Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Dem Schneefall war bald Tauwetter gefolgt. Die Zeitung meldete vom Steigen der Flüsse und von Wasserfluten, die drunten in der Ebene viel Schaden angerichtet haben sollten. Hier oben merkte man davon nichts; der Wald mit seinem moosigen Grunde sog das Schneewasser in sich ein und speicherte es vorsichtig auf, recht wie ein kluger Hausvater, der in Zeiten des Überflusses an magere Tage denkt, um später, wenn die Ebene in Sommerdürre lechzt, von seinem Vorrate abgeben zu können.
Noch lag an schattigen Stellen in Abgründen und Schluchten der Schnee, aber am Waldesrande nach 75 Süden zu, wo die Sonne anprallte befreite sich schon junges Leben.
Die Anemonen gucken hervor. Ihre Pracht ist vergänglich wie Kindesschönheit; milchzart sind sie, im Blühen schon welkend, man würde sie gänzlich übersehen, wenn ihrer nicht so viele bei einander stünden. Ihre Geschwister, die Himmelschlüssel halten noch zurück. Die Grashalme dagegen beginnen sich zu recken, jeder für sich, als wäre er was Rechtes. Es ist ein Leben und Streben des kleinen Volkes. Die Bäume sind noch tot oder scheinen wenigstens so; sie wollen sich die Maskerade zu ihren Füßen eine Weile mit ansehen, ihre Zeit kommt später. Erhaben blicken die hohen Fichten drein, sie haben den Rummel nun schon manch liebes Jahr gesehen; auf den Winter muß Frühjahr folgen, sie wissen es ganz genau, wozu sich so beeilen! – Die Salweide ist allen voraus auf dem Plane mit honiggelben und silbergrauen Kätzchen. Sie nimmt die Zeit wahr. Jetzt ist sie noch die Vielgesehene, die Allbewunderte; später, wenn sich aus ihrem Schmucke erst die unscheinbaren Blätter entwickelt haben werden, dann wird sie zum Aschenbrödel unter den schöneren Geschwistern. Auch mit der Birke geht etwas vor. Wie ein Schleier liegt es über ihrer jungfräulichen Gestalt. Überzart, spröde, durchsichtig, ein wenig gebückt steht der weiße Stamm, gekrönt von dem lila schimmernden Rutengewirr des Wipfels. Sie scheint 76 selbst nicht zu wissen, wo das mit ihr hinauswill: diese tausend schwellenden Triebe zum Aufbrechen bereit. Bald wird auch sie in Blüte stehen, hell leuchtend, lieblich und keusch mitten im Ernste des Schwarzholzes, wie ein Mädchen, daß sich unter Männer verirrt hat.
Der Wald wartet, der treue Wald! Der Lenzeshauch, der jetzt mit seinen Wipfeln spielt, schmeichelt ihm nur; ganz anders hat der Wintersturm zu ihm gesprochen. Da ging es ums Leben. Wer da nicht stark war in Kern, Splint und Wurzelwerk, der lag, ehe er sich's versehen, zerschmettert am Boden.
Noch wirbelt eine Menge alten Laubes umher, friedlos, ratlos, jedem Windstoße preisgegeben – landstreichendes Volk ohne Heimat.
Krähen stolzieren auf der nassen Wiese. Der Hase geht seinem verliebten Treiben im Unterholze nach, wo so leicht kein Auge hindringt. Die ersten Sänger üben schüchtern ihre Kehlen. Es ist Vorfrühling. Alles noch jugendlich schülerhaft, nur so versuchsweise. Das Große soll erst noch kommen, das fühlen auch diese Kleinen.
Über den Bergen liegt ein Dunst, milchweiß ist der Himmel, die Erde buntscheckig, braun der Sturzacker, gelbgrau Stoppel und Brache, dazwischen hie und da eine fastgrüne Wintersaat. Dieses Grün, so prächtig leuchtend unter all den alten, toten, schmutzigen, 77 bleichsüchtigen Tönen. Wie sich das so hat unter der Schneedecke entwickeln können! – Man kann auch leben in Kälte und Finsternis, abgeschlossen von allem Licht, aller Freiheit, fern aller Wärme, unter eisiger Decke.
Einmal muß der Schnee ja doch schmelzen, einmal wird die Saat den blauen Himmel über sich lachen sehen, einmal muß es doch Frühling werden . . .
Anna sah von diesen stillen Wandlungen des Lebens nichts. Seit Monaten vegetierte sie in der dumpfen Luft des Krankenzimmers. Und doch stieg ihre tief gesunkene Zuversicht und Lebensfreude unmerklich, unaufhaltsam, wie der Saft im Baume steigt aus unerforschter Quelle, von wunderbaren Kräften getrieben und angezogen, bis er alle Zweige erfüllt hat hinauf zu den äußersten Enden. Auch sie stand voll zurückgedrängter Lebenslust, bereit zum Grünen, des Sonnenblickes wartend, der alle ihre Blüten mit einem Male wachküssen würde.
Träumerisch und in sich gekehrt ging sie einher all die Zeit über. Die häuslichen Pflichten erfüllte sie mit Hingabe. Mit zarterer Hand noch als vordem pflegte sie den Rekonvalescenten. Innige, feierliche Frömmigkeit erfüllte sie allen Menschen gegenüber. Als trage sie Feiertagskleidung, so kam sie sich selbst vor; als schwebe etwas in der Luft wie Veilchenduft, war es ihr zu Sinne. Alles schien gewandelt, verjüngt, 78 jedes Ding, jeder nüchterne Vorgang hatte an Bedeutung gewonnen. Sie stand mit einem Male von Ehrfurcht ergriffen vor dem Leben, das so viel besser war, als sie es je geahnt.
An die Zukunft dachte Anna nicht, wollte sie nicht denken. Sie begehrte nichts, die Gegenwart war so schön. Was etwa noch kommen konnte, mußte ja den zarten Schleier, der jetzt die Dinge umgab, zerstören.
Sie sah den Major nur ganz selten. Früh in zeitiger Morgenstunde hörte sie ihn sein Zimmer verlassen und die Treppe hinabgehen. Dann pflegte er den Hundezwinger zu öffnen, um Unkas herauszulassen. Anna konnte das von ihrem Zimmer aus sehen. Dreißig Schritt nur von ihr entfernt stand er da unten, nicht ahnend, daß er beobachtet werde. Wie der Hund wedelnd an ihm emporsprang, außer sich vor Freude, den Herrn wieder zu sehen, wie der Herr sich zu dem edeln Tiere niederbeugte, es zu liebkosen. – Sie konnte sich an dem einfachen Vorgange, der sich jeden Morgen wiederholte, nicht sattsehen.
Dem Manne, den ihre Gedanken so umschwebten, zu begegnen, vermied sie. Sie scheute sich vor dem Zusammensein mit ihm. Mußte er ihr nicht ansehen, wie es mit ihr stehe?
Ganz für sich wollte sie ihr Geheimnis behalten, es behüten, davon zehren, aber von keinem Auge seine Heimlichkeit entweihen lassen.
79 Oberförster Seltmann war jetzt wieder so weit hergestellt, daß er an sonnigen Tagen gut verwahrt in der Laube vorm Hause sitzen konnte. Hier empfing er die Frühjahrssonne, die seinen alten Gliedern wohlthat, aus erster Hand. Rüstädt suchte ihn dort gelegentlich auf und berichtete ihm über den Fortgang der Kulturarbeiten. Der alte erteilte seine Anweisungen und Befehle: daß dort Hügelpflanzung gemacht werden müsse, während an einer andern Stelle Saat angezeigt sei; wo Fichte, wo Kiefer, wo Tanne hinkommen solle.
Jetzt im Frühjahr drängte die Arbeit, und Seltmann verwünschte oft genug mit kräftigen Ausdrücken sein Leiden, das ihn gerade in dieser wichtigen Zeit dem Forste fernhielt. Rüstädt übernahm gern die Beaufsichtigung der Pflanzerkolonnen. Eintönig schien es zwar, vom frühen Morgen bis in die sinkende Nacht dazustehen und einem Haufen Weiber und halbwüchsiger Kinder auf die Finger zu sehen, daß die Entfernung der einzelnen Pflanzen genau innegehalten, die Hügel nicht zu niedrig angehäuft, die Bäumchen richtig in das Erdreich eingedrückt und die Wurzeln mit Boden bedeckt würden. Aber auch hier half ihm wieder die Freude an der Sache, welche ihm nichts unwichtig erscheinen ließ.
So hatte Rüstädt noch nie das Erwachen der Natur beobachten können wie in diesem Frühling, so aus nächster Nähe. So hatte er sich selbst noch nie 80 als ein Teil gefühlt der wachsenden, sich verjüngenden Welt. Die milden Lüfte umschmeichelten ihn wie die Wellen eines linden Bades, er fühlte, wie die Liebkosung eines jeden Sonnenblickes auch in ihm etwas hervorlockte: ein Keimen und Sprossen, das die Hüllen sprengen wollte, ein Pochen des Blutes, ein machtvolles Emporquellen aus dem innersten Grunde allen Seins.
Wenn sein Blick über die feinen Konturen der fernen Berge schweifte, Formen, die ihn in ihrer edeln Keuschheit oftmals entzückt hatten, dann fühlte er, daß ihn das heute nicht befriedige. Er wollte etwas ihm Näheres, eine minder kalte, nicht unerreichbare Schönheit. Und wenn abends der Ruf der Holztaube aus den Wipfeln erklang, ein langgezogener, gurrender Laut, der um Erhörung warb, dann wußte er was es sei, fühlte eine leere Stelle, ein sehnendes Verlangen, fast wie einen körperlichen Schmerz.
Was für ein Thor man doch war! In seinem Alter noch nicht über dergleichen hinaus zu sein! Und doch, was konnte der Mensch dafür, wenn auch in ihm wie in Grashalm, Baum und Tier der Frühling den Kreislauf des Lebenssaftes beschleunigte! War es ein Unrecht, die Natur ihre stillen Wunder wirken zu lassen?
*
Hellmut war zu den Osterferien eingetroffen. Er zeigte sich vom ersten Tage ab merkwürdig still und 81 machte nicht den Eindruck eines Jungen, der, auf vierzehn Tage vom Schulzwange befreit, im Elternhause Freiheit genießen darf.
Natürlich fiel der Mutter sein verändertes Wesen auf. Sie nahm den Jungen beiseite und fragte ihn aus. Nach einigem Zögern und Winden kam es denn heraus: er hatte keine guten Zensuren.
Mit Ach und Krach war er versetzt worden. In Aufmerksamkeit und Fleiß hatte er »ungenügend«, und in einem Briefe, den ihm sein Pensionsvater an die Eltern mitgegeben, stand zu lesen, daß Hellmut, nachdem er bisher stets Eifer an den Tag gelegt, sich im letzten Quartal auffällig zerstreut und nachlässig gezeigt habe. Zurückgeführt wurde diese Wandlung auf allzu eifriges Lesen von Indianergeschichten, die dem Jungen den Kopf völlig verdreht hätten.
Das war nun freilich schlimm! Unter Thränen versprach der Junge seiner Mutter, daß er sich in Zukunft bessern wolle. Sie war ihm nicht einen Augenblick böse, die schlechte Zensur machte auf sie nur geringen Eindruck. Aber mit Hellmut fürchtete sie sich vor dem Vater, der keinen Spaß verstand. Wie würde er die Nachricht aufnehmen, gerade jetzt, wo er besonders grillig und leicht erregt war! Die größte Angst hatte sie davor, daß sich der Oberförster wieder an seinen Verwandten, Pastor Waibel, wenden könne, der ja damals Hellmuts Entfernung aus dem 82 Elternhause veranlaßt hatte. Dieser Herr war in letzter Zeit mehr als einmal dagewesen, um den Kranken zu besuchen und zu trösten, – wie Anna, die ihm nie viel Gutes zugetraut hatte, aber stillschweigend annahm: um zu schnüffeln. Wenn sich Pastor Waibel etwa in die Sache mischte, dann wußte sie genau, daß der Ausgang für ihren Jungen schlimm sein werde.
Guter Rat war teuer. Sollte man den Brief mit seinem bösen Inhalt vielleicht zu verheimlichen suchen, bis Mutchens Ferien vorüber, damit der Zorn des Oberförsters dann nur sie treffen könne und nicht mehr das Kind? Und doch auch widerstand es ihr, den Jungen zum Mitwisser solcher Heimlichkeiten zu machen. Wenn ihr nur jemand hierin hätte einen Rat geben können!
Auch der Major merkte etwas. Das gedrückte, kopfhängerische Wesen des Knaben, der doch früher so offen und lebenslustig gewesen, fiel ihm auf. Aus Hellmut selbst war nichts herauszubekommen. Rüstädt fragte daher eines Tages die Mutter, als er ihr zufällig begegnete, darüber aus.
Anna zögerte mit der Antwort; seine Anrede kam ihr zu überraschend, verwirrte sie völlig. Und doch durchzuckte es sie freudig, daß er ihr Gelegenheit bot, ihr Herz auszuschütten. Denn im geheimen hatte sie keinen heißeren Wunsch, als sich ihm anzuvertrauen. 83 Wenn es einen Menschen gab, der hier helfen konnte, so war er es, er mit seinem feinen Takt, mit seiner vornehmen Herzensgüte!
Sie hatte überhaupt ihm gegenüber das Gefühl, daß er vieles in ihrem Leben zurechtrücken könne, wenn er nur wollte. Woher ihr die Zuversicht kam, wußte sie nicht, aber eines stand für sie fest: er war gütig und freundlich. Sie sah es seinen Augen an, fühlte es aus seinem Lächeln heraus, erkannte es an tausend kleinen Zügen, die nur eine Frau beobachtet: er war ein guter Mensch. Ihm konnte man Vertrauen schenken, ihm durfte man glauben. Er würde gewiß auch hierin das Rechte für sie finden!
Nachdem der erste Schreck über seine unvermutete Anrede gewichen, war ihr die Zunge gelöst. Sie sprach offener als sie es selbst jemals für möglich gehalten hätte zu ihm, über eine Angelegenheit, die doch zu den intimeren des Familienlebens gehörte.
Rüstädt nahm sofort lebhaften Anteil an der Sache. Er fühlte sich selbst in gewissem Grade schuldig an Hellmuts Mißgeschick; denn er war es ja gewesen, der dem Jungen zu Weihnachten den »Lederstrumpf« geschenkt hatte. Die Folgen thaten ihm herzlich leid. Auch die Sorge der Mutter begriff er und vermochte sie mitzufühlen. Er wünschte, wenn es irgend anging, eine harte Züchtigung von seinem jungen Freunde fernzuhalten. Aber gegen den Gedanken, dem Vater die 84 unangenehme Nachricht vorzuenthalten, war er durchaus eingenommen. Das würde einer Unterschlagung gleichkommen, die sich früher oder später doch bestraft machen werde. Aber er erklärte sich bereit, die Vermittlung zu übernehmen dem Oberförster gegenüber. Da er selbst ja die unschuldige Ursache gewesen zu dem Unglück, wollte er auch die Folgen auf seine Kappe nehmen. Er würde also vor den Vater treten, ihn mit dem unerfreulichen Inhalt des Briefes und der Zensur bekannt machen und, wenn nötig, das Strafgericht verhindern.
Die Dankbarkeit, welche die junge Frau an den Tag legte, erschien dem Major etwas überschwänglich. Was für sonderbare Wesen waren doch diese Frauen! Sie zitterten vor einem Nichts, das die Phantasie zu einem Ungeheuer aufgebauscht hatte; über einem drohenden Wölkchen, das sich zeigte, konnten sie alle Fassung verlieren, und die Aussicht auf eine glückliche Wendung versetzte sie sofort wieder in den siebenten Himmel.
Dem Oberförster gegenüber hatte Rüstädt keinen allzu schwierigen Stand. Seltmann war einer von denen, die für das ruhige Wort eines vernünftigen Mannes stets offene Ohren haben, während ihn die unausgeglichene Art der Frauen mit ihren Gedankensprüngen verstimmte und widerhaarig machte. Als der Major ihm die Sache auseinandergesetzt und dabei 85 seine eigne Mitschuld nicht übergangen hatte, fand der alte Mann gute Laune genug, zu erklären, daß er diesmal Gnade für Recht ergehen lassen wolle, da der Junge solche Fürsprache gefunden habe.
Natürlich vermehrte dieser Zwischenfall die Verehrung, welche Hellmut für den Major hegte, noch um ein Großes. Rüstädt aber beschloß, seinen Einfluß auf das Kind zu benutzen, um es zum Guten zu leiten. Er nahm dem Jungen das Versprechen ab, sich eine Zeitlang jeder zerstreuenden Lektüre zu enthalten. Den Ehrgeiz des leicht beweglichen Knaben wußte er zu entzünden, indem er ihm ausmalte, wie erhebend das Gefühl sein werde, wenn er zum nächsten Halbjahrswechsel bessere Zensuren heimbringe, als er je zuvor gehabt. Ja, er ließ sich so weit herab, den Jungen bei den Ferienarbeiten zu unterstützen, ihm zu helfen, daß er die Scharte auswetze.
Das drohende Ungewitter hatte sich also dank dem Eingreifen des Majors in hellsten Sonnenschein verwandelt.
Dankbarer noch als das Kind war ihm die Mutter, die ihren Glauben bestätigt gefunden hatte.
*
Einer der Unterförster des Quellenhayner Forstes feierte die silberne Hochzeit. Oberförster Seltmann 86 wünschte, daß seine Frau für ihn dazu gehen solle, da er selbst noch nicht so weit hergestellt war, um sich die Teilnahme an einem solchen Feste zu gestatten.
Anna ging ungern; sie wußte, welcher Art die Geselligkeit sei, die sie dort zu erwarten hatte. Sie war mit den Frauen der Forstleute ringsum nie recht warm geworden, und der derbe Ton, der unter den Männern herrschte, war ihr ein Greuel.
Auch Major von Rüstädt war eingeladen worden. Er hatte angenommen, weniger der Unterhaltung wegen, an der ihm nichts gelegen war, als in dem Wunsche, bei dieser Gelegenheit einmal die Vertreter der grünen Farbe in zwangloser Weise kennen zu lernen.
Es war an einem Sonntag. Hellmut war bereits aus den Ferien in die Schule zurückgekehrt. Anna ließ sich von Schrupper fahren. Rüstädt, dem ein Platz im Wagen angeboten worden, zog es vor, bei herrlichem Frühjahrswetter zu Fuß zu gehen. Er kannte die alte Chaise zur Genüge und wußte, daß auf schlechten Waldwegen darin zu kutschieren kein Vergnügen sei. Auch scheute er sich vor einer stundenlangen Fahrt in Gesellschaft der Frau Oberförster. Die Sache konnte ihre Längen bekommen, denn viel zu sagen hatte man sich ja doch nicht.
So ein einsamer Gang durch den Wald, allein mit Unkas, der nicht störte, beim Genießen eines schönen 87 Bildes nicht durch das weibliche »Ach, wie reizend!« aus jeder Stimmung geworfen – das war sein Glück, seine Leidenschaft. Er kannte in seiner gegenwärtigen Verfassung keinen innigeren Wunsch, als den Rest des Lebens in dieser beschaulichen, einfachen Weise zu verbringen, unbelästigt durch die komplizierten Ansprüche, welche die große Welt da draußen an einen stellte, ungestört auch durch Begierden, die das Gemüt beunruhigten und verwirrten. –
Rüstädt kam als Letzter der Geladenen. Er fürchtete beinahe, daß man auf ihn gewartet habe. In einem nicht allzu großen Zimmer, wie es eine Försterei eben bietet, fand er eine für den Raum viel zu zahlreiche Gesellschaft versammelt. Meist waren es Forstleute mit ihren Ehehälften. Männer, denen Gesundheit und Abhärtung aus dem wettergebräunten Angesicht strahlte; stattlich und schmuck nahmen sie sich aus in ihren grünen Uniformen. Rüstädt und Pastor Waibel waren die einzigen Schwarzröcke in der Gesellschaft.
Man hatte Herrn von Rüstädt den Ehrenplatz gegeben neben der Silberbraut. Ihm zur Linken war die Frau Pastorin gesetzt worden. Man saß sehr eng und seinem Gegenüber nahe an einem schmalen Tische, der sich durch die offene Thür ins Nebenzimmer erstreckte.
Die Unterhaltung war von vornherein laut. Zwischen den einzelnen Gerichten gab es lange Pausen, 88 die von den Gästen dazu benutzt wurden, manchen mehr oder weniger launigen Trinkspruch auszubringen. Besonders Ausgiebiges leistete darin der geistliche Herr, der gleich nach der Suppe das Jubelpaar hatte leben lassen und nun bei jedem weiteren Gange mindestens eine Rede hielt. Auch der Major fiel ihm zum Opfer, den er als einen »aus der auserlesenen Zahl der wenigen Begünstigten, den Stufen des Thrones nahe Stehenden« bezeichnete. Rüstädt war von solchem Ruhme wenig angenehm berührt.
Noch unangenehmer aber wurde ihm das Verhalten seiner Nachbarin, der Gattin des Geistlichen. Diese Frau hatte es sich in den Kopf gesetzt, von Herrn von Rüstädt zu erfahren, warum er den Hofdienst quittiert habe.
Der Major versuchte, um so indiskreten Ausforschungen zu entgehen, ein Gespräch mit der Hausfrau zu seiner Rechten anzuknüpfen; aber das war nicht so leicht, denn diese gute Frau befand sich in steter Sorge um den Gang des Mahles. Bald fürchtete sie, daß eines von den Mädchen eine Schüssel fallen lassen könne, dann wieder war sie in Angst, daß ein Gericht nicht zureichen werde. Ein paarmal während des Essens stand sie auf, um in der Küche nach dem Rechten zu sehen.
Mit solchem Quecksilber eine Unterhaltung in Fluß zu halten, war schwer, und so fiel denn Rüstädt immer 89 wieder der redseligen Pastorin zum Opfer. Sie begann über Seltmanns zu sprechen, die sie ja als Verwandte ihres Mannes genau kenne. Die Dame verbreitete sich über frühere und jetzige Vorgänge im Quellenhayner Forsthause, über das sie äußerst genau unterrichtet schien. Haarklein erzählte sie Annas Vorgeschichte, nach der niemand sie gefragt hatte, schilderte das Leben in Annas Elternhause, das sie als leichtfertig und üppig bezeichnete, die Hoffahrt des jungen Dinges, das mit mehr als einem Manne kokettiert habe. Dann war der plötzliche Tod des Vaters gekommen, mit dem pekuniären Zusammenbruche im Gefolge. Nun waren die Freier natürlich weggeblieben. Anna mußte Gott danken, daß Seltmann sie schließlich noch zur Frau genommen. Statt aber dafür dankbar zu sein, spiele sie die Hochmütige. Mit niemanden in der Gegend habe sie Verkehr, nichts sei gut genug für sie, ihren Jungen verziehe sie, dem Oberförster mache sie das Leben schwer.
Rüstädt hatte wiederholt versucht, der giftigen Klatschsucht dieser Dame Einhalt zu thun – vergeblich! Die Worte flossen ihr, in halblautem Getuschel, wie Honigseim von den Lippen. Bei dem lauten Durcheinandersprechen, dem Klappern von Messern, Tellern und Gläsern stand nicht zu befürchten, daß jemand sie hören werde. Aber wie alle feinfühlenden Menschen empfand auch Rüstädt ein starkes Gefühl der 90 Beschämung für jedes Zeugnis niedriger Gesinnung, das andre ihm gegenüber an den Tag legten. Das, was er hier über Frau Seltmann zu hören bekam, ließ ihn völlig unbeeinflußt; er glaubte der Erzählerin nicht, der Grund ihrer Entrüstung war zu durchsichtig.
Im Gegenteil, in dieser Beleuchtung gesehen, erschien ihm Anna nur um so sympathischer. Die Ärmste! Jetzt verstand er ihre Abneigung gegen das Leben hier, gegen ihre Umgebung. Sie war eine ganz andre Atmosphäre gewöhnt, war eine Pflanze, die, an einen rauhen Standort verpflanzt, nicht gedeihen konnte.
Unwillkürlich schweifte sein Blick nach der Richtung hin, wo Anna saß. Nein, wirklich, sie paßte nicht in diese Umgebung! Offenbar litt sie unter dem Lärmen und den derben Späßen, die jetzt, wo der Wein die Zungen zu lösen begann, sich ungeniert hervorwagten.
Man konnte Frau Anna nicht nachsagen, daß sie übertrieben elegant gewesen sei, und von der Hoffahrt und Eitelkeit, welche die Pastorin ihr nachsagte, sah man nichts an ihrem äußeren Menschen; aber doch stach sie von ihrer Umgebung stark ab. Für ihre zarten Farben und den feinen Schnitt ihres niedlichen Köpfchens bildeten die Erscheinungen der sicherlich seelensguten, aber herzlich plumpen Förstersfrauen mit ihren geröteten Wangen und plumpen Taillen den denkbar günstigsten Gegensatz.
91 Mit einem Male fühlte Rüstädt ein starkes Interesse in sich erwachen für dieses Wesen. Schade! ^ Unwillkürlich ergriff ihn Bedauern, daß so viel Anmut ungenossen verkümmern solle.
Das Mahl zog sich noch lange hin, und der spätere Nachmittag kam heran, ehe man ans Aufstehen dachte.
Rüstädt bemerkte, daß Anna angegriffen aussah. Ihm selbst war auch nicht gut zu Mute; der Wein war nicht zum besten gewesen, und die Luft wurde nachgerade unerträglich. Er trat zu der jungen Frau und fragte sie, ob er etwas für sie thun könne. Anna bat, er möge ihr den Wagen bestellen. Sofort machte sich Rüstädt daran, Schrupper zu suchen.
Der war nicht so leicht zu finden. Pferd und Wagen hatte er, da bei dem Försterhause keine Ausspannung war, eine halbe Stunde entfernt im nächsten Dorfgasthofe untergebracht. Schrupper selbst wurde schließlich in der Küche entdeckt, wo er sich's bei Essen und Trinken hatte gut sein lassen. Sein dunkelroter Kopf, die lallende Sprache und der unsichere Gang ließen keinen Zweifel aufkommen, in welchem Zustande er sich befand.
Der Major ließ Frau Seltmann nicht im Unklaren darüber, wie es um ihren Kutscher stehe; er konnte unmöglich dazu raten, sich Schrupper anzuvertrauen.
»Dann gehe ich zu Fuß; es ist ja noch Tag!« rief Anna.
92 »Wenn Sie gestatten, werde ich sie begleiten,« sagte Rüstädt.
Anna errötete, erwiderte jedoch nichts. Der Major schloß daraus, daß sein Vorschlag angenommen sei.
Man zögerte nicht lange mit der Ausführung, denn Rüstädt rechnete aus, daß sie gerade noch vor Anbruch der Dunkelheit die Oberförsterei erreichen könnten. Er verabschiedete sich von Wirten und Gästen, pfiff Unkas heran und schritt bald darauf neben der jungen Frau fürbaß durch den Wald.
Anfangs schwiegen sie beide, Anna bedrückt durch das Alleinsein mit ihm. Dann fing der Major an zu plaudern, von Hellmut sprach er und was der Junge jetzt wohl treiben möge. Im Anschlusse daran erzählte er ein paar lustige Streiche aus seiner Schülerzeit. Bald hatte er die Genugthuung, die junge Frau munter lachen zu hören.
Auch ihr war auf einmal die Zunge gelöst. Sie sprach über die Gesellschaft, die man eben verlassen hatte, machte sich sogar ein wenig lustig über Ton und Manieren, die dort geherrscht, und erzählte, nicht minder boshaft als die Frau Pastorin, daß die gute Frau Waibel kein Dienstmädchen länger als ein Vierteljahr in ihrem Pfarrhause zu halten vermöge.
Rüstädt glaubte eine ganz andre Person vor sich zu haben. Sicherlich, das war nicht die Anna, die bei Tisch mit ihren leidenden, nervös gespannten Zügen 93 sein Mitleid wachgerufen hatte. Aber sie gefiel ihm auch so, in diesem natürlichen Gewande, wie sie der weiblichen Klatschsucht munter ihren Zoll entrichtete.
Der Weg ging bergab, bergauf, durch wechselnde Bestände. Hie und da gestattete eine Schneise oder ein Durchhieb, wie durch ein Guckloch, überraschenden Ausblick.
Der Frühling war nun ganz ins Land gekommen. Nicht mehr der Vorfrühling war es, der in karger Sprödigkeit mit seinen Gaben geizt; der volle, sieghafte Lenz hatte Einzug gehalten, hatte sein Füllhorn in der Gebelaune eines jungen reichen Fürsten ausgeschüttet. Die Fluren drunten im Thal prangten wie ein vielfarbiges Mosaik, in der Ferne tauchte hie und da die blaue Masse eines Berges auf, und all das in der würdigen Umrahmung des Forstes.
Aber auch der Wald fing an, sich zu schmücken; ein ernster Mann, der sich doch auch einmal Blüten ins Haar flicht. Fichte und Tanne standen dicht behangen mit lichtgrünem Maiwuchs. Am Boden leuchtete es von Moosen, Kräutern und Farnen. Der Waldmeister breitete seine blühenden Matten über die braunrote Laubstreu vom Jahre zuvor. Wie die imposante Gewalt eines Männerchors den süßen Zauber der Frauenstimme doppelt zur Geltung bringt, so stand dort mitten im dunkeln Tannenforst eine Gruppe Buchen mit silberigen Stämmen im zartesten Duft 94 ihrer jungen Blätter. Wie Kerzen funkelten die gelben Blüten des Ahorns. Die Birke war schon ganz in ein grün schillerndes Wölkchen gehüllt. Und all diese Triebe dufteten würzig und stark. Die Luft schien geschwängert von Kraft und Lebenslust.
Die Sonne stand tief, und im dichten Holze herrschten bereits die Schatten der Dämmerung. In ihrer ganzen Glorie leuchtete dann die Scheidende auf, wenn sie in einer Lücke zwischen den Stämmen auftauchte. Unwillkürlich waren die beiden wieder schweigsam geworden, gepackt von der Größe der wechselnden Bilder.
Anna hatte diesen Weg schon einigemal, meist in Gesellschaft ihres Mannes, zurückgelegt. Aber es war ihr, als gehe sie ihn heut zum erstenmal. Jetzt wußte sie mit einem Male, daß die Welt schön sei, schön und voller Wunder. Nie hatte sie bisher geahnt, was Frühling sei; eine Jahreszeit war so ziemlich für sie gewesen wie die andre. Jetzt empfand auch sie den Rausch, der aus all diesen die Welt erneuernden Säften und Düften aufstieg. Ihr Herz klopfte, im Fieber der Spannung. Irgend etwas mußte sich ereignen, etwas Unerhörtes. Sie stand in gläubiger Erwartung eines Außergewöhnlichen, das in ihr Leben treten sollte, alles von Grund aus umgestaltend, wie hier der Frühling die ganze Welt verjüngt hatte.
95 Die Sonne war untergegangen. Aus der Dämmerung wurde Dunkelheit. Nur über dem Wege der Streifen Himmel, an dem jetzt allmählich die Sterne still leuchtend hervortraten, blieb heller. Zu beiden Seiten lag eine dunkle Wand: der Forst.
Rüstädt hatte sich verrechnet. Am Morgen war ihm der Weg viel kürzer erschienen, man wurde spät zu Haus sein, – aber er bereute es nicht.
Der Abend war mild. Noch betäubender fast wie am Tage dufteten Blumen und Blätter. Stimmen, die im Lichte geschwiegen, wurden laut. Dort ließ ein Nachtvogel seinen melancholischen Ruf erschallen; ein Rehbock, der im Holze gestanden, schreckte plötzlich mit tiefer, fast menschlicher Stimme dicht neben dem Wege und polterte davon. Über der Waldwiese lagen dichte Nebelschwaden. Ein unheimlicher Ort war das, mit einem weit bekannten alten Wahrzeichen. Ein Stein stand errichtet, darauf zwei verschlungene Herzen eingegraben unter einem Kreuz. Ein Forstmann, so ging die Sage, dem die Frau untreu geworden, hatte sich hier an ihr und ihrem Liebhaber gerächt.
Schweigend gingen Rüstädt und Anna hier vorbei, sich getrennt zu beiden Seiten des Weges haltend. Ein Fichtendickicht kam; wieder tiefe Dunkelheit. Man war jetzt schon auf Quellenhayner Grund, in einer halben Stunde mußte man zu Hause sein. Unkas, der bis dahin still neben seinem Herrn hergeschritten war, 96 begann plötzlich leise zu knurren, als wittere er Verdächtiges, und schlug dann kurz an.
Anna eilte zum Major und ergriff seinen Arm. »Es ist nichts!« sagte er. »Haben Sie keine Angst.« Dabei umfaßte er aber doch seinen Stock fester.
Der Hund beruhigte sich wieder. Eine kurze Weile ließ die Frau ihren Arm in dem seinen. Er fühlte, wie ihre Hand zitterte. Für einen Augenblick überkam ihn die Versuchung, diese kleine Hand zu ergreifen und an sein Herz zu drücken. Aber es war eine Aufwallung, die ebenso schnell verschwand, wie sie aufgetaucht war. Er redete ihr vielmehr zu, wie man einem hilflosen Kinde zuredet, das sich im Dunkeln fürchtet.
Anna schritt neben ihm gesenkten Hauptes. Wie wohl das that! Wenn man hätte so wandern können, immer fort, weit weg! –
Der Gedanke, jetzt in ihr Haus zurückzukehren, schien ihr unmöglich. Ins Elend zurück! Den nüchternen Tagesdienst häuslicher Pflichten genau wieder da antreten, wo sie ihn verlassen. –
Nein, sicherlich, zwischen hier und der Oberförsterei mußte sich etwas ereignen. Das Große, auf das sie wartete, würde geschehen! Der neben ihr, zu dem sie ein Vertrauen hegte ohne Grenzen, würde ein Wort sprechen, eine That thun; ihm war ja alles möglich! 97 Und hätte er plötzlich einen Zaubermantel entfaltet, der sie beide davongetragen in himmlische Gefilde, er sollte sie bereit gefunden haben. Nicht gewehrt hätte sie sich, einfach sich hingegeben, mit selig zu ihm aufgerichtetem Blicke.
Rüstädt ahnte nichts von dem, was in ihrer Seele vorging. Er hörte zwar ihr schnelleres Atmen, fühlte den Druck ihrer Hand fast krampfartig auf seinem Arme. Alles das schrieb er auf Rechnung ihrer Ängstlichkeit. Er bemitleidete sie wirklich, und noch viel weniger als vorher konnte es ihm beikommen, ihre Schwäche auszunutzen.
Als sich die Bäume teilten und man an den Rand der Feldmark kam, von der die Oberförsterei umgeben lag, blieb der Major stehen und sagte in dem Gefühl, einer Verantwortung enthoben zu sein, unwillkürlich aufatmend: »Da wären wir! Sie werden auch froh sein, wieder zu Ihrem Manne zu kommen.«
Mit jähem Rucke ließ Anna den Arm ihres Begleiters fahren. Hastig, so daß er ihr kaum zu folgen vermochte, eilte sie dem Hause zu. 98