dich bat! Komm' her, Klaus« und er legte seines Freundes Hand in die seines Vaters. »Klaus wird dir ein guter Sohn sein, ein besserer, als dein armer Theobald war, Papa. So, jetzt bin ich beruhigt,« seufzte er erleichtert, als der Vater gesprochen hatte: »Wenn es dazu kommen sollte, mein liebes, gutes Kind, so soll dein edler Wunsch gewiß erfüllt werden.«
Dann lag er still, bevor er wieder anhob: »Wenn's mir doch nur ein bißchen gelungen wäre, geduldig zu sein während meiner Krankheit.«
»Theobald,« sprachen Vater, Tante Helene und Klaus, »du warst doch immer so sanft und geduldig und hast tausendmal alles Frühere wieder gutgemacht.«
»Gottlob,« erwiderte Theobald, und in seinen Augen strahlte ein wunderbarer Friede, »daß ich damit begann, solange noch Zeit dazu war. Jetzt kann ich dir wohl keinen Aschenbecher mehr malen, Papa, und dich nicht mehr bedienen, liebe Tante, und du, mein Klaus, mußt die Stunden bei Herrn Rippolt allein nehmen; ich danke ihm vom Herzen für alles und er soll mir verzeihen, Klaus, du richtest ihm das aus, nicht wahr?« Die Augen des Kranken wurden noch größer und glänzender und seine Stimme matter. »Und deine Mutter grüße ich herzlich und danke ihr für die Monatsrosen, die sie mir schickte.« Er hielt wieder inne und seufzte. Da trat der Arzt ein, den der Vater in höchster Besorgnis hatte herbeirufen lassen.
»Papa, – Klaus – – tausend – Dank!« hauchte Theobald, dann schloß er die Augen mit stillem, seligem Lächeln, und als der alte Herr das Ohr an des Ruhenden Brust legte, schlug das Herz darin nicht mehr. – – – – – – – –
* * *
Zwanzig Jahre waren seither vergangen. Wieder hatte der Frühling lichtgrüne Spitzenbehänge über die Bäume und Büsche des Fabrikgartens gebreitet und leuchtenden Blumenschmuck darunter verstreut. Über den Kiesweg wandern zwei Gestalten: ein hoher, schlanker Mann mit üppigem Lockenwuchs, treuherzigen, braunen Augen und sanften Gesichtszügen. Trägt er auch jetzt einen vornehmen Anzug, so erkennen wir doch in ihm den Klaus von ehemals, und da er stets seine Mutter ehrte und liebte, wundert es uns nicht, daß er auch jetzt die alte Frau mit kindlicher Ehrfurcht und Demut am Arme führt. Sie gehen langsam, und in ihren Zügen prägt sich Bewegung aus. Kann es denn anders sein, sie kommen ja aus dem stillen Friedensgarten, von dem Grabe Theobalds und von dem seines Vaters, welcher den früh Heimgegangenen Sohn nur um einige Jahre überlebte. Seit dem Tode Theobalds hatte er Klaus, seinem Versprechen gemäß, trefflich ausbilden und zur künftigen Übernahme der Fabrik mit allen nötigen Kenntnissen ausstatten lassen. Klaus war auf seines Wohlthäters Wunsch noch zu dessen Lebzeiten nach dem einen Flügel des weitläufigen Wohngebäudes übersiedelt.
»Ja, ja, Mütterchen,« sprach Klaus, der jetzige Fabrikbesitzer, als sie durch den Garten schritten, durch den er einst als armer Junge milde Gaben für die kranke Mutter heimgetragen, »der liebe Gott hat alles wohlgemacht.«
Und das weißlockige Mütterchen nickte: »So ist's, mein Sohn, und der liebe Gott thäte es immer, wenn ihm alle Menschen darin so helfen und entgegenkommen würden, wie du, mein Klaus. Einen fleißigen und redlichen Menschen hebt Gott aus Kümmernis und Not, und wenn auch nicht immer durch äußeres Glück, so doch gewiß durch Herzensruhe und Zufriedenheit. Uns hat der Herr auch noch ein sorgloses Leben dazugegeben. Der gute Theobald, wie viel haben wir ihm zu verdanken, er hat wohl die Verblendung und die Fehler seiner ersten Kinderjahre wunderbar gutgemacht.«
Klaus führte nun die Mutter zur Ruhebank vor dem Hause, um im kühlen Schatten auszuruhen nach dem weiten Gange.
»Weißt du, an wen ich heute gedacht habe, Mutter? An Michael; als ich am Friedhof an dem Grabe seiner Großmutter vorüberging, fragte ich mich, ob ihn wohl auch schon die kühle Erde decke, da er so gar nichts von sich hören ließ die lange, lange Zeit hindurch. Erinnerst du dich an seinen letzten Brief, fünf Jahre nach dem Tode Theobalds erhielten wir ihn, dann keinen mehr bis heute. Ich wünsche nur, er möge jetzt noch so glücklich sein, wie damals, als er ihn schrieb.«
»Sieh',« fiel die Mutter ein, »wer kommt denn dort vom Eingange her. O, meine Augen, meine Augen! Es muß ein alter Mann sein, weil er so langsam und mühselig geht.«
»Nein, Mutter, alt ist er nicht, aber krank scheint er und herabgekommen. Der Rock ist abgetragen und der Hut zerrissen. Still, Ralf!« gebot er dem großen, gelbzottigen Haushunde, der nebenan grimmig knurrte.
»Grüß euch Gott, Mann, wen sucht Ihr?«
Klaus trat dem Fremdling entgegen. Der hob den Kopf, struppiger, grauer Bart umgab sein sonnverbranntes Antlitz, und traurig blickte er aus seinen blaßblauen Augen zu dem stattlichen Herrn auf.
»Michael!« rief dieser in plötzlichem Erkennen.
»Klaus!« flüsterte jener und brennende Glut ergoß sich über seine mageren Wangen.
»Herr, Herr,« stammelte er dann sich verbessernd, »vergebt mir, Ihr seid Gebieter, und ich – ich, ich bin elender, ärmer, weniger als einst, da wir zusammen hierher arbeiten gingen, denn damals strebte ich gut zu werden, doch jetzt – jetzt. Aber ich will forteilen, denn ich mache Euch Schande, wenn mich jemand so mit Euch sieht.«
»Bleib«, Michael,« sprach Klaus, »und was es auch immer sei, was dich anders vor mich herführt, als ich dich zu sehen gehofft, so sei versichert, daß es um deinetwillen geschieht, wenn ich dich bitte, mir in die Kammer zu folgen, wo du dich ausruhen, waschen und frisch kleiden kannst.«
Die alte Frau, die sich von der Bank erhoben hatte, nickte dem verschüchterten, erschöpften Mann freundlich zu und sprach:
»Geht nur, Michael, mein Sohn trifft immer das Allerbeste.«
Der Fabrikherr brachte eigenhändig, doch ohne daß es jemand bemerkte, Kleidungsstücke und Stärkungsmittel hinab in die abgelegene Kammer, wo der müde Wanderer ruhte.
Nach einer Weile trat dieser frisch gekleidet und erquickt heraus und Klaus führte ihn in die lauschige Gartenlaube, wo lieb Mütterchen mit dem Gestricke saß. Sie thaten alles, um durch freundliches Entgegenkommen das niedergeschlagene Wesen Michaels zu ermuntern und endlich löste sich seine Zunge und er begann zu erzählen:
»Wenn man's erlebt, ist's so lang, und wenn man davon spricht, kann man in ein paar Worte Jahre des Unglücks und der Vergehen fassen. Wie ich anfangs schrieb, ging's mir drüben sehr gut, der Onkel war zu mir wie ein Vater, er ließ mich viel lernen und hat mich bald zum Nachfolger in seinem großen Handelshause bestimmt. Ich war damals recht fleißig und strebsam, und sowie Klaus mir oft vom Guten vorgesprochen und mich dazu angehalten, so that es auch der Onkel. Da brachten sie ihn eines Tages bewußtlos ins Haus. Er war auf einer Geschäftsreise begriffen, vom Trittbrette des Eisenbahnwaggons so unglücklich abgestürzt, daß er schwer verletzt wurde. Er erkrankte dann an einer Gehirnerschütterung und verschied bald. Kurz vorher hatte er sein Testament gemacht, in welchem er mich zum Erben seines Vermögens und zum Nachfolger in seinen Unternehmungen machte. Nun gab's viel zu thun. Ich war mit einem Schlage ein reicher, angesehener junger Mann geworden, freudig empfangen in allen jenen Kreisen, in denen der Onkel jahrelang verkehrt. Doch auch ich öffnete ihnen mein Haus, leider nur zu oft und mit zu viel Prunk und Freigebigkeit. Und es war mir alles noch nicht vornehm genug. Wurden irgend welche Unternehmungen oder Vorschläge gemacht, bei denen man gewinnen konnte, so war ich gewiß dabei und mochten sie noch so waghalsig sein. Geld, Geld, Geld, das war der Grundgedanke für mein Handeln und auf der anderen Seite warf ich das Geld mit vollen Händen hinaus. O, mir hatte nicht umsonst so gebangt, damals ich von hier fort sollte, es war wie das Vorgefühl, das ich immer jemand nötig habe, der mich zum Guten anhält, und nun hatte ich niemand, der mir mein Unrecht und meine Verblendung vorgehalten hätte, und ich selbst hatte alle meine guten Vorsätze, meine einstige Umkehr vergessen und lebte fort in Saus und Braus.
Da ging mir draußen auf hoher See ein reiches Warenschiff zu Grunde. Dies war wohl der erste Wegweiser, den mir Gott, zur Umkehr mahnend, in den Weg stellte. Doch ich suchte das Verlorene durch die waghalsigsten Unternehmungen und durch Kartenspiel einzubringen. Und das war mein Untergang. Ich verlor und verlor, endlich stand mein Haus verschuldet da, ich mußte es fremden Händen überlassen und mich als Bettler zurückziehen. Ich hatte Gottes väterlich warnende Stimme überhört, nun sollte ich seine Strenge kennen lernen. Heimat- und arbeitslos irrte ich von Ort zu Ort. Ja, da bereute ich alles bitterlich, da hätt' ich jedem, den ich begegnete, ob reich, ob arm, zurufen mögen: O, weich' nicht einen Finger breit vom Weg des Rechtes ab, sonst geht es rasch hinab ins Verderben.
Zu spät! Ich erarbeitete mir so viel, um nach Europa reisen zu können, denn mich trieb's unaufhörlich zu jener Stätte, wo ein fremder Knabe wie ein Bruder an mir gehandelt. Klaus, Klaus,« rief der blasse, abgezehrte Mann und in seiner Stimme zitterten Thränen, »du hast mir einmal schon verziehen, verzeih' mir noch einmal, verzeih' mir, daß ich so schlecht deinem guten Beispiel gefolgt!«
Klaus reichte dem Bittenden herzlich beide Hände hinüber, und das alte Mütterchen wischte sich die hellen Thränen aus den Augen.
* * *
In denselben Räumen, in denen der Knabe Michael einst gearbeitet, war jetzt Michael, der früh alternde Mann, beschäftigt, freilich nicht am Hochofen, das hielten seine geschwächten Kräfte nicht aus. Aber doch hantiert er unter den funkelnden, bunten Gegenständen umher, mit denen er seit seiner Kindheit vertraut ist. Er ist Kanzleidiener, Aufseher und Packer im Verkaufsraume. Gewissenhaft und pünktlich besorgt er seine Geschäfte, nicht ein Funken Neid zuckt jemals in seinem Herzen gegen seinen Herrn auf. Er sieht ja, wie liebevoll Gott Klaus und ihn so wunderbar gleiche Wege geführt, bis zu dem Punkt, wo er, zu Ansehen und Reichtum gelangt, sein Glück verscherzt, während jener das Seinige wert und hoch gehalten und treulich gehütet hatte.