Wilhelm von Polenz
Der Pfarrer von Breitendorf Erster Band
Wilhelm von Polenz

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II.

Gerlands Vater war höherer Gerichtsbeamter in der Provinzialhauptstadt gewesen. Die Mutter entstammte einer Professorenfamilie.

Der alte Gerland war ein ernster, wortkarger Mann, redlich, streng gegen sich und andere, schroff, zugeknöpft, stets im vollen Gefühle seiner Beamtenwürde, von beschränktem Gesichtskreise, ein abgesagter Feind der schönen Künste, aber auf den Gebieten, in denen er sich heimisch fühlte, ein ganzer Mann, mit viel geheimer Herzensgüte, die sich unter rauher Außenseite verbarg.

Der Sohn mußte mehr nach der Mutter geraten sein, die im Wesen das gerade Gegenteil des Vaters darstellte. Sie war ein liebevoller, mitteilsamer, zur Schwärmerei neigender Charakter gewesen, begeisterungsfähig, stets bereit, sich für neue Pläne und Ideen zu begeistern. Ein goldenes Herz, voll reiner interesseloser Liebe für ihre Umgebung, geneigt, das Beste von den Menschen zu denken und zu erwarten, häufig getäuscht, ohne deshalb von ihrem Optimismus zu lassen. Aus jeder Blume wußte sie ihren Honig zu saugen. Sie besaß die seltene Gabe, sich an der Größe und Schönheit des Himmels zu erfreuen, wenn er auch noch so weit von ihr entfernt sein mochte. –

Zwischen Mutter und Sohn bestand ein besonders inniges Verhältnis. Der Knabe hatte die Lebhaftigkeit und den Hang zur Schwärmerei von ihr geerbt. Er war geistig gut veranlagt und faßte schnell. Es wurde stillschweigend angenommen, daß er die Karriere des Vaters einschlagen werde. Er besuchte das Gymnasium und hielt sich ohne große Anstrengung unter den ersten der Klasse.

Eine bedeutungsvolle Wendung im Leben des Knaben trat mit seiner ersten Liebe ein.

Eine Nichte seiner Mutter, an zehn Jahren älter als er, kam ins elterliche Haus. Eines Frauenleidens wegen sollte sie einen bekannten Arzt der Stadt konsultieren. Der sechzehnjährige Gymnasiast verliebte sich leidenschaftlich in diese ätherische Schönheit von blassem Teint mit großen melancholischen Augen. Es fiel ihr nicht schwer, den jugendlichen Vetter, dessen Leidenschaft sie entzündet, geistig zu unterjochen und in ihre Kreise zu bannen. Der junge Gerland hatte bis dahin die Religion nicht anders geübt, als es im väterlichen Hause üblich war, gedankenlos, als Angewohnheit, die zum guten Ton gehört. Selbst der Konfirmationsunterricht hatte keinerlei nennenswerten Eindruck auf ihn hervorgebracht. Nun fing der Knabe mit einem Male Feuer für dieses Neue. Ein Sinn, der latent in seiner Natur gelegen, schien nur eines äußeren Anstoßens bedurft zu haben, um hervorzubrechen. Die Cousine verstand es, ihn auch darin zu leiten. Ihm war zu Mute, als betrete er an der Hand eines Engels ein neu entdecktes Wunderland, Zwei Pläne reiften damals in der enthusiastischen Knabenseele: die Cousine zu heiraten und Geistlicher zu werden. Als das Mädchen das Haus verlassen hatte und der Schmerz der Trennung überwunden war, verblaßte der erstere Plan zwar, aber der Anstoß, den sie seiner Entwickelung nach einer bestimmten Richtung hin gegeben, wirkte nach.

Aus dem frischen, unbesorgten, leichtlebigen Knaben war ein nachdenklicher, grüblerischer, zeitweilig zur Melancholie neigender Jüngling geworden. Gegen den Wunsch des Vaters warf er sich, als er das Gymnasium absolviert hatte, auf das theologische Studium.

Er war ein eifriger Kollegbesucher, und wurde bald ein sattelfester Theologe. Und doch brachte das Studium ihm nicht die Befriedigung, die er erhofft. Die kalte Weisheit des Katheders vermochte wohl seinen Kopf zu beschäftigen, aber sie stieß seine nach Wasser des Lebens dürstende Seele ab.

Das Dogma, die Schablone, die man ihm bot, vermochte diesen Durst nicht zu stillen. Statt Brotes reichte man dem Hungrigen Steine, statt Fisches eine Schlange. Wie ein erstarrter Lavastrom kam ihm die einst aus göttlichem, menschenliebendem Herzen geflossene Lehre vor, die hier zerstückelt und zu niedlichen Sächelchen verarbeitet wurde. All das Schnörkelwerk, die Kämmerchen, Gänge und Ornamente, welche dem ehemals großen und schlichten Monumente der christlichen Lehre durch kluge, spekulierende Köpfe angefügt worden war, verwirrten ihn. Er suchte mit Eifer und in heißer Seelenangst, öffnete eine Thür nach der andern, in der Hoffnung, irgendwo das verborgene unverfälschte Heiligtum zu finden, überall stieß er auf Bildnisse, Werke von Menschenhand. – Wachsfiguren sollte er für lebende Geschöpfe nehmen. Er war zu redlich, um ein Kompromiß mit seiner Überzeugung zu schließen; und um sich der Richtung eines seiner Lehrer anzuschließen, sich einfach ins Schlepptau nehmen zu lassen von einer Autorität, wie es so viele junge Studenten thaten, dazu war er zu selbständig und zu skeptisch. Die Zeiten waren für ihn vorbei, wo er sich blindlings der Führung einer Persönlichkeit anvertraute.

Über die Anschauungen der Cousine war er hinausgewachsen. Man hatte zwar all die Jahre hindurch eine rege Korrespondenz aufrecht erhalten, aber eine gelegentliche persönliche Zusammenkunft kühlte Gerlands Gefühle für die ehemals Angebetete völlig ab. Er fand ein älteres, verblühtes Mädchen. Geistig war sie dort hocken geblieben, wo sie früher wie ein Leuchtturm in der Brandung für ihn gestanden. Weite Meerfahrten lagen hinter ihm, und das Mystische hatte allen Sinn vor seinem Nachdenken verloren. Sie forderte nach wie vor geistige Unterwerfung; er war in ihren Augen das Geschöpf ihrer Hände. Die Erfahrung, daß er sich von ihrem Schürzenbande losgemacht habe, mochte eine bittere Pille für das alternde Mädchen sein. – Es konnte nicht fehlen, daß die Freundschaft einen Riß bekam.

Seine Vereinsamung nach dieser Trennung war um so größer. Unter den Kommilitonen besaß er wohl Bekannte, aber keinen Freund. Einer Verbindung war er nicht beigetreten, die gewöhnlichen studentischen Vergnügungen stießen ihn durch ihre Derbheit ab. Den Studiengenossen Einblick in seine Gedankenwelt zu gewähren, mit ihnen von den Problemen, welche ihn beschäftigten, zu sprechen, das gab er bald auf. Was für Gründe die meisten von ihnen veranlaßt hatten, die theologische Laufbahn einzuschlagen, wurde ihm nur zu bald deutlich. Die Brot- und Magenfrage spielte die größte Rolle dabei. Es war leichter und mit geringeren Opfern verknüpft, ein Seelenhirt zu werden, als einen andern Beruf zu erlernen. Man kam schnell in Amt und Würden und war guter Versorgung gewiß. Viele hatten den Beruf aus reiner Gedankenlosigkeit gewählt, andere, weil ein Anverwandter oder Gönner in hoher kirchlicher Stellung saß und sie so auf Beförderung hoffen durften. Nur wenige waren darunter, die eine innere Berufung für den gewählten Stand fühlten. Den meisten war das in Aussicht stehende Amt, die Lebensversorgung, die Hauptsache. Sie waren gläubig aus Denkfaulheit, weil es doch nun einmal zum Berufe gehörte. Der Glaube war ihnen nicht ein Gut, das man sich unter Kampf und Zweifeln stets von neuem erobern muß, eine Fähigkeit, die geübt, ausgebildet und gestählt werden soll. Sie fühlen sich wohl und behaglich im Besitze überkommener Güter; diese zu sichten, oder neue hinzu zu erwerben, lag nicht in ihrem Sinne. Gerland galt ihnen als Sonderling, über den viel gelacht und gespöttelt wurde. Und er bekam auch Neid und Anfeindung zu kosten. Man warf ihm geistigen Hochmut vor, Stimmen wurden laut, die ihn als heimlichen Freigeist verdächtigten.

In jener Zeit verlor Gerland beide Eltern. Sie folgten einander innerhalb eines Jahres im Tode. Besonders der Verlust der Mutter war für ihn ein harter Schlag.

Die düsterste Zeit seines Lebens begann.

Bedenken quälten ihn, ob er den richtigen Beruf erwählt habe. Die Begeisterung, welche ihn ehemals für das Priesteramt erfüllt, war verflogen. Die Kirche, wie er sie jetzt mit ernüchterten Augen sah, schien ihm ein morsches, baufälliges Institut, nach keiner Seite ihren hehren Zweck erfüllend. Und er blieb nicht dabei stehen, an der äußeren Form Anstoß zu nehmen, welche den Kern des christlichen Gedankens umgab, mehr und mehr nisteten sich Zweifel bei ihm ein an der Echtheit dieses Kernes selbst.

Mit Entsetzen nahm er solche Vorgänge in sich wahr. Der Frevel erschien ihm ungeheuerlich. Er kämpfte und wütete gegen sich selbst; ganze Nächte brachte er auf blanker Diele zu, im Gebet – umsonst. Wenn er den Teufel des Zweifels auf der einen Seite ausgetrieben hatte, schlüpfte er unbemerkt in veränderter Gestalt auf der andern wieder hinein – mit einem »apage satanas!« war da nichts auszurichten.

Aus seinem Innern stieg es empor, ungerufen, gegen seinen Willen, unentrinnbar, ein zersetzendes Element, ein eisiger Windhauch, vor dem sein Glaube zusammenfiel, wie ein Kartenhaus. Ein Verzweifelter lief er umher, trug sich mit Selbstmordgedanken. –

Nachdem dieser Sturm ausgetobt, kam eine Periode großer Gleichgiltigkeit über ihn. Mit Kälte konstatierte er, daß er glaubenslos sei, und vermochte darüber zu lachen. Er teilte ja dieses Geschick mit Hunderttausenden. Wo gab es denn in jetziger Zeit noch Gläubige? Die Massen waren von Gott abgefallen. Und die Gebildeten? – Sie hatten kaum noch ein mitleidiges Lächeln für die durch die Wissenschaft tausendfach widerlegte Lehre vom Sohne Gottes. Und war es mit den Theologen selbst etwa besser bestellt? – Gab es nicht genug berufene Priester und unter ihnen manches Kirchenlicht, welche die unbefleckte Empfängnis, die Verklärung, die Auferweckung, die Transsubstantiation, die Auferstehung des Fleisches und alle Wunder, kurz alles Überirdische, als frommen Mythus betrachteten? – Und seine Lehrer! – Da war kaum einer, der noch ernsthaft von Gott dem allmächtigen Schöpfer Himmels und der Erde sprach. Um so mehr bekam er von Kausalität, von Monaden und Emanationen zu hören. Aus den Vorträgen manches Professors, der als Leuchte der modernen Theologie galt, war nur zu deutlich herauszuhören, daß die Reinmenschlichkeit Christi für ihn eine Thatsache sei, so feststehend, daß es sich, darüber noch zu diskutieren, überhaupt nicht mehr verlohne.

Und doch wurde äußerlich der Schein der Orthodoxie nach Möglichkeit gewahrt. Man leistete Großes in der Kunst, seine exstremsten Gedanken zu umschreiben, zwischen den Zeilen lesen zu lassen und die Skepsis mit Salbung zu verzuckern. Sein Heidentum offen zu bekennen, dazu fand keiner den Mut. Es hätte ihm ja Amt, Stellung und Reputation gekostet. Man zog es vor, sich offiziell noch zum Christentume zu bekennen, obgleich man innerlich längst mit ihm fertig war. Dem christlichen Staate und der christlichen Gesellschaft, in der man lebte, zuliebe geschah das.

Und so herrschte überall ein falsches Zwielicht, das die Wahrheit der nackten Thatsachen zwar zu verschleiern, aber nicht unsichtbar zu machen vermochte. –

Es war die Zeit der Krompromisse. Und auch den jungen Theologen steckte diese allgemeine Krankheit an. Er suchte den Riß in seiner Weltanschauung, so gut es eben ging, auszufüllen. Er wußte, daß der Grund, auf dem er sein Haus errichtete, ein schwankender sei; da schien es immer noch das Beste, nicht zu tief zu graben. Er vermied alles ernstere und tiefere Nachdenken, er lebte in den Tag hinein.

Warum sollte er sich denn allein abquälen in Gewissensängsten, da er so viele um sich her sah, die sich mit der Frage abgefunden hatten und glücklich und zufrieden dabei waren. –

Der Leichtsinn, dem er sich in geistigen Dingen hingegeben, begann auch seinen Lebenswandel zu beeinflussen. Die Askese, zuvor bis zur Übertreibung geübt, warf er jetzt als unnützen Ballast über Bord. Er ließ den lieben Gott einen guten Mann sein.

Jetzt, wo er mit dem großen Strome schwamm, fand er auch den Beifall seiner Umgebung. In Gesellschaft leichtgesinnter Freunde kostete er alle erlaubten und unerlaubten Vergnügen der Universitätsstadt durch.

Der Rückschlag blieb nicht aus. Die Hefe im Becher der Lust schmeckte er zeitiger als andere. Er besaß von Natur nicht Leichtfertigkeit und Frivolität genug, um sich beim rein sinnlichen Genusse auf die Dauer wohl zu fühlen. Tief angewidert, zog er sich von der lockeren Gesellschaft zurück. –

So trat er ins Examen und bestand es glänzend.

Ein sicherer Weg schien vor ihm zu liegen. Nach kurzer Kandidatenzeit, die er zur Weiterbildung in seinem Fache benutzte, wurde er als Hilfsgeistlicher in der Vaterstadt angestellt. Über Mangel an Thätigkeit konnte er sich nicht beklagen; der Hauptgeistliche, ein bejahrter Mann, dessen Amtseifer dem Bedürfnis nach Ruhe zu weichen begann, war zufrieden, einen so arbeitsfrohen Gehilfen erhalten zu haben und überließ der jüngeren Kraft von den Berufsgeschäften soviel, als angängig.

Die praktische Ausübung des Berufes brachte ihm manche Enttäuschung. Er fand es sehr schwer, jene Menschenliebe und Opferbereitschaft, die er an seinem großen Vorbilde wahrnahm, an sich zu erziehen. Er erlebte viel in sich selbst, das Herausgehen aus dem eignen Ich wurde ihm sauer. Nüchternheit und Kälte der Welt schreckten ihn auf sich selbst zurück. Und doch lebte ein heißes Verlangen in ihm, sich zu eröffnen, sich in Liebe hinzugeben. Darum hatte er Christum mit heißer Inbrunst umfaßt, leidenschaftlich hatte er sich um diese Säule gerankt. Das Christentum war ihm ein intimes Ereignis, und häufig hatte er das Gefühl, daß er sein Heiligstes profaniere, wenn er seine letzten und tiefsten Gedanken darüber ausspreche. Er fand, daß es zwei sehr verschiedene Dinge seien: Christ sein und sein Christentum ins Praktische umzusetzen. Wieviel ging auf diesem Wege vom begeisterungglühenden Herzen bis zur alltäglichen Lebensübung an Wärme, an Größe, an Erhabenheit verloren. Selbst dieses edle Metall nutzte sich ab, da es durch so viele grobe Hände glitt.

Wieder kamen Zeiten großer Ernüchterung für den jungen Geistlichen. Jener innige, seelische Verkehr zwischen Gemeinde und Seelsorger, wie er sich ihn ausgemalt, war nicht möglich. Die Geister waren stumpf. Die Religion bedeutete ihnen nicht ein tiefquellendes Bedürfnis, im besten Falle eine Gewohnheit. Vom Geistlichen verlangten sie, daß er Sonntags und Feiertags in althergebrachter Weise, der Agenda gemäß, den Gottesdienst abhalte, und das Abendmahl administriere, daß er, wenn gerufen, zu Taufen erscheine, am Sarge erbauliche Worte spreche und im übrigen keinen auffällig schlechten Lebenswandel führe und einen schwarzen Rock trage.

Eine rein äußerliche Gesinnungstüchtigkeit wurde verlangt. Versuchte er, sein Amt höher auffassend, ihnen als geistlicher Freund und Berater zu nahen, so stieß er auf verschlossene Herzen und Thüren. Das niedere Volk setzte seinem Werben offene Feindschaft und rohen Hohn entgegen, bei den Wohlhabenden stieß er auf Lauheit, und die Gebildeten lächelten über seine Bemühungen.

Wie ein mächtiger Eisblock stand die rohe, starre Gleichgültigkeit der Massen vor ihm; was war das Flämmchen seiner Begeisterung dagegen gehalten? Er sah keine Frucht seiner Thätigkeit. Wohl war die Kirche nicht schlecht gefüllt, wenn er predigte, wohl hatte er einige Bewunderer und Verehrerinnen gewonnen, die nie auf ihren Plätzen fehlten, wenn er sprach, aber das war nicht das, was er suchte. Jene, die da unten saßen und seinen Worten mit scheinbarer Andacht folgten, um die war es ihm nicht zu thun. Was von dem Ernste und dem Feuer dieser offiziellen Gläubigen zu halten sei, darüber belehrte ihn der gesellschaftliche Verkehr mit ihnen. Den einen trieb Gewohnheit in die Kirche, den andren Langeweile, den dritten Sinn für das Schickliche und Althergebrachte. Andere machten noch niedrigere Beweggründe zu regelmäßigen Kirchgängern – von Hunger und Durst nach dem Heil war da nichts zu verspüren. Und er hatte wollen Menschen fischen, dem Heiland Seelen zuführen. –

Damals entstand der Wunsch in ihm nach einer ländlichen Pfarrstelle. Er sehnte sich heraus aus dem faden ungesunden Leben der großen Stadt, nach primitiven Verhältnissen, natürlichen, unverdorbenen Menschen, nach dem Verkehr mit der Natur. Dort glaubte er eher einen Acker zu finden, der seine Saat aufnehmen würde, dort hoffte er das Ideal des wahren Priestertums verwirklichen zu können.

Seine Bekannten und Anverwandten suchten ihn von der Ausführung dieser Idee abzuhalten. Er müsse in der Stadt bleiben; hier war die Aussicht auf Karriere eine viel günstigere, als auf dem Lande, wo niemand auf einen aufmerksam werden konnte. Und zudem wie übel würde er, der gebildete, verwöhnte Mann, sich in der Einsamkeit des Dorfes befinden. Er würde die Bauern nicht verstehen und sie ihn erst recht nicht. Seine Anlagen wiesen ihn nach einer ganz anderen Richtung; er müsse danach streben, sich einen Namen als Kanzelredner zu schaffen, wozu er durch den Wohlklang seines Organes und die Flüssigkeit seines Stiles entschiedene Anlage habe. So setzten ihn die guten Freunde von allen Seiten zu. Man schüttelte allgemein den Kopf zu seinem Vorhaben und konstatierte, daß er Hang zur Querköpfigkeit habe.

Gerland besaß ein Paar ältere Schwestern am Orte; die eine war an einen Beamten, die andere an einen Kaufmann verheiratet. Beide hatten gute Partieen für ihn in Aussicht, und thaten alles, um ihn von dem voreiligen Schritte abzuhalten.

Umsonst! – Zur ersten ländlichen Pfarrstelle, die frei wurde, meldete er sich, gefiel, hielt seine Probepredigt, wurde bestätigt und vom Superintendenten eingewiesen.

* * *

Einige Wochen waren nun schon seit Gerlands Einweisung in das neue Amt ins Land gegangen. Der junge Geistliche war mit den Verhältnissen seines Kirchspiels mehr und mehr vertraut geworden.

Daß kirchlicher Sinn in der Gemeinde herrsche, war nicht zu verkennen, aber er war rein äußerlicher Natur, darüber gab sich Gerland keiner Täuschung hin. Jeden Sonntag sah er die Kirche bis auf den letzten Platz gefüllt, aber von einem religiösen Leben in den Gemütern der einzelnen war wenig zu spüren. Unter Pastor Menke hatte sich das kirchliche Leben verschlafen in ausgefahrenen Gleisen bewegt. Menke selbst hatte gerade so viel gethan als notwendig war, um sich von der Aufsichtsbehörde keinen Verweis zuzuziehen.

Das Patronat zeigte ebensowenig Interesse für die Zustände innerhalb der Gemeinde. Patron war Graf Mahdem, der Besitzer des Rittergutes Breitendorf. Der Graf, ein junger Mann, wohnte auf entlegenen Gütern, die Rittergutsloge in der Kirche stand jahraus jahrein leer. Der Gemeindekirchenrat ließ alles gehen, wie es wollte; nur auf zweierlei hielt diese Korporation streng: daß keine liturgischen Neuerungen eingeführt und daß keine unnötigen Geldausgaben für Kirchenzwecke gemacht würden. Die Gemeinde war an diesen Zustand gewöhnt und schien mit ihm zufrieden.

Es war ein steriler Boden, auf dem Pastor Gerland seine Saat aussäen wollte. Er sagte sich das selbst, aber doch verzweifelte er nicht an der Möglichkeit, diesem Acker mit der Zeit eine grünende Ernte zu entlocken. Er hielt es für keinen Zufall, daß er gerade diese Stelle erhalten. Gott hatte ihn auf diesen schwierigen Posten gestellt.

Der junge Geistliche bewegte mancherlei Pläne in seinem Herzen. Er wußte aus der früheren Praxis, wie er durch seine Persönlichkeit auf die Gemüter zu wirken vermochte. Auch setzte er einige Hoffnung auf die Frauen. –

Durch den Konfirmationsunterricht und die Schulinspektion waren ihm Mittel in die Hand gegeben, auf die Jugend zu wirken. Er dachte ferner an Betstunden, die er im Winter abhalten wollte, wo die Leute nicht durch die Feldarbeit abgezogen waren. Der Plan, einen Leseverein unter den jungen Männern des Ortes zu bilden, schwebte ihm vor.

Aber das stand alles noch im weiten Felde. Zunächst wollte er seine Beichtkinder kennen lernen und sich ihr Vertrauen gewinnen. Die Gelegenheit, welche ihm Begräbnisse, Taufen und Krankenbesuche boten, benutzte er eifrig, um persönliche Beziehungen anzuknüpfen und die ihm fremde Welt dieser Leute verstehen zu lernen.

Vieles war da, was ihn abstieß, was seinen empfindlichen, verwöhnten Sinn verletzte. Er war wie einer, der mit zarten, weißen Händen die Pflugschar zu führen unternimmt; braun und schwielig und rauh mußte die Hand erst werden, welche die Erdscholle bearbeiten sollte. Gerland hatte sich ein ganz anderes Bild von dem Landmanne gemacht; dem Städter hatten die ländlichen Verhältnisse als Ideal der Unverdorbenheit vorgeschwebt. Er fand auch hier viel Schmutz, viel Verkommenheit und Roheit, von denen er sich nichts hatte träumen lassen.

Aber zwischen all dem Unrat erkannte er doch auch menschliche Eigenschaften, Anzeichen eines höheren, geistigen und sittlichen Bedürfnisses, wahre gottesfürchtige Gesinnung.

Ein solch tröstendes Beispiel war für ihn die alte Märzliebs-Hanne in Eiba. Gerland ging jetzt beinahe täglich nach dem hochgelegenen Walddorfe, die alte Frau und ihre kranke Enkelin aufzusuchen.

Das Mädchen rang mit dem Tode. Fester täglich und fester sah Gerland die unbarmherzige Knochenhand das junge Leben umschließen. Zwischen ihm und dem Kinde hatte sich ein außergewöhnliches Verhältnis herausgebildet.

Starr, mit gespannten Zügen, bleich wie eine Wachspuppe, lag die Kranke auf ihrem Strohsacke, teilnahmlos, gefühllos; die Fliegen liefen über ihr Gesicht, sie zuckte mit keiner Wimper. Da trat der Geistliche an ihr Lager, ergriff ihre Hand, legte ihr wohl auch die Hand auf die Stirn – und siehe da, ihre schlummernden Lebensgeister wurden wach unter dieser Berührung – wie aus weiter Ferne kehrte die Seele zurück. Er sprach ihr zu, sie antwortete auf seine Fragen, wenn auch meist wie eine Träumende, nur halb anwesend und doch auch manchmal mit verblüffender Klarheit. Wenn er ihr dann ein Gebet vorsprach, so betete sie es nach, den Blick auf seine Züge gerichtet, gebannt durch seinen Blick, mit dem Abglanze eines Lichtes in den großen Augen, das nicht von dieser Welt zu stammen schien. –

Die alte Märzliebs-Hanne stand daneben, mit zitterndem Haupte, die runzeligen Hände gefaltet, und betete ihren Vorrat von Gesangbuchversen herunter, den sie vom Konfirmationsunterricht her noch im Gedächtnis hatte. Die alte Frau war außerordentlich bibelfest. Sie kannte viele Stellen wörtlich auswendig und liebte es, ihre Rede mit Bibelsprüchen zu verzieren.

Sie wußte dem Geistlichen vielerlei Wunderbares zu berichten. Die kranke Enkelin sprach des Nachts häufig im Traume, und aus ihrem Phantasieren wollte die Alte erkannt haben, daß es Gerland sei, mit dem sie Zwiesprache halte. Ja, in der letzten Nacht sei er bei der Kranken gewesen, ihr die Hände auflegend, wie der leibhaftige Heiland selbst.

»O, jerum, jerum, wie's Madel su oafing zu darzahlen, – ees kunnte sich duch urdentlich ferchten – wos se alles sak. Immer su ei da Ecke durte nieber that se gucka. Itze red' se mit an Pfarrn, ducht'ch. Hernoa warsch wieder mihr, als ibstse an Heiland salber säke. Worim sollt's denne o ne der Heiland sen, der zu dan Gichtbrichigen gesogt hoat: ›Stieh uf, hebe dein Bett auf und gieh heem!‹ – und er stand auf und ging heem. Und hernochen zu dan Weibe, das zwölf Juhre an Blutgoang gehot hatte: ›Sei getrost meine Tuchter, dei Glaube hoat dir gehulfen.‹ – Nee, nee, globen se mer's ack, das Madel redd mit Se ei dar Nacht. Se weeß och immer schon im vuraus, wenn Se kummen. Schun ganz ei dar Fruh sogte se heite iber mich: ›Grußemutter!‹ – ›Woas'n Christel?‹ sogt 'ch – ›Heute kummt a Pfarr zu mir,‹ sogt se. Und su is o eigetruffa.« –

Die Besuche an diesem Sterbelager bedeuteten für Gerland Erbauung und Kräftigung, Hier war wieder einer jener rätselhaften Fingerzeige, die aus der nüchternen Welt hinauswiesen in die Übernatur, von deren Wundern uns hier und da eine Ahnung vermittelt wurde.



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