Wilhelm von Polenz
Der Pfarrer von Breitendorf Erster Band
Wilhelm von Polenz

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XVI.

Der Konfirmationsunterricht hatte seinen Anfang genommen.

Sechs Knaben und acht Mädchen kamen dazu wöchentlich dreimal ins Pfarrhaus. Ein Enkelsohn der alten Märzliebs-Hanne befand sich unter den Kindern. Die Greisin war selbst im Sonntagsstaate von Eiba herabgekommen, um dem Herrn Pastor das Kind zu überbringen, damit er einen Christen daraus mache. –

Es war ein eignes Gefühl für den jungen Geistlichen, vor dieser Schar von Blondköpfen zu stehen, die ihn mit furchtsam neugierigen Augen musterten; sich als ihren Meister zu fühlen, der diese werdenden jungen Menschen in die erwachsene Christenheit einführen sollte.

In diesem schmiegsamen Material hinterließ noch jeder Druck seine Spuren. Ihre Aufmerksamkeit und ihr Vertrauen gehörten ihm ganz; sie glaubten jedem seiner Worte. Er konnte auf ihnen spielen, wie auf einem Musikinstrumente. Jede Stimmung: Freude, Trauer, Begeisterung, Entrüstung vermochte er in ihnen hervorzurufen.

Gerland sorgte dafür, daß der Unterricht niemals langweilig oder ermüdend wurde. So wenig wie möglich quälte er die Kinder mit Gedächtnisarbeit; die Schule hatte sie ja genug mit Auswendiglernen geplagt. Jetzt sollten sie verstehen und mitfühlen lernen, und damit würde er sie vielleicht zur höchsten Stufe führen – zur Liebe.

Er bereitete sich selbst für die Konfirmationsstunde aufs sorgfältigste vor. Für diese jungen Seelen erschien ihm das beste nur gerade gut genug. Soviel wie möglich suchte er auf die Phantasie der Kinder zu wirken. Nüchternheit, das wußte er aus eigner Erfahrung, war der gefährlichste Feind des Religiösen. Er versuchte die Materie auf jede Weise zu beleben, zu durchwärmen, zu versinnbildlichen; er verschrieb sich eine Bibelillustration, die seine Vorträge unterstützen mußte.

Nach Möglichkeit suchte er das Dogmatische aus dem Stoffe zu bannen. Wozu die naiven Seelen dieser Kleinen mit dem schwerverdaulichen, verkünstelten Schematismus überbürden. Den Kindern wollte er eine edle, einfache, unversalzene Kost bieten.

Schwerlich würde die vorgesetzte Behörde, wenn sie zufällig den Konfirmationsunterricht visitiert haben sollte, sich mit seiner Methode einverstanden erklärt haben.

Darüber machte er sich keine Skrupel. Er fühlte, daß er den Kindern darum nichts Schlechteres bot, wenn er von der althergebrachten Leier abwich. Aus ihren Antworten und Mienen erkannte er, daß ihre Aufmerksamkeit und ihr Verständnis wachse; er sah es an den geröteten Wangen, den geöffneten Lippen, den glänzenden Augen, daß er ihnen die Leidensgeschichte Christi nahegeführt habe.

War das nicht mehr wert, als wenn sie die gesamten Hauptstücke und noch soviele kniffliche Definitionen ohne Anstoß hätten aufsagen können? –

Und für sich selbst – was gewann er nicht aus diesen Stunden, die er im Verkehr mit der kindlichen Schar verbrachte. Er wuchs mit ihnen an Innigkeit und Schlichtheit; und das Bewußtsein, daß sie ihn liebten, diese unverdorbenen Gemüter, mußte ihm eine Entschädigung sein für manche herbe Erfahrung der letzten Zeit. –

* * *

Der Winter war inzwischen über Breitendorf mit sanfter Decke herabgesunken. Gern lauschte Gerland, von der Arbeit aufhorchend, dem Dreiklang der Dreschflegel im Dorfe, der ihm eine vertraute Melodie geworden. Schwer, mit knarrenden, holzbesohlten Stiefeln kamen die Bauern den frostharten Kirchsteig am Pfarrgarten herabgepoltert, mit Schafwollpelzen und Fausthandschuhen, die Gesichter blaurot angelaufen, die Frauen vermummt, in Kopftüchern und wattierten Puffjacken.

Immer tiefer spann sich der junge Geistliche ein in seine Gedankenwelt, während draußen der Schnee das einsame Thal immer dichter und dichter einhüllte – er ließ es schneien. Die Post war des tiefen Schnees wegen für ein paar Tage völlig ausgeblieben – immer zu! Ihm war es recht; er fing an, die Einsamkeit als beste Freundin zu lieben. Wie wohlthuend war der Anblick dieser weiten Schneedecke, unter der gleichsam alle Wünsche und Triebe schliefen, wie still und schicksalsergeben die Wälder unter ihrer schweren Bürde, wie gleichmäßig resigniert das Stumpfgrau des Himmels, das sich nach kurzem Tage in ein mattes, schnell von der Nacht verhülltes Rosagelb verwandelte. –

Gerland unternahm häufig weite Spaziergänge; auf dem harten Schnee in der klaren Winterluft marschierte es sich herrlich. Unter dem weißen Leichentuche schlummerte der braune Acker und die grüne Saat. Es glitzerte auf der lichten Decke von Milliarden Schneekristallen, Die Bäume an der Straße standen verglast bis an die äußersten Äste und Ästchen vom Reiffrost. Das Wild war kirre geworden durch die anhaltende Kälte, Hasenfährten führten bis an die Gärten des Dorfes, die braunen Punkte im Schneefelde waren Rebhühner, die ängstlich nach Futter wühlten. Der Wald war herrlicher denn je in seinem Schneekleide: kirchenstill, die Äste tief gesenkt; hin und wieder entledigte sich einer emporschnellend seiner Last.

Aber besonders die Höhen suchte Gerland in dieser Zeit auf, mit ihrer Aussicht über die weite Schneelandschaft. Graublau, das Bild wie eine Mauer abschließend, stand die stolze Gebirgskette im Hintergrunde.

Auf einem seiner Ausflüge kam er in ein hochgelegenes, zwischen Wäldern ganz verstecktes Dörfchen, dessen idyllische Lage ihn überraschte. Etwa zwei Dutzend Fachwerkhütten lehnten sich an ein schindelgedeckes Kirchlein, das, von alten, jetzt blätterlosen Lindenbäumen überragt, kirchhofumgeben auf dem höchsten Punkte des Dorfes lag. Das einstöckige, ziegelgedeckte Haus daneben mochte das Pfarrhaus sein.

Reichtum herrschte hier nicht; kein protziger Bauernhof zu sehen, selbst die übliche Schenke fehlte. Kirche, Pfarrhaus und Schule, das waren die einzigen, trotz ihrer Winzigkeit auffälligen Gebäude. Bis an das Strohdach hinauf waren die Hütten verpackt mit Laub und getrockneten Quecken zum schützenden Winterkleide. Bläulicher Rauch zog aus den Lehmessen in die klare Winterluft hinaus; in den meisten dieser Häuschen klapperte der Webstuhl.

Gerland meinte, er habe selten etwas Heimlicheres, Friedlicheres, Weltabgeschiedeneres gesehen, wie diesen Erdenwinkel; hiermit verglichen war ja sein Breitendorf eine Stadt zu nennen.

Er fragte ein paar vorübergehende Holzarbeiter, welche Gemeinde dies sei.

»Göhdaberg,« hieß es.

»Wie? Göhdaberg! – Heißt euer Herr Pastor etwa Valentin?«

»Ju, ju! Valentin tut ar heeßa.« –

Gerland fühlte Pastor Valentin gegenüber ein böses Gewissen. Damals, beim Missionsfeste in der Kreisstadt hatte er's dem alten Manne versprochen, ihn aufzusuchen. Über anderen Ereignissen war das Versprechen vergessen worden, und nun führte ihn der Zufall vor das Haus des Mannes; vorübergehen konnte er nun doch nicht gut.

Er schritt durch das Pfarrgärtchen ein paar ausgetretene Stufen zur Thür des kleinen Hauses empor. In der steingepflasterten, weißgetünchten Hausflur war niemand zu erblicken, er warf einen Blick in das Expeditionszimmer, das ebenso wie die Küche leer war. Auf schmaler, knarrender Holzstiege schritt er zum ersten Stock hinauf.

Über einer Thür las er auf einem Papierbogen, umgeben von verblaßten Immortellen die Worte: »Deinen Eingang segne Gott!« Hier würde der Herr Pastor wohl zu finden sein.

Er klopfte an – keine Antwort! Wohl aber verriet ihm ein gleichmäßig wiederkehrendes Geräusch von drinnen, daß jemand in tiefen Atemzügen schnarche.

Er klopfte noch einmal; das Schnarchen setzte aus, ein Seufzen war zu vernehmen, dann ein Gähnen.

Endlich wurde die Thür geöffnet. Vor Gerland stand der alte Pastor Valentin im Schlafrock, ein goldgesticktes Käppchen auf dem weißumrahmten Patriarchenkopfe.

Erstaunt, mit leeren Blicken, sah der alte Mann den Fremden für eine Weile an, bis ihm die Erinnerung mit einem Male wiederkam. »Mein lieber Pastor – lieber Amtsbruder!« – und er hielt ihm beide Hände entgegen.

Gerland trat in ein niederes Zimmer mit schadhafter Holzdiele; die kahlen Wände waren mit blauem Farbenmuster übersät, an der Decke prangten kühne Arabesken – wohl das Werk eines Dorfkünstlers. Der zimtfarbene Kachelofen strahlte eine gedeihliche Hitze aus. Unter den Gerüchen, die den Raum erfüllten, war der von Kamillenblättern vorherrschend.

Der Alte zwang den jungen Geistlichen in einen wackeligen Lehnstuhl. Geschäftig eilte er selbst im Zimmer umher, ohne daß man eigentlich den Zweck seines Eifers hätte absehen können. Offenbar war er verlegen, weil ihn Gerland im Schlafe überrascht hatte. Auf dem Tische stand eine halbgefüllte Tasse, die Pfeife mit langer Quaste lag daneben.

»Ich habe den Herrn Amtsbruder wohl im Mittagsschläfchen gestört?« fragte Gerland. –

»Nein, bewahre, bewahre! Ein kleiner Nicker – allerdings. – Sonst ist das wirklich nicht meine Gewohnheit. – Jetzt werde ich Ihnen aber einen Kaffee kochen lassen.« –

Trotz Gerlands Sträuben lief er nach der Thür: »Hanne! – Hanne!«

Hanne erschien; ein altes, gebeugtes Weiblein, mit freundlichem eingeschrumpftem Gesichte unter grauer Haube.

Der Herr Pastor trat mit ihr zur Thüre hinaus und erteilte ihr seine Anordnungen. – Die Alte mochte wohl schwerhörig sein; jedenfalls konnte Gerland jedes Wort verstehen. – Kaffee sollte sie kochen, aber ganz starken, und besonders schnell – und die guten Cigarren von unten herauf bringen.

»Ich habe mir nämlich den Kaffee nach Tisch abgewöhnt,« erklärte er, ins Zimmer zurückkehrend. »Ich litt hin und wieder an einem bösen Kopfschmerz, und Hanne meinte, das käme vom Kaffee. Seitdem trinke ich Kamillenthee mit etwas Süßholz. Das schmeckt fast ebensogut, wenn man sich daran gewöhnt hat, und ist bedeutend billiger.« –

Er fragte den Gast mit besorgter Miene, ob es ihm auch warm genug sei. Gerland, der sich am liebsten über schier unerträgliche Hitze beklagt hätte – der Ofen meinte es mindestens ebensogut wie der Herr Pastor – wollte den alten Mann nicht kränken, und lobte das schöne warme Zimmer.

»Ja, das ist der einzige Luxus, den ich mir gönne,« erklärte Pfarrer Valentin. »Ein warmes Zimmer, darüber geht nichts. Soviel in den Ofen geht, lasse ich heizen; das muß die Stelle schließlich noch abwerfen.«

Gerland entsann sich, gehört zu haben, daß Göhdaberg eine der schlechtbezahltesten Stellen der Diözese sei. Die Einrichtung sah auch ärmlich genug aus; aber der Alte machte durchaus keinen unzufriedenen Eindruck. Hin und wieder seufzte er mit gefalteten Händen; doch war das nicht ein Zeichen von Sorgen oder Kummer, mehr der Ausfluß harmonisch beschaulicher Stimmung.

Auch die Züge des Mannes sprachen von Frieden mit der Welt und mit sich selbst. Haß und Neid waren dieser Seele gewiß ebenso fremd wie Zweifelsucht.

Der Geist der Moderne war bis in dieses stille Gebirgspfarrhäuschen nicht vorgedrungen; etwas Schlichtes, Ursprüngliches und Einfältiges haftete dem Manne und seiner Umgebung an.

In diesem Stile mochten die evangelischen Pastoren guter alter Zeit gelebt und gewirkt haben, als das Luthertum noch etwas von dem bäurisch starken und innigen Geiste seines Begründers unverfälscht aufwies.

Nicht mehr als ein Dutzend stark abgenutzter Bände auf dem altersschwachen Schreibtische schienen das ganze litterarische Handwerkszeug des greisen Pfarrers darzustellen. An den Wänden erblickte Gerland ein paar Farbendrucke: die Reformationshelden.

Unter einem mit menschlichem Haar auf Kanevas gestickten Bibelspruche hingen in gepreßten Papprahmen einige Daguerreotype – Familienbildnisse offenbar.

»Es sieht wüste und leer bei mir aus,« meinte der Alte, Gerlands musterndem Blicke folgend. »Sie sind's wahrscheinlich anders gewohnt. Ja, sehen Sie, lieber Amtsbruder, wenn man so seit dreißig Jahren verwitwet ist – Früher – ja früher – als ich noch meine Emmy hatte –«

Er stand auf und nahm eine der Daguerreotypen von der Wand: »Sehen Sie, so sah meine Emmy aus – das war sie.«

Die graubraun nachgedunkelte Platte ließ in matten Umrissen eine Frauengestalt erkennen, in weißer Bluse mit großkarriertem, durch die Krinoline geschwelltem Kleide; ein rundes, weißes Gesicht, in dem eigentlich nur die Augen als ein paar schwarze Flecken erkenntlich waren. Den Wangen hatte der Künstler einen zarten, rosa Ton verliehen.

Gerland sah voll Rührung, wie der Alte das Bildchen mit den Augen liebkoste. Dreißig Jahre waren es her, daß dieses Gesicht, von dessen Frische das Konterfei gerade noch eine Ahnung gab, mit Erde zugedeckt worden war. Aber bei dem Gedanken, wie hübsch seine Emmy gewesen, strahlten die Züge des alten Mannes von naivem Stolze.

Er faltete die Hände und seufzte: »Der Herr hat's gegeben, der Herr hat's genommen, der Name des Herrn sei gelobet!« –

Sorgfältig wischte er das Bildchen ab und hängte es an seinen Platz zurück.

»Hier, das wird Sie vielleicht interessieren; hier habe ich ein Bild von der seligen Bertha Haußner.«

»Von Doktor Haußners Frau?«

»Ja, von meiner Nichte Bertha.«

Er nahm eine Photographie von der Wand und reichte sie Gerland hinüber.

»Das war Bertha Haußner als Braut.«

Mit tieferem Interesse, als der andere wohl ahnen mochte, betrachtete Gerland das Bildchen. Ein feines Gesicht, zarte, unentwickelte Züge, große, gute Kinderaugen und ein freundlich lächelnder Mund.

Das Gesicht sprach ihn auf den ersten Augenblick an, nicht bloß wegen der unverkennbaren Ähnlichkeit mit Gertrud. Für ihn hatten diese sanften Mädchenzüge in ihrer glücklichen Ungetrübtheit etwas Wehmütiges. Vor diesem Bilde begriff er, daß ein solches Wesen an der Seite eines herzenskalten, schroffen Mannes hatte zu Grunde gehen müssen.

»Die gute – unglückliche Bertha!« – meinte Valentin. »Ein freundlicheres, liebevolleres Gemüt habe ich nicht gekannt, und sie war eine Christin im besten Sinne des Wortes. – Für ihren Mann hätte sie alles aufgegeben – gern und ohne ein Wort der Klage – nur nicht ihren Glauben. Der Kampf, in den sie gestellt wurde, war zuviel für sie. – Lieber Amtsbruder, ich kann Ihnen sagen, etwas Traurigeres als Bertha Haußners Geschick, habe ich mein Lebtag nicht mit angesehen.«

Hanne, die mit dem Kaffee kam, unterbrach ihn. Mit besonderer Weihe schenkte der Alte ein. Sich selbst gewährte er heute auch ein Täßchen aus der goldumränderten, bis in die Schnauze vollen Kaffeekanne. Dann bot er Cigarren an, und konnte sich nicht genug darüber wundern, daß der Amtsbruder gar nicht rauche.

Behaglich mit gefalteten Händen lehnte der alte Mann in seinem Lehnstuhle, hin und wieder seufzend. Weiß wie der Schnee, der draußen die Welt einhüllte, quoll sein Haupthaar unter dem goldgestickten Mützchen hervor. Im Ofen krachten und pufften die Holzkloben, die Hanne zu guter Letzt noch nachgelegt hatte. Vor dem Fenster erhob sich der schindelgedeckte Turm des Kirchleins. Zufriedene, einlullende Stille ringsum. Als ob das Dörfchen mit seinem greisen Pastor durch Jahrzehnte geschlummert hätte in weltabgeschiedener Selbstvergessenheit. Weit, weit draußen schien der Strom der Zeit vorüberzubrausen. –

Gerland hätte gar zu gern noch mehr über das Thema gehört, welches der Alte begonnen. Es fiel nicht schwer, ihn von neuem auf die Geschichte seiner unglücklichen Nichte zu bringen.

»Wie Haußner zu seiner Frau gekommen? – Ja, sehen Sie, lieber Amtsbruder, Gott führt die Menschen wunderbar zusammen. Bertha, deren Bild Sie vorhin gesehen, lebte damals mit ihren Eltern – beide sind jetzt tot – in der Kreisstadt. Ihre Mutter war, wie schon gesagt, die Schwester meiner seligen Frau. Der Vater betrieb den Holzhandel im großen; er galt für einen der wohlhabendsten Leute der Gegend. Die Kinder wurden streng christlich aufgebracht; Bertha genoß ihre Erziehung in Gnadenthal im Schwesternhause. Es herrschte bei den Wendtlebens – so hießen meine Verwandten – ein durchaus frommer, gottergebener Sinn. –

»Haußner kam von auswärts zugereist in die Stadt. Er war vorher Schiffsarzt gewesen, soviel ich weiß, und auf diese Weise in aller Herren Länder herumgekommen. Er schien erfahren und tüchtig in seinem Berufe und erwarb sich bald eine große Praxis. Auch bei den Wendtlebens war er Hausarzt.

»Man traf sich, wie das in so einer Stadt ja geht, oft in Gesellschaft. Mein Schwager Wendtleben hatte ein offenes Haus. Er sah den Arzt wohl auch manchmal an seinem Tische; doch ahnte Wendtleben lange Zeit nichts, daß zwischen seiner Tochter Bertha und dem jungen Manne eine ernsthafte Neigung bestehe, bis eines Tages Haußner um Bertha anhielt.

»Mein Schwager wollte anfangs nichts von der Sache wissen, da Bertha noch sehr jung sei und ihre Gesundheit nicht sonderlich fest schien, aber er konnte nicht viel ausrichten, die jungen Leute waren einig geworden miteinander und hielten fest zusammen. Und so mußte sich denn Wendtleben drein ergeben. –

»Die Trauung fand statt. Ich selbst habe sie zusammengegeben.

»Um die religiösen Anschauungen des Bräutigams hatte sich niemand gekümmert – leichtsinnig wie wir waren. Die beiden liebten sich, Haußner war ein vielversprechender, von aller Welt hochgeschätzter Mann; alles schien glückverheißend. Wer konnte damals, als sie vor dem Altare standen, ahnen, welch schweren Konflikten dieses Menschenpaar entgegenging. –

»Wendtleben starb bald darauf, und einige Jahre später auch seine Frau. Die Haußners kamen dadurch in glänzende Verhältnisse; aber man konnte ihnen nicht vorwerfen, daß das viele Geld sie hoffärtig gemacht habe. Er praktizierte mit großem Eifer weiter.

»Wir verkehrten damals viel in seinem Hause; meine selige Emmy lebte ja noch, und Bertha war ihre Lieblingsnichte.

»Durch meine selige Frau wurde ich auch zuerst darauf aufmerksam, daß im Haußnerschen Familienleben nicht alles so sei, wie es unter christlichen Eheleuten sein soll. Er neigte zum religiösen Freisinn, das war uns zu unserem Schmerze nach und nach allen klar geworden, und darüber kam es zwischen ihm und Bertha, die eine gefestigte Christin war, zu Meinungsverschiedenheiten; und als nun die Kinder, die ihnen inzwischen geboren waren – zwei an der Zahl – heranwuchsen, gab es über deren Erziehung ernste Kämpfe.

»Er wollte nämlich die Kleinen in seiner freien Anschauung auferziehen. Mir wurde damals ein Wort von ihm hinterbracht; er sollte geäußert haben: Er werde nicht zulassen, daß seinen Kindern das ›christliche Gift eingeimpft‹ werde. – Natürlich kränkte und betrübte uns seine offene Religionsfeindschaft tief. Oft hatte mich meine selige Emmy gebeten, ich sollte eingreifen; aber ich sagte mir, daß dies Dinge seien, welche die Ehegatten untereinander abzumachen hatten. Gelegentlich habe ich Haußner doch ins Gewissen geredet – ohne Erfolg leider – er lachte mich einfach aus; ich konnte nichts ausrichten. Im stillen allerdings hoffte ich immer, der Herr in seiner Allweisheit und Güte werde diese verstockte Seele schon noch zu sich führen. –

»Nun kam die Zeit, wo Haußners ältestes Kind, ein Knabe, schulpflichtig wurde. Wie man nachmals erfuhr, hatte er mit dem damaligen Rektor der Hauptschule, seinem guten Freunde und, wie ich glaube, Gesinnungsgenossen, ein Privat-Abkommen getroffen, wonach das Kind vom Religionsunterricht dispensiert wurde. – Das soll ungefähr ein halbes Jahr unbemerkt und unbeanstandet gegangen sein. Ich selbst war durch meinen vergeblichen Versuch, Haußner auf den rechten Weg zu führen und vor allem durch den Tod meiner seligen Frau ihm damals etwas entfremdet worden.

»Eines Tages erzählte mir ein Amtsbruder als neueste Nachricht aus der Stadt, zwischen Doktor Haußner und dem Superintendenten Großer sei ein heftiger Streit ausgebrochen; die ganze Stadt spreche von nichts anderem, ja sogar in den Blättern wurden lange Artikel darüber veröffentlicht. Ich hatte hier oben davon nichts gelesen und gehört.

»Natürlich ging ich sofort zur Stadt, und suchte zunächst meine Nichte Bertha auf; sie war krank – vor Herzenskummer. Ich konnte nur Haußner sprechen. Er empfing mich sehr wenig verwandtschaftlich, war schroff und unfreundlich, nichts konnte ich von ihm erfahren; ich suchte also den Herrn Superintendenten auf.

»Was ich da erfuhr, bestürzte mich aufs äußerste.

»Dem Herrn Superintendenten war zu Ohren gekommen, daß der kleine Haußner am offiziellen Religionsunterrichte seiner Klasse nicht teilnehme; er hatte davon umgehend der Regierung Mitteilung gemacht. Von seiten der Regierung war eine Untersuchung des außergewöhnlichen Falles eingeleitet worden; der Rektor der Schule bekam einen ernsten Verweis, und Haußner wurde bedeutet, den Knaben fortan in den Religionsunterricht zu schicken.

»Haußner antwortete damit, daß er aus der Landeskirche austrat. Nun behauptete er, als Dissidenten könne man ihn nicht zwingen, seine Kinder am Religionsunterricht teilnehmen zu lassen.

»Darüber gab es ein langes Hin und Her; die Sache ging bis vors Ministerium. In der Stadt war natürlich das Aufsehen groß; sehr viele häßliche Thaten wurden damals leider auch von Christenleuten verübt. Haußner und die arme Bertha erhielten Droh- und Schmähbriefe gemeinster Art. Wenn Haußner sich irgendwo öffentlich blicken ließ, gab es Leute, die aufstanden und sich entfernten, als ob seine bloße Nähe verunreinigend wirke. Auch das unglückliche Kind, dessentwegen der Streit entbrannt war, hatte viel zu leiden von seinen Mitschülern. Ja, ruchlose Buben entblödeten sich nicht, dem kleinen Knaben ein Plakat mit Spottversen auf den Rücken zu kleben. In den Zeitungen wimmelte es von Verdächtigungen. Haußner verlor damals einen großen Teil seiner Praxis. Es wird eine Geschichte erzählt – ihre Wahrheit kann ich nicht verbürgen – mehrere Damen hätten sich an den Herrn Superintendenten gewendet mit der Frage, ob sie sich noch fernerhin von Doktor Haußner behandeln lassen dürften und Superintendent Großer hätte mit einem »nein« geantwortet – heißt es.

»Lieber Amtsbruder, so tief ich Haußners Abfall vom Christentum beklage, und so scharf ich seine Auflehnung gegen die Kirche verwerfe, ich glaube doch, darin hat der Herr Superintendent nicht recht gethan. Dem Manne die Ehre abzuschneiden, ihn zu verbittern und immer tiefer in seinen Haß hineinzutreiben, das war weder weise gehandelt, noch läßt es sich mit dem Geiste unseres Meisters Jesu Christi in Einklang bringen.

»Der äußere Abschluß des Zwistes war, daß von oben der Bescheid kam, das Kind habe am Religionsunterrichte teilzunehmen; worauf Haußner den Jungen aus der Schule nahm.

»Von jener Zeit ab war mit dem Manne nicht mehr in Frieden zu verkehren; wenigstens für einen unseres Standes nicht, so aufgebracht und ergrimmt zeigte er sich gegen die Kirche und ihre Diener. Heimlich mußte ich mich ins Haus schleichen, wenn ich die arme Bertha besuchen wollte.

»Die Unglückliche hat während dieses Streites Folterqualen ausgestanden, und wäre sie nicht eine wahrhaftige Christin gewesen, sie würde soviel Schweres nicht ertragen haben. Ihre Gesundheit und ihr Gemüt waren tief zerrüttet; bereits damals begann ich für ihren Verstand zu fürchten. –

»Das Familienleben war völlig zerstört; die Ehegatten waren einander entfremdet worden.

»Mir wies Haußner damals die Thür, in einer so schroffen Weise, daß ich es meinem Kleide schuldig zu sein glaubte, seine Schwelle fortan nicht mehr zu übertreten.

»Bald darauf zog Haußner ganz von der Stadt weg. Das Haus in Eichwald hatte er schon früher angekauft, und Bertha pflegte im Sommer mit den Kindern dorthinzugehen. Jetzt machte er diese Besitzung ganz zu seiner Heimat.

»Ich habe die Verwandten aus dem angeführten Grunde niemals in Eichwald aufgesucht; aber ich blieb in Briefwechsel mit Bertha.

»Aus ihren Briefen begann ich Hoffnung zu schöpfen. Haußner schien sich zu finden; er verhinderte es wenigstens nicht, daß Bertha den Kindern religiöse Anschauungen einprägte; ja hin und wieder gestattete er ihr den Kirchgang mit den Kleinen. Für ihre Erziehung hielt er einen Hauslehrer; einen Teil des Unterrichts erteilte er auch selbst.

»Damals schien manches auf dem Wege zum guten mit der Familie. Berthas Gesundheit besserte sich, ihre Briefe lauteten heiterer und lebensfroher, und ich wagte zu hoffen, daß sich noch alles zum besten wenden möchte. –

»Und nun erst kommt das Traurigste, was ich Ihnen, lieber Amtsbruder, zu berichten habe.

»Ein Geistlicher war es, ein christlicher Pfarrer, der unserem Herrgott ins Handwerk pfuschte und all diese Keime, aus denen mit der Zeit hätte gutes erwachsen können, zerstörte, durch Unduldsamkeit und – ich muß es geradezu aussprechen – frevelhafte Vermessenheit.

»Pastor Menke, Ihr Vorgänger im Amte, ist es, von dem ich spreche. –

»Haußner pflegte, den unbemittelten Leuten der Gegend unentgeltlich Arzeneien zu verabreichen, in dringenden Fällen ging er wohl auch selbst zu einem Kranken. – Er soll in dieser Weise viel Gutes gestiftet haben. –

»Unseren Pastor verdroß das; er legte dem Arzte allerhand in den Weg, untersagte seinen Beichtkindern, sich von einem Atheisten und Gotteslästerer behandeln zu lassen; ja ging in seinem unheiligen Eifer soweit, dem Arzte und seiner Familie in der ganzen Umgegend den schlechtesten Leumund zu bereiten.

»Daß es kein leichtes Ding für einen Geistlichen ist, einen Dissidenten in der Parochie zu haben, ist gewiß wahr, aber der nunmehr verewigte Menke hätte sich doch wohl bedenken sollen, welcher Sache man dient, wenn man mit unreinen Waffen kämpft.

»Haußner trat ihm in keiner Weise zu nahe. Der Kirche und dem Geistlichen ging er aus dem Wege; nie habe ich etwas davon gehört, daß er andere zu seinen kirchenfeindlichen Anschauungen herüberzuziehen versucht hätte. Er führte ein durchaus zurückgezogenes, gegen alle Welt abgeschlossenes Leben; in die Gemeindeangelegenheiten hat er sich nie eingemischt. –

»Es wird Ihnen bekannt sein, lieber Amtsbruder, daß vor ungefähr achtzehn oder neunzehn Jahren eine heftige Typhusepidemie in Breitendorf, Eichwald und Umgegend ausbrach.

»Nun, damals fehlte es sehr an ärztlichen Kräften, um die Seuche zu bekämpfen, und Haußner griff in wirklich edler Selbstlosigkeit aus freien Stücken ein.

»Was thut unser verstorbener Amtsbruder Menke in geradezu unbegreiflicher Verblendung? Als sich die beiden an einem Sterbelager treffen, erhebt sich Menke und verläßt mit Ostentation das Zimmer. Haußner eilt ihm nach ins Freie und stellt ihn zur Rede.

»Was für Worte damals gefallen sind, habe ich nie mit Sicherheit erfahren können, aber von diesem Augenblicke an herrschte tödliche Feindschaft zwischen den beiden.

»Und nun erkrankten die Haußnerschen Kinder; den Ansteckungsstoff mochte der Vater wohl selbst ins Haus gebracht haben. Wie sich das Traurige eigentlich zugetragen, darüber fehlen mir alle näheren Nachrichten. – Kurz, die beiden Kleinen waren im Laufe eines Tages Leichen.

»Darüber verlor Bertha den Verstand. Sie rennt ins Dorf, weinend und klagend – in anderen Umständen gerade damals – und erzählt den Leuten, was sich ereignet. Gänzlich verwirrt fleht sie, daß man ihren Kindern ein christliches Begräbnis gewähren möge. – Haußner war ihr nachgeeilt und wollte sie ins Haus zurückholen – mit Gewalt – denn sie widersetzte sich und schrie ganz laut, daß die vielen Leute, die hinterdrein liefen, es hören konnten: ihre Kinder seien keine Heiden gewesen, und sie müßten ein Eckchen auf dem Kirchhofe bekommen. –

»Und von alledem erfuhr ich damals nichts. Hätten sie mir doch nur ein Wort mitgeteilt! Ich wäre herüber gekommen, und das Schlimmste hätte sich nicht ereignet. –

»Die beiden kleinen Leichen wurden gleichzeitig der Erde übergeben. Haußner hatte sich jede Leichenrede ausdrücklich verbeten, und von den Zeremonieen wollte er nur das unumgängliche Notwendige haben.

»Warum konnte Pastor Menke dem Wunsche des hartgeprüften Mannes nicht willfahren, warum mußte er am offenen Grabe, in Gegenwart des Vaters von einem Gottesgerichte sprechen? – Sie wollen mir's nicht glauben! – Es ist geschehen, lieber Amtsbruder – es ist geschehen! Über den beiden kleinen Särgen hat er das Wort ausgesprochen: Ein Gottesgericht.

»Sie schütteln ungläubig den Kopf – hören Sie nur weiter, lieber Amtsbruder. Aus Bösem folgt Böses. – Haußner ist ein leidenschaftlicher, zum Jähzorn geneigter Mensch. Am offenen Grabe hat er sich an dem amtierenden Geistlichen vergriffen – den Priester des Herrn in Ausübung seines heiligen Berufes angerührt – und wenn nicht Leute dazwischen gesprungen wären, hätte er ihm wohl gar den Talar vom Leibe gerissen. –

»Entsetzlich! nicht wahr? –

Menke strengte gerichtliche Klage an, und Haußner wurde verurteilt.

»Noch während er sich in Haft befand, kam Bertha nieder. Das Kind kennen Sie – es ist Gertrud.

»Alle diese Dinge ergriffen mich tief, der Gedanke an Haußners Seelenheil ließ mir keine Ruhe. Ich suchte ihn auf in seiner Haft; ich fand ihn verhältnismäßig ruhig und gefaßt. Kein hartes Wort fiel; aber er gab mir zu verstehen, daß er mit keinem Priester mehr etwas zu thun haben wolle. – Ich ging unverrichteter Sache von dannen.

»Haußner machte von der Befugnis Gebrauch, sein Kind ungetauft zu lassen.

»Bertha ward in einer Anstalt für Gemütskranke untergebracht. Ich suchte sie auf, so oft ich konnte.

»Ob ihre verstorbenen Küchlein der ewigen Seligkeit leilhaftig geworden; ob sie, die Mutter, die beiden Kleinen im Jenseits an Gottes Throne wiederfinden würde: das war die Angst, die ihrem armen, zerrütteten Gemüte keine Ruhe ließ.

»Und da half kein Zureden, kein geistlicher Trost; alle Gnadenmittel waren wirkungslos. Gebetet habe ich mit ihr – gerungen mit ihrer Seele – umsonst! – Der Gedanke, die Angst um die Kinder, wollte nicht von ihr weichen, und immer tiefer sank sie in die Nacht der Verzweiflung.

»Ihr Tod trat ganz schnell ein. Ich war nicht zugegen, auch Haußner nicht. Erst an der Leiche trafen wir uns. –

»Ich habe sie bestattet in aller Stille auf dem Kirchhofe der Anstalt. Haußner reiste bald darauf mit dem Kinde ins Ausland. Ich habe weder ihn noch das Kind seitdem wieder gesehen. – Das Mädchen, Gertrud war damals ein süßes, goldiges Dingelchen. Sie kennen sie ja, Herr Amtsbruder – sagen Sie, ist sie dem Bilde der Mutter dort ähnlich? –

»Jetzt ist die Reihe an Ihnen, mir von der Tochter der unglücklichen Bertha zu erzählen!« –



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