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Nora im Pensionate.

E Es wird das beste für Nora sein, wenn sie ins Pensionat kommt,« sprach Frau von Hellendorf zu ihrem Gatten, als sie eines Tages nach dem Abendessen im Wohnzimmer saßen und das Wohl und Weh ihres einzigen Töchterchens besprachen, während dieses drüben in seinem netten Schlafkämmerchen in festem Schlummer lag.

»Eine gewisse Unlust zur Beschäftigung, Unzufriedenheit im kleinen und großen macht sich in letzterer Zeit bei ihr geltend. Dazu kommt der Mangel an passenden Altersgenossinnen zum Verkehr – es ist etwas sehr einsam hier auf Hellendorf für solch ein lebhaftes Kind, seit Rauhenstein mit ihrer Kinderschar von hier fortgezogen, und seither, möchte ich sagen, ist diese Umwandlung mit Nora vorgegangen. Sie ist nun dreizehn Jahre alt, und wir können diese üblen Neigungen nicht ohne Besorgnis um sich greifen sehen.«

»Nein, das werden wir gewiß nicht,« versetzte Herr von Hellendorf, »aber ließe sich denn dies thörichte Köpfchen nicht auch daheim zurechtsetzen, was meinst du, du und ich arbeiteten doch mit je ein Paar kräftigen Händen an diesem Erziehungswerke für unseren Liebling?«

»Ohne Zweifel, Theodor, gelingen würde es, aber bittere Strenge wäre notwendig, unaufhörliche Ermahnungen. Ich spreche aus eigener Erfahrung. Du weißt, ich bin selbst in einem Pensionat erzogen. Auch meine Eltern hatten große Sorgen um mich, als ich so in das dreizehnte Lebensjahr schlenderte, träge, mürrisch, trotzig, mich unverstanden wähnend. Da kam ich zu Fräulein Villinger, in die damals weitbekannte Anstalt zu G... Ein anderes Menschenkind wurde ich da, sag' ich dir, Theodor – das kommt alles wie von selbst.

Dort lernte ich das Vaterhaus schätzen und lieben, nicht, weil ich's nicht gut hatte – nein; ich sah, wie die alten Pensionärinnen an der ihnen zur zweiten Heimat gewordenen Stätte hingen, wie sie die Vorsteherin und die Lehrerinnen liebten – und ich ward ganz unwillkürlich zu all diesen Gefühlen mitbegeistert, zugleich aber befestigte sich in mir die Einsicht: Wie teuer, wie heilig ist mir aber erst mein Vaterhaus, mein erstes Heim! Wie viel Dank bin ich den Eltern schuldig, von welchen hier so achtungsvoll, als von dem Teuersten, was man besitzen kann, gesprochen wird! Alle Kleinlichkeit, all meine beschränkte Kindereinsicht, all meinen Eigensinn legte ich ab, als ich die Unterwerfung der anderen sah, verschiedene Lebensverhältnisse kennen lernte und mit einer Schar Gleichgeleiteter spielend zu geregelter Thätigkeit gelangte. Kurz, unsere Nora möchte ich diese Wohlthat um jeden Preis zu teil werden lassen, so schwer uns auch die Trennung von unserer Einzigen wird.«

»Ja, das wird sie sein,« bestätigte der Vater, »ich bin nicht blind gegen die Fehler meines Kindes, aber ein Opfer ist's mir, das muß ich sagen, mich deiner besseren Einsicht in die Vorzüge des Institutslebens zu fügen. Da heißt's eben probieren, wir ohne die kleine Maus und die kleine Maus ohne uns.«

»Ich werde gleich morgen nach W... schreiben, die Anstalt wurde mir sehr von Tante Adelheid gerühmt. Jetzt laß uns darüber schlafen.«

Einige Tage nachher – es war im schönen Monat Juli – saß Nora in ihrem Zimmer und probierte ihrer Puppe nach der Reihe ihre zwanzig Kleidchen an. Da kam Mama, wie sie es oftmals that, mit ihrer Näharbeit herein, setzte sich an das Fenster, und Nora brachte sogleich ein Schürzchen herbei mit dem Wunsche, Mama möge es doch flicken.

»Und wozu hat denn mein Töchterchen die Nadel führen gelernt, wenn ich derlei Arbeiten noch immer für sie besorgen soll! Nein, mein liebes Kind, so wird nie und nimmer etwas aus dir; wann wirst du denn einmal anfangen einzusehen, daß man, wenn man auch noch Kind ist, nicht seine ganze Zeit verspielen darf? So, nimm die Nadel, eingefädelt ist sie, und bemühe dich, die Stiche hübsch gleich zu machen.«

Nora hatte gleich beim ersten ablehnenden Worte der Mutter die Lippen schmollend verzogen; jetzt prägte sich entschiedener Trotz auf ihrem Antlitz aus, sie wurde glühend rot und rief: »Es ist überhaupt gescheiter, ich gehe gleich in den Garten hinaus, als mit den dummen Puppensachen spielen.« Sie warf das unschuldige Schürzchen heftig zu Boden und wollte, trotzdem ihre Spielsachen in größter Unordnung umherlagen, spornstreichs in den Garten hinausstürmen.

»Nora,« rief die Mutter sehr ernst, »du bleibst hier, erst werden die Spielsachen geordnet, dann nähst du die Schürze. Ich dulde Widerspruch ebensowenig, wie Flatterhaftigkeit.«

Schweigend gehorchte Nora, erst widerwillig, mit heftigen, geräuschvollen Bewegungen, bald dies, bald jenes Stück in die Ecke werfend. Dann aber begegnete sie dem Blicke der Mutter, der ernst und doch so gütig, mit dem Ausdrucke wehmütiger Trauer über den Ungehorsam auf ihr ruhte. Dieser Blick drang Nora durchs Herz, sie ward ruhiger, fast sanft, und als sie ihr Stühlchen neben die Mutter rückte, Schürze und Nadel zur Hand nehmend, kam es wie eine große Befriedigung über sie, daß sie diesmal doch gleich wieder ihren besseren Gefühlen gefolgt war, die zur Unterwerfung und zum Gehorsam rieten.

Nach zehn Minuten war die abgetrennte Spitze festgenäht. Nora hob den Blick mit der sprechenden Bitte um Verzeihung empor zur Mutter und zeigte ihr die Arbeit.

»So ist's brav, Nora,« lobte diese und sah ihr mit der ganzen Treue des Mutterauges ins Antlitz. »Siehst du, ich war auch einmal solch ein eigenwilliges, kleines Mädchen wie du, und wie danke ich es heute meinen lieben Eltern und Erziehern, daß sie so streng auf die Abgewöhnung dieser bösen Leidenschaften drangen. Besonders im Pensionate wurde kein Trotzkopf geduldet. Und, weil wir gerade davon sprechen, habe ich schon öfter daran gedacht, dir das Bravsein etwas leichter zu machen, ich meine, in Gesellschaft lieber, wohlgesitteter, fleißiger Mädchen, Papa ist auch damit einverstanden und du sollst –«

»Ich,« rief Nora erschrocken mit purpurner Röte auf den Wangen, »soll ich vielleicht gar – – Mama, du willst mich in ein Institut geben? Ja, Mama, das willst du, ich weiß es jetzt ganz genau.«

»Ich mache auch gar kein Geheimnis daraus, mein Kind,« antwortete die Mutter, »ich war entschieden, dir heute unseren Entschluß mitzuteilen und ich hoffe, du wirst die liebevolle Absicht, die uns dabei leitet, erkennen. Es soll das Lernen im Kreise strebsamer Mädchen dir leichter werden und du sollst die lustigen Freistunden des Institutslebens kennen lernen.«

Nora saß starr und stumm in ihrem Sesselchen – also hatte ihre Ahnung sie nicht getäuscht. Mehreremal schon hatte ihr das Gewissen bei recht tollen Streichen zugeraunt: Du wirst's so lange treiben, bis man's mit dir zu Hause nicht mehr aushält. Nun war es eingetreten. Wenn Mama einmal von einem Entschlusse sprach, dann war die Sache auch gewiß, das wußte Nora. Soviel Mama ihr auch schon von dem Institutsleben erzählt hatte, einen eigentlichen Begriff konnte sie sich von demselben nicht machen. Abschreckend aber stand das dort herrschende Gebot fortwährenden Gehorsams und anhaltender Thätigkeit vor ihr.

»Nein,« rief sie, »so grausam kannst du, kann Papa nicht sein. Dort hab' ich ja gar keine Freiheit. O, warum mußte das so kommen?«

»Kleine Thörin,« schalt die Mutter, »wie du nur wieder sprichst. Ich sage dir das eine: wenn du einmal drin bist, gehst du mir nur schwer wieder hinaus. Heute aber lassen wir die Sache ruhen. Du bist jetzt zu aufgeregt, du Brausekopf.« – –

Nach eingehender Beratung hatten Noras Eltern beschlossen, ihre Tochter nicht erst bei Schulbeginn im Oktober dem Institute in der Hauptstadt anzuvertrauen, sondern das Kind schon für September, den vollkommenen Ferienmonat für die Zöglinge der Anstalt, nach dem Bergdörfchen M. zu bringen, wo sich das Institut über Sommer aufhielt. Die Sache war mit Fräulein Prius, der Vorsteherin, abgemacht, und Nora erhielt nun eine vollständige Ausstattung an neuer Wäsche. Neue Kleider brauchte sie für das Institut nicht, denn dort herrschte ja Uniform. So freudig aber Nora sonst jede Erneuerung ihrer Toilette begrüßte, diese Vorbereitungen ließen sie ganz gleichgültig. Sie hatte sich in ihr Schicksal ergeben, aber keineswegs sanft und willig, sondern mit Groll und Unmut. Mit ihren geliebten Puppen aber spielte sie nun, als gälte es, sich für ein ganzes Leben bevorstehender Entbehrung dieses Vergnügens zu entschädigen. Mama versicherte ihr zwar, sie könne ihre Lieblingspuppe ganz gut mitnehmen, da alle ihre Altersgenossinnen dort solche haben würden. Aber Nora grollte; das sei kein richtiges Spielen, die Puppe bliebe daheim, denn dort würde ihr gewiß nichts Freude machen. »Dort ist dann überhaupt alles Lustige aus!«

»Nun, so trostlos fasse ich die Sache gerade nicht auf,« antwortete Mama, scheinbar auf den Ideengang ihres Töchterchens eingehend, »obwohl es immerhin schrecklich genug bleibt, solch ein Institut.«

Der komische Ton Mamas weckte einige Hoffnung in Noras Herzen, aber dies Bangen und Hoffen, Fürchten und Schwanken war recht unangenehm, unangenehmer als die traurigste Gewißheit. –

Noras Reise ins Pensionat.

Und der große Tag erschien. Noras Koffer stand gepackt. Sie hatte ihre zwölf Puppen mit wehmütigem Scheideblick in ihre zwölf Rohrstühlchen gesetzt im Puppenwinkel und ein weißes Tuch darüber gezogen. Von den Hühnern, Kaninchen, Tauben, den lieben Goldfischchen im Gartenbassin, von all den trauten Plätzen im Parke zu Hellendorf war ein langer und schwerer Abschied genommen worden. Im neuen Reisekleide, mit bedrücktem Herzen in der Brust, fuhr Nora mit den Eltern zur Bahn und von hier weiter mit dem schnaubenden Dampfroß durch Wiesen und Felder, an hohen Bergen und silbernen Gewässern vorbei. Nora war sehr einsilbig, sie lehnte meist mit geschlossenen Augen in den roten Sammetpolstern, und weicher und weicher wurde ihr's ums Herz, je näher sie dem Ziele dieser Fahrt rückte. »M... aussteigen!« rief der Schaffner nach achtstündiger Fahrt. Nora fuhr auf.

Während der halbstündigen Wagenfahrt nach dem Mariahilferberge, einem grünen Hügel, auf dem ein freundliches Haus mit hellen Mauern von dem Kutscher als die Anstalt des Fräuleins Prius bezeichnet wurde, während dieser Fahrt klopfte Noras Herz heftig.

Jetzt war man oben. In einer hohen, rosenumsponnenen Mauer öffnete sich den Ankömmlingen ein gußeisernes Thor und dahinter ein weiter, schattiger Garten mit breiten Kieswegen, auf welchen da und dort plaudernde und schäkernde Mädchengruppen auftauchten. Als Nora mit ihren Eltern an denselben vorüber nach dem Hause schritt, verneigten sich alle zierlich und tief, und ein freundliches Mädchen von etwa fünfzehn Jahren führte die Ankömmlinge nach dem Hause in das Empfangszimmer des Fräuleins Prius.

Im Rahmen einer hellgeblümten Portiere, die das Nebenzimmer gegen den Empfangsraum abschloß, erschien eben eine hohe, schlanke Dame mit etwas ergrauten Scheiteln. Ihre lichte Stirn, ihr sprechendes, blaues Auge, die milden, gütigen Gesichtszüge und ihr dunkles, einfaches, doch tadellos nettes Kleid mußten jedem, der diese Erscheinung sah, angenehm auffallen.

»Ach, das freut mich, ich habe wohl die Ehre, mit Herrn und Frau von Hellendorf!« Herzlicher Händedruck und zu Nora beugte sich die liebe Dame nieder und berührte mit den Lippen des Mädchens Stirn.

»Grüß Gott, mein Kind, willkommen bei uns, Gott segne deinen Eingang!«

Man nahm nun auf den schönen, bequemen Sitzmöbeln Platz. Die Eltern vertieften sich in ein eifriges Gespräch mit der Vorsteherin, und Nora ließ ihre Augen so bescheiden als möglich umherschweifen – ein schöner, elegant eingerichteter Raum war es, alles freundlich und anmutend, geradezu entzückend aber war der Ausblick in den Garten hinab, und neugierige Blicke warf Nora auf die Mädchen, die da unten hinter den Büschen auftauchten und wieder verschwanden. Fräulein Prius mußte diesen Blick bemerkt haben, denn sie wandte sich jetzt freundlich zu Nora: »Geh' hinab, mein Kind, und schließe dich den Spaziergängerinnen unten an. Ich habe ihnen schon von dir erzählt.«

Nora lächelte etwas verlegen und machte den schüchternen Versuch eines Knixes, ehe sie das Zimmer verließ.

O weh, die vielen Thüren draußen, wohin sollte sie sich wenden? Durch eine geöffnete Thürspalte sah sie in einen langen, hellen Raum, in dem blütenweiße Vorhänge über lichten Holzgestellen niedliche, rechteckige Schlafkämmerchen abteilten. Da vernahm sie leichte Schritte hinter sich.

»Ah, Nora, willst du vielleicht hinunter zu den übrigen und kennst dich nicht aus?« sprach freundlich ein Mädchen mit frischen Farben, blitzenden Äuglein und einem dunklen Krauskopf, die eben aus einer der vielen Thüren getreten war. Nora nickte.

»Ich heiße Mathilde, liebe Nora, wir wollen gleich zusammengehen. Die anderen sind schon sehr neugierig auf dich.«

»Wie viele seid ihr denn?« fragte Nora.

»Wir – fünf – – nein geradeaus sechzig sind wir jetzt. O, das ist sehr lustig, so viele. Warst du zu Hause immer allein?«

Nora nickte. Jetzt waren sie unten angelangt. Mathilde rief fröhlich:

»Da bring' ich die Neue; Alma, Ellen, Vally, Resa, alle herbei, kommt, kommt, wir spielen gleich mit!« Die Angerufenen, die auf dem Rasenplatze seitwärts vom Wege unter lautem Schäkern Reifen warfen, hielten sofort inne und kamen mit den Reifstöcken heran. »Grüß Gott, Grüß Gott, willkommen!«

Die Größte, ein starkes, gutmütig blickendes Mädchen, hob einen der unbenützten Reifen und Stöcke vom Boden auf und reichte beides Nora. Dieser wäre keine Beschäftigung als erste, die man ihr zuwies, lieber gewesen, als eben diese, denn im Reifspiel war sie Meisterin. Das fanden die anderen bald heraus.

»Wie alt bist du?« rief Alma herüber.

»Dreizehn Jahre.«

»Die Jüngste hier unter uns und – das muß man sagen – spielt am besten.«

Vally verzog etwas spöttisch den Mund: »Mir scheint's, das wird ihr Liebling,« flüsterte sie ihrer Nachbarin zu, »aber eitel werden wir sie nicht werden lassen.«

Resa nickte. Sie hätte gern ein anderes Spiel vorgeschlagen. Da erschien eine Lehrerin und rief herüber: »Wer die Woche hat, tischdecken helfen zur Jause!«

Vally und Mathilde mußten die darunter Verstandenen sein, denn sie legten sogleich Stock und Reifen hin und folgten der Lehrerin in der Richtung nach dem Hause.

»Was ist »Woche haben«?« fragte neugierig Nora.

»Das heißt,« erklärte Resa mit voller Wichtigkeit des Bewußtseins, hier eine vollkommen eingewöhnte, maßgebende, kleine Persönlichkeit zu sein, »daß immer vier bis fünf von uns abwechselnd eine ganze Woche lang für pünktliches Tischdecken und Ordnen des Speisesaales vor und nach den Mahlzeiten zu sorgen haben.«

»Heute wird's eine Jause geben!« schmunzelte Alma, die Größte.

Ellen, ein kleines, gemessenes Persönchen, mit großen, grauen, klugen Augen und ruhigen Bewegungen aber fügte hinzu: »Das haben wir dir zu verdanken, Nora; – du bist eben so alt wie ich; bin neugierig, ob du in dieselbe Klasse kommst. Sag', hast du immer sehr gern gelernt?«

Nora stieg die Röte des Unmutes in die Wangen. Wozu diese ungeschickte Frage? Lügen mochte sie nicht, und die Kluge mit den hellen, großen Augen war gewiß eine Musterschülerin und würde sich wohl über ein Nein lustig machen.

»Du mußt nämlich wissen,« fiel Alma erklärend ein, »Ellen ist der personifizierte Ehrgeiz. Lernen und wieder lernen, das ist ihr Wort. Ja drin in W., wenn's Winter ist, da wird nicht danach gefragt, ob wir's alle eben so gern thun wie Ellen, da müssen wir eben. Ja, wirklich,« schloß sie mit einem komischen Seufzer, »recht angestrengt sind wir dann.«

»Lächerlich,« fiel ihr Ellen ins Wort, »und die langen Abende, während euer dummes Tollen einen nicht einen Augenblick zur Ruhe kommen läßt –«

»Ich sag' dir, Nora, Ellen übertreibt.«

»Alma übertreibt,« protestierte die Beschuldigte.

»Zur Jause!« scholl ein Ruf vom Hause her, und von dem aus allen Winkeln des Gartens herbeiströmenden Mädchen in einem förmlichen Strudel mitgezogen, bewegte sich Nora nach vorwärts. Wie hübsch! Auf dem weiten, freien Platz vor dem Hause waren in gleichen Abständen voneinander lange Tische aufgestellt, und an einem derselben sah Nora ihre Eltern mit Fräulein Prius vor zartgeblümten Schalen und einem großen Kuchen sitzen. Da schob sie die sie Umdrängenden beiseite – »Papa, Mama, ah, da seid ihr!«

»Nun bist du schon recht bekannt mit deinen zukünftigen Gefährtinnen?« fragte Papa, und Fräulein Prius sprach:

»Die roten Bäckchen lob' ich mir. So, mein Kind, hier nimm Platz zwischen Papa und Mama und laß dir die erste Mahlzeit in unserem Hause eben so gut schmecken wie alle übrigen.«

Die Lehrerinnen und die anderen Mädchen ließen sich ebenfalls nieder, und zum großen Erstaunen Noras ging es jetzt so still und manierlich zu, wie man's bei der Ansammlung so vieler junger Mädchen gar nicht geglaubt hätte.

Kaffee, Kuchen, Bäckereien, Früchte waren ausgezeichnet, aber Nora konnte nicht viel davon genießen – im Westen drüben vergoldete die scheidende Sonne den Horizont, und mit dem Abendzuge mußte sie die geliebten Eltern fortziehen lassen.

Nachdem die Jause beendet war, ließ man Nora mit ihren Eltern im Salon des Hauses allein. Väterlich mahnend und mütterlich liebevoll sprachen diese ihr zu, sich in diesem freundlichen Hause, in dieser angenehmen Umgebung fügsam und fröhlich einzugewöhnen. Weinend warf sich Nora bald dem Vater, bald der Mutter um den Hals.

»O, mir ist hier so bang, nehmt mich mit!«

»Aber, Nora, sei vernünftig, mein Herzenskind.«

»Gott behüte dich! In W. werden wir dich gleich besuchen.«

»Gott segne dich!«

Fräulein Prius erschien. Nora durfte die Eltern zum Wagen begleiten.

»Adieu! Gott mit dir!«

»Lebt wohl!«

Fort rollte der Wagen. Nora winkte mit dem Taschentuch, winkte und winkte und wollte das Thor nicht verlassen, als auch schon der Staub sich gelegt, den der Wagen aufgewirbelt hatte. Da nahm Fräulein Prius die Kleine gütig bei der Hand.

»Ich werde dir deine lieben Eltern zu ersetzen suchen, mein Kind, und deine Gefährtinnen mußt du als Schwestern betrachten. Heute hast du gar nichts mehr zu thun, als dir alles bei uns anzusehen. Hier kommt Hedwig. Ihr übergebe ich dich. Hedwig, führe Nora im Hause umher. Auf Wiedersehen, Kinder.«

Hedwig neigte sich mit einem tiefen Knix. Nora versuchte, wenn auch noch ungeschickt, dasselbe zu thun, und ging dann mit ihrer Führerin, in der sie das Mädchen erkannte, das sie bei ihrer Ankunft in das Haus geleitet hatte, weiter.

Über einige Stufen trat man vom Garten aus in zwei große, helle Zimmer; »dies ist der Studiensaal der Kleinen und dort jener der Großen.«

Sie trat zur Wand hin und öffnete die Thür eines breiten, in die Mauer vertieften Kastens; darin befanden sich viele Fächer in musterhafter Ordnung.

»Hier hat jede von uns ihre Abteilung für ihre Bücher und Hefte. Du wirst vielleicht schon zu uns Großen gehören, denn du warst ja schon zwölf Jahre. Ich sage dir gleich: Ordnung ist bei Fräulein Prius und unseren Lehrerinnen die Hauptsache. Mir ist das gerade kein schwieriger Punkt –«

»Aber leider mir,« seufzte Nora innerlich.

»Es ist kein Verdienst für mich,« fuhr Hedwig bescheiden fort, »der Ordnungssinn liegt schon in mir und überhaupt bin ich schon vier Jahre hier.«

Zwei weitere Räume bezeichnete Hedwig als Spielzimmer für schlechtes Wetter, dann traten sie in den Speisesaal, wo schon von den emsigen Händen gedämpft kichernder und plaudernder Mädchen zum Abendessen gedeckt wurde. Bewundernd sah ihnen Nora zu. Wie geschickt und geräuschlos sie ihres Amtes walteten! Teller und Gläser wurden mit großer Behendigkeit auf den Tisch gestellt.

»Das mag gut werden,« dachte Nora, »wenn ich die Woche habe,« und aufrichtig bedauerte sie die vielen im Garten vertändelten Stunden daheim; wie schön hätte sie das Tischdecken damals lernen können!

»Du sitzest neben Fräulein Prius,« rief eine große Unbekannte zu Nora herüber, »das muß jede Neue eine Woche lang.«

»Komm' jetzt in die Küche,« sagte Hedwig.

Ah, da sah's hübsch aus! Ein großer Herd mit blitzblanken Beschlägen und glänzenden Kacheln; darauf dampfte und brodelte es. Dienstmädchen in weißen Häubchen und netten Kleidern waren umher beschäftigt, dazwischen die größten Pensionärinnen mit großen Küchenschürzen. Die eine schnitt von einem saftigen Schinkenbeine rosige Schnittchen, die andere strich Butterbrote, die dritte machte Salat an, und so ging's weiter.

»Unsere Kapelle wird dir am besten gefallen,« sprach Hedwig, als sie Nora aus der Küche führte.

In der That, ehrfurchtsvolle Andacht ergriff Noras Herz, wie sie den stillen, dämmerigen Raum betrat, in dem das ewige Licht wunderbar milde Strahlen über das große Altarbild, die flimmernden Leuchter und die hübsch geschnitzten Betstühle aus lichtem Holz ergoß. Im stillen Gebete ließen sich die Mädchen vor dem Altare nieder. Weich umschlang Hedwig dann den Nacken Noras:

»Wenn's dir recht schwer ums Herz ist, Nora, dann flüchte hierher. Wie oft hab' ich mir hier wieder neue Kraft zur Ausdauer, zur Freudigkeit für meine Pflichten erholt! Für meine lieben Eltern bete ich hier, die mich als Waise auf Erden zurückgelassen haben –«

»Arme Hedwig,« flüsterte Nora, »o, das hielt' ich nicht aus! Glaubst du's, mir bricht jetzt das Herz fast nach den Eltern – mir ist so bang, o Hedwig!«

In Schluchzen machte sich der zurückgedrängte Schmerz Luft.

»Wir wollen treu zusammenhalten,« sprach liebreich Hedwig, »du gefällst mir gut, Nora, ich werde dich sehr liebgewinnen. Wenn du dich aber nach deinen Eltern sehnst, so gehe nur zu Fräulein Prius; sie ist so mütterlich gut zu uns, wie oft hab' ich mich schon ausgeweint an ihrer Brust nach den verlorenen Eltern.«

Jetzt tönte heller Glockenton durch das Haus.

»Rasch, zum Abendessen; wir müssen uns noch die Haare ordnen und die Hände waschen.«

Während des Abendessens wurde Nora mit sämtlichen Lehrerinnen des Hauses bekannt. Fräulein Marbach, Weigand und Wehler sprachen recht viel mit ihr, aber die Engländerin und die Französinnen waren noch sprechende Rätsel für die Kleine, die kaum Französisch, geschweige denn Englisch verstand.

Nach dem Abendessen folgte Promenade im Garten und dann das Abendgebet und Gewissenserforschung. Fräulein Prius kniete auf einem Betschemel vor dem Altare und sprach die Gebete mit ihrer melodisch weichen Stimme, so innig, so flehend, von solch herzlicher Liebe zu denen, für die sie betete, durchdrungen:

»Müde bin ich, geh' zur Ruhe, schließe beide Augen zu; Vater, laß die Augen dein über meinem Bette sein. Nasse Augen schließe zu ...«

Nora kniete da in sich versunken. Noch niemals hatte so tiefe Andacht sie erfüllt. Ein überirdisches Gefühl der glühenden Liebe zu Gott, zu ihren Eltern, Reue, sie so oft beleidigt zu haben, machte ihr Herz erzittern. Thräne um Thräne tropfte heiß auf ihre gefalteten Hände herab. Sie konnte kaum dem Beispiele der anderen folgen, die nun, sich geräuschlos von ihren Bänken erhebend, nacheinander zu Fräulein Prius gingen, die, noch immer knieend, im Angesichte des gekreuzigten Erlösers ihren Schutzbefohlenen das heilige Kreuzeszeichen auf die Stirn machte. In inniger Verehrung küßten ihr die Mädchen die segnende Hand. – – –

– – – Licht und friedlich sah der Mond in die Zellchen der lieben jungen Schläferinnen herab und er fand darin heute ausnahmsweise zwei offene, thränennasse Augen. Schlaflos lag Nora in ihrem Bette; ihr Herz war wund von quälendem Heimweh.

»Papa, Mama,« flüsterte sie, »ob ihr jetzt an mich denkt, wie einsam ich bin? Sehr schwer wird's mir hier unter all den geschickten Mädchen sein, die mir in allem so weit voraus sind. Die gute Hedwig, ach, wenn sie erfährt, wie ich bin, wie träge und unordentlich, dann wird's vorbei sein mit ihrer Liebe zu mir – nein, es ist zu schwer; eine solche Nacht voll Qual nach den Eltern ertrag' ich nicht mehr – – morgen – ich könnt's ja versuchen – – – Taschengeld hab' ich, ich weiß auch, wo die Bahnstation ist – – –«

Da ging leise die Thür auf. Lichtschein verbreitete sich im Schlafsaal. Noras Herz schlug zum Zerspringen – – war's ein Dieb, ein Räuber? Mit weitgeöffneten Augen – sie traute sich nicht zu rufen – lag sie da und horchte atemlos auf die leisen Schritte. Da – da – – – erschien Fräulein Prius mit einem milden Nachtlämpchen in der Hand in ihrem Zellchen.

»Nora, noch wach?« flüsterte sie besorgt, stellte ihr Lämpchen nieder und beugte sich über das thränennasse Antlitz der Kleinen. Leidenschaftlich schlang diese die Arme um die mütterliche Freundin.

»Du hast Heimweh, Kind; warte nur, morgen wird's besser sein. Nun wollen wir zusammen beten.«

Und sie faltete, wie es Mama daheim oft gethan, Noras Händchen in den ihren und flüsterte innig: Vater unser, der du bist in dem Himmel!

Als sie geendet hatte, machte sie noch einmal das Kreuzeszeichen auf des Kindes Stirn und bettete es dann sanft in die Kissen zurück: »Gottes Friede sei mit dir!« – – –

– – – Der erste Tag verging mit Handarbeit, Spiel und Spazierengehen. Nora zeigte eine gewisse Aufregung, die Fräulein Prius nicht entging. »Das Kind hängt sehr an den Eltern und hat ein ungemein weiches Herz,« dachte sie und beauftragte Hedwig, deren Vorliebe für die kleine Neue sie bereits bemerkt hatte, diese nach Kräften zu zerstreuen. Vergeblich aber suchte das gute Mädchen, als es gegen Abend ging, ihre Schutzbefohlene im Hause, im Garten; in allen Winkeln spähte sie nach ihr aus. Eine unbestimmte Ahnung hielt sie davon ab, die Lehrerinnen oder ihre Gefährtinnen nach der Vermißten zu fragen. Endlich lieg Hedwig hinauf zu Fräulein Prius.

»Bitte, liebes Fräulein Marie, ist Nora bei Ihnen?«

»Nora, nein, warum, Kind?«

»Ich finde sie nirgends.«

»Du findest Nora nicht?«

Blitzartig tauchte in Fräulein Prius der Gedanke auf, das Mädchen könnte vor Heimweh einen Fluchtversuch gemacht haben.

»Gehe nur hinab, Hedwig,« sagte dann scheinbar ruhig die kluge, zartfühlende Dame, »ich werde die Sache ordnen. Aber erwähne gegen niemand etwas. Ich kann mich auf dich verlassen.«

Kaum wußte sie Hedwig unten, als sie, über die Hintertreppe eilend, Mathes, dem Kutscher, Befehl gab, einzuspannen und eilig die Straße zum Bahnhof hinabzufahren.

Mit scharfen Augen spähte sie nach links und rechts; es war noch ziemlich hell, und darum unmöglich, die Gestalt zu übersehen.

»Dort haben wir das Frölen,« zischelte plötzlich der Kutscher und deutete mit dem Peitschenstiel vorwärts.

»Halten!« befahl Fräulein Marie, stieg aus und eilte auf die tieferschrockene Nora zu. Freundlich ihre Hand fassend, sprach sie: »Komm', mein Kind, dein Platz ist jetzt in meinem Hause, nicht hier auf der Landstraße. Denke, wenn die Eltern wüßten, was du aus Liebe zu ihnen thun wolltest, meine Nora, komm',« und sie hob die zitternde Kleine in den Wagen. Nicht einmal ein Jäckchen zum Schutze gegen die Kühle des Herbstabends hatte das Kind bei sich. Blaß und bebend, mit schmerzlich glühendem Auge kauerte sie in der Ecke, und kein Wort war ihren Lippen zu entlocken.

»Man weiß bei uns nichts davon, Nora, und niemand soll es erfahren. Die gute Hedwig hat dich angstvoll gesucht; ihr kannst du dich anvertrauen, denn sie ist verschwiegen. Den übrigen aber werde ich dich noch zur rechten Zeit vor dem Abendessen wiederbringen. Wenn du gefragt wirst, sagst du, du warst bei mir, das ist der Wahrheit entsprechend und macht dir die Folgen dieses Vergehens gegen die Aufrichtigkeit, gegen den Willen deiner Eltern und gegen unsere Hausordnung leichter. Wie groß dein Vergehen ist, kannst du daraus ermessen, daß ich dir die Demütigung seiner Eröffnung vor unserem ganzen Hause ersparen will, denn deine Blicke sprechen von aufrichtiger Reue zu mir, und ich habe dich lieb, Nora.« –

Sie waren angelangt. Fräulein Marie ging mit der Wiedergefundenen auf der Hintertreppe in ihr eigenes Zimmer hinauf, ließ sie hier ausruhen und sich sammeln und sandte sie dann erst zu den anderen hinab, die sich eben zum Abendessen im Speisesaale einfanden.

Nora mußte sich zusammennehmen, um den Sturm ihrer Gefühle nicht nach außen zu verraten. Mitleidsvoll betrachtete sie Hedwig und suchte die Aufmerksamkeit der übrigen durch allerlei Fragen von dem blassen, stillen Kinde abzulenken.

Als Nora nach dem Abendgebete zu Fräulein Marie trat, um den Gutenachtsegen von ihr zu empfangen, flüsterte ihr diese zu: »Du bist bei der Aufsichtsdame im Schlafsaale entschuldigt; bleibe hier bei mir zurück.«

Die Thür des geweihten Raumes hatte sich hinter dem letzten Zögling geschlossen – da zog Fräulein Marie Nora liebevoll an ihre Seite. Der Mond strahlte gedämpft durch das hohe Fenster der Kapelle herein und versilberte das herrliche Altarbild, das Jesus, den göttlichen Kinderfreund, darstellte, wie er die süßen Worte spricht: »Lasset die Kleinen zu mir kommen!«

»Nora, mein Kind, sieh' dir die heilige, erhabene Gestalt des Gottessohnes an, in dessen Vertretung ich euch, mir so teure, junge Seelen, in meine sorgenden Arme genommen. Sieh' hin, mein Kind und bitte ihn mit aller Kraft deines Herzens um Vergebung für deine unbesonnene Handlung. Ich ehre und verstehe die lebhaften Gefühle deines Herzens für die Eltern, sie sind heilig und rein. Dürfen sie so übertrieben und verkehrt werden, daß sie Ursache zu einem Unrecht geben? Merke es dir für dein ganzes Leben, mein Kind, die Anhänglichkeit an unsere Teuersten muß immer von der einsichtsvollen Vernunft geleitet werden, immer den Willen Gottes über sich anerkennen. Sein Wille und derjenige deiner Eltern ist es nun, daß du hier unter meiner Aufsicht von Tag zu Tag besser und endlich ein edler, tüchtiger Mensch werdest. Gott vergebe dir und helfe dir dazu. Den Eltern aber, denen nichts verheimlicht werden darf, wirst du ein herzliches Bekenntnis und gleichfalls Bitte um Vergebung zukommen lassen.« – – –

– – – Der Ferienmonat verging rasch. Das Institut rüstete zum Aufbruch von M ... Nora, die sich kaum in die Ordnung hier eingewöhnt hatte und das freie Landleben liebte, fürchtete sich etwas vor der Stadt und den strengeren Anforderungen, die nun an sie gestellt werden würden. Sie kannte nun alle Institutsgenossinnen ziemlich gut; für Hedwig aber hatte sie die Vorliebe des ersten Augenblicks behalten. Dieses gute und für sein Alter von sechzehn Jahren sehr gereifte Mädchen bildete einen scharfen Gegensatz zu der sorglosen, kindischen, unbeholfenen Nora. Ihr hatte es die letztere hauptsächlich zu verdanken, daß sie ohne bedeutende Mißgriffe und Ungeschicklichkeiten über die erste Zeit der Eingewöhnung hinweggekommen war.

In der Stadt drinnen begann ein neues Leben. Die Anstalt bewohnte ein schönes, geräumiges Haus in einer der gesündesten Vorstädte. Ein umfangreicher Garten stand der Freiheits- und Spiellust der jungen Mädchen geöffnet. Die Tagesordnung war natürlich eine sehr strenge und pünktliche. Des Morgens um ½6 Uhr weckte eine weithin tönende Glocke die Träumenden im Schlafsaal der Großen. In einer Dreiviertelstunde mußte man seine eigene Toilette und sein Zellchen in schönste Ordnung gebracht haben; dann begann nach einem gemeinschaftlichen Morgengebet das Studium: Sprachstunden für die, welche der Nachhilfe bedurften, und Klavierüben.

Um ½8 Uhr versammelten sich die Zöglinge zur heiligen. Messe in der Hauskapelle. Dann luden sie dampfender Kaffee und duftende Brötchen zum Frühstück. Um 8 Uhr begann der Unterricht und währte bis zwölf. Wenn aber dann das Glockenzeichen Freiheit verkündete für die nächsten zwei Stunden, o, wie stürmten die Mädchen jubelnd und behend in das Freie! Wehte auch der Herbstwind rauh durch die kahlen Bäume des Parkes, sie bekümmerte das wenig. Ballspiel, Katze und Maus, Springschnur, Kegel, und wie alle diese Lieblingsspiele des Alters von acht bis achtzehn heißen, wurden auf das lustigste geübt. Fast zu rasch wurde hierauf zum Mittagstisch geläutet. Um 2 Uhr begannen die Lehrstunden neuerdings und dauerten bis 4, die Stunde der von allen Österreicherinnen geliebten Jause. Aufgaben machen, hieß es dann; aber wenn um ½8 Uhr das Abendessen eingenommen war, folgte wieder eine köstliche Freistunde im Salon oben bei Fräulein Marie. Dieser schöne, große Raum mit den gepreßten Sammettapeten, den schweren Vorhängen, dem traulichen Kamin, den vielen behaglichen Sitzplätzen in den Ecken, den schönen Gemälden und den unzählbaren Photographien an den Wänden, den sehenswerten Altertümern und Seltenheiten, Geschenke der ausgedehnten Bekanntschaft des Fräuleins, war ein Aufenthaltsort, den die junge Schar nur mit gedämpftem Schritt und unterdrückter Stimme betrat. Wenn dann aber das allverehrte Fräulein mit der hoheitsvollen Gestalt und ihren gütigen, milden Augen den Eintretenden entgegenkam, den herzlichen Gruß sprechend: »Grüß Gott, meine Lieblinge,« da war das Wort erklungen, welches die jugendliche Lebhaftigkeit entfesselte – alle drängten sich um die geliebte Vorsteherin, küßten ihr die Hände und bestürmten sie mit tausend Fragen. Sanft wehrte sie den Kleinen und den Großen, und nachdem der Lüster entzündet worden war, so daß helles Licht das Gemach überstrahlte, ließ sie sich in dem bereitstehenden Lehnstuhl nieder, nahm ein Buch zur Hand und begann mit der allabendlichen Vorlesung, sobald als ihre jungen Zuhörerinnen sich im Kreise gruppiert und ihre Gestricke zur Hand genommen hatten. Während die jugendliche Phantasie nun den spannenden und gemütvoll vorgetragenen Erzählungen folgte, waren die vielen Fingerchen emsig beschäftigt, warme Strümpfe zum nahenden Weihnachtsfest für arme, frierende Kinder zu stricken. Nora verbrachte diese Abendstunden anfangs in großer Enttäuschung. Stillsitzen, stricken, entsetzlich! Die Geschichten, ja, die waren schön, manchmal sogar so ergreifend, daß die eine oder die andere Thränen aus den Augen wischte.

In der Seele Noras erhob sich beim Zuhorchen nach und nach ein Sturm von Gefühlen. Wie hatte sie denn bisher zu Hause gelebt, war sie denn ganz und gar im Traum dahingewandelt? Wie war es denn möglich gewesen, daß alle die schönen Worte, welche die Eltern zu ihr gesprochen, bei einem Ohre hinein und beim anderen wieder hinausgeflogen waren? Sie fühlte sich nun so sehr hingezogen zu den edlen Gestalten und besonders zu den kindlichen, welche der sanfte Mund ihrer mütterlichen Freundin schilderte. O, wenn sie auch so sein könnte, wie man sein soll, um ein Liebling Gottes zu werden, ein Freund und Wohlthäter seiner Nächsten. Aber ach! wie schwer war das! Wo war die Vollkommenheit? Nicht das Gewöhnlichste, Alltäglichste konnte man mit Leichtigkeit ordentlich verrichten. Gleich am Morgen begann's mit dem Aufstehen. Wie energisch, wie gewaltsam mußte man mit sich selbst verfahren, damit die Glieder sich von der warmen Decke losrissen, und schnell mußte man dann auch noch sein, fliegend rasch beim Ankleiden, wenn man kaum stehen konnte vor Schläfrigkeit, und nachher lernen, mit leerem Magen, fröstelnd, beim Lampenlicht. Wie oft schon war ihr Köpfchen mutlos auf das Buch herabgesunken zu solcher Stunde, und nur das energische » Tenez-vous droîte! von mademoiselle konnte einen etwas zur Besinnung aufschrecken. Die eigentlichen Unterrichtsstunden, das war auch solch ein Labyrinth für unsere Nora, in dem sie sich nun einmal nicht zurechtfinden konnte. Eine Lehrpersönlichkeit gab der anderen die Hand in dem pünktlichen Erscheinen im Lehrzimmer. Zahlen, Worte, Zeichnungen, Karten wanderten an einem vorbei, ohne daß man halt! rufen durfte – nein, im Gegenteil, Aufmerksamkeit, ununterbrochene Aufmerksamkeit wurde gefordert. Arme Nora, das war eine harte Probe für ihr Flatterköpfchen, und dazu war Ellen, die Musterschülerin, in ihrer Klasse und lächelte so mitleidig spöttisch auf sie herab, wenn sie getadelt und zu größerem Fleiß ermahnt wurde. Bei den Aufgaben kannte sie sich natürlich nicht aus, weil sie in den Lehrstunden herumflog mit ihren Gedanken, und wäre Hedwig nicht gewesen, die sich auch in dieser Hinsicht liebreich des Neulings annahm, Noras erste Zeit im Institute wäre eine noch viel schwerere gewesen, als sie es schon war. Des Kindes Stimmung wurde eine recht gedrückte, trotzdem es sich oft in seinem Herzen regte in frohen, begeisterten Gefühlen.

Da schrieben die Eltern, sie würden nächsten Sonntag zum Besuche ihres Töchterchens in W. eintreffen. Das blaue Sonntagsanstaltskleid Noras wurde sorgsam gebürstet, das Haar glattgestrichen und ein weißes Schürzchen vorgebunden, worauf die Kleine ruhelos im Zimmer umherwanderte, des Augenblickes harrend, wo man sie in den Salon rufen würde.

» Nora, au salon, voilà vos chers parents au moment arrivés.«

Fort warf Nora das Buch, das sie sich eben zur scheinbaren Beschäftigung geholt und flog hinauf.

»Mama, Papa!« Und sie lag am Herzen der Geliebten.

»Gott grüß dich, Töchterchen, wie gut du aussiehst!« Die Mama.

»Und gewachsen ist sie, auf mein Wort.« Der Papa.

Und nun ging das Plaudern an, das Erzählen mit einer Lebhaftigkeit und Zungenfertigkeit, welche die Schülerin Nora nicht wiedererkennen ließen.

Nach einer Weile trat Fräulein Prius in das Zimmer.

»Und wie sind Sie, liebes Fräulein, mit unserer Kleinen zufrieden?«

»Nora hat Eigenschaften, die ich sehr lobenswert finde,« hob mild die Gefragte hervor; »sie ist für Einsprechungen und Vorstellungen sehr zugänglich und sie ist gutherzig gegen ihre Genossinnen. Aber der Wille, der Wille ist schwach! Sie hat sich noch manches abzugewöhnen, was sich ihrem Voranschreiten im Guten hinderlich entgegensetzt, besonders den Mangel an Liebe zur Thätigkeit und Ordnung. Ich sehe manchmal durch ihre Augen in ihr Herz und weiß, daß sich oftmals der aufrichtigste Wunsch in ihr regt, diese Unvollkommenheiten abzulegen. Mit Gottes Hilfe wird es uns gelingen.«

Noras Köpfchen war tiefer und tiefer gesunken unter den ernsten Blicken ihrer Eltern, purpurn färbte sich ihr Antlitz, und heiße Thränen traten ihr ins Auge. Plötzlich erhob sie sich und trat vor die Eltern hin:

»Verzeiht, o wenn ihr nächstesmal wiederkommt, sollt ihr Besseres hören.« – – –

Von diesem Tage an war Nora viel ernster als bisher. Sie nahm's nicht mehr mit sorglosem Leichtsinn hin, wenn ihr die Aufgaben mit schlechten Censuren zurückgegeben wurden. Der unbeschreibliche Durcheinander in ihrem Pulte und ihrem Kasten begann ihren Augen ein unerträglicher Anblick zu werden, und es erwachte die lebhafteste Sehnsucht in ihrem Herzen, doch endlich mit ihren trägen Gewohnheiten zu brechen. Weil dies aber gar so schwer war, lag's wie ein Alp mit dem Drucke der Verzagtheit über ihr. Hedwig half ihr treulich, das Wirrnis ihres Innern zu klären. Wenn Nora klagend über ihre Schwächen, unglücklich über ihre Mißerfolge, ihr Herz vor der älteren Freundin ausschüttete, da hatte diese stets das richtige Wort, und Nora ging immer getröstet an ihre Arbeit.

»O, du glaubst es vielleicht gar nicht, wie schwer mir die Eingewöhnung hier wurde,« hatte ihr Hedwig auch einmal bei solch einer Gelegenheit gesagt. »Wie du weißt, verlor ich meine Eltern nach dem fünften Jahre. Nun nahm mich eine alte Tante zu sich. Sie war immer kränklich und schwerhörig dazu. Ich erhielt alles von ihr, was ich zum täglichen Leben brauchte, aber ich betrug mich gegen die arme Leidende, der ich so viel Dank schuldete, sehr kalt; ich hatte solch große Sehnsucht nach warmer, zärtlicher Liebe, doch in ihrem Hause, in dem außer uns beiden nur noch eine alte Magd, Rosa mit Namen, lebte, war keine Spur davon. Da ging alles gleichmäßig, still und öde vor sich, ein Tag wie der andere, und ich war zu thöricht und unverständig, um mich mit Ergebung hineinzufinden und meiner armen, alten, leidenden Tante die letzten Lebensjahre durch Frohsinn und liebevolle Fürsorge zu verschönern. Ich muß leider sagen, ich war mürrisch, verschlossen und that nur so viel, als unbedingt nötig war. Und dann starb meine Tante plötzlich. Entfernte Verwandte, die mich nur dem Namen nach kannten, erschienen nun, und über mich wurde bestimmt, daß ich in ein Institut müsse, um zur Lehrerin ausgebildet zu werden. Damals war ich zwölf Jahre alt und hatte keinen anderen Wunsch, als auch solch ein fröhliches, freies Leben zu haben, wie die Kinder der wohlhabenden Leute in der Nachbarschaft, die schöne Kleider, Süßigkeiten und allerlei herrliche Dinge bekamen. Mein Vormund war mit Fräulein Prius gut bekannt, und seiner Vermittlung gelang es bei der großen Güte unseres lieben Fräuleins, mir hier einen halben Freiplatz zu erwirken.

Aber statt mich dieser Wohlthat mit dankbarem Herzen zu erfreuen, kam ich verschlossen und störrisch hierher, mit dem größten Widerwillen gegen meinen zukünftigen Beruf und die mühevolle Vorbereitung auf denselben.

Nach einiger Zeit ließ mich Fräulein Prius zu sich rufen. O, wenn ich dir wiederholen könnte, Nora, was sie damals zu mir sprach. Es waren so schöne Worte des Trostes und der Ermunterung – ich werde nie vergessen, wie mich die Thränen erfaßten und schüttelten, wie ich niedersank vor ihr und meinen Kopf barg in ihrem Schoß, und wie eine helle, heiße Flamme drang's in meinem Herzen empor: Begeisterung für den edelsten Beruf auf Erden, den schönsten nach dem Priesteramte, wie Fräulein Prius sagte, wissensfrohe Menschen für diese Welt und gute für das Jenseits heranzubilden. Du kannst dir denken, welchen Eindruck ihre Worte auf mich machten, da mir heute nach drei Jahren noch alles so lebhaft vor Augen steht. O, es war schwer, Nora, für meine verschlossene, stolze Natur voll Eigensinn, sich in das neue Leben hineinzufinden. Es verletzte meine Eitelkeit, unter all den reichen Mädchen die einzige Arme, Unterstützungsbedürftige zu sein. Und das Lernen! Ich mußte immer mehr thun als die übrigen; wie schwer war's im Anfang, manche Spielstunde den Büchern zu opfern. Ich that's damals mehr Fräulein Prius zuliebe. Nach und nach aber ward es mir eine angenehme Gewohnheit, meine Pflicht auf das treueste zu erfüllen. O, Nora, wenn du es nur einmal empfinden könntest, wie ruhig, wie glücklich diese Pflichterfüllung macht. So bin ich heiter und zufrieden geworden,« schloß das edle Mädchen, »mein einziger ernstlicher Kummer ist es, gegen meine arme Tante nicht so liebevoll gewesen zu sein, wie ich hätte sollen.« – –

– – Die Zeit verstrich. Es kamen jene angenehmem Tage, da der heilige Nikolaus mit dem vollen Sacke und der großen Rute erwartet wird.

Auch für die Zöglinge des Fräulein Prius war dies eine willkommene Zeit, und Nora, welche von Hedwig gehört hatte, daß der heilige Nikolaus dem Institute jedes Jahr einen sehr feierlichen Besuch abstatte, sah dem 6. Dezember voll Erwartung entgegen. Endlich kam der sehnlich Erwünschte. Tagsüber wurde die gewöhnliche Stundeneinteilung festgehalten, nur hatte man des Abends um eine Stunde früher frei. In die Sonntagsuniformen gekleidet, mit glattgebürstetem Haar und reinen Schürzen wurden die Mädchen in dem großen Studiensaale in Reih und Glied aufgestellt. Ein Flüstern, ein Kichern, ein Rascheln, ein Knistern ging von Kind zu Kind, da – wurden die beiden Flügeln der Thüre geöffnet, und herein schritt majestätisch, von einem langen, weißen, goldglitzernden Mantel umwallt, die hohe Insul auf dem Haupte, den Hirtenstab in der Hand, der heilige Nikolaus mit seinem eisfarbenen, dichten Barte. Hinter ihm her in täppischen Sprüngen, mit seinen Ketten rasselnd, den Inhalt der Butte auf seinem Rücken schüttelnd, die Rute drohend nach allen Seiten gerichtet, folgte »Krampus« in Schwarz und Rot mit langer, blutfarbener Zunge und zwei gewaltigen Hörnern auf dem Haupte.

Vor den Kleinen, die zu vorderst standen, hielt der heilige Nikolaus an und begann mit tiefer hallender Stimme sein Verhör:

»Sind die Kinder brav gewesen, können sie auch beten, lesen, schreiben und ein Sprüchlein sagen, oder muß ich sie verklagen bei –«

Seine Hand wies auf den drohenden Begleiter, aber bevor er noch ausgesprochen, trat die Kleinste der Kleinen hervor, Amina, eine fünfjährige Schottländerin und begann, die Händchen faltend, mit lieblicher Stimme ein Gebet zu sprechen. Ihrem Beispiele folgten die übrigen Kleinen, indem sie durch Deklamationen oder Vorzeigen ihrer Handarbeiten und Hefte einen Beweis ihres redlichen Strebens während der letzten Wochen erbrachten.

Nora, die nun eine Reihe weiter rückwärts stand, bog das Köpfchen aufmerksam beobachtend nach vorne. Als Eugenie, eine neunjährige Baronesse, die nichts Besseres aufzuweisen hatte, als ein weiß sein sollendes, erdfarbenes Strümpfchen, weidlich ausgezankt und mit der Rute bekannt gemacht wurde, dachte sie seufzend: »Wehe, wie wird's mir ergehen?«

Die Kleinen zogen ab, die nächste Reihe rückte vor, und nachdem Ghita, eine dreizehnjährige Italienerin, wegen ihrem großen Hang zur Schwatzhaftigkeit gehörigen Tadel erhalten hatte, war es an Nora, vorzutreten.

»Dir, meine liebe Nora, habe ich leider nicht nur einen, sondern mehrere Fehler vorzuwerfen. Wer ist es, der immer lärmt und schwätzt, recht unaufmerksam in der Klasse? Nora. Wer hat selten Ordnung im Pulte und im Kasten? Nora. Wer liebt die Bequemlichkeit mehr als Nora?«

Nora und immer wieder Nora, das ging so weiter, und der heilige Nikolaus legte eine solch genaue Kenntnis ihrer verborgensten Schwächen und Fehler an den Tag, daß Nora darüber staunte; sie selbst kannte sich nicht so gut. Als aber der Krampus zu recht gewaltigen Streichen ausholen wollte, da wehrte es ihm der heilige Nikolaus und sprach nur eine sanfte Mahnung: »Nora hat dabei zwei sehr schöne Eigenschaften: innig kindliche Liebe zu den Eltern und eine große Gefälligkeit gegen ihre Erzieherinnen und Mitschülerinnen.«

Nun traten die folgenden vor, eine nach der anderen, und jede erhielt ihren Verweis, jede mit Ausnahme Hedwigs. Dieses liebe, bescheidene Mädchen wurde den anderen als Muster vorgestellt. Als sie aber die Worte des Lobes vernahm, errötete sie tief, in ihren Augen glänzten Thränen und sie neigte so demütig, so verwirrt das Haupt, so daß der heilige Nikolaus scherzend zu ihr sprach: »Nun gut, du hast auch einen Fehler, und der ist: zu große Bescheidenheit.«

In Bezug auf Fleiß und Eifer wurde nach ihr am meisten Ellen gelobt und sie warf dabei triumphierende Blicke um sich.

Als das Verhör beendet war, winkte der heilige Nikolaus mit seinem Stabe, und Krampus entleerte den Inhalt seiner Butte mit Gepolter auf den Fußboden. Gleich darauf rannte er zur Thüre und schleppte flink noch zwei Körbe herbei, die dort standen, und ihre hochaufgetürmte Fülle flog lustig kollernd unter die jubelnde Schar der Beteilten. Da gab's Nüsse, Äpfel, Zwetschgen, Feigen, Orangen, Lebkuchen und allerlei Naschwerk die Menge. Alle langten tapfer zu und marschierten sehr wichtig mit ihren süßen Schätzen davon. Nora ging eben an Ellen vorbei:

»Ah, du strahlst aber,« rief diese spöttisch und hochmütig, »ich an deiner Stelle würde in die Erde sinken über die erhaltene Predigt.«

Zornig blitzte es auf in Noras Augen, ihre erste Eingebung drängte sie, ihrer Genossin, die sie verspottete und quälte, wo sie immer konnte, eine erbitterte Entgegnung zuzurufen. Doch es war ihr plötzlich, als blickte sie Fräulein Prius mit milden, vorwurfsvollen Augen an, und sie dachte: »Hat Ellen nicht recht? Es ist wohl eine Schande für mich, soviel Tadel verdient zu haben.«

Laut sagte sie: »Es ist wahr, Ellen; ich war wohl schlimm; jetzt bin ich froh, weil mir die Beteilung so gut gefiel, nachher muß ich erst an mich selber denken.« – – –

– – – Die Wochen, die nun folgten, brachten die größte Thätigkeit für die jungen Mädchen. Man arbeitete sehr fleißig an Weihnachtsüberraschungen für die lieben Seinen daheim. Auch für die armen Kinder, die alljährlich in der Weihnachtswoche im Institute beteilt wurden, gab's viel zu schaffen. Die gewohnten Abendstrickereien wurden jetzt mit verdoppeltem Eifer betrieben, die Größeren schneiderten an Röckchen und Blousen, und die ganz Großen buken duftende Weihnachtsstritzel, als der heilige Abend herannahte. Außerdem hatte man ja auch lange über die möglichst vorteilhafte Abfassung der Wunschzettel nach Hause nachdenken müssen. Nun aber war alles beendigt. Festtägliche Stimmung herrschte in der Anstalt, und als der Abend des 22. Dezembers angebrochen war, stand eine bis an die Decke reichende Tanne im großen Studiensaal, deren breite, duftende Äste mit Silberflimmer bestreut, im Glanze unzähliger Lichter erstrahlten. Es ließ sich nicht entscheiden, wer sich mehr freute, die kleinen Knaben und Mädchen, die sich auf das reinlichste gekleidet, nur schüchtern, geblendet von soviel Pracht in das Bescherungszimmer drängten, oder aber die Institutskinder, welche die Kinder der Armut empfingen, um sie an die ringsumher an den Wänden aufgestellten Tischchen zu führen. Auf diesen lagen neben vielen anderen nützlichen und hübschen Dingen auch Schachteln mit glänzenden Würfeln weißen Zuckers angefüllt. Die Pensionärinnen hatten nämlich auf Verabredung schon wochenlang des Morgens und Nachmittags bitteren Kaffee getrunken, um für die Armen eine Beigabe ganz aus Eigenem beisteuern zu können. Der Jubel der Kleinen war still, aber doch sprechend. Sie rührten nichts an, und mutig trat eines der kleinen Mädchen hervor und begann mit freiem, offenem Blick und erhobener Stimme ein hübsches Weihnachtsgedicht zu sagen. Ihrem Beispiele folgten nun noch einige, und als sie ihre herzigen Vorträge beendet hatten, ergriff Monseigneur Gionelli, der gütige, geistliche Hausfreund, das Wort und hielt eine ergreifende Ansprache an die Anwesenden, die Beschenkten zur Dankbarkeit gegen Gott und ihre Wohlthäter aufrufend – den letzteren aber dankend im Namen des lieben Jesukindes.

O, wie weit wurde Noras Herz an diesem Abend! Vergessen war die Mühe, welche sie die grobe Strickerei der Armenstrümpfe gekostet hatte, vergessen der Widerwille, mit dem sie oft den bitteren Kaffee getrunken. Sie fühlte sich von einer neuen, wunderbaren Empfindung beherrscht, der Seligkeit, welche das stille Wohlthun gewährt.

Am nächsten Tage war Nora ganz eigentümlich gedrückt. Sie, die Weihnachten sonst mit solchem Jubel erwartet hatte, die am heiligen Abend sonst vor Aufregung kaum eine Minute hatte still sitzen können, sie ging heute still umher, und ein wehmütig nachdenklicher Zug lag auf ihrem Antlitz.

In der Dämmerstunde, während die übrigen Zöglinge eine köstliche Freistunde genießend, in den Studienzimmern plauderten und sich in den drolligsten Mutmaßungen über die nahe bevorstehenden Weihnachtsüberraschungen ergingen, begab sich Nora scheu und verstohlen, als beginge sie ein Unrecht, in die Kapelle hinüber. Und dort vor dem ewigen Lichte, das so wunderbar milde Strahlen ringsumher ergoß, sank sie nieder auf ihre Kniee, ließ den Kopf ruhen auf dem Betpulte und weinte sich die seltsame Last vom Herzen.

Da wurde leise die Thür geöffnet, und herein trat Fräulein Prius. Als sie in dem schluchzenden Kinde Nora erkannte, kam sie heran und legte sanft die Hand auf des Mädchens lockigen Scheitel.

»Hast du Heimweh, Nora?«

Das Kind sah mit thränenüberströmten Augen zu der geliebten Vorgesetzten empor.

»Ja, vielleicht auch, aber dies ist's nicht allein.«

»Nicht? Nun, was macht dich denn sonst weinen, heute am Jubeltag der Christenheit, heute, da ihr göttlicher Erlöser, ihr ewiges Heil geboren wird?«

Mit glänzenden Augen sah das Mädchen in das milde Antlitz ihrer Trösterin.

»Ich – jetzt weiß ich's plötzlich, ich wußte es nicht bisher, es drückte mich heut' schon den ganzen Tag, jetzt weiß ich's, ich muß weinen, weil ich nicht würdig bin, daß Jesus auch für mich geboren wurde, weil ich voll Fehler bin, weil – o, ich habe nicht die Kraft, anders zu werden!«

Mutlos sank Noras Köpfchen, und aller Glanz war in ihren Augen erloschen.

»Nora,« begann Fräulein Marie, »Jesus ist für uns alle geboren worden, um für uns zu sterben, und um uns durch seinen bitteren Tod in der Tilgung unserer Sünden und unserer Schwächen behilflich zu sein. Fühlen, daß man nicht besser werden kann, ist fühlen, daß man nicht mit Gott strebt, denn in Gott sind auch wir schwache Menschen stark. Jesus hat gesagt: »Meinen Frieden laß ich euch, meinen Frieden geb' ich euch, wie ihn die Welt nicht geben kann!

Von unserem Erlöser heißt es aber auch in der Heiligen Schrift: »Jesus Christus ist in die Welt gekommen, um das Schwert zu bringen, nicht den Frieden.« Dies Schwert, das ist die Unruhe, die mit dem durch Gottes Gnaden in uns bewirktem Bewußtsein unserer Schwächen unser Herz quält; aber nur kurze Zeit schmerzlich und bitter, denn Gott sieht unsere Sehnsucht nach dem Guten, nach der Wahrheit, und so schwach wir auch sein mögen, ist nur unsere Liebe zum Guten glühend, er giebt uns Kraft zum Vollbringen, und sagt unsere mutlose Natur auch tausendmal: Nein!

Du hast edle Thränen geweint, Nora. Es sind Perlen, die das Kripplein des Jesukindes lieblich schmücken. Sieh' jetzt auf, mein Kind, und sei fröhlich. Geh' jetzt zu deinen Genossinnen und genieße die Freude dieses Abends mit ungetrübter Heiterkeit.«

Voll überströmender Dankbarkeit küßte Nora der mütterlichen Freundin die Hand und nach einem kurzen, andächtigen Gebete verließ sie die Kapelle, um sich unbemerkt unter die anderen zu mischen.

Ein kleines Viertelstündchen währte es noch, dann klang ein silberhelles Glöcklein durch das ganze Haus. Die Flügelthür des großen Studiensaales öffnete sich, und ein wunderbarer Lichtschein flutete auf die zaghaft an die Thür gebannte Mädchenschar. Fräulein Prius trat herzu und faßte je eines ihrer scheuen Küchlein und zog sie in das Lichtermeer herein.

Es war ein feenhaft schöner Anblick. Dieselbe Tanne, die hier gestern die Augen der fremden Kinder aus den Hütten der Armut entzückt hatte, sie strahlte heute für die Hausgemeinschaft in wunderbarem Lichterglanze. Gold- und Silberfäden spannen sich glitzernd von Ast zu Ast. Buntfarbige Süßigkeiten blinkten lockend dazwischen. Von der Spitze herab strahlte ein großer, heller Stern, und unter dem Baume, Weihe und Feierlichkeit ausstrahlend und unbeschreiblichen Frieden, überhangen von dem duftenden Hoffnungsgrün, befand sich die Krippe, dieser schlichte Schrein des Erhabensten, was gedacht werden kann.

Da stand die übersprudelnde Französin Manon neben der phlegmatischen Russin Sonja, die stolz selbständige Amerikanerin Lizzie neben der dunkeläugigen Brasilianerin Diega, Maud, die energische Tochter Albions, und Ephtalie, die bronzefarbige Griechin, Malta, die behagliche Rumänin neben dem blauäugigen nachdenklichen, deutschen Mariechen – alle stumm, ergriffen. Durch ihre jungen Herzen zuckte es wie mit einem sanften Feuerstrahle, der jenseits an dem Heimathimmel über ihren fernen elterlichen Häusern aufgeflammt, hell hier hereinleuchtete, wo er als Freude der Überraschung, der Weihnachtsseligkeit in dieser ihrer zweiten Heimat ihre Seelen erwärmte.

Rings im Saale an den vier langen Wänden standen weißverdeckte Tische, und verräterisch sah, wie ein kleines, gelbes Hütchen, die Spitze eines aufgelehnten Stritzels über jeder Hülle hervor. Jetzt ertönten aus dem Nebenzimmer die sanften Klänge eines Harmoniums, und die jungen, frischen Mädchenstimmen setzten ein zu dem Chorale: »Stille Nacht, heilige Nacht.«

Als sie geendet hatten, fielen die Hüllen von den Tischen und im buntesten Vielerlei prangten die Überraschungen nebeneinander. Nora stand mit glänzenden Augen und hocherglühten Wangen vor ihrem Tischchen. O, wie reich, wie sorglich hatte die Elternliebe sie bedacht! Da lagen zierliche Schürzchen, Handschuhe, eine reizende Briefkassette, ein Arbeitskorb, ein Federbehälter, ein Gebetbuch, zwei Unterhaltungsbücher und eine große Schachtel voll Bonbons und Konfekt. Während sie ganz verwirrt von all der Herrlichkeit vor ihren Geschenken stand, erhob sich ringsum lauter Jubel unter ihren Genossinnen; eine lief zur anderen und zeigte ihr, welch prächtige Dinge sie auf ihrem Platze entdeckt hatte. Es war eine selige, wonnige Stunde ungetrübten jugendlichen Entzückens. Fräulein Prius betrachtete mit innig befriedigtem Blicke ihre Schützlinge, und ihr Antlitz strahlte, als schwebe ein Segensgebet für die jungen Seelen um ihre Lippen. Da nahte sich ihr Hedwig. Von Dankbarkeit überwältigt, zog sie die Hand ihrer Wohlthäterin an den Mund; ihre Geschenke stammten nicht von den Verwandten, die ihr zu entfernt standen, um so zart an sie zu denken; es war Fräulein Marie, die alljährlich mit mütterlich gütiger Hand eine Bescherung für die Waise aufbaute.

Nach und nach erloschen die Lichter knisternd an den grünen Zweigen. Wie Weihrauchduft zog's durch den Festraum, den die Mädchen jetzt verließen, um dem feierlichen Abendessen an einem Tische mit Monseigneur und einigen anderen geladenen Gästen beizuwohnen.

Zu außergewöhnlich später Stunde schlossen sich an diesem Tage die glänzenden Äuglein des Institutsvölkchens. Nora lag in ihrem Zellchen mit einem seligen Gefühl im Herzen. Es war neue Kraft zum Guten über sie gekommen, und mit innerlichem Jubel sandte sie ihr Nachtgebet zu Gott.

Vom heiligen Abend bis Neujahr hatten die Zöglinge schulfreie Zeit. Erhebende Andachten, gemeinschaftliche Spiele und festliche Mahlzeiten wechselten miteinander ab. Am heiligen Dreikönigstage stand ein großer, weißüberzuckerter Kuchen auf dem Frühstückstische. Fräulein Prius schnitt ihn eigenhändig an, und sehr erwartungsvoll nahm jedes der Mädchen ein Stück davon auf seinen Teller. Wußte man doch, daß eine schwarze und eine weiße Bohne in den Kuchen eingebacken war. Wer die erstere fand, war König; wem die letztere zu teil wurde, Königin für die Dauer des Tages. Ihre königliche Vollmacht bestand darin, daß der Herrscher für den Vormittag, die Herrscherin für den Nachmittag die Einteilung der Spiele angeben und dieselben leiten durften. Höchst drollig sah es aus, wie nun alle Mädchen bedachtsam Bissen um Bissen verzehrten, um ja nicht die Bohne mitzuverschlucken. Plötzlich traf Noras Messer auf etwas Hartes – die weiße Bohne sprang auf ihren Teller hinaus. »Königin, hoch, hoch unsere Königin!« riefen die anderen, und kaum war ihr Beifall verklungen, als die schwarze Bohne bei Ellen entdeckt wurde. »König! Ah, wirklich! So, Ellen!« klang's durcheinander. Der Beifall war minder lebhaft als bei Nora, denn diese war bei weitem beliebter unter den Genossinnen, als die stolze, selbstgefällige Ellen. Nora erschrak im Innern ihres Herzens, den König hatte sie sich am wenigsten gewünscht. Wie mit einem Schlage war ihre gute Laune verflogen, und sie hatte Mühe, sich das nicht anmerken zu lassen. Triumphierend wandte der König seine scharfen, grauen Augen der Königin zu. Ihm war die Fügung ganz nach Willen. Er stand ja über ihr und konnte gebieten.

»In den Studiensaal!« sprach er herrisch, und die Unterthanen folgten. »Schule wird gespielt.« Die Mädchen wurden in Klassen geteilt, und der König selbst begann mit großer Überlegenheit den prüfenden Lehrer zu machen. Die köstlichsten Verwechslungen und Schnitzer wurden von den in die Enge getriebenen Schülerinnen begangen. Bald war in dem Karzer, dem finsteren Gefängnis im anstoßenden kleinen Toilettezimmer, kein Raum mehr für die mit Haft Bestraften. Der Königin war höchst unbehaglich zu Mute. Wie ward ihr aber erst, als der König gebietend auf sie zuschritt und sagte: »Fräulein, setzen Sie die Prüfung fort.« Und dabei traf sie aus den kalten, grauen Augen Ellens ein Blitz des Hohnes und der Spöttelei. An ihrer wundesten Stelle hatte die Gegnerin sie getroffen. Heiß wallte es in Noras Herzen auf. Haß gegen Ellen war's, sie fühlte es, und wie ohnmächtig war ihr Groll! Es war Institutsordnung, deren Übertretung streng bestraft wurde, bei diesen Spielen verträglich, durchaus friedlich und willig zu bleiben. Nora erschrak gleich darauf über sich selbst. »O, wie empfindlich, wie heftig ich bin!« dachte sie. Dann bezwang sie sich gewaltsam, trat heiter vor und setzte die Prüfung so gut als möglich fort. Im Anfange war sie wohl um Fragen verlegen, aber nach und nach fand sie sich so gut hinein, daß sich Ellens Freundin Harriet, die auch unter den Schülerinnen saß, vergeblich bemühte, sie durch vorwitzige, kränkende Bemerkungen aus der Fassung zu bringen. Das Spiel wurde viel lebhafter, als unter Ellens Prüfung.

Am Nachmittage betonte Fräulein Prius selbst, daß nun Nora, als Königin, das Recht zustehe, ein Spiel anzugeben. »Theaterspielen aus dem Stegreif,« lautete des glücklichen Mädchens schnellgefaßter Entschluß. Das war ein Jubel unter ihren Genossinnen!

»Ja, ja, das wird herrlich sein!«

»Nicht wahr, Fräulein Prius, wir dürfen hinauf auf die wirkliche Bühne?«

»Und Kostüme werden wir uns suchen. O, das wird lustig!«

Wie in einem Ameisenhaufen kribbelte alles durcheinander. Einige richteten die immer stehende Bühne des Institutes im mittleren Studiensaale so schön als möglich her. Die anderen erbettelten sich von den Gouvernanten allerlei Kleidungsstücke und trugen sie im Triumphe nach der Garderobe, wo Nora bei bester Laune mit großem Geschick und freudiger Lebhaftigkeit ihre Anordnungen traf. Sie hätte so gern gehabt, daß die gescheite Ellen, die immer so gute Aufsätze schrieb, schnell den Titel eines Stückes ausgedacht, die Rollen verteilt und den Darstellerinnen in aller Flüchtigkeit angesagt hätte, wie sie's beiläufig machen, und was sie sagen sollten. Aber Ellen war verschwunden; als Nora die aufsichthabende Mademoiselle Dubardieu nach ihr fragte, erhielt sie die Erklärung: » La pauvre petite a mal à la tête; mademoiselle Prius a ordonné de la faire coucher.«

Herzlich bedauerte Nora, daß Ellen an dem lustigen Spiele nicht teilnehmen könne, und sie sagte gleich zu ihren Gefährtinnen: »Da die arme Ellen nun für den Rest des Tages nicht mehr König sein kann, soll ich auch meine Königinnenkrone ablegen, sonst wäre es eine Ungerechtigkeit gegen sie.«

»Nein, nein,« riefs einstimmig, »bleibe unsere Königin, Nora, ja, ja, du mußt!«

Und halblaut wurden auch Bemerkungen, wie: »Ellen hat am Vormittage hinreichend kommandiert.« »Sie wird uns wenig abgehen,« ausgesprochen.

Nora also verblieb im Besitze ihrer königlichen Würde und dramatisierte sehr geschickt und erfindungsreich eine komische Geschichte, die Fräulein Prius in den letzten Wochen vorgelesen hatte, indem sie die darin vorkommenden Personen durch die Gefährtinnen in den entsprechenden Kostümen darstellen ließ. »Die leselustige Familie« wurde aufgeführt, mit Windeseile schrieb man Theaterzettel, und nach einer ganz flüchtigen Probe, die erstaunlich gute Erfolge hatte, beschloß man, Fräulein Prius, alle Lehrerinnen und die Großen des Institutes zur Vorstellung einzuladen.

Während oben im Studiensaale das lustigste Leben herrschte, schlich sich Harriet unbemerkt ins Krankenzimmer. Fräulein Thora, die Bonne der Kleinen, war eben fortgeeilt, um Eis für die Umschläge zu holen, die man Ellen machen wollte. Diese lag mit festgeschlossenen Lippen, glühenden Wangen und unruhigen Augen auf einem Ruhebette. Harriet schlüpfte herein: »Wenn du wüßtest, Ellen,« flüsterte sie, »welche Triumphe Nora oben feiert!« Trotzig schwieg die Angesprochene. »Und die anderen sagten, du gingst ihnen gar nicht ab.« Ellen schwieg beharrlich. Endlich stieß sie heftig hervor: »Glaubst du, Harriet, daß ich Kopfweh hatte? Keine Spur, aber dort oben wollt' ich nicht bleiben und Nora gehorchen, das ginge mir ab!«

»Aber Ellen, Fräulein Prius läßt den Doktor kommen, ich habe gehört, wie sie's zum Mathes sagte.«

»Was thut's? Überdies ist mir jetzt wirklich ganz schlecht aus Ärger über das dumme Ding.«

In Harriets Gemüt, die den Haß gegen Nora nur äußerlich, gleichsam aus Gefälligkeit gegen die Freundin teilte, regte sich ein besseres Gefühl, und sie wollte zur Verteidigung Noras die Erzählung vorbringen von ihrem bescheidenen Entschlusse, mit Rücksicht auf Ellen ihrer königlichen Würde zu entsagen. Aber sie unterließ es, denn sie hatte den edlen Mut nicht und stand zu sehr unter Ellens Einfluß. Plötzlich trat, zur unangenehmen Überraschung der beiden, Fräulein Thora mit einem Waschbecken voll Eis in das Zimmer.

»Aber, Harriet, was machen Sie hier? Sie wissen, es ist verboten für gesunde Zöglinge, ohne Auftrag in das Krankenzimmer zu kommen. Überdies muß Ellen schlafen.«

Harriet eilte von dannen, froh, so leichten Kaufes davongekommen zu sein.

Am nächsten Morgen war Ellen immer noch nicht unter den anderen. Dieses unmäßig stolze Mädchen voll leidenschaftlichen Ehrgeizes hatte sich über die geringfügige Zurücksetzung von gestern derart aufgeregt und geärgert, daß sich über Nacht wirkliches Unwohlsein bei ihr entwickelte, welches der Arzt als Gallenfieber bezeichnete. Sie mußte das Bett hüten und hatte starke Kopfschmerzen. Fräulein Prius und Fräulein Thora, ihre Pflegerin, kamen ihr mit der größten Milde und Sorglichkeit entgegen; niemand, außer Harriet kannte ja die wahre Ursache ihrer Krankheit. Das erste Erinnerungszeichen, das sie von ihren Genossinnen erhielt, war ein Buch, das Nora ihr nach eingeholter Erlaubnis sandte, damit sie sich die Zeit durch Lesen verkürze. Ellen nahm diese Freundlichkeit sehr kühl auf und war überhaupt voll Groll gegen sich selbst und alle anderen.

Zwei Wochen vergingen, ehe Ellen das Schulzimmer wieder betreten konnte. Aber als sie dann, schwach und bleich zwar, doch aufmerksam wie immer, an ihrem Platze saß, bemerkte sie zu ihrem Erstaunen, daß große Veränderungen mit Nora vorgegangen waren. Sie, die sonst selten in einem ganzen Satze auf die Frage des Lehrers geantwortet hatte, sprach nun so sicher und zusammenhängend. Ja, Nora hatte in der That seit den Vorsätzen am Weihnachtsabende all ihre Willensstärke aufgerafft, um das zustande zu bringen, was sie jetzt leistete an Fleiß beim Lernen und in der Ordnungsliebe. Und wenn einmal der Anfang gemacht ist, das andere findet sich. Sie arbeitete und strebte erfolgreich fort und fort, daß vor lauter Eifer ganz unbemerkt der Frühling in das Land zog. Die alten Bäume des Institutsparkes waren mit großen glänzenden Knospen geschmückt, und blauer Himmel schimmerte wie der Schleier einer lieblichen Fee zwischen den Bäumen herab. Die Glocken läuteten Ostern ein, das selige Frühlingsfest. Hedwig, die das Ehrenamt einer Sakristanin an der Hauskapelle bekleidete, hatte viel zu thun während der heiligen Tage. Wer sich dazu meldete, durfte ihr helfen, den Altar für die Feierlichkeiten der Karwoche zu schmücken. Eine der thätigsten Mithelferinnen war Nora. O, es waren so schöne Stunden, welche die Mädchen unter der Leitung des guten, alten, hochwürdigen Paters Raphael, ihres Katecheten, in der Kapelle zubrachten! Frommer Eifer glühte in Nora auf, als sie den Erklärungen lauschte, die der fromme Seelenhirt ihnen dabei über die ergreifenden Ceremonien dieser heiligen Tage gab. Karfreitag, o, welche Bedeutung erhielt zum erstenmal dies Wort für Nora!

»Kinder,« sprach Pater Raphael mit bewegter Stimme, »so oft ich das schwarze Meßkleid am Karfreitag angelegt und vor den Altar Gottes getreten bin, um mich an dem Fuße desselben auf mein Antlitz niederzuwerfen – jedesmal fühlte ich bei dieser erhabenen Totenfeier neues Leben in mir erstehen. O, wir müßten Herzen aus Stein haben, wenn uns die unbeschreibliche Demut, die grenzenlose Liebe des Gottessohnes für uns Menschen nicht tief ergriffe, nicht so durchdränge, daß wir, um seiner nur etwas würdig zu werden, gern und mit aller Macht unsere schlechten Gewohnheiten, unsere Mängel und Schwächen zu bekämpfen suchten!«

Strahlend brach der Ostermorgen an. Wie schön glänzte die Sonne im goldenen Festkleid! Wonnig war die milde Luft zu atmen. Nach beendeter feierlicher Messe wurden die Institutszöglinge in ihren neuen hellbraunen Uniformen in den Garten entlassen. »Eiersuchen, Eiersuchen!« tönte es jubelnd durch die Reihen der Mädchen. Vally und Resa führten, alle Institutsdisciplin vergessend, einen wahren Indianertanz vor Freude aus, natürlich von dem entsprechenden Getöse begleitet. Die Brasilianerin Diega hob die großen, dunklen Augen bedeutungsvoll zum Himmel auf und sprach: »Heuer giebt's nur Schlangeneier, ihr werdet's sehen.«

» O mais taisez-vous!« rief Manon, der Pariser Backfisch, herüber, » Quelle horreur.«

Die Russin Sonja trat plötzlich mit großer Würde auf: »Miß O'Brien läßt euch sagen, daß wir noch hier im Vorgarten warten müssen,« begann sie mit etwas fremdländischem Accent. »Man ist nicht fertig mit dem Verstecken der Eier. Ich weiß aber etwas, was wir inzwischen thun können. Erlaubt mir, daß ich, den Gebräuchen meiner Heimat folgend,« fuhr sie mit rednerischem Schwunge fort, »einer jeden von euch den Osterkuß gebe. Das geschieht bei uns am Ostersonntag in der Kirche und bedeutet den Bruderkuß der christlichen Nächstenliebe.«

»Nun,« fiel Mathilde ein, »dabei muß es doch bei uns lustig werden. Ich schlage folgendes vor: Sonja soll uns alle küssen, und damit alles in größter Ordnung vor sich gehe, werden wir uns in Reih' und Glied aufstellen, und zwar genau nach der Größe.«

»Ja, ja, angenommen; kommt; welche ist die Kleinste.«

»Ja, und wohin soll Sonja küssen? Auf den Mund, die Stirn, die Wangen, das Kinn?«

»Ruhig!« kommandierte Mathilde den Stimmentumult zur Ruhe, »so kommen wir nicht weiter. Amina ist die Kleinste.«

»Die Jüngste, ja,« protestierte Malta. »Die Kleinste ist Zoë«

»Was fällt dir ein,« rief Gertrud.

»Zoë, Amina!« befahl die Arrangeurin. » Votre canif, s'il vous plaît, Manon!«. Es war nämlich allbekannt, daß Manon stets ein Federmesser in der Tasche bei sich trug, weil sie eine leidenschaftliche Schnitzerin und Graveurin war, leider aber ein entschieden verkanntes Genie, da man ihre Kunstwerke auf Pulten, Fensterbrettern, Baumstämmen, ihre zu Figuren umgestalteten Gummi und zerschnitzelten Federstiele mit Strafen belegte, anstatt sie um ihrer Kunstübung willen zu bewundern. So wenig Kunstsinn hatte man, so barbarisch war man in diesem Institute!

Manon händigte ihr Federmesser aus, und Mathilde drückte Amina gegen einen Baumstamm, befahl ihr, unbeweglich zu stehen und ritzte dann die Baumrinde leicht in des Kindes Kopfhöhe. Nun kam Zoë an die Reihe. Triumphierend rief Mathilde, als das schwarzlockige Köpfchen Zoës die Kerbe verdeckte: »Amina ist, wie ich sagte, die Kleinste!«

Die Gegnerinnen waren durch den Augenschein geschlagen. »Rechtsum, stell' dich drüben auf, Amina, nebenan Zoë!« Und nun unterzog sich die Ordnerin der mühseligen Aufgabe, ihre Genossinnen in strenger Größenfolge aufzustellen, wobei es natürlich viel Protest gab von seiten der Großseinwollenden. Endlich standen die 59 Zöglinge in mehreren Reihen hintereinander, und Sonja begann mit dem Küssen. Ihr war die Aufgabe gestellt worden, in genauer Reihenfolge die erste auf den Mund, die zweite auf die Wange, die dritte auf die Stirn, die vierte auf das Kinn zu küssen und das regelmäßig durch die Reihe durchzuführen.

Hedwig, die Gewissenhafte, wurde zur Aufpasserin bestellt, und hatte jeden Irrtum aufzunotieren; so viele Kreuzlein, soviele russische Briefmarken hatte Sonja an die nicht regelrecht geküßten Genossinnen abzuliefern. Aber Sonja war sehr geschickt. »Nicht möglich,« rief Mariechen mit den rosigen Wangen, »sie irrt sich nicht!« Schließlich aber irrte sie sich doch zweimal, und Hedwig mußte zwei Kreuzlein machen; man hatte jedoch mindestens auf zwanzig gerechnet.

Nun war der Kußscherz zu Ende. Sonja versicherte, daß ihr der Mund weh that. Bald darauf rief Miß O'Brien: » Come, children, make haste!«

Und sie »machten« wirklich »Hast«, wie der Engländer für »beeilen« sagt, sie trippelten und drängten vorwärts auf den Kieswegen, sich dann im Parke mit scharfspähenden Augen verteilend. Nora war die erste, die in einem Beete von rosa Hyazinthen einen Korb voll rosa Zuckereiern fand. Jubelnd zeigte sie ihren Fund, und wurde angewiesen, ihn nach der Grotte, dem allgemeinen Sammelplatz für die gefundenen Ostergaben, zu tragen. O, dort sah es bald bunt aus! Von allen Seiten eilten die Mädchen herbei mit Eiern, Düten, Zuckerlämmchen, Osterhasen, Marzipanküchlein, Glückschweinchen, Zuckerschinken, und legten alles auf den Tisch vor Fräulein Wehler, die dann das Ganze in sechzig gleiche Teile zu zerlegen hatte. Der Garten wiederhallte von dem Jubel der Pensionärinnen; es war auch zu reizend, wenn man plötzlich so ganz unerwartet im zartgrünen Grase unter einer Tanne oder von großen Blättern versteckt, eine niedliche, bunte Überraschung auftauchen sah!

Plötzlich ertönte ein gellender Schrei. Alles eilte zum Bassin hin, woher der Hilferuf gekommen war. Was sah man? Diega hing mit dem Kleide an einer Spitze des Gitters, welches das Wasserbecken umgab, gegen das Wasser hinab und schrie jämmerlich. Mademoiselle und Fräulein Weigand faßten die Schwebende mit sicheren Händen und brachten sie wohlbehalten in den Kreis ihrer Genossinnen zurück, wo sie mit thränenüberströmtem Antlitz, am ganzen Körper zitternd, stand. Auf das Befragen der Lehrerin gab sie folgende Antwort: »Ich kam zum Bassin und sah einen Gegenstand auf dem Wasser schwimmen.«

»Dort unten ist er noch. Das Stück braunes, geballtes Papier?« rief Nora, die zunächst stand.

»Papier?« gab Diega sehr enttäuscht zurück. »Ich erkannte es nicht wegen meiner Kurzsichtigkeit. Ich sah es und dachte, es könnte auch etwas vom Osterhasen sein, vielleicht ein Körbchen, und wollte es mit diesem Stabe heranfischen. Darum schwang ich mich auf das Gitter,« fuhr sie kleinlaut in ihrem Bekenntnisse fort, »doch ich blieb hängen, verlor plötzlich das Gleichgewicht – o, es war so gräßlich, in der Luft zu schweben über dem Wasser!«

»Diega,« sprach Fräulein Wehler mit ernster, strenger Miene. »Du kommst sofort mit mir. Sehen Sie das Loch im neuen Kleide,« rief sie zu Mademoiselle. »Ein unerhörtes Bubenstück! Fräulein Prius ließ eigens das Gitter machen, damit nichts geschehe.«

Diega wurde abgeführt. Manon flüsterte ihr zu, als sie an ihr vorüberkam: » Consolez-vous; du moins vous n'avez pas du cette eau pleine d'oeufs de serpents.«. O, Diega war nicht zum Scherzen aufgelegt. Erst der Schreck und nun hatte sie sich den ganzen Tag verdorben durch ihren Ungehorsam. Fräulein Wehler führte sie zu Fräulein Prius hinauf. Mit ernstem Erstaunen sah die Vorsteherin das weinende Kind zu dieser Stunde, wo sie alle voll Heiterkeit im Garten wußte, vor sich stehen. Als sie den Sachverhalt erfuhr, gab sie Diega einen ernsten Verweis und befahl ihr, mit einem Buche in die Bibliothek hinüberzugehen und dort zu bleiben, bis man sie rufen würde. Als Fräulein Wehler ohne Diega in den Garten zurückkam, griff eine merklich niedergeschlagene Miene auf den Gesichtern der Mädchen Platz. Jubeln und Lachen war verstummt, und in stillen Gruppen zerstreuten sich die früher so Lustigen auf den Kieswegen. Nora ging mit Carlotta, der Zwillingsschwester Diegas, und deren Verstimmung that ihr innig leid.

»Weißt du was, Carlotta, wir zwei und die übrigen Classengenossinnen Diegas gehen zu Fräulein Prius und bitten für sie.«

Mariechen, Harriet, Ephtalie und auch die stolze Ellen wurden für den Plan gewonnen, und die Gesandtschaft begab sich in den Salon, wo Nora herzlich und mutig die Fürsprecherin machte. Fräulein Prius war freudig überrascht über die einmütige Anhänglichkeit der Bittstellerinnen an Diega, die, wenn man von ihrer Unbesonnenheit absah, ein herzensgutes Kind war.

»Ich bitte, gutes Fräulein Prius, verzeihen Sie Diega und erlassen Sie ihr die Strafe. Sie hat sich so sehr auf Ostern gefreut.«

Mit mildem Ernst erwiderte Fräulein Prius: »Euer Eintreten für die Genossin ist sehr lobenswert und freut mich herzlich. Es sei ihr für dieses Mal verziehen, wenn sie aufrichtig Besserung ihrer Unbesonnenheit und des daraus entspringenden Ungehorsams verspricht.«

Fräulein Prius ging in eigener Person hinüber in die Bibliothek und führte, nach einer kurzen Rücksprache mit der Bestraften, eine Tiefzerknirschte und doch Hochbeglückte den Gefährtinnen zu. Sieben warme Mündchen drückten dankbare Küsse auf die Hand der Vorsteherin, und dann wurde die Wiedereroberte, die gar nicht wußte, wie ihr geschah, im Jubel hinabgeführt.

Als man wieder zum Bassin gelangte, wo ein heller Strahl plätschernd zur Höhe sprang, trat Hedwig hervor, welche die letzte Viertelstunde unsichtbar gewesen war, und winkte den Ankömmlingen, sich neben den anderen auf den Bänken niederzulassen, die im Halbkreise um das Wasserbecken aufgestellt waren. »So laß uns doch, wir wollen spazieren gehen!« rief unwillig Ellen, verstummte aber voll Überraschung, als hinter dem jenseitigen, hellgrünen Gebüsch ganz eigentümliche Figürchen auftauchten.

»Ah!« rief die Versammlung, »furchtbar nett!« »Entzückend!« »Reizend!«

Das waren ja leibhafte Osterhäschen! Sie machten putzig Männlein und reckten die Köpfchen mit den langen weißen und braunen Ohren empor, doch die Gesichter waren so rosig, die Äuglein so hell und kleine Krauslöckchen drängten sich unter den Fellen der Köpfe hervor – mit einem Worte: es waren Mägdlein, reizend als Osterhäschen verkleidet. Nun führten sie um den Springbrunnen herum einen possierlichen Sprungtanz aus und wurden dabei nach und nach als die zehn Kleinen des Institutes erkannt, die irgend eine geschickte Hand ganz in weiße und braune Watte gehüllt hatte. Die Häubchen mit den langen Ohren und die Schwänzchen machten sich zu nett, dazu der Tanz, wobei ein jedes einen Kohlkopf hervorzog und ganz taktmäßig daran knusperte, und die Musik einer verborgenen Violine. In dem Spiele erkannte man Hedwig und vermutete ganz richtig in ihr die Arrangeurin dieser reizenden Osterüberraschung. Als sie erschien, wurde sie mit Fragen bestürmt: »Das hast du gemacht? O, und so geheim! Kein Mensch wußte ein Wort davon. Wann habt ihr's denn eingeübt?« fragte Nora.

»Du weißt,« gab Hedwig zurück, »daß ich in der letzten Zeit die Nachmittagsfreistunden der Kleinen beaufsichtigte, weil Fräulein Thora so viel zu nähen hat. Da übten wir's im Garten, während ihr anderen drin beschäftigt waret. Zu den Kostümen hat mir Fräulein Prius Verholfen.«

»Also sie weiß es schon? Aber sie muß doch herabkommen,« rief Nora und ging, die Vorsteherin zu holen, vor welcher die Häschen ihre Produktion aufs neue beginnen mußten. Es war zu reizend, und Diega lächelte trotz ihrer dickverschwollenen Augen seelenvergnügt. Schließlich rief Fräulein Wehler die Häschen zur Grotte hin und übergab ihnen die genau geteilten Ostergaben zur Verabreichung an die übrigen Pensionärinnen.

Es war ein herrlicher Ostersonntag gewesen! Darüber war man auch nachher noch einig; noch lustiger konnte höchstens das Maifest werden, das heuer, wie alljährlich, am 1. Mai abgehalten werden sollte, und für welches man schon fleißig in Bezug auf Kostüme und Vorbereitung zu Darstellungen arbeitete.

Nun hatte man aber erst Anfang April, und so war noch Zeit bis dahin. Am weißen Sonntage, also an dem Sonntage nach Ostern, ging Nora eine Weile nach der Frühmesse in die Kapelle, um dort in aller Stille für ihre Eltern zu beten, während die übrigen mit den Lehrerinnen im Garten waren. Als sie den geweihten Raum betrat, war sie überrascht, Lucie hier zu finden, die sonst nie besonders andächtig war, die sich, im Gegenteil, unter allen Pensionärinnen am gleichgültigsten gegen die Religion verhielt. Sie kniete in einem seitlichen, durch einen Mauervorsprung fast versteckten Betstuhl; aber Nora hatte sie gleich bemerkt und sah auch, daß sie ihr Taschentuch an die Augen gedrückt hielt. Nora kniete still nieder, ohne von Lucie bemerkt worden zu sein, und verrichtete ihre Gebete. Plötzlich hörte sie die thränenzitternde, flehende Stimme Luciens von drüben leise rufen: »O Gott, mein Vater, hilf mir! Erbarme dich meiner!«

Jetzt machte sich Nora durch Räuspern bemerkbar. Lucie fuhr zusammen und sah betroffen nach dem zweiten besetzten Betstuhl hinüber. Dann erhob sie sich, um fortzueilen.

»Lucie, du thust mir so leid!« flüsterte Nora, als die Gefährtin an ihr vorüberkam. »Ich weiß nicht, was dich drückt, aber ich will für dich beten.«

Lucie blieb stehen, überlegend, zögernd; plötzlich sprach sie leise zu Nora: »Ich, ich möchte dich etwas fragen. Glaubst du, daß auch der Gott zu lieben anfangen darf, der – ach nein, ich kann's nicht sagen!«

Nora sah mitleidig auf die Thränen, die sich in Luciens Augen sammelten. »Ich meine,« fuhr diese plötzlich fort, »ob man's darf, wenn man sich bisher auch gar nicht um Gott gekümmert hat?«

Noras Herz pochte heftig. So sehr war sie überrascht, daß Lucie, die Gescheite, vierzehnjährige, eine so wichtige Vertrauensfrage an sie, die dreizehnjährige Unbeholfene, richtete. Aber sie war nicht mehr dieselbe kindische, unreife Nora, wie heute vor einem halben Jahre. Langsam, aber sicher, hatten die edlen Einflüsse ihrer Umgebung bildend, aufklärend, stärkend auf ihr Gemüt und auf ihren Verstand gewirkt, und sie begriff sofort, daß Lucie für ihre eigene Person bei ihr Trost suchte. Es war süß, ihr diesen geben zu können. »Ganz gewiß,« erwiderte sie also mit freudiger Zuversicht. »O, Pater Raphael sprach gerade neulich so schön davon, welche Freude Gott an einer Seele hat, die aus kleinen, schwachen Anfängen zu einer großen, warmen Liebe zu Gott erglüht; ich glaube, so sagte Pater Raphael. Du hörst: aus kleinen, schwachen Anfängen.«

Glühende Röte hatte das Antlitz Luciens übergossen: »Aber wenn's weniger ist, als das. O Nora, ich muß dir mehr sagen, damit du mich verstehst. Ich habe meine Eltern nicht gekannt; beide starben, als ich noch ein ganz kleines Kind war. Da nahm mich der Bruder meines Vaters zu sich, ein Schloßherr, bei dem ich's immer sehr gut hatte. Ich weiß mich nur an schöne, lustige Tage zu erinnern, die ich frei und ungebunden in unserem großen Parke und in den weiten Schloßräumen zubrachte. Später bekam ich eine Gouvernante, die mich unterrichtete und erzog, aber von Religion hat sie nie zu mir sprechen dürfen. Mein Onkel nämlich, o, jetzt bedauere ich ihn so innig, will keine Religion haben; er sagte mir oft, es ist sein Stolz, konfessionslos zu sein. Ich fand nie etwas daran, weil ich gar nicht wußte, daß es etwas anderes gäbe, denn ich verkehrte, außer mit den Hausgenossen, mit niemand. Wir gingen nicht zur Kirche und da wir selten in das Dorf kamen, fiel es mir nicht auf, daß die übrigen Menschen anders thaten. Als ich dreizehn Jahre alt wurde, entschloß sich mein Onkel, mich in ein Pensionat zu schicken, damit ich mehr lerne und überhaupt etwas unter Menschen komme. So wurde ich hierher gebracht. Mein Onkel wollte mit Fräulein Prius vereinbaren, daß ich vom Religionsunterricht dispensiert werde. Fräulein Prius aber erklärte, ich hörte es selbst, daß sie mich unter dieser Bedingung nicht aufnehmen könne. »Nun gut,« sagte mein Onkel, »sie wird sich ohnedies nicht viel aus der Religionsstunde machen.« Da hatte er recht. Anfangs war's mir auch ganz gleichgültig, Pater Raphael mochte reden, so schön er wollte. Ich träumte dabei. So war's bis Weihnacht. Da regte sich aber, als wir gemeinschaftlich vor der Krippe standen, etwas in mir, was ich nicht nennen kann, und seit jener Zeit muß ich an Gott denken, ich mag wollen oder nicht.«

»Ja, aber Lucie, warum solltest du denn nicht wollen!« rief Nora. »Ich habe Gott auch jetzt erst so recht lieb, seit ich hier bin.«

»Horch, Nora, als ihr vergangenen Karfreitag mit Pater Raphael in der Kirche waret, um alles herzurichten, und er so herrlich sprach von Jesu, von seinem bitteren Leiden und seiner glorreichen Auferstehung, o Nora, da kniete ich ganz rückwärts und mußte mich dann fortdrücken, sonst hätte mich das Weinen verraten.«

»Aber du bist doch getauft?« rief Nora plötzlich.

»Gewiß, ja, mein Onkel ist's auch.«

»O, dann ist alles gut. Du fängst einfach an, Gott zu lieben.«

»Ja,« sprach Lucie, »hier ist das eigentlich ganz einfach, aber denke, Nora, wenn ich nach Hause komme. O, jetzt werde ich dort nicht mehr glücklich sein können, wie ich's früher war.«

In diesem Augenblicke öffnete sich die Thür des geweihten Raumes. Fräulein Prius trat ein: »Lucie, Nora, was sehe ich! Ist das der Ort zum Plaudern? Ich ging draußen vorüber und hörte hier ein Flüstern.«

Lucie trat vor: »O liebes Fräulein, seien Sie mir nicht böse. Nora betete hier, und ich hatte solch einen Kummer auf dem Herzen; sie sah mich weinen, und so kam es, daß wir darüber zu sprechen anfingen.«

»Wenn du wirklich Kummer hast, Lucie, so komm' zu mir hinauf in mein Zimmer, und du, Nora, geh' jetzt zu den anderen.«

* * *

Der Tag des Maifestes war gekommen und mit ihm eine doppelte Freude für Nora. Ihre lieben Eltern langten mit dem Frühzuge in W. an und besuchten am Vormittag ihr liebes Töchterchen. Nora befand sich eben im Probiersalon, d. h. in dem Zimmer, wo die Hausnäherin die letzte Hand an die Kostüme für den Nachmittag legte. Da gab's einen Prinzen Waldmeister, Blumenfeen, Schäferinnen, Schmetterlinge, Schwalben, Rokokodamen, Bäuerinnen und noch viele andere hübsche Verkleidungen. Nora stellte das Maiglöckchen dar und streifte, als ihr der Besuch der Eltern plötzlich angesagt wurde, ihr weißes Tüllkleid so heftig ab, daß sie es beinahe zerrissen hätte und flog hinauf in den Salon, alles, was ihr in den Weg kam, beinahe niederwerfend. Fräulein Prius klopfte der Erhitzten die roten Bäckchen und führte sie den Eltern zu, die ihr liebes Kind innig umarmten. Des Vaters erste Frage war: »Nun, hat unsere Nora Wort gehalten?«

»Du meinst, Papa, ob ich – ach, ich weiß nicht, ob ich so geworden bin, wie ich's versprochen habe; aber bemüht habe ich mich, o Mama, wenn du's nur wüßtest, wie ich mich in der letzten Zeit mit dem Lernen geplagt habe und wie viel ich nähte – und mein Kasten, mein Pult –«

»Macht uns Freude, Frau von Hellendorf,« fiel Fräulein Prius ein, »überhaupt ist Nora bescheidener als ihre Verdienste; ich kann sagen, daß sie ihr Versprechen zur Besserung brav gehalten, daß sie sich nicht nur mühte, sondern auch schöne Erfolge errungen hat.«

»Nun, das hören wir gern. Und würden Sie gestatten, Fräulein Prius, daß wir sie ein bißchen über Mittag ausführten?«

»Gewiß, unsere Kinder haben ja heute schulfrei.«

»Aber, nicht wahr, wir kommen pünktlich wieder zurück, wenn das Kostümieren für das Fest beginnt. O, das wird zu lustig sein!«

Die Mutter lächelte. Ihre Voraussicht hatte sich erfüllt. Nora war bereits so gern im Institute, daß sie sich nicht hinaussehnte. Das Mädchen hätte so gern ganz ungezwungen gerufen: »O, ihr müßt zum Feste dableiben!« Doch so viel Umgangsform hatte sie schon gelernt, daß sie wußte, diese Einladung komme Fräulein Prius zu. Diese sprach auch sofort: »Und Sie, nicht wahr, beehren uns auch mit Ihrer Gegenwart bei dem Maifeste? Wir haben ja eine dramatische Aufführung und jeder Zuschauer mehr macht unsere schauspielernden Mädchen glücklich.«

»Ich spiele auch mit!« rief Nora. »Aber ich sage nicht, was ich darstelle; ihr werdet überrascht sein.«

»Nun, Nora, mein Kind, gehe dich sofort ankleiden.« Nora gehorchte augenblicklich und war in zehn Minuten auf das netteste gekleidet wieder vor den Eltern. Als sie die Mauern des Institutsgartens hinter sich hatten, sah Nora ganz verwundert um sich. Es war so eigentümlich, in W. nun schon acht Monate gelebt zu haben und es doch gar nicht zu kennen. Seit sie die Eltern in das Institut gebracht hatten, war sie nicht aus gewesen, und durch die Straßen einer solch großen Stadt war sie überhaupt noch nie gegangen. Die Eltern führten sie zu den bedeutendsten Denkmälern, Bauten und öffentlichen Gärten und freuten sich herzlich an dem Interesse ihres Töchterchens für die neuen Eindrücke. Nora plauderte unter dem Gehen sehr angeregt, aber hübsch leise und unauffällig, überhaupt waren ihre Bewegungen so zierlich, ihre Haltung so bescheiden und doch so sicher, ihre Worte so vernünftig und gemütvoll, daß sich die guten Eltern ganz glücklich ansahen über diese sichtliche Änderung ihres Töchterchens zum Guten.

»Nicht wahr,« fragte sie unter anderem, »ich darf noch recht, recht lange im Institute bleiben? Seit ich braver bin, ist es da so lustig, so angenehm.« »Dieser Wunsch freut uns herzlich,« sagte Mama, »und wenn du fortfährst, uns durch dein Verhalten Freude zu machen, wollen wir dich für den Ferienmonat September nach Hause nehmen, Nora.«

»Nach dem lieben Hellendorf, o, wirklich!« Beinahe hätte sie vor glücklicher Überraschung die Eltern auf offener Straße umarmt: »Weißt du, das verdiene ich gar nicht, Mama; ich war so furchtbar trotzig vor dem Eintritt ins Pensionat, und so thöricht. O, wenn ich aber jetzt daheim bin, da wirst du gar nichts zu thun haben, so viel will ich schaffen.«

»Wirklich,« lächelte Mama, »auch in der Milchkammer und Waschküche beaufsichtigen, hast du das auch schon im Institute gelernt?«

»O du böses Mamachen, wie du nur spotten kannst,« rief Nora, »du hast recht, ich kann noch sehr wenig, aber mein Wille ist gut, Mama, das will ich dir zeigen.«

Inzwischen war man in ein Restaurant eingetreten, und Nora, die sonst fast zu jeder Speise das Näschen gerümpft und ehemals dies und jenes nicht essen zu können versichert hatte, aß jetzt so manierlich, war so genügsam und so fügsam bei Tische, daß der Vater sie mehreremal seine »salonfähige« Tochter nannte. Als die Zeit vorrückte, war Nora etwas ungeduldig.

»Es wäre furchtbar, wenn die anderen mit dem Anziehen begännen, da ich noch nicht dort bin.«

Man langte aber pünktlich im Institute an, und Hedwig nahm Nora gleich in Beschlag.

»Ich helfe dir beim Anziehen, Nora.«

»Und ich dir, Hedwig.«

Hedwig hatte bei der heutigen Darstellung eine wichtige Rolle durchzuführen, sie war die Hauptperson, die Frühlingsfee. Diega als Prinz Waldmeister und Nora als Prinzessin Maiblume zählten nach ihr zu den Hauptdarstellerinnen; die übrigen stellten Nebenpersonen des dramatischen Frühlingsmärchens dar, darunter auch die Kleinsten des Institutes als die bekannten, putzigen Osterhäschen.

»Wir haben noch einen Augenblick Zeit, komm' nach dem Garten, Nora, da ist ein Podium aufgeschlagen auf der schattigen Marienruhe unter den Linden, herrlich sag' ich dir, rote Draperien und Glühlichter!«

In der That; es war jetzt schon herrlich, obwohl noch einige Arbeiter mit Hämmern und Stellen auf der Bühne beschäftigt waren, und die Lampen noch kein Licht hatten. »Du Hedwig,« rief Nora plötzlich ängstlich, »wenn ich nun meine Rolle drin in der Stadt vergessen hätte! Weißt du, ich habe den Eltern so viel von dir erzählt, daß du –«

»Daß ich dann am Vergessen deiner Rolle schuld bin, willst du sagen, Nora.«

»Ach, behüte, du bist meine süßeste Hedwig und an nichts schuld,« versicherte Nora zärtlich, – »meine Gebieterin bist du, und wenn in tiefe, nächt'ge Ruh' sich Wald und Wiese hüllt, erscheinet mir dein mildes, helles Bild! Siehst du, ich kann's schon, es wird schon gehen; aber lachen darfst du nicht wie jetzt, wenn ich's auf der Bühne zu dir sage. Das wirkt furchtbar ansteckend.«

»Ja und »furchtbar« verspätend wirkt das Lachen;« fiel Hedwig ein, das Lieblingswort Noras betonend, »jetzt ist's höchste Zeit zum Ankleiden.« – – – –

Es war ein herrlicher Maiabend; lind die Luft und heiter blau der Himmel. Die Dämmerung sank herab. Da und dort flimmerte ein Stern auf über den Linden des Institutsgartens, und unter denselben erglühte das elektrische Licht der Bühne, vor welcher im Halbkreise dichtbesetzte Sesselreihen standen. Die Eltern Noras saßen ganz vorn neben Fräulein Prius und betrachteten mit aufrichtigem Gefallen das anmutige Spiel der Mädchen. Ihre Nora nahm sich reizend aus als Prinzessin Maiblume in ihrem duftigen weißen Kleidchen und den wallenden dunklen Locken. Wirklich feenhaft schön erschien Hedwig, deren zartes Gesicht sanft gerötet war und deren große, blaue Augen lieblich strahlten.

»Nachdem, was uns Nora von Hedwig Lenbach erzählte und nach dem Eindrucke zu urteilen, den sie macht,« sagte Frau von Hellendorf zu Fräulein Prius, »könnte sich Nora keine bessere Freundin gewählt haben.«

»Ja, die Hedwig, das ist unser Musterkind,« bestätigte die Vorsteherin.

»Nora hat uns heute so viel Liebes von dem Mädchen erzählt, daß ich gerade vorhin zu meinem Manne sagte, wir wollten Fräulein Prius fragen, ob Sie es erlaubten, daß Hedwig mit Nora als unser Gast nach Hellendorf komme im Ferienmonat?«

»Hedwig wird sich herzlich freuen, Ihre Sympathie gewonnen zu haben,« erwiderte Fräulein Prius; »wenn es sich mit ihren Studien zur Lehrerinnenprüfung vereinigen läßt, will ich ihr gern das Vergnügen gestatten.«

Als das Märchen mit großem Erfolge zu Ende gespielt war, wurde Maiblümchen hinter den Coulissen hervorgerufen, um ihre lieben Eltern, die sich verabschieden mußten, damit sie den Abendzug noch erreichten, in das Haus zurückzubegleiten. Dort wurde herzlich Abschied genommen, und Nora wollte sich dann durch den Garten nach dem Festplatze zurückbegeben, wo noch lebende Bilder gegeben wurden, bei welchen sie jedoch nicht mitzuwirken hatte. In der Nähe der Grotte trat plötzlich eine dunkle Gestalt auf sie zu, in der sie im unsicheren Lichte einen Herrn erkannte; er zog höflich den Hut und bat, sie möge ihn in den Salon hinaufführen, da er, wenn das Fest beendet sei, mit Fräulein Prius zu sprechen habe. Nora war heftig erschrocken, sie wußte selbst nicht, warum. Der Fremde kam offenbar nicht vom Festplatze, doch wie war er in den Garten geraten? »Ich werde ihn zum Theater führen,« dachte Nora. »Bitte, Sie können Fräulein Prius gleich auf dem Festplatze selbst sprechen, darf ich Sie hinführen?«

»Nein, nein, mein Kind, ich will dort nicht stören; ich werde im Salon warten.« Diese Weigerung war Nora auffällig, besonders der Ton, in welchem sie gesprochen wurde; überdies ängstigte sie der jetzt bei vorübergehendem Mondlicht bemerkte, stechende Blick des Fremden. Sie hätte am liebsten um Hilfe geschrieen oder die Flucht ergriffen. Aber vielleicht eilte ihr der Fremde nach und that ihr ein Leid an. Wozu die anderen erschrecken? Vielleicht war's ein ganz harmloser Herr, und sie würde sich durch ihr Benehmen höchst lächerlich machen und sich den Tadel des lieben Fräuleins Marie zuziehen, fiel ihr sogleich wieder ein.

»Nun, führen Sie mich hinauf,« begann der Fremde abermals, »aber rufen Sie Fräulein Prius ja nicht ab, Sie versprechen mir's.«

»Das ist bestimmt ein Dieb!« schoß es Nora durch den Kopf. »Der hält mich aber für sehr dumm, wenn er glaubt, ich erriete nicht, weshalb er gar so gern ganz allein im Zimmer des Fräuleins Prius sein will.« Jetzt sah der Mond wieder etwas hinter dem aufziehenden Nachtgewölke hervor, und Nora erblickte einen blinkenden Gegenstand im Ärmel des Fremden versteckt. Der Heldenmut der Liebe zu ihrer Erzieherin kam plötzlich über sie; furchtlos schritt sie durch den bis zum Hause vereinsamten Garten voraus, indem sie den Fremden höflich bat, zu folgen. Sie ging aber nicht in den Salon mit ihm, sondern in ein kleines Zimmer mit vergittertem Fenster und wenig Einrichtung, das sonst gewöhnlich unbenützt war. »Bitte einen Augenblick hier zu warten,« sprach sie, scheinbar ganz ruhig, dann wandte sie sich rasch um, machte die Thür hinter sich zu, schob leise den Riegel vor und drehte den Schlüssel zweimal im Schlosse um; der verdächtige Fremde war drin in dunkler Zelle gefangen. Nora hatte nicht Zeit, zu überlegen, was jetzt zu thun sei, als die ganze Gesellschaft aus dem Garten auch schon in das Haus trat. Die Gäste verabschiedeten sich glücklicherweise gleich, da es schon spät war, und Nora wartete nur, bis die Mädchen sich zerstreut hatten, und sie Fräulein Prius allein sah. Da trat sie rasch vor sie hin und erzählte ihr in fliegender Eile das Erlebnis der letzten Viertelstunde. Erschreckt sah Fräulein Prius auf das zitternde Kind. »Und eingesperrt hab' ich ihn dort drüben in das leere Zimmer,« schloß sie.

»Vor allem, Nora, versprich mir, zu schweigen, damit die übrigen nicht erschrecken. Ich werde die Sache gleich ordnen. Du aber gehe dich auskleiden, mein Kind, und beruhige dich.«

Fräulein Prius fragte, als sich Nora entfernt hatte, sofort bei den Dienstleuten nach, ob jemand während der letzten halben Stunde einen Fremden hereingelassen habe. Alle verneinten es. Nun schickte die Vorsteherin eilig nach dem nächsten Polizeiposten, und in zehn Minuten waren zwei Schutzmänner da, welche von Fräulein Marie über den Sachverhalt unterrichtet und nach dem provisorischen Gefängnis des verdächtigen Fremden geleitet wurden. Dieser sprang den Eintretenden wild entgegen. »Im Namen des Gesetzes, Sie sind verhaftet.«

»Unerhört!« schrie der Fremde. »Ich kam in der natürlichsten Absicht, die Institutsvorsteherin zu sprechen.«

»Zu solcher Stunde! Mitten im Garten sind Sie aufgetaucht – und, was in aller Welt? Ein Messer haben Sie da in der Westentasche! Sie wollen noch leugnen?«

Als der Elende sich so überführt sah, da ward er plötzlich totenblaß und verlor seine freche Sicherheit. Er wolle alles gestehen, rief er, sie mögen ihn nur loslassen. »Ich hörte,« begann er auch wirklich, »von einem der Arbeiter für die hiesige Theaterdekoration, daß die Institutsvorsteherin so reich sei, und daß sich in ihrem Zimmer so viele Kostbarkeiten befänden. Ich habe keine Arbeit und leben muß ich doch. Da dacht' ich mir, ich steige über die Mauer in den Garten herein. Erst wollt' ich mich einschleichen, als ich aber das Mädchen sah, redete ich sie an, damit sie mich hinaufführe, während die anderen rückwärts im Garten bei dem Theater waren. Ich habe mich genau nach der Stunde und der Dauer der Vorstellung erkundigt. Aber nun laßt mich fort, ich hab' ja nichts gethan, ich hab' ja niemand etwas genommen!«

»Ruhig!« rief der Wachmann, als der Dieb sich gegen dessen eisernen Handgriff zu wehren suchte. Sie legten ihm Ketten an die Hände und führten ihn hinaus, wo sie einen Wagen bestiegen.

Fräulein Prius ließ Nora, die sie noch wach wußte, gleich zu sich kommen und beruhigte sie über den Ausgang des Vorfalles. »Heute, Nora,« sprach sie, »hast du eine Probe deiner Geistesgegenwart und deines Mutes gegeben. Ich danke dir, mein Kind, du hast durch deine Besonnenheit mich und unser ganzes Haus vor einer großen Gefahr bewahrt.«

Nora traten die Thränen in die Augen. Fräulein Marie dankte ihr! Heute war ein ereignisreicher Tag gewesen: Der Besuch der Eltern, das Maifest und zuletzt eine That, für welche das Fräulein Prius ihr dankte! Nora konnte vor Aufregung einerseits, vor Glück andererseits in der folgenden Nacht nur wenig schlafen. Am nächsten Tage beim Mittagessen wurde das gestrige Ereignis, von dem übrigens auch schon die Zeitungen berichteten, und das Verhalten Noras dabei mit warmen Worten der Anerkennung veröffentlicht. Seit diesem Tage nahm Nora eine ganz andere Stellung im Institute ein, als bisher. Sie genoß und verdiente größere Beachtung, mehr Einfluß wie vorher.

Noras Eltern, die am nächsten Tage den Bericht des Vorfalles im Tagblatte lasen, in welchem der Name ihres Töchterchens auch genannt war, schrieben sofort besorgt an Fräulein Prius, erhielten jedoch schon, kaum war das Schreiben abgeschickt, beruhigende Zeilen von der Vorsteherin. Seitdem hieß Nora »die gedruckte Nora«, denn es war das einzige Institutskind, dessen Name je in der Zeitung gestanden.

* * *

Der Monat Mai brachte für Nora und einige ihrer Genossinnen ein bedeutsames Ereignis: die erste heilige Kommunion. Ihrer sieben, neben Nora, Lucie, Diega, Mariechen, Carlotta und Ellen, hatten bei dem guten Pater Raphael in den letzten Wochen Vorbereitungsunterricht genossen, und für Nora war es eine wunderbar glückliche Zeit. So froh zum Guten, so zufrieden, so dankbar gestimmt, wie während der Vorfreude auf den Empfang des allerheiligsten Schatzes im Altarssakramente hatte sich Nora noch nie gefühlt. Zwei der Mitkommunikantinnen erregten ihr Interesse am meistens Lucie und Ellen.

»Ach, wenn Ellen bleibt, wie sie war,« sprach Nora zu Hedwig, »kann sie den Heiland nicht würdig empfangen; sie ist ja beständig ärgerlich über mich, daß ich in der Klasse mit ihr wetteifere.«

»Bist du auch gewiß, Nora, daß du es nicht thust bloß ihr zum Trotze.«

»Schau', Hedwig,« sprach treuherzig Nora, »das eine weiß ich sicher, als ich fleißig zu sein begann, dachte ich wirklich gar nicht an Ellen; an meine Eltern, an das liebe Fräulein Marie, an dich dachte ich bei meinem Vorsatze, euerer Liebe wollte ich würdig werden.«

»Mein gutes Kleinchen,« lobte zärtlich Hedwig, »zugetraut hab' ich dir's ohnedies nicht, aber du weißt, ich bin immer streng mit dir.«

»O, ich hab's dabei so gut; aber sag', Hedwig, bedauerst du die arme Lucie nicht schrecklich? Ein grausamer Mensch muß ihr Onkel sein, daß er ihr einen so kalten, unwilligen Brief schrieb, als er von ihrer ersten heiligen Kommunion erfuhr. Aber erlaubt hat er's endlich doch. Die arme Lucie weint so oft, sie hat oft solch ein Heimweh nach den Eltern, nach dem Himmel. »Ich weiß es,« sprach sie neulich, »wenn ich nach Hause komme, wird es mir als großes Unrecht angerechnet werden, daß ich Gott liebe.«

»Luciens häusliche Verhältnisse sind wohl sehr traurig,« sprach teilnehmend Hedwig. »Wir wollen für sie beten, Nora. Gott wird doch noch alles zum Besten wenden. Sie empfängt gewiß eine würdige Kommunion.« – – –

In Ellens Herz regte sich während dieser ganzen Zeit ein heftiger Kampf zwischen gut und böse. Die eindringlichen Reden des gütigen Paters Raphael hatten es ihr klargemacht, daß der Ehrgeiz, der sie beseelte, ein falscher war, der dem göttlichen Gebote der Nächstenliebe widerstritt. Er ging so weit, daß sie Haß und Neid gegen jeden hegte, der sie auch nur im geringsten übertraf, und vor allem stand Nora, ihre strebsame und allgemein belobte Klassengefährtin, im Brennpunkte ihres glühenden Hasses. Und mit solchen Gefühlen wagte sie es, an dem Kommunionunterrichte teilzunehmen. Manchmal kam's wie Verzweiflung über sie, wenn sie an die Beichte dachte, die ihr bevorstand. Sie hielt es für unmöglich, ihren Ehrgeiz zu mäßigen; es blieb also nichts übrig, als die Sünde zu verschweigen. Als ihr zum erstenmal dieser Gedanke kam, schreckte sie vor sich selbst wie vor einem Ungeheuer zurück und seither fand sie keine Ruhe.

Der große Tag war da. Mit weißen Kleidern geschmückt, lange, wallende Schleier über dem gelösten Haar, brennende, blumengeschmückte Kerzen in den Händen, so knieten die Erstkommunikantinnen in der Kirche und lauschten der Ansprache des Paters Raphael, der ihnen kurz vor dem Empfange des hochwürdigsten Gutes noch einmal die ganze Bedeutung des Aktes in die Seele prägte. Ellen saß neben Nora im Betstuhle; alle Farbe war aus ihrem Antlitz gewichen; ihre Augen glänzten nicht freudig verklärt, wie die der anderen, und an der Bewegung ihres Schleiers bemerkte Nora, daß sie zitterte, als der gute Seelenhirt mit tiefbewegter Stimme rief: »So erwecket nun noch einmal Reue und Leid, sagt euch mutig und siegreich in Christo los von aller Sünde.« Da begann Ellen zu wanken, sie erstickte einen schluchzenden Schrei mit ihrem Taschentuch, und plötzlich sank ihr Kopf nieder auf die Bank. Allgemeine Bestürzung. Man trug die Ohnmächtige sogleich behutsam hinaus. Der Priester unterbrach die heilige Handlung, um auf ihre Erholung zu warten. Fräulein Prius aber erschien sofort wieder in der Kapelle und sagte, daß Ellen an dem heiligen Mahle nicht teilnehmen könne; ihr Unwohlsein scheine leider nicht so rasch vorüberzugehen. Und so blieb ihr Platz in der Kommunionbank leer. Die wahre Ursache davon wurde unter ihren Genossinnen nur von Hedwig und Nora geahnt.

Am Nachmittage war Ellen wieder auf. Aber bevor sie zu ihren Gefährtinnen hinabkam, wurde Nora zu Fräulein Prius gerufen. Dort stand Ellen, blaß, mit deutlichen Thränenspuren und einem, ihr sonst gänzlich abgehenden, weichen, schmerzlichen Ausdruck im Gesichte. »Nora,« begann Fräulein Marie sehr ernst, »Ellen hat nach dir verlangt. Sie will dir etwas abbitten.«

»Ja, Nora,« fiel diese ein, »von ganzem Herzen bitte ich dir ab, daß ich Haß und Groll gegen dich gehegt habe, weil du fleißig bist und in der Klasse das Lob erhältst, das mir sonst allein zukam. Kannst du mir verzeihen? O Nora, es war so schlecht, so unbeschreiblich schlecht von mir, und es hat noch eine zweite, schwere Sünde auf mich geladen: ich habe den Fehler in meiner gestrigen Beichte verschwiegen und begab mich heute morgens mit dem Schuldbewußtsein in die Kirche. Aber das Entsetzlichste ist, gottlob, noch nicht geschehen, ich habe Jesus nicht empfangen in diesem unwürdigen Zustande; o Nora, Fräulein Prius sagt, der gnadenreiche Erlöser wird mir verzeihen. Ach, versuch's auch du! Ich bin eine andere, ich fühl's; ich muß dich lieben, Nora, um Gottes willen vergieb mir!« Weinend umfing Nora die flehentlich Bittende: »Verzeihen? Ich habe dir nie gezürnt. Du thatest mir so leid, ich habe für dich gebetet, Ellen, und Gott hat mein Gebet erhört.«

Fräulein Prius bezeichnete die Stirnen ihrer beiden Schutzbefohlenen mit dem heiligen Kreuzeszeichen, und Hand in Hand schritten die Mädchen hinab. Ellen beichtete noch an demselben Abend reumütig und kommunizierte am nächsten Morgen feierlich im weißen Kleide. – – –

Die Zeit verstrich. Die Schlußprüfung rückte heran, und wurde glücklich überstanden. Nora war in der angenehmen Lage, ihren Eltern einen Ausweis schicken zu können, der durchaus Note 1 aufwies. In Erwiderung dieser Sendung erhielt sie von den Eltern einen Brief, welcher die Erlaubnis enthielt, ihre liebe Hedwig für den Ferienmonat mit nach Hellendorf zu nehmen. Fräulein Prius hatte ihre Einwilligung bereits dazu gegeben. O, wie jubelte Nora! Sie fiel Hedwig stürmisch um den Hals. »Nicht wahr, du freust dich auch, Hedwig? Wenn ich's nicht an deinen Augen sähe, ich könnt's nicht glauben. Du springst ja gar nicht so wie ich.«

»Ach, Nora, du bist ein Kindsköpfchen! Also springen soll ich! Nein, das kann ich nicht, wenn ich mich freue. Bei mir ist's mehr innerlich.«

»Ja, und nach »innerlich« sieht man nur halb. Laß gut sein, ich weiß schon, daß du dich freust. Ach, wenn ich heute vor einem Jahre gedacht hätte, daß ich jemals eine Hedwig, meine süße, teure Hedwig nach Hellendorf führen werde. Aber jetzt sind wir noch gar nicht so weit. Heute heißt's erst für die Institutsreise nach M. packen. Ich freue mich sehr nach M. und kann's nicht begreifen, daß ich vergangenen Herbst dort so unglücklich war.«

»Ja, Nora, du hast dich sehr verändert,« sprach Hedwig. »Neulich hat Fräulein Prius mit mir über dich gesprochen und sie sagte: »Nora ist ein gutes Mädchen geworden, sie macht mir herzlich Freude.«

»So, sagte sie das? O, wie mich das freut!«

Da trat Fräulein Weigand zu den Mädchen. »Die Koffer sind schon da. Hedwig, Nora, eilt euch, die anderen haben bereits zu packen begonnen.«

Nora freute sich riesig auf das Packen. Da gab es solch einen lustigen Durcheinander in der großen Garderobe, und es war zu komisch, wenn Miß O'Brien, die, um auch von den Kleinen verstanden zu werden, ihre Anweisungen in einem Deutsch gab, das etwa folgendermaßen lautete: »Uas uollen Sie da mehr 'nein thun? Voll bis an das Kant; und nix so viele boxes, Schakteln mitschleppt Sie, und die Taschentücha nicht so unorderli platzen. Attenschen, ich meine, Achtung, Noräh, auf Ihre Strohhut und – Parapluiegriff breken?«

Aber trotz überfüllter Koffer, unordentlich gelegter Taschentücher, zerdrückter Strohhüte und gebrochener Schirmgriffe wurde das Packen glücklich beendet. Schließlich war das ganze Institut einwaggoniert; und von den köstlichsten Freiheitsgefühlen im engen Coupe beseelt, konnte die lebhafte Schar sich kaum auf den Sitzen ruhig verhalten. Ellen war entschieden am nützlichsten beschäftigt; sie lernte das Gedicht Eichendorffs auswendig: »Wem Gott will rechte Gunst erweisen, den schickt er in die weite Welt.« Ein Fleiß, den keine ihrer Genossinnen begriff, geschweige denn nachahmte.

Endlich sah man die bekannten Höhen, die Kirchturmspitze des lieblichen Gebirgsdörfchens auftauchen. Ah, da war's herrlich! Die Luft so würzig und klar, das Grün so saftig und das sommerliche Institutsheim so traulich. Die Haushälterin war mit der Köchin vorausgefahren, und ein reichgedeckter Tisch erwartete die ausgehungerten Reisenden.

Wie gern war Nora jetzt hier! Jene Anhänglichkeit an die Umgebung, jene Sicherheit, die sie voriges Jahr bei ihrem Eintritte an den Institutskindern beneidet hatte, besaß sie jetzt selbst. Zufrieden und heiter genoß sie die Sommerfreuden, und besonders entzückten sie die gemeinschaftlichen Ausflüge. Berge wurden bestiegen, nach fernen romantisch gelegenen Ortschaften und Meiereien wanderte man, die schönsten Waldpartien wurden abgestreift.

Unvergeßlich blieb Nora der Ausflug nach der Tropfsteinhöhle, eine Stunde weit von M. entfernt. Man brach mit großen Erwartungen auf, da einige der ältesten Zöglinge, welche die Grotte bereits kannten, Wunderdinge davon erzählten. Von außen zeigte sie sich ganz unscheinbar als eine schmale Öffnung in einen Berg. Die Institutskinder gingen immer vier zu vier mit einer Aufsichtsperson in das Innere, eine ziemlich große Grotte, die mit den abenteuerlichsten Tropfsteingebilden geziert war. Die große Feuchtigkeit an manchen Stellen machte das Wasser beharrlich von den Wänden tropfen, und dies Geräusch brachte in dieser Stille einen melancholischen Eindruck der Öde hervor. Am schönsten war eine, von besonders auffallenden Formen gebildete Gruppe, Altar genannt, wo die Steinsäulen aufragten wie eine Reihe von Kerzen im Hintergrunde. Die Zöglinge wurden auch auf einem kleinen, unterirdischen See umhergefahren, wobei der Hasenfuß des Instituts, eine gewisse Armgard Lehmann, die krampfhaft an die Nachbarin geschmiegt im engen Kahne saß, am ganzen Körper zitterte vor Gruseln. Endlich war die ganze Schar wieder unter Gottes blauem Himmel vereinigt. Fräulein Prius zählte die Häupter ihrer Lieben und ließ dann in dem schönen Thale ein Lager aufschlagen, wo man nach genossener Mahlzeit der Ruhe pflegen sollte. Doch die Jugend überließ das Ruhen den Erwachsenen. Sie streifte umher, um Blumen zu pflücken, Moos und Zäpfchen, Beeren und Schnecken zu sammeln. Nora und Armgard, der fünfzehnjährige Hasenfuß, ein zartes Persönchen mit langen, hellblonden Zöpfen und schwarzen Augen, erklommen zusammen die Umfassung einer Schlucht, in deren Tiefe sie köstliche Erdbeeren leuchten sahen. »Schön sachte kommen wir schon hinab,« meinte Nora.

»Ach, ich fürchte mich!« jammerte Armgard, »aber die Erdbeeren möchte ich haben.«

Nora reichte ihr die Hand und zog sie sanft nach sich. Der herrlichste Scharlachteppich breitete sich vor ihnen aus. Mit Feuereifer pflückten die beiden und gelangten immer tiefer und tiefer hinab. Armgard hatte alle Angst vergessen und war vor Sammellust so rot wie die Erdbeeren in ihrem Körbchen. Plötzlich hörten sie oben die Stimme Mademoiselles: »Nora, où êtes-vous?« »Nous voici, mademoiselle!« beruhigte Nora die besorgte Aufsichtsdame, worauf sich letztere entfernte. Nora aber sagte zu ihrer Begleiterin: »Komm' zurück, Army. Mademoiselle hat sicher nicht gehört, daß wir so tief unten sind, sonst würde sie uns schon geholt haben.«

»Dort unten glänzt so seltsames Gestein. Nora, komm' noch die paar Schritte mit. Ich möchte einige Stücke für meine Mineraliensammlung haben.«

Mit einigem Zögern willfahrte Nora. Es gefiel ihr aber gar nicht da unten. Der Boden war so unsicher unter den Füßen. Die Steine gaben bröckelnd nach und unten gähnte eine Kluft, als sei der ganze Grund ausgehöhlt. Armgard hatte einige Glimmerschieferplättchen abgebrochen, und Nora drängte aufwärts. Sie hatten glücklich den Erddamm erreicht, der zu dem Wiesenbestand hinaufführte, als plötzlich der braune Wall zu tanzen begann, so schien es Nora und Armgard; starr und stumm standen sie einen Augenblick – blitzschnell ging es dann mit ihnen zur Tiefe, sie wußten nicht wie, nicht wohin und nahmen nur schaudernd wahr, daß sie in einem dunklen, feuchten Erdraum Halt machten. Über ihnen war eine schwere Schichte, die bei jeder Bewegung leise wankte, neben und unter ihnen Felsen und Sand und Erde. »Gott steh' uns bei!« rief Nora, sich aus ihrer Betäubung aufraffend. »Wir sind abgestürzt und verschüttet.«

»Nora, Nora, gieb mir deine Hand,« weinte Armgard, »wo bist du? Mir thut der Arm so weh! O, hätte ich dir gehorcht, und wären wir gleich zurückgegangen!«

»Rufen wir um Hilfe, vielleicht hört man uns oben.« Und Nora setzte kraftvoll an mit ihrer hellen Stimme: »Hilfe, Hilfe!« Sie, die den Prüfungssaal noch vor kurzem mit so tönendem Klang erfüllt hatte bei der Deklamation eines Gedichtes, sie war jetzt kaum imstande, die Stimme zu erheben, so schwer und dumpf schlug die Decke über ihnen die Töne zurück. Armgards feines Stimmchen gab vollends gar nichts aus. Und doch flehten und riefen sie unverdrossen, bis ihnen der Atem ausging und sie beide erschöpft niedersanken. Nora umfaßte Armgard wie zum Schutze und sprach: »Wir wollen beten, Army, daß uns der liebe Gott befreie.«

Und sie beteten schluchzend, vor Angst und Frösteln zitternd. Dann versuchte Nora einen Ausgang zu entdecken. Vorsichtig schob sie die Steine beiseite und grub Erde auf. Armgard war vor Schreck wie gelähmt und jammerte, daß sie hungrig sei. »Da nimm,« sprach Nora gutherzig, »glücklicherweise habe ich ein Stück Kuchen hier im Körbchen, gut, daß es ein Deckelkorb ist, ich habe noch alle Erdbeeren darin. Iß, Armgard.«

»O wie gut! Meine habe ich verschüttet,« rief Armgard. »Iß du, Nora.«

»Nein, ich nicht,« entgegnete diese, »iß nur du, ich kann länger aushalten und wir müssen sparen; weiß Gott, wie lange wir noch hier bleiben.« – – – – – – – – –

Während Nora und Army in ihrem Gefängnisse auf Befreiung harrten, war man oben natürlich auf den Abgang der beiden Mädchen aufmerksam geworden.

»Apen Sie Noräh und Amgad nik gesehen?« rief Miß O'Brien, von einem Zögling zum anderen gehend.

» Mais où sont donc les deux? Il y a cinq minutes que j'ai entendu la voix de Nora.«

Fräulein Wehler und Weigand suchten auch. Mademoiselle steuerte auf die Schlucht zu und war, sehr leicht beweglich, auch schon auf der anderen Seite im Absteigen begriffen. Da sah man noch deutlich niedergetretene Blätter bis hinab zu der Stelle, wo von des Erddamms Abrutschung Spuren wahrnehmbar waren. Sofort ahnte der Französin der ganze Sachverhalt; sie begab sich wieder zurück und teilte ihre Befürchtungen erst den anderen Lehrerinnen, dann Fräulein Prius mit. Die Vorsteherin ward bleich: »Wie konnte das geschehen? Die unvorsichtigen Kinder! Ich sehe, daß ich wieder einmal zu viel Freiheit ließ, und gerade Nora, die sonst so vertrauenswürdig ist! Bitte, meine Damen, beaufsichtigen Sie die übrigen streng. Ich begebe mich eilig ins Wirtshaus, damit wir Leute bekommen zu eiligem Eingriff.«

Nach einer Viertelstunde kehrte Fräulein Prius mit vier kräftigen Männern zurück, die Schaufeln, Spaten, Brecheisen und derlei Werkzeuge mehr mit sich trugen. Fräulein Prius verabschiedete ihre Schützlinge mit dem Bedeuten an die Lehrerinnen, sich ruhig nach Hause zu begeben. Dann folgte die Dame den Männern in die Schlucht.

»Na, freili, hat's da an Rutscher g'macht!« rief der eine. »Das kenn' i glei; da unten war's frei sunsten. Secht's G'vatter, da müss'mer anfanga z'graben.«

Und sie machten sich eifrig ans Werk. Eine Stunde verging. Die hellen Schweißtropfen standen den Männern auf der Stirn. Es war eine gefährliche Arbeit, denn fast bei jedem Spatenstich sank Erde nach. Drei Stunden verstrichen. Es ward Abend und Fräulein Prius stand noch immer regungslos bei den Arbeitern und sah unverwandt in die Tiefe hinab. Da regte sich's plötzlich oben am Rande der Schlucht. »Hört's,« rief eine Stimme hinab, »d' Madeln sein g'fund'n, kimmt's aufi!«

Fräulein Prius war die erste voran. Oben fand man einen Bauernburschen ganz atemlos vom eiligen Laufe hierher. »Was weißt du von den Mädchen? Ist eine blond, die andere braun?«

»Ja, ja, und die ein' nennt si Nora und die and're was mit Arm, aber i kunat's nit g'nau sag'n; is a spanischer Nam'!«

Noras und Armgards Rettung.

»Das sind sie schon.«

»Ja und unten war'ns in an Felsenloch und durchkrabbelt ham sie sich, erzähl'ns, und san in an unterirdischen Gang kuma, der in d' große Grotten führt und so san's außikuma; aber a Stückl Arbeit war's, und bluatige Händ' ham's.«

Fräulein Prius dankte Gott in ihrem Herzen, daß die Sache nicht schlimmer abgelaufen war. Im Gasthof angekommen, fand sie die beiden sorgenvoll Gesuchten wie aus dem Nest gefallene Vöglein aneinandergeschmiegt im Gastzimmer auf der Holzbank sitzen.

»Fräulein Marie, gutes, liebes Fräulein! O Gott, wie haben wir uns geängstigt! Verzeihung, Verzeihung!«

»Gottlob, daß ich euch wieder habe; Kinder, Kinder, wie konntet ihr so leichtsinnig sein? Herr Wirt, können wir einen Wagen nach M. hinein haben?«

»Das kinnt's schon, und der Ferdl, mein Sohn, fahrt Enk. Ferdl! Fe–rdl, anspannen 's Bräunle an die Kutsch'!«

Als die Vorsteherin mit den beiden Mädchen im Wagen saß, ergriff Nora unter heißen Thränen die Hand ihrer geliebten Erzieherin. »Ich bin schuld daran; ich habe Armgard in die Schlucht geführt.«

»Ich,« rief die andere, »ich wollte ganz tief hinab, um die glänzenden Steine zu sammeln.«

»Wenn ihr von heute ab,« begann Fräulein Prius, »samt eueren Genossinnen viel strenger behandelt werdet als bisher, so habt ihr euch das selbst zuzuschreiben.« Beschämt senkten die Mädchen die Köpfe.

»Ich will denken bei allem, was ich thue,« sprach Nora, »es war zu schrecklich da unten, und wie schauerlich das Durchgraben unter der Erde. Aber ein Wunder Gottes ließ uns bald an den freien Ausgang gelangen.«

»Zu Tode hab' ich mich gefürchtet,« klagte Army, »aber als wir dann plötzlich draußen standen, o Fräulein Prius, das war herrlich! Wenn Sie uns nur verziehen!«

»Die Strafe hat Gott an euch geübt. Mir kommt nun eine ernstliche Ermahnung zu. Ich kann euch nicht genug eindringlich vorstellen, immer daran zu denken, daß die geringste Übertretung der Gebote, welche die Erzieher in weiser Absicht euch gaben, die schwersten Folgen haben kann. Besonders du, Nora, sagtest mir so oft, daß du mich lieb hast. Durch die That beweisest du das Gegenteil. Ich hafte doch eueren Eltern für euere Sicherheit, und ihr seid mir eben so kostbar wie ihnen; bedenkt das und ängstigt mich nimmer so.«

Als man in M. anlangte, waren die Institutskinder ausnahmsweise noch nicht zu Bett gegangen, sondern gingen in aufgeregten, ruhelosen Gruppen im Garten auf und ab. Unbeschreiblich war ihr Jubel beim Erscheinen der Vorsteherin mit den beiden Vermißten. Einen lauten Vortrag mußten die armen Erschöpften noch halten, um all die teilnehmenden Fragen ihrer Genossinnen zu beantworten; dann aber kommandierte nach einer kurzen, mahnenden Ansprache an all ihre Schutzbefohlenen Fräulein Prius zur Ruhe. – – – – –

* * *

Der Ferienmonat war gekommen. Nora saß mit ihrer lieben Hedwig im trauten Parke zu Hellendorf neben ihren guten Eltern. O, das Wiedersehen war zu schön! Papa und Mama waren nach Gebühr geherzt und geküßt worden, und die letztere ließ gleich den Kaffee unter die Linden bringen. Wie das schmeckte, und der Kuchen war ganz nach dem Geschmacke Noras mit Mandeln bespickt und voll Rosinen. Lange aber saß man nicht bei Tische. Nora bat ihre Eltern um die Erlaubnis, aufstehen und ihre Freundin überall in Haus, Hof und Garten umherführen zu dürfen. Im Zimmer Noras in der Ecke da saßen sorgsam zugedeckt, wie sie sie verlassen, ihre zwölf Puppenkinder auf den zwölf Stühlchen. »Du mußt mich nicht auslachen, Hedwig,« sprach Nora. »Du bist schon so erwachsen und da werde ich dir so kindisch vorkommen. Vor einem Jahre habe ich meine Puppen noch so lieb gehabt, jetzt werde ich kaum mehr mit ihnen spielen können.«

»Warum nicht,« meinte Hedwig, »wir wollen Kleider für sie nähen.«

»Das kann ich nicht.«

»Nun, so will ich's dir zeigen. Wenn du einmal aus dem Institute nach Hause kommst, Nora, dann wirst du für die armen Kinder des Dorfes Puppen anziehen; damit kannst du die Kleinen so glücklich machen.«

»Du bist ein spaßig ernsthaftes Mädchen,« erwiderte Nora, »an das habe ich noch nicht gedacht, was ich thun werde, wenn ich nach Hause komme.«

»Nicht? Aber du sollst daran denken. Weißt du, wie ich mir's vorstelle und wie ich mir's wünsche, daß es wird: Du sollst die Wohlthäterin der Dorfarmen werden, Nora. Ich meine das im Ernste. Sieh', du hast's so gut, liebevolle, reiche Eltern, ein so trautes Heim, soviel Muße und dabei unter der armen Bevölkerung im Dorfe so viel Gelegenheit, deine Stunden nützlich auszufüllen.«

»Wenn du nicht meine herzliebe Hedwig wärest, ich würde jetzt sagen, daß du dich zu meiner Gouvernante aufspielst. Weißt du, wenn ich so daheim bin, da möcht' ich recht frei und ungebunden sein, und, sagen wir es nur gerade heraus, bequem Zeit zum Nichtsthun haben. Im Institute ist das etwas ganz anderes.« Und das sagte dieselbe Nora im September, die im Mai ihrer Mama versprochen hatte, »soviel daheim zu arbeiten, daß der Mama nichts zu thun übrig bleiben werde.« Ja, ja, so geht's vielen Mägdelein! Hedwig schwieg. Dieser Zug war ihr an Nora neu. »Das sagst du heute,« erwiderte sie dann freundlich, »vor lauter Freude, daheim zu sein; ich bin versichert, daß du hier eben so treu und thätig sein wirst im Guten, wie im Institute.«

Unter eifrigen Gesprächen gelangte man durch das Wohnhaus nach dem Wirtschaftsgebäude, den Ställen, dem Geflügelhof mit dem Taubenschlag, zur Scheuer, in den Gemüsegarten, und überall fand Nora unter der Dienerschaft alte Bekannte, von denen sie freudig begrüßt wurde, und die sie freundlich ansprach. Hedwig fühlte sich so heimisch in diesem schönen Besitz, bei den lieben, gütigen Eltern Noras. Auch ihr frühverstorbener Vater, so war ihr berichtet worden, hatte ein Landgut gehabt, und wenn er noch lebte, wäre sie dasselbe heitere, sorglose Kind des Wohlstandes, der zärtlichen Elternliebe wie Nora. Aber kein Fünkchen Neid glimmte bei diesem Gedanken in ihrem Herzen empor. »Gott lasse meine liebe Nora ihr Glück recht innig empfinden und hochschätzen,« wünschte sie selbstlos in ihrem Sinn. »Mir ist ein ernsterer Lebensweg vorgezeichnet; gerade diese kurzen, sorglosen Wochen sollen mir meine Bestimmung recht deutlich vor Augen stellen.« –

Einige Tage nach ihrer Ankunft im Elternhause beharrte Nora bei dem zeitlichen Aufstehen des Morgens. Am Ende der ersten Woche aber – blieb sie schön behaglich in ihrem Himmelbettchen liegen, obgleich der helle Tag durchs Fenster hereinguckte, und Hedwig schon längst ihr Stübchen abgestaubt hatte, eine Arbeit, die sie sich bei Noras Mama für die ganze Dauer ihres Aufenthaltes auf Hellendorf ausgebeten.

»Nora,« rief Hedwig endlich, als sie zum drittenmal vor der Freundin Bett erschien, »du bist doch nicht unwohl, daß du heute gar nicht aufstehst?«

»Im Gegenteil,« rief diese, die Nasenspitze neckisch unter der Decke hervorstreckend, »aber schön ist das Liegenbleiben, herrlich sag' ich dir!«

»Fräulein Prius würde es nicht gefallen,« gab Hedwig ruhig zurück. Das wirkte. Auf setzte sich Nora und in einer Viertelstunde erschien sie bei Hedwig, um sich mit ihr ins Frühstückszimmer zu begeben. Nach dem Frühstück sagte Hedwig: »Komm', Nora, setzen wir uns jetzt in den Garten hinab und beginnen wir mit dem französischen Buche, das ich mitgebracht habe; wir wollen es doch in den restlichen drei Wochen zu Ende lesen.«

»Puh, französisch lesen,« sprach Nora und schüttelte sich, »das kann ich ja im Pensionate thun. Du bist wirklich pedantisch, Hedwig. Ich habe mich so sehr auf dich gefreut, und nun verdirbst du mir alles mit deiner Pedanterie. Ich will angenehm leben daheim.«

»Glaubst du wirklich, daß die Annehmlichkeit im Nichtsthun besteht, Nora? Sieh', ich hofmeistere dich so ungern, aber ich möchte dich vor etwas bewahren, was dir sehr nachteilig werden kann. Willst du mir zuhören, wenn ich dir etwas erzähle, was mir Fräulein Prius einmal gesagt hat?«

Die Nennung dieses Namens genügte, um Nora sofort an Hedwigs Seite zu bannen.

»Fräulein Marie sprach einmal mit mir über meine Zukunft als Erzieherin und da bemerkte sie unter anderem: Vor einem warne ich dich, Hedwig. Solange du hier im Institute bist, wirkt die pünktliche Ordnung des Pensionatlebens, unser Beispiel, der Wetteifer mit den Genossinnen anregend auf dich ein und auf jede andere von euch. Wenn ihr einmal diese Heimstätte verlassen werdet, dann wird die Familie euch umgeben, wo die Einflüsse nicht so einheitlich zusammenwirkend wie hier geboten werden. Dort habt ihr mehr Freiheit, mehr eigenen Willen, mehr Muße zum Tändeln und zu nichtigen Beschäftigungen, kurz, mehr Gelegenheit und mehr Versuchung zum Sich-gehen-lassen. O, gieb nur der ersten Verlockung nicht nach! Denke und arbeite immer so, als ob das strengste Auge auf dir ruhte, als ob die genaueste Rechenschaft über deine Zeit und ihre Anwendung gefordert würde; denn die Mädchen, die aus der Pension ins Elternhaus zurückkehren und dort ein flüchtiges, tändelndes Leben ohne Grundsätze beginnen, die haben die Absicht ihrer Erzieher nicht erkannt und werden sich bald, trotz der glänzendsten äußeren Verhältnisse, innerlich so leer, so arm fühlen, so unlustig und unbefriedigt, wie der thätige, beharrlich nach dem Edlen strebende Mensch nie sein kann. Sieh', meine Nora, das hat Fräulein Prius gesagt. Ich weiß, du verstehst es gut, und du weißt, daß ich dir's nur sage, weil ich dich lieb habe und nicht möchte, daß du auch einmal solch ein oberflächliches Mädchen würdest, das keine Freude hat und keine Freude macht.

Jetzt wollen wir ein Stündchen lesen; dann fragen wir deine liebe Mama, ob sie keine Beschäftigung im Hause für uns hat. Schließlich bleiben uns noch viele Stunden für das Vergnügen und wir werden dessen gewiß nie überdrüssig werden.«

Nora schwieg; aber sie umarmte ihre gute, verständige Freundin. Sie setzte sich still neben sie und lauschte aufmerksam auf den Inhalt ihrer Lesung.

»Nora ist wirklich ein liebes, fleißiges Mädchen geworden,« sprach vergnügt Herr von Hellendorf einige Tage nachher zu seiner Gattin, »du hast das Beste getroffen mit dem Institute, das muß ich sagen.«

»Hoffentlich bleibt sie jetzt beständig so,« meinte Frau von Hellendorf, »und führt uns nicht wieder solch ein Heldenstück auf, wie das Verschwinden in der Schlucht. Trotz aller ihrer Strenge und Umsicht hat das arme Fräulein Prius wirklich manchmal einen schweren Stand mit den tollen Kindsköpfchen.«

»Nun, zu diesen gehört Hedwig entschieden nicht,« sagte der Vater. »Das liebe Mädchen übt den besten Einfluß auf unser Töchterchen aus. Und wie praktisch sie alles angreift, wie selbständig sie ist im Handeln! Ich lasse sie gern mit Nora ins Dorf hinabgehen zu dieser oder jener bedürftigen Familie; das giebt eine Übung für später, wenn Nora einmal aus dem Institute in das Vaterhaus zurückkehrt.«

Ja, Nora verdankte Hedwig mehr, als sie sich eigentlich bewußt war. Ohne ihre Veranlassung hätte sie während der vierwöchentlichen Ferienzeit Langweile daheim empfunden und die Liebesbezeigungen, das Lob ihrer Eltern bei weitem nicht in so reichem Maße genossen wie eben jetzt infolge ihres von Hedwig geregelten Verhaltens. – – –

– – – Blasser schien die Sonne, die Blumen verblühten. Und als die Wandervögel auf ihrem Zuge ins Winterquartier waren, wurden auch Hedwig und Nora ins Institut zurückgebracht. Ein neues Schuljahr begann und – verging, begann wieder und verging, so fort in mehreren Wiederholungen, lauter Vorbereitungsjahre für die Schule des Lebens, welche sich uns allen einmal öffnet, wir mögen uns als Schüler melden oder nicht.

Und diese Schule des Lebens begann auch für Nora und ihre Genossinnen. Nora, die mit siebzehn Jahren den denkbarst zärtlichsten und thränenreichen Abschied genommen von Fräulein Marie, und einen herzlichen von allen ihren Lehrern und Lehrerinnen, von ihren Mitschülerinnen und den trauten Räumen, in denen sie so frohe Stunden zugebracht, Nora hatte eine sehr glückliche, sehr heitere, erste Lebensschulzeit. Die Eltern, die an ihrem blühenden, hübschen, wohlerzogenen Töchterchen die größte Freude hatten, umgaben es mit der zärtlichsten Liebe, der gütigsten Fürsorge, und Nora war glücklich daheim. Das einzige, was ihr fehlte, war ihre Hedwig. Nun war's schon zwei Jahre, daß sich die Freundinnen nicht gesehen hatten, und nicht nur das, man konnte sich auch nicht so häufig schreiben; Hedwig war ja – in Australien, Erzieherin in einer reichen englischen Familie. Sie hatte schon im Institute einst, als sie von ihrem zukünftigen Berufe sprach, scherzweise zu Nora gesagt: »Vielleicht komme ich gar einmal nach Australien!« Und nun war es wirklich eingetroffen. Die weitgehenden Bekanntschaften des Fräuleins Prius hatten ihr nach einem glänzend bestandenen Examen die Stellung vermittelt. Nora fürchtete zwar nicht mehr, wie damals als Kind, daß die bösen Wilden Nora auffressen würden, denn diese lebte ja in der sicheren Stadt Adelaide; aber sie bangte doch sehr um die ferne Freundin und sehnte sich unbeschreiblich nach ihr. Wenn Hedwig schrieb, so geschah es immer in ihrer ernstinnigen Weise, wie sie sich auch im Verkehre gab. Alles war maßvoll bei ihr: die Beschreibung des Reichtums, der sie umgab, des fremdartigen Landes, dann die Schilderung ihrer Pflichten als Lehrerin und Erzieherin eines Knaben und eines Mädchens, recht verzogener Sprößlinge eines reichen, stolzen Hauses. Und Nora freute sich immer herzlich auf diese Briefe, sie lernte sehr viel aus denselben für ihr eigenes Leben.

Lebhaft stand ihr die Gestalt ihrer Freundin vor Augen, wie sie sorgte und schaffte in ihrem Wirkungskreise; und ihr war's oft, als fühlte sie den freundlichernsten Blick Hedwigs auf sich ruhen wie fragend, ob denn auch sie ihre Zeit gut ausnütze. O ja, sie bemühte sich wenigstens, es zu thun. Des Morgens war sie stets früh auf, wie sich's für das Töchterchen eines Gutsherrn schickt. Dann ging sie der thätigen Mutter überall zur Hand und war bald ebenso wie diese eine Meisterin im Bereiche des Kochlöffels. Die Nadel wurde auch sehr fleißig gehandhabt, und Nora nähte thatsächlich auch das ganze Jahr für die Armen des Dorfes, wie Hedwig es vorausbestimmt hatte.

Der Nachmittag wurde zu Ausfahrten, Spaziergängen, zu Besuchen auf die benachbarten Güter und zu anderen Vergnügungen benützt. Nora lernte dabei manches hübsche, lustige junge Mädchen kennen, aber sie blieb ihrer Hedwig treu, und mochten die anderen tausendmal lustiger sein als ihre stille, für die Pflicht begeisterte Freundin. Mit Fräulein Prius, einigen ehemaligen Lehrerinnen, mit Ellen, Diega und Carlotta, die in ihre tropische Heimat zurückgekehrt waren, mit ihrer ehemaligen Leidensgefährtin Armgard und endlich auch mit Lucie stand Nora im regen Briefwechsel. Luciens Lebensschicksal verfolgte Nora mit dem größten Interesse und mit warmer Teilnahme. Dieses gemütvolle Mädchen hatte schwere Kämpfe zu bestehen gehabt, als sie auf das Schloß ihres Onkels zurückgekehrt war. In der ersten Zeit hatte Nora gar traurige Briefe von ihr erhalten. »Mein Onkel,« schrieb sie, »ist nicht mehr der alte, liebe, zärtliche. Er ist kalt und ungerecht gegen mich jetzt, da er fühlt, daß ich in der Liebe Gottes einen Schatz im Herzen trage, dessen Wert er nicht kennt. Er wirft mir beständig vor, ich sei störrisch, verschroben, ungehorsam, weil ich im Gebetbuche lese und des Sonntags die Kirche besuche. Ach, ich unterlasse ja alles, was ihn reizen könnte, Gott weiß es, aber meinen einfachsten Pflichten als Christin muß ich doch nachkommen – leider nur den dürftigsten, ich, die ich es für das größte Glück ansehe, seine ganze Lebenskraft dem Dienste Gottes zu weihen. Ach, der himmlische Vater prüft mich schwer! Aber Fräulein Prius hat mir neulich so tröstlich geschrieben: »Für Gott leiden, das ist der schönste, schwerste Gottesdienst!«

Dann kam ein Brief, in welchem Lucie Nora mitteilte, daß ihr Onkel schwer erkrankt sei.

»Er leidet viel, aber im Gemüte ist er ruhiger, friedlicher geworden. Er wendet nichts ein dagegen, daß ich des Morgens und des Abends vor seinem Lager bete; ja, er hat sich vergangenen Sonntag die heilige Messe aus meinem Gebetbuche vorlesen lassen.«

Nach einer Woche schrieb Lucie: »Mein Onkel war dem Tode nahe; aber nun geht es ihm besser; jedoch nicht nur körperlich. O Nora, denke dir, auch seine Seele ist auf dem Wege der Erkenntnis. In der Verzweiflung des Todes hat er nach Gott gerufen und jetzt glaubt er an den lieben himmlischen Vater und ich, ich bin das glücklichste Geschöpf auf Gottes Erdboden. Tausend Dank, liebe Nora, für dein Gebet.« – – – – – – – – – – – – – – – –

– Zwei Jahre vergingen. Hedwig hatte sich draußen in der Fremde Übung, Sicherheit, Erfahrung im Lehrberufe angeeignet. Und nur das hatte Fräulein Prius bezwecken wollen, als sie sie fortziehen ließ. Nun schlug sie ihr liebevoll vor, in das Institut, die Bildungsstätte ihrer Jugend, zurückzukehren und sich da dem schweren, aber ihr so lieben Lehrberufe zu widmen.

Noras und Hedwigs Wiedersehen.

Hedwig kam wieder. Sie sah wenig verändert aus, wohl etwas stärker und älter, aber der alte sonnige Schein leuchtete ihr aus dem Auge. Nora, die eigens zu ihrem Empfange in das Institut zu W. gefahren war, sprang, wie in Kinderjahren jubelnd umher, als sie Hedwig umarmt und geküßt hatte, soviel als nur möglich war. »Und weh,« drohte sie, »wenn du auch nur jemals wieder an das abscheuliche Australien denkst! Wenn's anginge, führe ich alle Tage von Hellendorf hierher. Jeden Monat wirst du mich gewiß da haben, da kann ich dir schon nicht helfen, Hedwig.«

»Schreckliche Aussichten!« lächelte diese und schloß der Freundin mit einem Kusse die Lippen.

»Und während der Ferien bist du immer bei mir, ob dich Fräulein Prius hergiebt oder nicht.« –

»Da muß ich bitten!« rief diese mit gut gespielter Strenge.

»Und Sie thun's, Fräulein Prius!« rief Nora plötzlich von Rührung überwältigt, mit Innigkeit, »Sie wissen ja, Hedwig ist mein guter Engel; sie wird mich durch ihre Nähe immer in dem glücklichen Streben erhalten, für das Sie, liebes, gutes Fräulein Marie, einst unsere Kinderherzen schon so froh begeistert haben.«


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