Wilhelm von Polenz
Wald
Wilhelm von Polenz

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I.

Auf der kleinen Station des winzigen Städtchens Kupferberg hielt der Zug bereit zur Abfahrt. Es war nur eine Sackbahn mit Sekundärbetrieb, die diesen verlorenen Winkel mit der übrigen Welt durch zwei Züge täglich in Verbindung setzte. Die dritte Klasse saß leidlich voll, in der zweiten war nur ein einziger Passagier zu erblicken: ein Knabe von etwa elf Jahren mit einer blauen Schülermütze auf dem blonden Krauskopfe. Er stand am geöffneten Fenster und beugte sich zu einer Frau hinab, mit der seine Züge auffällige Ähnlichkeit zeigten. Die ältere Schwester hätte man gesagt, aber er nannte die hübsche Person »Mama«.

Sie gab ihm jene rührend gutgemeinten Ratschläge mit auf den Weg, ohne die wohl keine rechte Mutter ihren Jungen aus den Ferien in die Schule zurück läßt. Zunächst für die Fahrt: nicht hinauslehnen, warm halten, richtig umsteigen. Dann für die Pension: nicht zu lange lesen bei Licht, die Kleider gut halten, keine 2 nassen Füße! Und vor allen Dingen: oft nach Haus schreiben! Ermahnungen, die zu halten im Abschiedsschmerz in redlichster Absicht versprochen werden, und die am nächsten Morgen doch meist schon in den Wind geschlagen sind.

Die junge Mutter war ergriffen und kämpfte sichtlich mit den Thränen, während sie die kleine, mit Zwirnhandschuhen bekleidete Hand ihres Jungen hielt und sanft drückte. Hellmut war ruhiger oder stellte sich wenigstens so; denn er hielt es für unmännlich, die Rührung, welche auch in seinem Herzen arbeitete und ihm bereits – ein unangenehm kitzelndes und würgendes Gefühl – bis zum Halse gestiegen war, öffentlich zu zeigen.

Zum dritten Male schon fuhr er so aus den Ferien in die Pension zurück; denn er war zu Ostern aus dem Haus gekommen, und jetzt waren die Herbstferien zu Ende. Bisher hatte er stets geweint gegen seinen Willen, hinterher schämte er sich vor dem Bahnpersonal; diesmal aber sollten ihn die Schaffner sicherlich nicht »flennen« sehen.

Ob er noch irgend einen Wunsch habe, fragte jetzt die Mutter halblaut, obgleich kein Mensch daran dachte, das Zwiegespräch zu belauschen. Hellmut überschlug im Geiste schnell noch einmal seine Liebhabereien: die Briefmarkensammlung, Spazierstock, Schlittschuhe, Taschengeld, der Küchenvorrat für die nächsten Tage. Für 3 alle seine Bedürfnisse war schon gesorgt, soweit man sie der Mutter mitteilen konnte; denn das mit den Cigaretten wollte er doch lieber für sich behalten.

Noch einmal sagte die Mutter jetzt: »Mutchen, wenn du irgend etwas wünschst, dann sage mir's, mein Kind!«

Der Knabe merkte in früh entwickelter Lebensklugheit, daß er in diesem Augenblicke alles bei der Mutter durchsetzen könne. Er sann scharf nach. Gab es denn wirklich gar nichts, was sein Herz begehrt hätte? – Halt, da war etwas! Aber beim bloßen Drandenken erzitterte er vor Schreck über solche Kühnheit. Er errötete über das ganze Gesicht. »Ach Mamachen! . . .« Sie ermutigte ihn; so etwas Unerschwingliches würde es schon nicht sein. Aber ihm schwindelte geradezu bei dem Gedanken. »Ach Mamachen, solch Hirschgeweih möchte ich gern haben. Weißt du, von Papa seinen!«

Er hatte es ganz hastig hervorgestoßen, wissend, daß er Unmögliches erbitte. Denn die Geweihsammlung hatte er von frühester Kindheit auf als das Geheiligtste betrachten gelernt, was es in der Oberförsterei gab.

Die Züge der jungen Frau verdüsterten sich, als sie den kindlichen Wunsch vernahm. Ein Hirschgeweih! – Nein, das konnte sie allerdings nicht schaffen. Alles andere nur nicht das! Nie würde sich der Oberförster von einem Stücke seiner Sammlung trennen, die für ihn das Wichtigste war auf der Welt. Und nun gar 4 dem Jungen zuliebe! Er behauptete ja so schon immer, »der Bengel wird verhätschelt.«

Traurig blickte die Mutter ihren Jungen an. Er sah so süß aus. Das Verlangen machte seine großen lebhaften Augen hell aufleuchten. Gott, war das Kind schön! Und ihm sollte sie eine Bitte abschlagen!

»Wenn's auch nur ein schwaches Geweih wäre, Mama, nur von einem geringen Hirsche,« fuhr der Junge fort, dem, in einer Oberförsterei aufgewachsen, alle Jagdausdrücke von klein auf geläufig waren. »Siehst du, die andern Jungens glauben mir's immer nicht, wenn ich ihnen von unsern Hirschen erzähle. Sie verstehen gar nichts davon und lachen. Wenn ich aber ein wirkliches Geweih hätte, dann müßten sie mir doch glauben, nicht wahr, Mama?«

Die Mutter verstand das natürlich und war sofort ganz auf seiner Seite gegen die andern Jungens. Es bedurfte gar nicht mehr großen Schmeichelns. Bei ihr war es beschlossene Sache: Hellmut sollte das Geweih bekommen. Ob mit oder ohne Wissen ihres Mannes, das wußte sie jetzt noch nicht genau.

Der Stationsvorsteher trat mit der bekannten Wichtigkeit dieser Leute, die meist im umgekehrten Verhältnis steht zum Umfange des ihnen unterstellten Betriebes, auf seinen nur wenige Quadratruten umfassenden Perron heraus. Er begrüßte die Frau Oberförster. Die Schaffner, deren nicht ganz so viele beim Zuge waren, wie 5 Passagiere drinnen, begannen die Thüren zu schließen. Die Lokomotive ließ verdächtige Töne hören. Alles deutete darauf hin, daß sich der Zug demnächst in Bewegung setzen werde.

»Leb wohl mein guter Junge!« sagte die Mutter, »und behüt dich Gott! Zu Weihnachten kommst du wieder. Schreibe mir nur recht bald, wie du angekommen bist.« Das Letzte war schon mit zitternder Stimme gesagt. Dann noch ein Händedruck, ein nochmaliges »Leb wohl!« das sich in einem Schluchzen verlor, und sie ging von dannen.

»Mamachen!« rief der Knabe ihr nach, »grüß die Dine von mir. Ich habe vergessen, Abschied von ihr zu nehmen.«

Die Mutter winkte dem Abfahrenden zu; ja, sie wollte es ausrichten.

Waldine war die alte Vorstehhündin des Vaters, der Verzug der ganzen Oberförsterei. Und als Hellmut nun an diese treueste Freundin dachte, die jetzt traurig in ihrer Hütte lag und ihm gewiß böse war, da war es mit seiner tapfer bis dahin gewahrten Fassung aus. Er zog das Taschentuch und stopfte es wie einen großen weißen Pfropfen zwischen die Zähne. Aber es half auch diesmal nichts. Es war stärker als er. Als der Schaffner nach dem Billet sehen kam, fand er den Jungen in Thränen.

Seine Mutter war inzwischen langsam vom 6 Bahnhof zur Stadt gegangen, noch ganz mit ihren Gedanken bei dem Kinde. Es deuchte ihr, als sei ihr der Abschied noch nie so schwer geworden wie diesmal. Auf das Wiedersehen zum Weihnachtsfest hatte sie sich und den Jungen vertrösten wollen; aber wie endlos lange schien's bis dahin! Wie freudlos würde das Haus sein ohne das aufheiternde Lachen und Lärmen des Kindes! Wie furchtbar einsam die langen Winterabende!

Wie ein fröstelndes Erschauern packte es die junge Frau. Warum konnte sie nicht mit Hellmut gehen? Seit ihre Mutter gestorben war – jetzt vor Jahresfrist –, war Hellmut doch das einzige Wesen, dem sie wirklich nahe stand. Warum hatte man ihr den Jungen auch noch genommen? Die Dorfschule genüge nicht, war gesagt worden. Als ob gar so viel darauf ankomme, was solch ein Kind lernt! Sie war überhaupt nicht gefragt worden. Ihr Mann hatte es ihr eines Tages einfach mitgeteilt: der Junge müsse nun aus dem Hause, in die Stadt, das Gymnasium besuchen.

Bei der Erinnerung daran hatte Anna einen Augenblick das Gefühl, als könne sie unmöglich wieder in ihr Heim zurückkehren. Was wartete ihrer dort? Aber gleichzeitig fühlte sie auch, daß sie nicht den Mut habe, ihrer Lage zu entfliehen. Der Macht der Gewohnheit nachgebend, dachte sie bald darauf schon wieder darüber nach, was für Besorgungen sie heute für den Haushalt zu machen habe.

7 Anna betrat verschiedene Läden, die sämtlich um den unebenen, am Berghang gelegenen Marktplatz des Städtchens gelegen waren. Man kannte und behandelte sie als geschätzte Kundin. Zuletzt fiel ihr noch ein, daß ihr Mann kürzlich über Rheumatismus geklagt habe, und sie ging in die Apotheke, die Einreibung zu bestellen, welche der Oberförster gegen diese Altersplage anzuwenden pflegte. Dann schritt sie zum Gasthofe. Der Wagen, der sie hergebracht hatte, stand davor auf dem Pflaster, die Deichselstange senkrecht gen Himmel streckend. Sie bat den Wirt, welcher der Frau Oberförster dienstbeflissen entgegenkam, ihr den Kutscher Schrupper zu rufen. Schrupper war Faktotum in der Oberförsterei, eigentlich Waldläufer, aber, wenn es nötig war, kutschierte er auch.

Nach geraumer Weile erschien dieser Getreue, der es, wenn er einmal in einem Gasthause war, nie sehr eilig hatte, davon wegzukommen. Die Quellenhayner Oberförsterei lag einsam für sich im Walde; zur Kirche wie zur Schule hatte man gleichmäßig weit, über eine Stunde Wegs. Die Kirche würde Schrupper, dessen Religion einem primitiven Pantheismus ähnelte, gern drangegeben haben, wenn er den Gasthof dafür um eine halbe Meile hätte näher rücken können.

Schrupper, in gestrickter Ärmelweste, mit einer Jägermütze auf dem grauen Kopfe, fing an, den Braunen anzuschirren. Er nahm sich Zeit dabei, mit jenem 8 bewußten Eigensinn alter Dienstboten, die wissen, daß sie unentbehrlich geworden sind, und es nicht mehr der Mühe für wert halten, Diensteifer an den Tag zu legen. Als das Pferd im Geschirr stand, sämtliche Einkäufe aufgepackt waren und der Waldläufer auf dem Bocke saß, stieg Anna in den zweisitzigen Planwagen. Der Gaul, ein hochbeiniges, etwas überbautes Tier, setzte sich auf einen Zügelruck hin in Bewegung und trabte in der Diagonale über die Untiefen des Marktes von Kupferberg, was so aussah, als gleite ein Boot über eine bewegte Wasserfläche dahin.

Eine Weile ging es bergab, dann zog sich der Weg an einem Flüßchen hin, an dem noch einzelne Häuser eines verstreut gelegenen Dorfes auftraten, schließlich verließ man alle menschlichen Wohnstätten, um sich im Walde wiederzufinden, der auf unübersehbare Strecken Berge und Niederungen bedeckte.

Von jenen heimlichen Schauern, die den Naturfreund ergreifen, wenn er in die Säulenhalle des Waldes eintritt, empfand Anna nichts. Sie kannte das zu genau. In der Quellenhayner Oberförsterei gab es nur zwei Dinge von Interesse: Jagd und Bäume. Alles drehte sich darum.

Anfangs, als sie als junge Frau, achtzehnjährig, aus der Stadt hierher gekommen war, mitten in den Wald hineinversetzt, da hatte auch sie wohl für die Waldespoesie geschwärmt. Aber jetzt, wo sie ganz genau 9 wußte, daß jeder dieser Millionen Stämme im Pflanzgarten aufgezogen, dann in Reihen gepflanzt wird, um schließlich mal gefällt, vermessen und mit einer Nummer versehen, hinausgefahren zu werden, ja daß man Bücher darüber führte und weitläufige Rechnungen, da war für sie das Idyllische geschwunden.

Es hatte Zeiten gegeben, wo sie diesen Wald gefürchtet hatte: die vielen Bäume, die sich aufstellten wie eine Mauer zwischen sie und das wirkliche Leben. Dann war es ihr vorgekommen, als sei sie eingedämmt, gefangen, bewacht von riesigen Schildwachen. Wo sie ging und stand, zu jeder Jahreszeit, das gleichförmige Braun der Nadelholzstämme, das dunkle, ernste Grün ihrer Wipfel. Dann haßte, dann verabscheute sie diese Einsamkeit, die ihr nichts zu sagen hatte, sie nur unendlich traurig stimmte.

Auch heute wieder standen sie hochaufgerichtet steif zu beiden Seiten des Weges, die langweiligen Riesen, in gleichmäßigen Abständen, einer dem andern zum Verwechseln ähnlich. Bis eine Bestandesgrenze kam, die Einblick gewährte in die schier endlosen Räume des Waldreviers.

Man fuhr durch einen ganz alten Bestand. Hundertjährige Tannen mit silberweißen Stämmen, astfrei bis in die Kronen hinauf. Alle Töne klangen hier gedämpft wie in einem mächtigen Gewölbe. Anna erinnerte sich daran, daß ihr Mann zu sagen pflegte, 10 wenn man durch diesen Bestand kam: »Hier ist der Hektar seine Zehntausend wert!« – Kühl und duster, wie in einer Gruft, schien es Anna. Und obgleich sie den Weg nun wohl schon hundertmal gefahren, meinte sie: sie werde nie wieder hinauskommen, nie wieder das Tageslicht erblicken. Wie verwunschen kam sie sich vor. Ein schwerer Alp lag beklemmend auf ihrer Brust.

Da machte sie Schrupper durch eine Bemerkung aufschrecken; sie hatte ganz vergessen, daß da noch ein Mensch sei. Er meinte, mit dem Peitschenstiel in den Wald hineinweisend: »Dort die Buche läßt schon die Blätter; nun wird sich's bald einwintern!«

Eine Buche stand dort als einziger Laubbaum im Nadelholz, überschlank, durch die schneller wüchsigen Nachbarn mit zum Lichte emporgetrieben. Am Boden um sie her ein Kranz gelber und brauner Blätter, der sich von der dunkeln Decke von Streu und Moos lebhaft abhob. Eben sank ein kleines gelbliches Blatt, langsam sich drehend, vom Wipfel zum Boden hinab.

»Nun wird sich's bald einwintern!« – Warum mußte er das sagen? Es war ihr wie ein Stich; ihr, der der Winter so verhaßt war. Im Sommer gab's doch wenigstens eine Art von Leben hier oben. Da kam hin und wieder jemand zu Besuch, man sah menschliche Gesichter, erfuhr etwas von der Welt. Aber im Winter war alles in Schnee vergraben. Wie spärlich 11 und kärglich waren doch alle Freuden zugemessen! Wie kurz ist Sommerlust, und wie endlos lang dagegen der Winter, wie hart, einsam und öde!

Jetzt wußte sie auf einmal, warum ihr plötzlich so unsäglich bang zu Mute geworden war: sie fuhr ja dem Winter entgegen, in die trübe lichtarme Zeit der kurzen Tage und langen Nächte hinein.

Und noch tiefer sank ihr Mut. Bis auf einmal, wie ein plötzlich aus dunkler Nacht auftauchendes Licht, der Gedanke an Weihnachten vor ihr stand.

Ja, Weihnachten! Da würde Hellmut wiederkommen. Für volle vierzehn Tage würde sie dann an ihrem Jungen ein Labsal haben und eine Zerstreuung. Und in der Zwischenzeit konnte man sich vertrösten mit Gedanken an das Fest und an die Überraschungen, die man dem Kinde bereiten wollte.

Dabei fiel ihr das Hirschgeweih ein, das sich Hellmut gewünscht hatte. Hätte sie nur gewußt, wie sie sich das verschaffen könne. Etwa auf einen Augenblick warten, wo ihr Mann in der Gebelaune sein würde? – Aber diese Augenblicke waren so selten!

Ob nicht vielleicht Schrupper Rat wußte. Sie liebte den Waldläufer zwar nicht, aber der Mensch war mit allen Hunden gehetzt, und er besaß das Ohr des Oberförsters.

Anna begann eine Unterhaltung mit dem vor ihr Sitzenden. Sie wußte, daß es ein Thema gab, für 12 das der Alte stets zu haben war: Hellmut. Schrupper war unbeweibt und kinderlos. Der »junge Herr«, wie er Hellmut nannte, seit der die Gymnasiastenmütze trug, war der Abgott des alten Burschen.

Sowie die junge Frau den Namen des Knaben nannte, hellten sich Schuppers verwitterte Züge auf. Als er aber Hellmuts Herzenswunsch vernommen, legte sich sein Gesicht sofort in ernste Falten. Ein Hirschgeweih! Das war keine Kleinigkeit. Der Oberförster sich von ein paar Stangen trennen? . . . Er selbst, Schrupper, wie überhaupt das ganze niedere Forstpersonal, durfte keine Hirsche schießen. Selbst dem Herrn Oberförster war nur eine beschränkte Anzahl zum Abschuß gestattet. Kapitalhirsche wurden für den Landesherrn, der ein großer Nimrod war, reserviert.

Dem Oberförster ein Geweih entwenden, war ausgeschlossen, denn der kannte jedes einzelne Exemplar seiner Sammlung genau und führte Buch darüber. Aber schließlich, die Hirsche werfen ja ab! Schrupper war berühmt dafür, daß er eine Spürnase habe für verlorene Stangen. Zwar hatte er strengen Befehl, alle Jagdtrophäen abzuliefern; aber wenn es galt, Hellmut einen Wunsch zu erfüllen, machte er sich kein Gewissen daraus, eine Unterschlagung zu begehen.

Nach einiger Zeit des Überlegens antwortete der Waldläufer schmunzelnd: »Wird geschafft, Frau Oberförster, wird geschafft! Aber der Herr darf's bei Leibe 13 nicht erfahren!« Dabei warf er der jungen Frau einen verständnisvollen Blick zu.

Anna war zwar durch seine Vertraulichkeit unangenehm berührt, aber sie konnte sich doch nicht entschließen, zu sagen, daß sie keine Unehrlichkeit wolle.

Man war inzwischen an eine Wegekreuzung gekommen. Hier stand, rings von Wald umgeben, ein einzelner Gasthof, weit und breit in der Gebirgseinsamkeit das einzige bewohnte Gebäude. Die Schenke erfreute sich nicht des besten Rufes; es hieß, es sei eine Stätte des Schmuggels, der über die nahe Landesgrenze getrieben wurde. Die Grenzwächter hatten daher ein Auge auf das Haus. Auch Wilddiebereien sollten in früheren Zeiten von hier ausgeübt worden sein.

Zu Annas Staunen hielt Schrupper an, stieg ab und löste einen Strang. Der Braune sei müde, sagte er zur Erklärung, und müsse ausruhen. Dann ging er in die Schenke.

Die junge Frau kannte seine Schwäche. Aber noch niemals bisher hatte er sich unterstanden, hier einzukehren. Das war ein starkes Stück! Sie wollte es ihrem Manne sagen. Aber dann fiel ihr Schruppers Blick von vorhin ein und sein: »Der Herr darf's bei Leibe nicht erfahren!« Das war's! Schon nutzte er ihre Mitwisserschaft des Geplanten aus. Sie 14 bereute jetzt, sich mit dem abgefeimten Burschen eingelassen zu haben.

Er ließ sie lange warten. Dann erschien er, das Gesicht noch um einige Abstufungen dunkler gefärbt als vorher, aber mit sicherem Schritte. Schwanken sah man ihn überhaupt niemals; betrank er sich einmal wirklich, dann war's auch gleich so, daß er liegen blieb.

Der Abend sank herein. Im Walde war es beinahe Nacht. »Jetzt lauft er noch einmal so gut!« sagte Schrupper und trieb den alten Gaul mit Peitsche und Zügel an.

Die Fahrt ging weiter in den Wald hinein. Von hier aus gab es keine menschliche Wohnung bis zur Quellenhayner Oberförsterei. Bald schoben sich die Bäume rechts und links ineinander, bildeten eine große, dunkle, undurchdringliche Wand. Die Fichten griffen mit geisterhaften Händen nach den Vorbeieilenden. Auf den Waldwiesen stand der Nebel in weißen Tüchern. Nur die Baumkronen dahinter ragten frei und stolz zum Himmel, leise sich wiegend und miteinander verkehrend in schamhaftem Nachtgeflüster.

*

Als Anna sich der Oberförsterei näherte, fiel ihr auf, daß die Hausthür offen stand, und daß Leute mit Licht davor standen und laut sprachen. Schrupper, 15 dessen Sinne trotz des Alters nicht nachgelassen hatten, richtete den Kopf nach vorwärts wie ein Jagdhund, der anzieht. »Der Herr hat was erlegt,« sagte er dann, »womöglich den Sechzehnender oben von der Fuchslehde.«

Und so war es auch. Der Oberförster stand auf den steinernen Stufen, die zum Hause emporführten. Vor ihm lag ein Kapitalhirsch, auf frische Brüche gebettet, wie's ihm zukam. Man war eben dabei, ihm das Geweih auszuschlagen. Ein Mann hielt die Stangen mit ausgespreizten Armen, ein andrer leuchtete.

»Frau, ich habe ihn!« rief Oberförster Seltmann, sowie der Wagen anhielt. Schrupper sprang ohne weiteres vom Bocke und gesellte sich den Waldarbeitern zu, die das Stück hereingebracht hatten.

Anna war an dergleichen gewohnt. Tagelang, das wußte sie bereits, würde von nichts andrem gesprochen werden, als von dem erlegten Hirsche. Seit langem schon hatte man ihm nach dem Leben getrachtet. Es war ein besonders schlauer und vorsichtiger Bursche, auf den bereits einigemal geschossen worden war, und der wie gefeit gewesen. Eigentlich gebührten derartig starke Hirsche dem Landesherrn, aber der hier wechselte über die Grenze, war einmal hüben, einmal drüben anzutreffen; darum galt er für vogelfrei, denn niemand wollte ihn dem Nachbar gönnen. Es war daher wirklich ein Ereignis für das Quellenhayner Revier, daß er nun endlich zur Strecke gebracht worden.

16 Der Oberförster war mit dem Ausschlagen zu Ende gekommen. Er verpustete sich von der schweren Arbeit, die er, wie es alter Weidmannsbrauch, stehend, dem Hirsch zu Ehren im vollen Anzuge, ausgeführt hatte; dann sprach er den Erlegten an: »Ein braver Hirsch!« war sein Urteil.

Er begann, seine Frau auf die Schönheiten des Geweihs aufmerksam zu machen. Es war ein ungerader Sechzehnender. Die Rosen und die Stangen weit hinauf mit Perlen dicht besetzt, das Gehörn hoch vereckt.

Anna hörte nur mit halbem Ohre hin. Sie konnte diesen Dingen nun einmal kein Interesse abgewinnen, »Schade, daß Mutchen das nicht erlebt!« sagte sie und ging ins Haus.

Die Männer blieben draußen. Es war von alters her Schruppers Aufgabe, im Quellenhayner Forsthause jedes Wildbret aufzubrechen und zu zerwirken. Er verstand das wie kein andrer. Oberförster Seltmann, ermüdet von der Jagd, hatte sich gesetzt und sah zu, wie der Waldläufer mit kundiger Hand die Haut aufschürfte, das Gescheide herauszog, das Geräusche aus dem Ausbruch ausschied; Herz, Lunge, Leber für den Tisch, das Gescheide für die Hunde.

Der Oberförster war ein stämmiger Mann, dem man die Sechzig, die er auf dem Buckel hatte, nicht ansah. Der Bart, der eigentlich schon unter den Augen anfing, hing ihm, gelbgrauen Flechten gleich, wie man 17 sie manchmal an ganz alten Lärchenbäumen sieht, in langen Strähnen auf den starken Leib hinab. Energisch sprang die Adlernase aus dem Haardickicht vor. Die großen Ohrmuscheln, die niedere Stirn, das Wenige, das man von den Wangen sah, alles von gesunder, braunroter Weidmannsfarbe bedeckt.

Seine Frau war inzwischen im Hause thätig. Die aus der Stadt heimgebrachten Besorgungen waren auszupacken und einzuräumen. Das ganze Haus wurde bald von würzigem Bratengeruch erfüllt; denn es war so hergebracht, daß der Oberförster das, was ihm von Hirsch oder Reh nach Jägerrecht zukam, noch am selben Abende, an dem er das Stück geschossen, verzehrte. Amalie, die Köchin, wußte den Braten herrlich mit Schmoräpfeln und einer pikanten Brühe anzurichten. Die Hausfrau war froh, daß sie alle Hände voll zu thun hatte, so empfand sie doch die Leere, die durch Hellmuts Abreise im Hause entstanden war, nicht so stark.

Bei Tisch zeigte sich der Hausherr außerordentlich aufgeräumt. Sonst konnte sich das Ehepaar oft ganze Mahlzeiten hindurch stumm gegenübersitzen. Aber heute hatte der Oberförster die Geschichte des erlegten Hirsches zu erzählen, und die war nicht kurz.

Wie er auf den Gedanken gekommen war, gerade auf diesem Platze sich aufzustellen, und was ihn zu der sicheren Annahme geführt, daß der Sechzehnender dort 18 heraustreten müsse. Wie es allmählich heller und heller geworden – denn Oberförster Seltmann war auf den Frühanstand gegangen – dann das plötzliche Auftreten des starken Hirsches am jenseitigen Rande der Fuchslehde, zunächst zu weit, um einen sicheren Schuß anzubringen. Und nun die Angst, daß er Wind bekommen könne. Bald darauf Heraustreten eines Tieres mit Kalb auf seiner, des Schützen, Seite. Infolgedessen Näherziehen des Hirsches, erst flüchtig, dann ganz vertraut. Das Anlegen der Büchse, Gedanken dabei. Zielen, endlich der Schuß.

Das alles erzählte Seltmann mit peinlicher Umständlichkeit, wie sie nur der eifrige Jäger zu würdigen versteht. Anna kam es vor, als habe sie dasselbe schon mindestens ein dutzendmal mit angehört; für sie unterschieden sich diese Geschichten kaum voneinander.

Aber mit dem Schuß war die Sache noch keineswegs abgethan, nun wurde sie, nach Ansicht des Erzählers, erst recht eigentlich interessant.

Er war gut abgekommen, der Hirsch hatte gezeichnet, war aber doch noch flüchtig geworden und quer über die Fuchslehde abgezogen, zum Schrecken des Schützen die Richtung nach der Reviergrenze, die hier gleichzeitig Landesgrenze war, nehmend. Nachsuchen wollte er nicht sofort, wohl wissend als erfahrener Jäger, daß man dem verwundeten Wild Zeit lassen muß, sich niederzuthun und krank zu werden. Aber das Herz 19 bebte ihm bei dem Gedanken, daß ihm der Kapitalhirsch abermals entgehen sollte. Er hatte einen Bruch auf den Anschuß gelegt und sich entfernt. Auf dem Nachhausewege begegnete er Waldarbeitern, die den Schuß gehört und einige Zeit darauf etwas durchs Dickicht hatten brechen hören. Er schickte daraufhin einen der Männer nach der Oberförsterei, »Findig«, den Schweißhund, am Leitseile zu holen. Es dauerte geraume Zeit, bis der Mann mit dem Hunde zurück war. Nun wurde zum Anschuß zurückgegangen und Findig auf die Fährte gesetzt. Sie führte zur Grenze. Hellroter Schweiß zeigte, daß der Hirsch zwar angeschossen, aber nicht ins Leben getroffen sei. Die Fährte ging über die Grenze. Zähneknirschend mußte der Schütze den Hund an der Fangleine zurückziehen.

Aber nun fiel ihm ein, daß die Stelle, wo die Arbeiter das auffällige Geräusch gehört haben wollten, doch viel weiter in sein Revier hinein gelegen sei. Er begab sich also, obgleich mit wenig Hoffnung, dorthin. Inzwischen war die Mittagsstunde herangekommen. Diesmal wurde der Hund freigelassen; Findig verschwand und blieb lange Zeit aus. Endlich schien er von neuem eine Schweißfährte angefallen zu haben. Der Hirsch hatte wohl also doch einen Haken geschlagen und befand sich auf diesseitigem Revier. Jetzt führte der Hund gerade in eine Fichtendickung hinein, man hörte ihn anschlagen, abgebrochen, unsicher, bald hier, 20 bald da, als verfolge er, schließlich gab er Standlaut. Es konnte kein Zweifel mehr sein, das Wild hatte sich dem Hunde gestellt. Mühsam schlug sich der Schütze durch das Dickicht, um jenseits auf einer Lichtung den Hirsch mit gesenktem Kopfe vor dem Hunde zu finden. Ein zweiter, glücklicherer Schuß machte dem Kampfe ein Ende.

Anna hatte alles das über sich ergehen lassen, ja mit scheinbarem Interesse zugehört. Sie wollte ihrem Manne gerade heute die Laune nicht verderben. Denn sie hatte einen Plan, den durchzusetzen sie nur hoffen durfte, wenn der Hausherr bei guter Laune blieb.

Es handelte sich um Franziska, die Magd. Sie war der Hausfrau ein Dorn im Auge mit ihrer Langsamkeit. Schon längst arbeitete Anna an ihrem Sturz, aber der Oberförster wollte sich nicht von diesem Dienstboten trennen, weil Franziska bereits seiner ersten Frau in Treue gedient hatte. Anna fühlte diese Anhänglichkeit natürlich nicht, sie sah nur die Fehler der Alten, die ihr schon manche schwere Stunde bereitet hatten. Ihr Wunsch war seit langem, sich ein wirkliches Stubenmädchen halten zu können. Aber bei ihrem Gatten war sie bisher mit diesem Anliegen auf taube Ohren gestoßen. Es war früher so gegangen, also konnte es auch weiterhin so gehen. Der Grund, den seine Frau anführte, daß die Damen in der Stadt alle ihr Stubenmädchen hätten, war für Seltmann nicht stichhaltig. 21 »Du bist eine einfache Forstmannsfrau,« pflegte er darauf zu erwidern. »Und eine Oberförsterei ist keine Villa!« Es war eine von Seltmanns Eigentümlichkeiten bei bestimmten Anlässen denselben Grundsatz mit denselben Worten immer und immer zu wiederholen. So hetzte er ein solches Wort, das vielleicht einmal treffend gewesen, durch stete Wiederholung zu Tode.

Wenn irgend etwas, so war es gerade diese eigensinnige Schwerfälligkeit, die Anna an ihrem Mann so verhaßt war. Zur Verzweiflung konnte er sie damit treiben, ihr beweglicheres Temperament stand dem völlig ohnmächtig gegenüber; wie an einen Block geschmiedet, den nichts von der Stelle zu rücken vermag, fühlte sie sich.

Jetzt stand man nun wieder mal vorm Quartalswechsel, da wäre es Zeit gewesen, zu kündigen. Ein Vierteljahr noch wollte sie's aushalten, aber zu Neujahr mußte nun endlich der längst ersehnte Wechsel eintreten.

Sie ließ den Gatten die Wildleber aufessen, sie redete ihm zu, sich ein Glas Wein zu gönnen, das er sich heute redlich verdient habe. Dann, als Franziska abgedeckt hatte und er in der gewohnten Sofaecke lehnte, seine Pfeife schmauchend, vor Müdigkeit und Wohlbehagen stöhnend, neben ihm auf dem Polster »Findig«, der heute zum Lohne für seine Großthat den 22 bevorzugten Platz teilen durfte, fing Anna an, zunächst nur ihren Plan vorbereitend, all die Dummheiten und Nachlässigkeiten aufzuzählen, die Franziska wieder in den letzten Wochen begangen hatte, um schließlich mit dem unverhüllten Verlangen vorzutreten, das Haus müsse nun endlich von ihr befreit werden.

Die junge Frau stieß heute zu ihrem eignen Staunen nicht auf den gewohnten Widerstand. Der Alte seufzte zwar und meinte, er thäte es ungern, zählte auch alle Verdienste Franziskas aus längst entschwundenen Zeiten noch einmal auf, meinte aber schließlich resigniert: es werde wohl doch nicht anders gehen, man werde eine jüngere Kraft annehmen müssen; denn, so schloß er, sie bekämen nächstens einen fremden Herrn ins Haus.

»Einen Eleven?« fragte Anna befremdet; es war das erste Wort, was sie darüber hörte.

»Unsinn, Eleven! Mit dem Abführen solch junger Köter geben wir uns nicht mehr ab, nicht wahr, Findig?« Damit kraute er den Hund hinter den Behängen, der seine Zustimmung durch behagliches Knurren zu erkennen gab.

Anna kannte ihren Mann; die wichtigsten Dinge behielt er stets für sich, sprach niemals mit ihr über seine Pläne, teilte ihr immer nur Thatsachen mit. Es that ihr doch stets von neuem weh, wenn sie sehen mußte, wie über ihren Kopf weg entschieden wurde.

23 »Ja, ja!« sagte der Oberförster und wendete sich dabei nicht an seine Frau, sondern an den Hund, den zu liebkosen er fortfuhr. »Wir bekommen vornehmen Besuch, Findig! Ein Herr Major und dazu Freiherr! Zeit seines Lebens am Hofe gewesen, und jetzt will der Herr Forstmann werden. Wird sich umsehen, der Herr Baron! Der grüne Rock ist gar schön, aber er will verdient sein. Wir haben ihn uns verdient – wir – nicht wahr, Findig?«

Anna war gekränkt durch seine Art, aber die aufgefangenen Brocken hatten doch ihre Wißbegier gereizt.

»Wird denn der Herr, von dem du da sprichst, auf längere Zeit zu uns kommen?« fragte sie.

»Vorläufig soll er auf ein Jahr bei mir bleiben. Denkt wahrscheinlich auch, es wird ihm nur so anfliegen, wozu unsereiner ein Leben gebraucht hat.«

»Und ein Herr vom Hofe, sagst du, ist das?«

»Gewesen, gewesen! Flügeladjutant, oder wie sie das nennen. Na, ich werde mich seinetwegen nicht genieren; dazu sind wir zu alt – nicht wahr, Findig?«

Anna blickte schweigend vor sich hin. Das, was sie hatte durchsetzen wollen, Franziskas Entlassung, trat jetzt gänzlich in den Hintergrund vor dem Neuen, das sie eben erfahren. Ein fremder Herr ins Haus! Sie erschrak bei dem Gedanken. Was für eine Umwälzung mußte das hervorrufen in allem! Wie würde 24 sie als Hausfrau den Ansprüchen gewachsen sein, die so einer stellte!

Sie fragte kleinlaut, ob es schon fest beschlossene Sache sei, ob sich denn nichts mehr daran ändern lasse.

»Da beißt keine Maus einen Faden mehr von ab, Frau!« rief der Oberförster. »Wir haben Kontrakt! Er hat ein Quartal schon im voraus bezahlt, Pension, alles inbegriffen. Das ist abgemacht. Erst hat er Vorträge gehört an der Akademie, und nun will er die Geschichte praktisch erlernen. Na, immerzu! Viel Gescheites wird nicht dabei herauskommen. Aber des Menschen Wille ist sein Himmelreich! Und warum sollte ich denn das Lehrgeld nicht mitnehmen? – Im übrigen wird man's ja erleben! Ich sehe der Sache jedenfalls mit Seelenruhe entgegen.«

*

Obgleich Anna unter der Einsamkeit des Quellenhayner Forsthauses litt, war sie doch schon so sehr dem Verkehr mit Menschen entfremdet, daß der Gedanke, ein neues Gesicht an ihrem Tische zu sehen, sie geradezu beängstigte. Und nun gar ein Herr, der aus einer glänzenden, ihr fremden Welt stammte!

Ihr Vater war Kaufmann gewesen. Er hatte in einer mittelgroßen Stadt zu den Ersten seines Standes 25 gehört. Anna war aus einer stattlichen Geschwisterzahl die Jüngste.

Es war flott zugegangen im väterlichen Hause. Weitgehende Gastfreundschaft wurde geübt. Der Vater, ein lebenslustiger, weit herumgekommener, vielseitiger Mann pflegte mannigfaltige Interessen und sorgte für eine gute Erziehung seiner Kinder. Die ganze Familie gewöhnte sich an eine behagliche, geschmackvolle Lebensweise.

Nun starb der Vater im besten Mannesalter. Der Nachlaß war bestürzend gering, dazu das Geschäft ungeordnet. Das behagliche Leben war mit einem Schlage beendet. Die Familie ging auseinander. Die Söhne suchten sich ihren Lebensunterhalt auswärts. Die Töchter hatten bis auf die Jüngste bereits geheiratet; für Anna hieß es nun eine Versorgung finden.

Ein junger Mann, der sich dem anmutigen jungen Mädchen bei Lebzeiten ihres Vaters in der unverkennbaren Absicht genähert hatte, um sie zu werben, zog sich schnell von der Verarmten zurück. Bei der Enttäuschung, welche sie darüber empfand, wurde es ihrer Umgebung leicht, sie zu einer Vernunftheirat zu bewegen. Ein alter Bekannter der Familie, vor einiger Zeit Witwer geworden, begehrte sie zur Frau. Der Unterschied der Jahre war groß, aber manches sprach doch für die Partie.

Oberförster Seltmann lebte, wenn auch nicht in 26 glänzenden Verhältnissen, so doch in durchaus gesicherter Lage. Seine Stellung war eine selbständige und keinem Zufall unterworfen; sollte er, was bei seinem Alter nicht unwahrscheinlich, vor ihr sterben, so war der Witwe eine Pension sicher. Die Kinder aus erster Ehe waren erwachsen und befanden sich außer dem Hause.

Dazu kam für Anna noch besonders der Gedanke an die Naturschönheit, die Waldesluft, die Einsamkeit der Berge. Sie hatte die Sehnsucht: weg aus ihrer bisherigen Umgebung, dem Schauplatze, wo sie in ganz andern, glücklicheren Verhältnissen gelebt. Zum Vergessen schien die Quellenhayner Oberförsterei, dieser entlegenste Winkel des Landes, gerade gut.

Ihre Mutter ging mit ihr. Während der ersten Jahre verlief das Leben äußerlich ruhig, wie es sich Anna nicht angenehmer wünschen konnte. Ein Sohn wurde geboren; das Kind gab genug Arbeit. Überhaupt fehlte es daran nicht. Die Vorräte für den Haushalt waren hier oben, fern jeder Bahnverbindung, nicht leicht zu beschaffen. Der Oberförster zeigte sich zudem keineswegs als ein leicht zu befriedigender Hausherr, dabei war er ein Feind jeder unnützen Ausgabe, kurz, Anna, die an eine Wirtschaft aus dem Vollen gewohnt war, mußte oft ernstlich nachsinnen, wie sie ihr Wirtschaftsgeld einteilen solle, um auszukommen. Und nun fiel auch noch die Mutter in dauerndes 27 Siechtum. Neue Sorge und neue Last für Anna. Die junge Frau kam über den schweren Pflichten, die ihr das Leben auferlegte, kaum zur Besinnung, jedenfalls nicht zum Grübeln; sie war froh, wenn sie ihr Tagewerk vollbringen konnte.

An kleinen Aufregungen fehlte es nicht; vor allem gab der heranwachsende Knabe Anlaß dazu. Hellmut war ein lebhaftes, phantasievolles Kind, mehr nach dem Herzen der Mutter geraten, als nach dem Sinne des Vaters. Der Oberförster hatte drei Söhne großgezogen; aus allen dreien war etwas geworden, wie er gelegentlich mit Genugthuung zu erwähnen für nötig fand. Er war der Ansicht, daß solcher Erfolg der erzieherischen Einwirkung der Hundepeitsche zu verdanken sei, mit der er nicht gegeizt hatte. Er begann auch bei Hellmut diese erprobte Methode anzuwenden. Freilich bedachte er dabei nicht, daß der Sohn seiner zweiten Frau aus ganz anderm Holze geschnitzt sei, als seine drei älteren Söhne, die mehr oder weniger Durschnittsmenschen waren. Die Schwierigkeiten, welche das jüngste Kind machte, verdrossen den alten Mann und störten ihn in seiner Bequemlichkeit. Gelegentlich bekam es Anna zu hören, daß mit ihr die Unruhe Einzug gehalten habe in der bisher so friedlichen Quellenhayner Oberförsterei. Anna, anfangs tief verletzt durch solche Vorwürfe, gewöhnte sich im Laufe der Zeit so daran, daß sie sie kaum noch vernahm.

28 Zwei Ereignisse waren es, welche dem Leben in der Oberförsterei ein gänzlich verändertes Gepräge gaben: Annas Mutter starb. Die junge Frau war dadurch um eine dem Herzen wohlthuende Sorge ärmer. Und bald darauf ein Verlust, der sie nicht minder schwer traf: Hellmut mußte das väterliche Haus verlassen.

Der Anlaß dazu war folgender: Infolge der rauhen Behandlung hatte der feinfühlige Knabe den Vater mehr fürchten als lieben gelernt, unwillkürlich schloß er sich den Frauen an, bei ihnen Schutz vor der Härte des Vaters suchend. Und je mehr der Oberförster sah, daß er sich ein Muttersöhnchen heranziehe, desto schärfere Saiten hielt er aufzuziehen für notwendig. Die Mutter nahm natürlich Partei für das Kind und vertuschte gelegentlich eines seiner kleinen Vergehen, um ihren Liebling vor Züchtigung zu schützen. Es konnte nicht fehlen, daß der Oberförster allmählich dahinter kam. Er sah ein, daß hier etwas geschehen müsse, und fragte einen Mann um Rat, auf dessen Ansicht er viel gab. Es war dies Pastor Waibel, Pfarrer im nächsten Kirchdorfe, ein Verwandter der ersten Frau des Oberförsters.

Der Rat Pastor Waibels ging dahin, Hellmut aus dem Hause zu thun, um den Jungen dem mütterlichen Einfluß, der kein günstiger zu sein scheine, zu entziehen.

29 Anna hatte sich in zehnjähriger Ehe an manche Zurücksetzung gewöhnen müssen, so daß sie bis zu einem gewissen Grade abgestumpft war, aber dieses Erlebnis verwundete sie dort, wo Frauen am empfindlichsten sind. Daß ihr Mann auf solche Verdächtigung gehört hatte! Daß er daraufhin ihr das Schwerste hatte anthun dürfen: sie von ihrem Kinde zu trennen! davon würde ein Stachel sitzen bleiben für alle Zeiten.

Das Haus war leer und das Leben schal für die junge Frau geworden, seit die beiden liebsten Menschen von ihr gegangen. Mutchen kam ja in den Ferien, aber das zeigte der Mutter erst recht, was sie verloren. Mehr und mehr wuchs das Kind heraus aus der Hilflosigkeit. Das empfand Anna bei jedem Wiedersehen mit erneuter Deutlichkeit. Wie erschreckend schnell es ging, dieses Selbstständigwerden! Bald würde er ihrer überhaupt nicht mehr bedürfen!

Und weiter besaß Anna ja nichts. Die Brücken, die sie zur eignen Kindheit hätten zurückführen können, waren abgebrochen. In den ersten Jahren kamen wohl noch hie und da Verwandte und alte Freunde, sie zu besuchen; aber die blieben mit der Zeit auch weg. Man hatte sie vergessen, der Weg war wohl auch zu weit und zu umständlich hier herauf. Korrespondenzen mit Freundinnen, die sie eine Zeitlang geführt, waren eingeschlafen, die Bücher, die sie mitgebracht, längst zum Überdruß gelesen.

30 Anna mußte jetzt, wo sie so viel Muße zum Nachsinnen hatte, oft an ihre glückliche Mädchenzeit denken. Was hatte sie da alles gehabt an Zerstreuung für Geist und Gemüt. Damals waren im elterlichen Hause mannigfaltige Bedürfnisse höherer Art in ihr geweckt worden, der Sinn für Geselligkeit und geschmackvolle Unterhaltung. Sie hatte sich in allerhand Künsten und Handfertigkeiten geübt. Das war seitdem alles liegen geblieben. Es fehlte die Anregung, es fehlten die Augen, für die es sich verlohnt hätte, dergleichen zu entfalten.

Was es an Geselligkeit hier oben gab, das beschränkte sich für Anna auf dem Umgang mit den Frauen der benachbarten Forstleute. Das waren einfache, herzlich gute Geschöpfe, deren Ehrgeiz nicht über den Wunsch hinausging, das Hauswesen zur Zufriedenheit ihrer Männer zu versehen. Die einzige Frau von höherer Bildung war die Gattin eben jenes Pastors Waibel, der Hellmuts Entfernung aus dem Elternhause veranlaßt hatte. Aber gegen diese Dame hatte Anna von Anfang eine ausgesprochene Abneigung gefaßt. Die Frau Pastorin, eine ältere kinderlose Person, suchte etwas darin, Anna empfinden zu lassen, wie jung und unerfahren sie sei, und wie dankbar sie ihrem Manne sein müsse, daß er sie geheiratet habe. Mit Vorliebe sprach sie von der verstorbenen Frau Seltmann, und wie es zu deren Zeiten doch ganz anders im 31 Quellenhayner Forsthause gewesen. Diese und ähnliche Sticheleien trugen natürlich nicht dazu bei, die junge Frau zu erfreuen. Man kam in kein rechtes Verhältnis zu einander.

Anna verstand sich oft selbst nicht mehr. Jene Anna, die als Mädchen so lustig und unbefangen in den Tag hineingelebt hatte, schien ihr heute eine fremde, gänzlich ferngerückte Person zu sein. Ihre Vergangenheit lag vor ihren Blicken wie eine Landschaft, deren fernstes Ende hell erleuchtet ist von einem Sonnenblicke; was zwischen ihr und jenen heiteren Gefilden lag, war grau und wurde düsterer und düsterer, je länger sie darauf blickte.

Im letzten Sommer war sie in Erbschaftsangelegenheiten ihrer Mutter mit dem Oberförster in der Landeshauptstadt gewesen. Ein Leiden, das sie plötzlich befiel, zwang sie, den Arzt zu befragen. Bisher hatte ihr so gut wie nie etwas Ernsthaftes gefehlt. Der Doktor, ein bekannter Frauenarzt, untersuchte sie und erklärte sie für hochgradig nervös, sie müsse einen Luftwechsel vornehmen; womöglich Seeluft, empfahl er.

Anna war selbst erstaunt über die Äußerungen des gelehrten Mannes. War sie nervös? Was bedeutete das Wort überhaupt in ihrem Falle? Ueber ihren Gesundheitszustand hatte sie niemals ernster nachgedacht; wenn sie sich unbehaglich gefühlt, so hatte sie das auf ganz andre Ursachen zurückgeführt.

32 Oberförster Seltmann war sehr wenig erbaut über das, was der berühmte Arzt seiner Frau da in den Kopf gesetzt hatte. Das sei alles Unsinn, behauptete er. Einen gesünderen Aufenthalt als den Wald gebe es nicht. Er selbst sei ein beredtes Zeugnis dafür, denn er habe unter Bäumen seine Sechzig erreicht, und bis auf das bißchen Reißen im Beine fehle ihm nichts. Nein, von Luftwechsel und Seebädern wollte er kein Wort mehr hören. Anna habe ja doch alles, was der Mensch sich nur wünschen könne, bei ihm.

 


 


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